Das Ende des Weges - Marion Wiesler - E-Book

Das Ende des Weges E-Book

Marion Wiesler

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Beschreibung

Eine Bardin, verflucht, nie sesshaft zu sein. Eine große Liebe. Gute Geschichten und treue Gefährten. Gallien, im Jahr 37 vor unserer Zeitrechnung. Seit neun Jahren wandert die Bardin Arduinna mit ihrem Wolfshund und ihrem Raben dem Gebot ihres Maistirs folgend durch die Welt. Ihre kleine Sippe hat sich vergrößert, damit aber oft auch die Schwierigkeiten. Endlich weisen die Zeichen darauf hin, dass sich ihr Weg einem Ende nähert. Doch wird sie es schaffen, den Fluch endgültig aufzuheben? Muss sie sich ihrem Maistir stellen, oder entgeht sie dieser Gefahr? Der 7. und letzte Band der Keltenroman-Serie »Die Wortflechterin« Tauch ein in die Welt der Kelten und fühle den Pulsschlag jener Zeit in dir.

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Marion Wiesler

Das Ende des Weges

Keltenroman

Band 7 der Keltenroman Serie "Die Wortflechterin" Weitere Bänder der Serie:"Die Zeit des Aufbruchs" (Prequel)"Die Wahl des Hochkönigs""Der Markt der Lügner""Die Braut des Siegers""Das Fest der Sonnwend""Das Kind des Bärenkriegers""Der Mond der Hoffnung""Das Ende des Weges"

Inhaltsverzeichnis

Weitere Bände der Serie

Die Wortflechterin

Arduinnas Welt

Ich bin Arduinna

Prolog: Als alles begann

Kapitel 1: Brigantion

Kapitel zwei: Beim Ambactos

Kapitel 3: In der Schenke

Kapitel 4: Auf der Suche

Kapitel 5: Suchend unterwegs

Kapitel 6: Gefunden

Kapitel 7: Die Pergamente

Kapitel 8: Die Folgen des Sturzes

Kapitel 9: An der Palisade

Kapitel 10: Am nächsten Morgen

Kapitel 11: Eine Geschichte

Kapitel 12: Der Bote

Kapitel 13: Bei Minio

Kapitel 14: Mit der Schleuder

Kapitel 15: Gemeinsam beim Barden

Kapitel 15: Nächtliches Gespräch

Kapitel 17: Ein Zeichen

Kapitel 18: Pläne

Kapitel 19: Abreise

Kapitel 20: Die erste Rast

Kapitel 21: Die Fibel

Kapitel 22: Auf der Jagd

Kapitel 23: Aventica

Kapitel 24: Der Musicus

Kapitel 25: Der Versuch eines Knotens

Kapitel 26: Weiterreise

Kapitel 27: Vesontio

Kapitel 28: Beltane

Kapitel 29: Zeit des Reisens

Kapitel 30: Iantinum

Kapitel 31: Sommersonnwend

Kapitel 32: Uneinigkeit

Kapitel 33: Aufbruch

Kapitel 34: Ein Schwur

Kapitel 35: Das Lied für Tongios

Kapitel 36: Im Wald

Kapitel 37: Der Bär

Kapitel 38: Schmerz

Kapitel 39: Eine lange Nacht

Kapitel 40: Fieberträume

Kapitel 41: Bei Berula

Kapitel 42: Im Kindbett

Kapitel 43: Friedliche Tage

Kapitel 44: Trennung

Kapitel 45: Ein neuer Begleiter

Kapitel 46: Dunkle Gedanken

Kapitel 47: Auf dem Hof

Kapitel 48: Gesoriacum

Kapitel 49: Opfergabe

Kapitel 50: Am Strand

Kapitel 51: Am Strand

Kapitel 52: Das Ende des Liedes

Kapitel 53: Begräbnis

Kapitel 54: Der nächste Morgen

Kapitel 55: Überfahrt

Kapitel 56: Heimkehr

Kapitel 57: Heledd

Kapitel 58: Die Höhle

Epilog: Einige Jahre später

GLOSSAR

PERSONEN

GESCHICHTEN

ORTE

Bücher aus der »Welt der Wortflechterin«:

Marion Wiesler

Impressum

Weitere Bände der Serie

Die Wortflechterin

Die Zeit des Aufbruchs

(Kurzband)

Die Wahl des Hochkönigs

Der Markt der Lügner

Die Braut des Siegers

Das Fest der Sonnwend

Das Kind des Bärenkriegers

Der Mond der Hoffnung

Das Ende des Weges

Informationen und gratis Kurzband auf

www.marionwiesler.at

Arduinnas Welt

Karte inspiriert von der berühmten Tabula Peutingeriana.

Verzeichnis der Orte und ihrer heutigen Namen im Glossar,

vergrößerbare Karte auf marionwiesler.at/bücher/landkarte

Ich bin Arduinna

Ich bin Arduinna, die Wortflechterin.

Geboren von Seelen, die niemand kennt,

Gefunden im Wald unterm Ulmenbaum.

Ewig getrieben vom Wandel des Monds,

Vom Maistir verflucht, nie sesshaft zu sein.

Die Bäume des Waldes sind mir ein Dach,

Die Früchte der Erde mein Brot.

Begleitet von Wesen der Luft und der Nacht

Durchquere ich Täler, Berge und Seen.

Träumend von ihm, dessen Ruf ohne Klang,

Dessen Sein ohne Bild, das Ende des Fluchs.

Ich folge den Göttern, den Menschen zu dienen,

Sie zu erfreuen, doch mir zur Einsamkeit.

Ich bin Arduinna, die Wortflechterin.

Prolog: Als alles begann

Es war zwei Tage her, dass sie ihr Kind geboren hatte. Ihre Schwestern in der Gemeinschaft hatten das kleine Mädchen den Göttern gezeigt, wie ihre Gesetze es vorschrieben, und hatten ein Fest gefeiert. Das Kind eines Rituals, ein Segen der Götter.

Man hatte das Kind Atinia genannt, weil die alte Ona im weiteren Leben des Neugeborenen Ulmen gesehen hatte. Beinahe hatte Alisa darüber gelacht. Immer sah die alte Ona liebliche Dinge. Während sie ganz anderes für diesen Winzling in ihren Armen erblickte. Und sie wusste es wohl besser, schließlich hatte sie dieses Kind neun Monde in sich getragen.

Gegen den Willen der anderen Frauen bestand Alisa darauf, mit ihrem Kind in die Höhle zu gehen, auch wenn die Geburt erst zwei Tage her war. Alisa liebte die Höhle. Dunkel und geborgen, einem Mutterleib gleich. Man ließ ihr den Willen, aber ließ sie nicht alleine gehen.

Sie hatte ihre eigenen Riten, dieses Kind zu begrüßen. Ihr Kind. Sie wusste, dass man es ihr nehmen würde, nach einem Jahr, vielleicht ein wenig später. Es gehörte dem Stamm, für den sie das Ritual ausgeführt hatten, bei dem Atinia gezeugt worden war. Alisa fühlte Traurigkeit, wenn sie daran dachte. Er war zärtlich gewesen, der Druide, mit dem sie sich zur Sonnwend vereinigt hatte. In der kürzesten Nacht des Jahres, am Höhepunkt der Macht des männlichen Gottes. Ein guter Mann, würde Ona sagen. Und doch würde er kommen, ihr das Kind zu nehmen.

Sie betrachtete den Säugling, auf den das Licht der Sonne fiel, die durch den schmalen Spalt oberhalb des Höhleneingangs herein drang. Zärtlich strichen ihre Finger über das kleine Gesicht. So ruhig und zufrieden schlief ihre Tochter in ihren Armen. Sie hatte ihr ein Zeichen des Schutzes mit der rötlichen Erde der Höhle auf die Stirn gemalt, hatte Gebete gesungen und einen Hasen als Opfer dargebracht, dessen Blut nun in den Höhlenboden sickerte.

»Ich habe dich in mir getragen, ich habe dich aus mir geboren. Du bist mein und dieses Ortes, bist ein Segen der Götter, bestimmt, in meine Fußspuren zu treten.«

Die beiden anderen Frauen ließen vor der Höhle in der Sonne ihre Spinnwirteln tanzen, während Alisa im Halbdunkel saß und in stillem Gebet ihre Tochter der Göttin ihrer Gemeinschaft weihte. Es war ihr Kind, ihres alleine, und sie würde es alles lehren, das sie wusste. Genug Dunkelheit lag auf seinem Weg, sie würde es dafür wappnen, so gut sie konnte.

Sie wiegte das Neugeborene in ihren Armen, summte leise, bis der Klang ihrer Stimme von den Wänden der Höhle zurückgeworfen wurde.

Ja, es war dunkel, was sie für dieses Kind sah. So dunkel wie das Leben seiner Mutter, die die Finsternis liebte.

Alisa schloss die Augen, summte weiter, summte sich in die Tiefen der Mutter Erde, in der die Bilder warteten. Atinia, die Ulme, hatte Ona dieses Kind benamt, doch Alisa hörte klar und deutlich das Wort, das die Götter für ihre Tochter bestimmt hatten, hier, im Schoße der Mutter Erde, an dem Ort, der Heimat war.

WortFlechterin.

Kapitel 1: Brigantion

Als Loïc mit seinen Gefährten vor einigen Tagen unterwegs dem Barden Cantlon begegnet war, hatte er erfahren, dass Voccio sich wohl nicht mehr wie erwartet bei Ovilavia aufhielt. Der Magosreix solle wohl schon wieder am Weg zu seinem Herrschersitz sein. Bragnreica, in der Nähe des Marktes Solva.

Es war erst zwei Monde her, dass Loïc in Solva gewesen war. Der Weg durch die Berge dorthin wäre kürzer als den Danubius entlang. Jetzt im Frühjahr auch viel einfacher zu bereisen als das letzte Mal im Winter.

So waren sie nach Brigantion gekommen. Sie hatten zwei Kammern in der Schenke genommen. Loïc fand, dass eine reichen würde, doch vielleicht hatten seine beiden Krieger Anderos und Balcos ja recht. Sein Rang als Uturcos Reix, als Herrscher-Macher, konnte nützlich sein und als solcher musste man sich gebührend darstellen. Sie waren zuerst zur Großen Halle geritten, doch der Reix Brigantions war mit seinen höchsten Kriegern zu Besuch bei einem Nachbarstamm. Loïcs beide Begleiter waren enttäuscht, nicht in den Genuss eines herrschaftlichen Mahls zu kommen. Loïc kümmerte es nicht. Die Schenke war zwar schlicht, das Essen aber gut.

Sie waren durch die Siedlung geschlendert, hatten die Waren auf dem kleinen Markt betrachtet. Man nickte ihnen freundlich zu. Sie mochten Fremde sein, aber dem Gewand nach Fremde, die Geld genug hatten, etwas zu kaufen.

Loïc betrachtete das Werkzeug, das der Schmied ausgelegt hatte. Sicheln, Sensen, Zangen. Sorgfältige Arbeit. Er könnte hier vielleicht den Griff seines Messers richten lassen. Der eiserne Dorn der Klinge war in der Hornhülle etwas locker geworden. Er hatte es mit einem kleinen Holzspan wieder gefestigt, aber eine anständige Reparatur konnte nicht schaden.

Plötzlich schrie jemand neben ihm. Loïc drehte sich zu dem Geräusch. Wachsam war er, wie immer, wenn unerwartete Töne erklangen. Auch wenn dies nur die Stimme eines Kindes war. Er traute seinen Augen nicht. Er kannte dieses Kind. Da stand Titus vor ihm, der Sohn des Wegezeichners. Und schrie. Stocksteif stand er da, die Hände zu Fäusten geballt, einen Reisebeutel um die Schulter geschlungen, und schrie, als gälte es sein Leben.

Loïcs Blick suchte die Umgebung ab, ob er Granius sähe. Doch er entdeckte nur einen Hund, der auf den Jungen zurannte, sich neben ihn stellte, die Zähne gefletscht. Gegen ihn, Loïc, gefletscht. Bereit, sich auf ihn zu stürzen. Als wäre er eine Gefahr für den römischen Jungen. Anderos versuchte, Loïc wegzuziehen, auch Balcos griff nach seinem Arm.

»Tua culpa! «, brüllte Titus, mit dem Finger auf Loïc zeigend. »Du bist schuld! Du Mörder! Tua culpa! «

Loïc wollte auf den Jungen zugehen, ungeachtet des Hundes, doch da geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Ein Kerl griff den Römerjungen von hinten. Der Hund fuhr herum, schnappte nach der Hand des Fremden. Eine Frau stürzte auf Titus zu, packte ihn an der Schulter. Anderos und Balcos redeten auf Loïc ein: »Komm, weg hier!« – »Da sind böse Geister im Spiel, der Junge ist ein Besessener!«

Doch Loïc hatte nur Augen für Titus, den er mit seinem Vater gemeinsam zu Imbolc in Solva kennengelernt hatte. Was war geschehen, dass der Junge so außer sich war?

»Titus, quiesce«, sagte Loïc, im Versuch, den kleinen Römer zu beruhigen.

»Samis!«, sagte gleichzeitig die Frau, die zwischen ihm und dem Jungen stand, Verwunderung in der Stimme. Der Mann hinter Titus brüllte etwas, ein Rabe stürzte vom Himmel herab, Menschen drängten sich um das Schauspiel, und Loïc starrte auf den Rücken der Frau vor sich. Er würde diese Stimme überall erkennen. Dazu noch der Hund. Der Rabe.

»Sicarius! Meuchelmörder!«, brüllte Titus.

Der Rabe hatte sich mit den Krallen in den Haaren der Frau verheddert. Der Frau, die er seit neun Jahren vermisste. Die er bei Voccio wähnte. Loïcs Herz sprang wild in seiner Brust. War sie es wirklich?

»Arduinna«, flüsterte er, voll der Angst, sie könnte sich bei seinen Worten als Trugbild erweisen.

Sie stockte, als sie ihren Namen hörte. Drehte sich um, zögerlich und langsam. Ebenso verblüfft wie er. Ihre Augen. Weit aufgerissen. So vermisst hatte er dieses Gesicht. Er konnte nicht glauben, dass sie es tatsächlich war.

»Arduinna, cara Arduinna«, sagte er. Er konnte sie nur anstarren. Er spürte, wie Balcos sich neben ihn schob, sein Schwert gezogen.

»Ist sie das? Das ist die, die dich verflucht hat?«

Loïc schüttelte den Kopf, den Blick nicht von Arduinna lassend. Bei Bel, wie hatte sie sich verändert! Es traf ihn im Herz, wie dünn sie war.

Menschen, die auf sie zueilten. Eine Hand, die sich auf Arduinnas Schulter legte. Loïc machte einen Schritt vor, sie zu beschützen, doch Anderos und Balcos hielten ihn zurück. Er solle sich besser nicht einmischen. Er schob die beiden zur Seite. Was redeten sie. Hier war Arduinna. Seine Arduinna. Andere Männer drängten sich zwischen ihn und die Bardin. Drängten ihn zurück. Über deren Schulter sah er den Mann mit Arduinna reden, seinem Gehaben nach musste es der Ambactos des Ortes sein, doch Arduinna starrte nur Loïc an. Und er sie. Titus’ Geschrei verstummte.

Der Junge zeigte auf Loïc. »Er hat meinen Vater getötet!«

Hände packten Loïc, zogen ihn weg.

Er versuchte ihnen zu erklären, dass er nicht wusste, wovon der Junge sprach. Sah keinen an dabei, denn er durfte den Blick nicht von Arduinna lassen. Sonst verschwand sie vielleicht noch wie der Nebel eines Traumes am Morgen. Wie so oft, wenn er ihr nachts begegnete. Er wollte zu ihr, doch die Griffe der Männer an seinen Armen waren fest. Er wollte nicht das Wagnis eingehen, dass man ihn ganz von hier wegzerrte, weg von ihr. Arduinna, Arduinna, cara Arduinna, klang es in seinem Kopf unentwegt.

Sie machte einen Schritt in seine Richtung, doch Titus schlang seine Arme um sie und sie ging in die Hocke, umarmte das weinende Kind. Der Hund schleckte den Jungen ab, der Rabe setzte sich auf ihre Schulter. Die Bardin mit dem Hund, dem Raben und dem Kind. So lange hatte er sie gesucht.

Man schob ihn weiter, er bemerkte Anderos und Balcos an seiner Seite. Er wehrte sich nicht, ließ sich an den Rand des Platzes drängen. Den Blick immer noch auf Arduinna gerichtet. Auch sie starrte ihn an. Kein Lächeln im Gesicht. Keine Freude des Wiedersehens.

Dabei wollte sein Herz zerspringen.

Der Ambactos trat nun zu Loïc hinzu, die Männer machten ihm Platz. Er baute sich vor Loïc auf, zwang ihn dadurch, den Blick von Arduinna zu nehmen.

»Fremd hier und gleich für Unruhe sorgen!«, sagte der Ambactos. »Das sind schwere Anschuldigungen, die der Junge da vorbringt!«

»Es ist ein Kind!«, warf Anderos ein. »Was kümmern euch die Worte eines Kindes?«

»Schweig!«, zischte Loïc. Dies war nicht die Zeit für Widerspruch. Man musste diese Leute besänftigen, dass sie ihn möglichst rasch in Ruhe ließen.

Arduinna kniete noch immer neben Titus, ihn fest an sich drückend. Menschen umringten auch sie. Schienen hilfreich sein zu wollen. Sahen wütend zu ihm her.

»Ich habe Titus – den Jungen – vor zwei Monden das letzte Mal gesehen, als er mit seinem Vater Solva verließ. Ich habe keine Ahnung, was geschehen ist und wüsste es selbst gerne«, sagte Loïc zum Ambactos. Es kostete ihn Mühe, seine Gedanken zu ordnen und nicht zu rufen, dass dort Arduinna stünde, seine Arduinna.

Der Ambactos sah Loïc an, dann über seine Schulter zu Arduinna und dem Jungen.

»Ihr seid alle Fremde. Genau genommen geht es uns nichts an, wer von euch wen umgebracht hat, solange es nicht jemand aus unserem Stamm ist. Doch der Junge rührt die Menschen. Wir werden das klären.«

Er deutete den Männern neben Loïc mit einem Kopfnicken. Sie packten Loïc erneut an den Armen, um ihn wegzuzerren.

»Wisst ihr nicht, wer er ist? Er ist Sohn des großen Casticos, des verstorbenen Reix der Sequaner! Er selbst ist Uturcos Reix, hat seinen Brudersohn zum Herrscher gemacht!«, sagte Anderos.

Der Griff an Loïcs linkem Arm wurde lockerer. Vielleicht aus Hochachtung. Vielleicht nur aus Zufall.

Der Ambactos lachte. »Die Sequaner mögen sich einen Namen gemacht haben im großen Krieg, aber die Sequaner sind weit weg und ihr Reix hat keine Bedeutung für uns! Bringt ihn zu meinem Haus.«

Loïc warf einen Blick zurück, als die Männer ihn wegführten. Er wehrte sich nicht. Es war besser, alles in Ruhe zu klären.

Jemand ging auf Arduinna zu, sagte etwas zu ihr. Sie erhob sich, redete auf den Jungen ein. Widerwillig nickte er. Loïc war froh, dass die beiden ihnen folgten. Keinen Moment wollte er Arduinna aus den Augen lassen.

Kapitel zwei: Beim Ambactos

Ich musste Samis mit mir ziehen. Er schluchzte und schniefte. Mein Kopf wollte schier zerspringen, so viele Gedanken schossen darin herum wie Bienen in einem umgeworfenen Stock.

Samis sprach!

Samis und Loïc kannten einander.

Hatte Loïc Samis’ Vater getötet? Den Wagen überfallen, bei dem ich die drei Leichen und Samis gefunden hatte?

Samis hieß Titus?

Er sprach!

Wieso war Loïc hier? Er war hier! Loïc! Er war hier!

Sein Anblick erfüllte mich wie süßer Met einen Kelch. Zu ihm rennen wollte ich, und doch war ich voller Scheu.

Mein Herz klopfte so laut, dass ich kaum hörte, was die Menschen ringsum sprachen.

Zwei Männer gingen neben uns her, mit ein wenig Abstand aus Sorge vor Cú, der eng an Samis’ Knie dahintrottete, die Nackenhaare immer noch aufgestellt. Hinter uns eine Traube von Menschen, tuschelnd, Vermutungen anstellend. Wir boten wohl ersehnte Abwechslung in dieser Siedlung.

Als wir um die Ecke biegen wollten, warf ich einen Blick zu Pediparsurus, stockte. Ich konnte das Pferd nicht einfach hier stehen lassen, unbeaufsichtigt. Konnte mir nicht leisten, es zu verlieren … Aber vor uns ging Loïc, bog um eine weitere Ecke mit den Männern, die ihn führten. Immer wieder warf er einen Blick zu mir zurück.

»Mein Pferd …«, sagte ich. »Ich muss unser Pferd … wo bringen sie Loïc – den Mann hin?«

Einer der beiden Kerle, die neben uns hergingen, versprach, sich um das Pferd zu kümmern. Ich solle nur den anderen folgen.

Samis zupfte mich am Ärmel. Ich beugte mich zu ihm hinab und er hatte seine Wachstafel gezogen, hatte etwas darauf geschrieben.

EUM NECATURI

Mein Blick suchte den seinen. Er sah mich fragend an. Fürchtete er, dass sie Loïc töteten oder hoffte er es?

Nein, das wäre doch wohl zu grausam von den Göttern, dass sie mich Loïc nach all den Jahren endlich finden ließen, und dann müsste ich zusehen, wie sie ihn hinrichteten?

Ich schluckte, als ich das hasserfüllte Blitzen in Samis’ Augen bemerkte.

»Wir … wir werden klären, was geschehen ist«, sagte ich.

»Er ist Schuld an Vaters Tod«, sagte er, die Stimme heiser.

»Das wirst du beweisen müssen.«

Er starrte mich an. Mein Blick huschte dorthin, wo Loïc um die Ecke gebogen war. Wir mussten uns eilen. Als ich Samis wieder ansah, waren erneut Tränen in seinen Augen aufgewallt. Sein Mund öffnete und schloss sich, als würge er an den Worten und endlich stieß er hervor: »Hältst du zu ihm?«

Für einen Moment schloss ich die Augen.

»Samis, ich weiß nicht, was geschehen ist. Lass es uns herausfinden!«

Ich zog ihn weiter, er sträubte sich. Branna, die über uns gekreist war, landete auf meiner Schulter.

»Guuutermann!«, krächzte sie und Samis schüttelte den Kopf.

Der Mann, der vorhin neben uns gegangen war, schloss wieder auf zu uns, Pediparsurus am Zügel. Es beruhigte mich, das Pferd mit all unserem Besitz im Blick zu haben. Im Gefüge dieses Tages wenigstens ein Stein, der in diesem Erdrutsch an Ereignissen Halt gab.

Endlich erreichten wir das Haus des Ambactos, einen großen Holzbau. Vielleicht war es auch das Haus des Herrschers, es war mir gleich, solange wir nur diese Sache zu einem Ende bringen konnten. Doch der Ambactos hieß die Männer, die Loïc festhielten, ihn in einem steinernen Zubau einzusperren.

»Wenn unser Reix in einem Viertelmond heimkehrt, wird er über ihn zu Gericht sitzen.« Er wandte sich an mich und Loïcs Männer. »Bis dahin habt ihr Brigantion nicht zu verlassen.«

Einen Viertelmond! Ein Viertelmond der Ungewissheit, und wer wusste, was bis dahin seinen Wärtern einfiel.

»Er ist Uturcos Reix!«, rief einer der beiden Krieger neben Loïc empört. »Das werden sich die Sequaner nicht gefallen lassen!«

»Herr!«, rief ich. »Warum nicht jetzt gleich? Was, Herr, wenn er nicht des Mordes schuldig ist?« Samis warf mir einen bitterbösen Blick zu, doch ich sprach weiter. »Willst du tatsächlich deinen Reix erzürnen, wenn er nach seiner Rückkehr sogleich zu Gericht sitzen muss, für nichts und wieder nichts, anstatt seine Heimkehr zu feiern?«

Der Ambactos sah von mir zu Loïc. Mochten meine Worte oder die des Kriegers ihn nachdenklich stimmen, schließlich nickte der Ambactos. »So denn jetzt.«

Die Menge hinter uns jubelte. Ein Gerichtsspektakel jetzt war besser als eines in einem Viertelmond.

Zwei Burschen brachten einen Tisch heraus und einen Hocker, auf dem der Ambactos Platz nahm, während die Krieger mit Loïc davor stehen blieben. Aus dem Haus wurden weitere Gegenstände geholt, die wohl nötige Zeichen für eine Gerichtshandlung waren. Man brachte auch einen Krug, aus dem ein Bursche dem Ambactos einschenkte.

Uns führte man ebenfalls vor den Tisch und so fand ich mich neben Loïc, von ihm durch einen seiner Krieger und zwei Männer aus Brigantion getrennt. Meine Gedanken stolperten umher wie ein Schaf, das vergorene Trauben gegessen hatte. Ferchars Kind in meinem Bauch fühlte wohl meine Aufregung, denn es hörte nicht auf zu treten. Seine Tritte waren bereits so spürbar, dass sie mich ablenkten. Es waren noch beinahe fünf Monde bis zur Geburt, der Bauch für Fremde kaum sichtbar, und doch schaffte es dieser Winzling selbst in diesem Moment, wo all meine Gefühle und Gedanken bei Loïc waren, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und Ferchars Kind war das Letzte, woran ich nun denken wollte.

Rund um uns drängten sich die Bewohner des Ortes. Cú presste sich zwischen Samis und mich, während ich Branna hinter dem Tisch auf dem Giebel des Hauses thronen sah. Ich hoffte, dass sie nicht beschloss, uns verteidigen zu müssen, indem sie den Ambactos von hinten angriff. Für den Augenblick schien sie zumindest mehr mit den Kriechtieren in der Schilfdeckung beschäftigt.

Loïc warf mir einen Blick zu, ein schiefes Lächeln. Seine Augen. Das Leuchten in ihnen, das ich so vermisst hatte. Die Knie wurden mir weich. Viel gäbe ich darum, mich setzen zu dürfen. Es wollte mir schier den Atem nehmen, ihn hier tatsächlich vor mir zu sehen.

Samis klammerte sich an meiner Hand fest.

In mir drehte sich alles. Wie unwirklich mir das alles vorkam!

Der Ambactos erhob sich und die Menschen, die sich rings um uns drängten, verstummten. Kleine Tropfen des Weins, von dem er einen Schluck genommen hatte, hingen am grauen Schnurrbart des Ambactos, tropften zu Boden, als er zu reden begann.

»In Abwesenheit unseres Herrschers obliegt es mir, in Brigantion für Ordnung zu sorgen. Ihr mögt Fremde sein, aber bei solch schwerwiegenden Anschuldigungen können wir nicht einfach die Augen schließen. Auch wenn es nur ein Kind ist, das diese Anklage vorbringt, und das sein Familienoberhaupt nötig hätte, um vor Gericht gehört zu werden. Doch da es um den Tod seines Vaters, eben seines Familienoberhauptes geht, wollen wir es gelten lassen. Sollte es sich tatsächlich um Mord handeln, also das Töten eines Menschen und Verstecken seines Leichnams, sodass ihm die nötigen Riten für den Übergang in die Anderswelt verwehrt geblieben sind, so werden wir auch für einen Fremden es auf uns nehmen, den Täter zur Verantwortung zu ziehen und Blutgeld zu erheben, um den Schaden auszugleichen, den er verursacht hat.«

Ja, für die Mühen eines Richtspruches nahm man auch von einem Fremden gerne einen Anteil vom Blutgeld, das ein Täter den Angehörigen des Opfers als Ausgleich zu zahlen hatte, weil der Tote nun nichts mehr zum Unterhalt seiner Sippe beitragen konnte … Da war man nicht kleinlich. Und wir ohnehin rechtlose Fremde, die sich dem Willen der hiesigen Obrigkeit zu fügen hatten.

Der Ambactos deutete einem Burschen etwas und der lief davon, um mit einer Stierfigur aus Stein wiederzukehren, die er vor dem Ambactos auf den Tisch abstellte.

»Fremde, bei euren eigenen Göttern und in Gegenwart des Stiers Brigantions, schwört, die Wahrheit zu sagen!«

Wir schworen alle, Loïc, Samis, ich, seine beiden Krieger, die hinter ihm standen.

»So lasst uns wissen, wer ihr seid«, fuhr der Ambactos fort und blickte auf Loïc.

»Loïc der Sequaner«, sagte er. »Loïc, Sohn des Casticos. Sohn des verstorbenen Reix der Sequaner und Uturcos Reix des derzeitigen Reix.«

»Gibt es hier Menschen, die für dich zeugen? Die bestätigen, wer du bist und dass du die Wahrheit sprichst?« Der Blick des Ambactos glitt über die Menschenmenge.

Wir waren Fremde hier. Auf uns gestellt. Wir hatten nicht unzählige Abhängige, Sippenmitglieder oder Herren, die für uns sprachen und damit, dass sie bezeugten, dass wir ehrliche Menschen waren, ein Urteil beeinflussen konnten. Vielleicht war das gut. Niemand würde für uns lügen. Niemand konnte von einem von uns gekauft werden, um unsere Ehrlichkeit zu bezeugen. Ich wollte die Wahrheit wissen. Musste die Wahrheit wissen. Hatte Loïc den Vater des Jungen getötet, für den ich mich wie für einen Sohn verantwortlich fühlte? Wenn ja, was würde das bedeuten?

Die beiden Krieger, die die ganze Zeit um Loïc herum waren, hoben die Hand. »Ja, Herr! Wir bezeugen, dass er Loïc, der Uturcos Reix der Sequaner ist, und wir ihn als einen kennen, dessen Wort Bedeutung und Gültigkeit hat.«

Auch ich hob meine Hand und sagte, wenn auch leiser als die beiden: »Ja, Herr. Ich kenne ihn und zeuge für ihn.«

Samis blickte zu mir hoch, die Stirn in tiefe Falten gelegt.

Der Ambactos nickte und wandte sich Samis zu.

»Und wer bist du, Junge?«

Samis drückte hilfesuchend meine Hand.

»Du musst deinen Namen sagen«, meinte ich und berührte ihn an der Schulter.

Samis öffnete den Mund, doch kein Laut kam heraus. Es musste ihm schwerfallen zu entscheiden, ob er seinen römischen Namen nennen sollte oder den, den ich ihm gegeben hatte. Oder all die Aufregung hatte ihn erneut verstummen lassen. Mit großen Augen blickte er zu mir.

»Der Junge hat Schwierigkeiten mit dem Sprechen«, sagte ich entschuldigend.

Jemand hinter uns kicherte.

»Vorhin war er noch gut bei Stimme!«, rief eine Frau. Allgemeines Gelächter. Samis senkte den Kopf.

Ich fühlte Loïcs Blick auf mir, während ich sprach: »Herr, lass mich dir berichten an seiner Statt, was ich weiß.«

»Ist er dein Sohn?«

Ich verneinte. »Ich bin Arduinna von jenseits des Schmalen Meeres. Dieser Junge, dessen wahren Namen ich nicht kenne, er begleitet mich seit mehr als einem Mond. Ich habe ihn einen halben Mond nach Imbolc gefunden. Man hatte den Wagen überfallen, in dem er mit seinem Vater und zwei weiteren Männern unterwegs war. Er war der einzige Überlebende und bis vorhin des Sprechens nicht fähig. Ich habe die Toten begraben.«

Der Ambactos nickte, den Blick auf Samis gerichtet, der die Lippen fest aufeinander presste. Seine Augen glänzten erneut nass, seine Schultern waren hochgezogen.

»Seine Schuld«, sagte Samis, den Finger auf Loïc gerichtet, doch die Stimme leiser und verhaltener als zuvor.

»Mörder!«, rief jemand hinter uns.

»Bestimmt ist er gar kein Reix, sondern ein lausiger Wegelagerer und hat auch jemandem die Pferde gestohlen, mit denen er und seine Kumpanen gekommen sind!«

»Tötet ihn!«, rief eine Frauenstimme. »So einem lieben Jungen den Vater nehmen!«

Der Ambactos hob die Hand und die Leute verstummten. Nur ein Kind krähte noch einmal: »Tötet ihn!«

»Nun denn, Loïc, Uturcos Reix der Sequaner.« Es klang verächtlich, wie der Ambactos es sagte. »Was hast du zu den Anschuldigungen zu sagen? Hast du mit deinen Kumpanen den Vater des Jungen überfallen?«

Erneute Unruhe entstand, als Loïc statt zu antworten sich an den Männern zwischen uns vorbeischob. Die Krieger aus Brigantion versuchten, ihn am Arm zu packen, doch seine eigenen Männer standen ihnen im Weg. Vor Samis ging Loïc auf die Knie.

»Titus, es tut mir so leid. Verzeih mir.«

Alle sahen gebannt zu uns, doch Samis schüttelte den Kopf, hob erneut den Finger auf Loïc und sagte, heiser und leise: »Du bist schuld!«

Loïc senkte den Kopf, erhob sich dann aber voller Entschlossenheit.

»Herr, lass mich erklären, was vorgefallen ist.«

»Wir sind neugierig.«

»Der Vater dieses Jungen hatte mich angeheuert, sie zu begleiten. Ich bin Krieger und habe schon viele Händler auf ihren Reisen beschützt. Mein Schwert in ihren Dienst gestellt. Doch als wir abreisten – ich war bestohlen worden und musste mich zuerst darum kümmern, ehe ich ihnen folgte. Der Vater des Jungen wusste davon, wollte nicht warten. Als ich ihnen nachritt, habe ich sie nicht mehr gefunden. Der Junge hat recht. Möglicherweise wäre sein Vater tatsächlich noch am Leben, wenn ich als Schutz dabei gewesen wäre.«

Möglicherweise hätte ich aber auch Loïc als vierten Toten begraben müssen. Ich fühlte die Haare in meinem Nacken sich sträuben.

Es war still.

»Tötet ihn!«, rief das Kind erneut und wurde mit einem scharfen »Shht!« zum Schweigen gebracht.

Als der Ambactos sprach, meinte ich beinahe Enttäuschung in seiner Stimme zu hören. »Stimmt das, Junge? Dieser Mann hat deinen Vater nicht selbst getötet, indem er das Schwert auf ihn gerichtet hat oder ähnliches, sondern war nur nicht zur Stelle, um ihn zu beschützen?«

Samis nickte zögerlich.

Ja, es war Enttäuschung in dem Seufzer des Ambactos.

Gleichzeitig unendliche Erleichterung in mir, denn was hätte werden sollen, wenn Loïc tatsächlich Samis’ Vater getötet hätte?

»Junge, dafür kann ich ihm schwerlich Blutgeld auferlegen. Zumal auch du mir wohl nicht beweisen kannst, dass dein Vater noch am Leben wäre, selbst wenn dieser Krieger bei dem Überfall als Schutz anwesend gewesen wäre, oder?«

Samis biss sich auf die Lippe. Seine Augen funkelten zornig und er schüttelte den Kopf.

Ich hätte den Jungen gerne in den Arm genommen um ihn zu trösten, aber dazu war hier nicht der rechte Ort. So strich ich ihm nur mit der Hand über die Schulter.

»Alles weitere ist eure Angelegenheit. Es liegt an dir, Sequaner, ob du diesen Jungen dennoch für seinen Verlust entschädigen willst.«

Loïc nickte. »Das werde ich.«

»Weib«, wandte der Ambactos sich an mich. »Da der Junge in deinem Gewahrsam reist, ist es an dir, uns die Kosten zu ersetzen, die solch ein Richtspruch verlangt.«

Natürlich. Auch wenn sie Loïc nicht zu einem Blutgeld verurteilen konnten, Geld wollten sie.

»Ja, Herr«, sagte ich.

Der Ambactos betrachtete mich von oben bis unten, um wohl zu entscheiden, was er verlangen könne. Er sah den Mann hinter mir, der Pediparsurus am Zügel führte und seine Augen begannen zu leuchten.

»Es war eine schwere Anschuldigung, die dieser Junge ausgesprochen hat.«

Wir würden unser Reittier verlieren, das war offensichtlich. Ich besaß sonst nichts von Wert.

»Zehn Goldmünzen an den Uturcos Reix der Sequaner, da ihr seinen Ruf als rechtschaffener Mann in den Schmutz gezogen habt. Ein Zehent davon als Anteil an uns.«

Samis fasste erschrocken nach meiner Hand.

»Ja, Herr«, sagte ich. »Gebt mir Zeit, mein Pferd zu verkaufen, um die Summe aufzubringen.«

Ich nahm an, dass Loïc nicht auf der Wiedergutmachung bestehen würde, doch der Ambactos sehr wohl. Und es konnte durchaus sein, dass er die Übergabe des Geldes an Loïc sehen wollte. Es war egal. Ich war jahrelang zu Fuß unterwegs gewesen, so würden wir es eben wieder sein. Hauptsache, Loïc hatte keine Schuld am Tod von Samis’ Vater und wir fanden Frieden.

»Herr«, sagte Loïc in diesem Augenblick. »Lass mich dich für deinen Richtspruch entschädigen.«

Der Ambactos wirkte verwirrt, doch Loïc war schon auf ihn zu getreten und hatte eine Münze aus seinem Gürtelbeutel gezogen. »Vielleicht wäre der Vater des Jungen ja noch am Leben, wenn ich bei ihnen gewesen wäre.«

Mochte Loïc den Richtspruch aus Schuldgefühlen Samis gegenüber bezahlen, mochte ich auch froh sein, unser Pferd behalten zu können, etwas in mir sträubte sich. Ehe Morfran das cynnedyf auf mich gelegt hatte, war es mir selbstverständlich gewesen, dass andere für mich aufkamen. Mir Essen und Kleidung schenkten, mir meine Wünsche erfüllten, weil ich Schülerin des Oberbarden der Carnuten war. Doch inzwischen hatte ich stets selbst für mein Auskommen gesorgt, in Form von Geschichten, meiner Arbeitskraft oder Geld, das man mir für meine Lieder und Geschichten gegeben hatte. Für einen Augenblick fragte ich mich, was Loïc dafür verlangen würde, dass er für mich gezahlt hatte, ehe mir bewusst wurde, dass es Loïc war, nicht irgendein fremder Mann. Dennoch verwirrten mich meine Gefühle.

Der Ambactos hob die Arme. »Nun, Leute, damit ist diese Verhandlung beendet. Lasst die Fremden ihrer Wege gehen.«

Mit Murren zerstreute sich die Menge. Der Ambactos sprach mit zwei Männern und beachtete uns nicht mehr, der Bursche trug den steinernen Stier wieder ins Haus.

Loïc und ich wandten uns im gleichen Augenblick einander zu, doch während ich von Samis am Ärmel gezogen wurde, drängten sich seine beiden Männer vor den Sequaner.

»Sie bringen ihn nicht um?«, flüsterte Samis.

»Nein, Samis. Täten sie das etwa in Rom?«

Er zuckte die Schultern. »Die Arena. Die Löwen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Samis, es ist nicht gesagt, dass er deinen Vater hätte retten können.«

»Vielleicht aber schon.«

»Man sollte sein Herz nicht schwer machen mit Gedanken über Dinge, die nur eine Möglichkeit waren.«

Wie oft hatte ich das die ersten Monde des cynnedyfs über getan – mir ausgemalt, wie mein Leben hätte sein können, wenn unsere Flucht geglückt wäre. Es hatte mich unendlich Kraft gekostet und erst als ich fähig war anzunehmen, dass was geschehen war, nun einmal geschehen war, wurde mein Weg leichter. Dennoch war mir klar, dass es viel war, solche Einsicht von einem Kind zu erwarten.

Ich sah zu Loïc hin. Sein Blick ruhte auf mir, seine beiden Krieger redeten auf ihn ein. Rund um uns nach wie vor Menschen, die vielleicht hofften, dass doch noch etwas Aufregendes geschah. Sie schienen zu zögern, sich ihrem Alltag zu widmen, beobachteten uns. Jemand schlug einem anderen vor, gemeinsam ein Bier zu trinken. Der Ambactos befahl seinem Burschen, den Tisch wegzuräumen. Der Alltag umfing diese Menschen wieder, doch ich fühlte mich wie in einem Traum und wusste nicht, ob ich erwachen wollte.

»Lass uns gehen«, sagte Loïc über die Schultern seiner Männer zu mir. Ich nickte.

Samis fasste mich erneut am Ärmel.

»Du willst mit ihm gehen?«

»Samis, ja. Das ist Loïc. Das ist der Mann, den ich seit Jahren suche. Den ich im Lager der Sueben vermutet habe.«

Er starrte mich an, starrte Loïc an. Loïc nickte ihm zu, ein bemühtes Lächeln im Gesicht. Auch wenn er nicht hören konnte, was Samis gesagt hatte, sein Blick war eindeutig gewesen.

Samis schüttelte den Kopf. Ich hatte gedacht, er wüsste, wer der Beschuldigte war, doch mir wurde bewusst, dass ich Samis gegenüber nie Loïcs Namen benutzt hatte. Ich hatte überhaupt nur für mich gewagt, ihn auszusprechen, als würde Loïc etwas geschehen, wenn ich vor anderen seinen Namen erwähnte. Aber nun stand er dort drüben, sah wartend zu mir her.

»Komm jetzt, Samis«, sagte ich, voll der Ungeduld, endlich mit Loïc zu reden. Ich drehte mich zu dem Mann um, der mit Pediparsurus hinter mir wartete, und nahm ihm die Zügel ab.

»Danke«, sagte ich. Meine Knie waren plötzlich weich. Loïc stand nur zwei Mannlängen entfernt und wir würden endlich miteinander sprechen.

Ich sah zu Loïc hin, unsicher, wohin wir gehen sollten. Er deutete mit dem Kopf, ihm zu folgen. Die Menschen wichen aus, als ich mich mit dem Pferd am Zügel in Bewegung setzte. Loïc wartete, bis ich auf seiner Höhe war, lächelte.

»So amtlich hatte ich mir unser Wiedersehen gar nicht vorgestellt«, sagte er.

Ich konnte nicht anders, ich musste lachen.

»Lass uns gehen«, wiederholte er. »In unserem Quartier können wir in Ruhe reden.«

Ich nickte.

Wir schwiegen, sahen nur immer wieder zueinander hin, während wir nebeneinander durch die Gassen gingen, immer noch von den Menschen beobachtet. War mein Kopf vorhin so voll gewesen, nun herrschte Leere in ihm. Wie sprach man miteinander, wenn man einander drei-mal-drei Sommer nicht gesehen hatte?

Samis trottete hinter mir her, seine Hand auf Cús Nacken, während Branna es sich auf Pediparsurus’ Rücken bequem gemacht hatte und alle paar Schritte laut krächzte.

»Popelfurz! Mooorgn! Guutermaaan! Booop!«

Kapitel 3: In der Schenke

Wir erreichten die Schenke, ohne ein Wort geredet zu haben. Eng drängten sich hier die Balkenhäuser an den Hang, ihre Dächer großteils mit Holzschindeln gedeckt. Die meisten waren ebenerdig, doch manche verfügten über einen oberen Stock wie die Schenke. Vor dem Gebäude hatten es sich drei Burschen bequem gemacht. Während die anderen beiden mit Schafsknochen würfelten, saß einer von ihnen an die Wand gelehnt und streckte das Gesicht in die Sonne. Er war der jüngste der drei mit etwa einem Dutzend Sommer. In seinem Schoß lag ein Holzstück, an dem er geschnitzt hatte. Als wir uns ihnen näherten, sprangen alle drei auf.

»Drutos, kümmere dich um das Pferd. Das Gepäck der Beiden bringst du erst einmal in meine Kammer«, befahl Loïc dem Jüngsten.

Die Stimme eines Herrschers, gewohnt, Befehle zu erteilen. Mein Gepäck in seine Kammer … mein Herz stolperte. Mein Gepäck in seine Kammer … wie Mann und Weib. Wir waren Mann und Weib, vor den Göttern, hatten es einst in der Nacht im Wald geschworen. Und doch war er ein Fremder.

Ein Hauch einer Erinnerung schwebte durch meinen Kopf, an Besuche bei anderen Stämmen gemeinsam mit Morfran, wo auch sogleich Diener zu unserem Wagen eilten, unsere Sachen sicher zu verwahren. Ein Hauch des Ranges, den Barden einst inne hatten – und doch lag hier etwas ganz anderes darunter. Mann und Weib …

Dennoch ließ mich der Gedanke an frühere Tage aufrechter stehen und für einen Augenblick meine weichen Knie vergessen.

Ich reichte Drutos den Zügel mit einem Nicken. Samis jedoch stürzte zu dem Pferd hin und band eilig seine beiden Beutel vom Bauchgurt ab, presste sie an sich.

»Sei vorsichtig mit unserem Gepäck«, sagte ich zu dem Burschen, selbst dem Drang widerstehend, den Beutel mit meiner Leier an mich zu nehmen. Diese Männer waren Männer des Kampfes, konnten nicht ahnen, welchen Wert das empfindliche Instrument in seiner Lederhülle für mich hatte.

Die beiden Krieger, die die ganze Zeit in Loïcs Nähe waren, warteten neben der Türe auf uns. Sie mochten beide etwa in meinem Alter sein, der eine vielleicht ein wenig jünger, ihre Schultern breit und ihre Augen aufmerksam umherschweifend. Es lag keine Freundlichkeit in ihrem Blick, als sie mich ansahen.

In der Gaststube war es düster, trotz der offenen Türe drang nicht viel Licht hinein. Der Himmel war wolkenverhangen, kündigte Regen an. Es könnte blitzen, donnern und stürmen, es wäre immer noch nichts verglichen mit den Stürmen in meinem Herz und meinen Gedanken.

Zu meiner Erleichterung saßen keine Gäste in der Schenke. Zu früh am Tag, zu viel noch für alle zu tun. Loïc führte mich zu einem der Tische weiter hinten, wo wir ungestört wären. Die beiden jungen Krieger folgten uns, ich wünschte, sie täten es nicht. Ich wollte nicht mehr, als ohne andere Menschen ringsum mit Loïc sein.

Loïc drehte sich zu den beiden Kriegern um.

»Lasst uns alleine«, sagte er.

Die beiden Krieger sahen einander an, zögerten, als hätten sie Sorge, Loïc mit mir alleine zu lassen. Ihre rechten Hände ruhte auf dem Knauf ihrer Schwerter.

Hatte Dercilis nicht gesagt, Vesontio wäre jahrelang in Angst vor mir gewesen? Und gerade eben erst war Loïc wegen des Kindes, das zu mir gehörte, in große Schwierigkeiten geraten. Kein Wunder, dass die Krieger ihren Herrn nicht alleine lassen wollten, selbst wenn ich in meinem geflickten Gewand kaum furchteinflößend wirken konnte.

»Lasst uns alleine«, wiederholte Loïc ruhig und bestimmt.

Die beiden Männer zogen sich an einen Tisch in der Nähe der Türe zurück, verließen aber nicht die Gaststube. Ihre Blicke tanzten immer wieder zu uns herüber.

Währenddessen hatte ich Samis geholfen, seine beiden Reisebeutel abzulegen. Wir legten unsere Umhänge ab, denn es war warm in der Gaststube. Ich redete leise auf den Jungen ein, hoffend, dass er verstand, wie wichtig mir diese Begegnung mit dem Mann war, den er für den Tod seines Vaters verantwortlich machte. Ich wünschte, er könnte sich mit mir freuen.

»Seit drei-mal-drei Jahren lebe ich auf diesen Augenblick hin«, sagte ich. »Dieser Mann gehört zu mir wie die Saiten zu deiner Leier. Egal, was zwischen dir und ihm geschehen ist. Es tut mir leid, dass du ihn mit schlimmen Ereignissen verbindest.«

Samis’ Gesicht war verschlossen, die Schultern hochgezogen.

»Würdest du einem Freund aus Rom begegnen oder deinem Vatervater, so würdest du auch mit ihm sprechen wollen, selbst wenn ich ihn nicht mögen würde, oder?«

Samis zuckte die Schultern.

Ich fühlte Loïcs Blick auf mir und sah auf. Er betrachtete mich, lächelnd, sein ganzes Wesen eine Ruhe ausstrahlend, die ich im Augenblick so gar nicht empfand. Viel zu aufgeregt war ich, während er wirkte wie ein Heimkehrer. Aber vielleicht täuschte ich mich auch, denn bei genauerem Hinsehen entdeckte ich ein Zucken bei seinem Auge, das auf wohl ebenso viel Aufregung wie in mir hinwies.

Loïc setzte sich, deutete mir und dem Jungen, ebenfalls Platz zu nehmen. Cú war mit in die Gaststube gekommen, ließ sich mit einem Seufzen neben Samis nieder. Ich war froh, dass Branna draußen geblieben war.

Wir schwiegen. Sahen einander an, durch die raue Platte des Tisches getrennt.

»Arduinna«, sagte Loïc, wie eine Beschwörung.

Ein zittriges Lächeln legte sich auf meine Lippen.

Der Wirt trat zu uns hinzu, ein gemütlicher Mann, der seinem eigenen Essen wohl gerne zusprach, wenn man seinen Bauch betrachtete.

»Bier?«, fragte er.

Loïc nickte.

»Hast du Hunger, Titus?«, fragte Loïc, den Blick des Jungen suchend. Doch Samis wandte mit zusammengepressten Lippen den Kopf weg.

»Ich denke, wir haben alle Hunger«, sagte ich.

Der Wirt betrachtete mich, das staubige und geflickte Reisegewand, das offene Haar, dann Loïc, der sich vor dem Ambactos und wohl auch hier als Uturcos Reix vorgestellt hatte. Die Neugier in seinem Blick war nicht zu übersehen, doch er nickte nur und ging davon.

»Arduinna«, wiederholte Loïc.

»Loïc«, sagte ich. Es gab so vieles, das ich fragen wollte, das ich sagen wollte, doch die Worte fanden nicht den Pfad zu meiner Zunge, stolperten in meinem Kopf übereinander und stellten sich einander in den Weg.

Warm und weit wurde Loïcs Lächeln, als wäre sein Name aus meinem Mund ein wertvolles Geschenk.

Wie schwiegen.

»Neun Jahre«, brachte er schließlich heraus.

Ich nickte. »Drei-mal-drei lange Jahre.«

»Wie ...«, sagten wir beide gleichzeitig und mussten lachen, setzten aber beide unsere Worte nicht fort.

Samis stupste mich an und hielt mir seine Wachstafel hin. Ich las, was er geschrieben hatte, fühlte Ärger in mir hochsteigen.

LAS UNS GEN.

»Nein, Samis«, sagte ich.

»Samis?«, fragte Loïc.

Ich sah zwischen dem Jungen und Loïc hin und her. Ich begann zögerlich zu sprechen, doch dann gewann meine Stimme Schwung wie ein Wagen, der bergab rollt, froh, dass ich etwas gefunden hatte, über das wir reden konnten, ohne sogleich über das cynnedyf und die letzten drei-mal-drei Jahre sprechen zu müssen.

»Ja, Samis … wie ich beim Ambactos sagte, ich habe ihn gefunden … und er hatte wirklich Schwierigkeiten zu sprechen, zumindest bis heute. Es war das erste Mal, dass ich seine Stimme gehört habe.« Ich wandte mich Samis zu, drückte seine Hand. »Es ist ein Geschenk der Götter, dass du deine Stimme wieder hast. Eine große Freude, dich sprechen zu hören.« Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über das Gesicht des Jungen, dann beugte er sich zu Cú und kraulte ihn, als kümmere ihn alles um ihn nichts. »So habe ich ihn Samis genannt, als ich ihm begegnete. Und selbst als wir entdeckten, dass wir uns über seine Wachstafel verständigen können, beharrte er auf Samis.«

»Der Ruhige …«, sagte Loïc. »Wohl nicht der Name, den meine Männer dir gegeben hätten.«

Samis warf ihm einen bösen Blick zu, was ich ihm nicht verdenken konnte, obwohl ich ahnte, dass Loïc versuchte, an eine Leichtigkeit anzuknüpfen, die er wohl mit Samis gehabt hatte, als sie einander das erste Mal begegneten.

»Wie soll ich dich nennen, Titus oder Samis?«

Für einen Augenblick starrte der Junge Loïc an, dann nahm er seine Wachstafel und ritzte etwas hinein, das er Loïc hinhielt.

Ich bemühte mich, seine Worte mitzulesen. Oben stand noch, was er für mich geschrieben hatte.

LASS UNS GEN

Mir war klar, dass Samis es absichtlich nicht gelöscht hatte. Der nächste Satz bestätigte es:

NE ME APPELLAVERIS

Ich seufzte. Red mich gar nicht an.

Auch Loïc unterdrückte einen Seufzer. »Ich kann nur wiederholen, wie leid es mir tut, dass Granius umgekommen ist.« Er warf einen raschen Seitenblick zu mir. »Aber es war für mich ungemein wichtig, wiederzubekommen, was man mir gestohlen hatte. Als es mir nicht glückte, habe ich mich bemüht, euch rasch einzuholen.«

Samis zuckte die Schultern. Ich setzte an, etwas zu sagen, um die unerträgliche Stimmung zu zerstreuen, doch da trat der Wirt zu uns, stellte drei hölzerne Becher mit Bier vor uns ab und drei Schüsseln mit dampfendem Eintopf.

Ich lächelte etwas breiter, als mir eigentlich zumute war. »Bohneneintopf mit Speck und Kümmel, genau wie du es liebst, Samis.«

Der Junge verschränkte die Arme, als wolle er sich selbst am Essen hindern. Neben ihm hatte Cú sich aufgesetzt, reckte schnüffelnd die Schnauze.

Loïc griff nach dem Becher, hob ihn mir zu, Samis einfach nicht beachtend – was vielleicht im Moment die beste Lösung war, um mit der Stimmung des Jungen umzugehen. Vielleicht bedurfte es nur etwas Zeit und eines vollen Magens, dass er bereit wäre einzusehen, dass der Tod seines Vaters nicht unbedingt Loïcs Schuld sein musste.

»Den Göttern sei Dank für unser Wiedersehen!«

Ich nickte, den Blick auf seine Hand gerichtet. Er hielt den Becher in der Linken. Seine Rechte hatte er die ganze Zeit unter seinem Umhang und nun unter dem Tisch verborgen. So war es denn vielleicht wahr, dass er ein Krüppel war. Die zerschmetterte Hand. Das Zeichen an seiner Fibel damals. Vielleicht war es wirklich mehr als ein Hinweis auf den Sturz, an dem ich Schuld trug. Ich wollte sie sehen, diese Hand. In Loïcs Blick las ich, dass er wusste, dass er sie mir irgendwann würde zeigen müssen. Er nickte kaum merklich, wie um sich selbst zu überreden, es hinter sich zu bringen.

Er stellte den Becher ab, tauchte noch rasch die Finger hinein, um ein paar Tropfen in alle Himmelsrichtungen zu schnippen, den Dank an die Götter zu vollenden. Dann schlug er den Umhang zurück und hob die Hand, stützte den Ellbogen auf den Tisch, dass sie zwischen ihm und mir in die Höhe ragte. Seinen Blick nahm er nicht von meinem Gesicht, wahrscheinlich gefasst auf den Schrecken, den er sogleich darin zu sehen erwartete.

Doch ich nickte nur ernsthaft.

»Du hast es gewusst?«, fragte er. »Woher?«

Sein Blick glitt zu Samis, wie um zu erforschen, ob er mir davon erzählt hatte.

Ich sah noch immer auf seine Hand. Auf diese vogelkrallenartige Hand, an der ich Schuld trug, weil ich die Frist des Mondes übersehen hatte.

»Der Bauer, der dir meine Fibel brachte, er erzählte von dem Unfall … Als ich kurz darauf Morfran traf, sagte er zwar, es wäre nicht so schlimm, aber dein Bruder … er hat dich als Krüppel bezeichnet … und dann … gab es noch andere … Hinweise … die von einer zerschmetterten Hand sprachen.« Ich wollte die Zeichen nicht erwähnen, die ich all die Jahre gesammelt hatte. Das hatte noch Zeit.

Mein Blick wurde von etwas hinter Loïc abgelenkt und er drehte sich um. Sein Bursche ging mit den Beuteln, die Pediparsurus getragen hatte, durch die Gaststube zu den Kammern dahinter. Ich fühlte Hitze in meine Wangen schießen, als mir erneut seine Worte einfielen: bring ihr Gepäck in meine Kammer. Ich sehnte mich danach, mit ihm alleine zu sein und fürchtete mich gleichzeitig davor. Loïc schob meine wohl geröteten Wangen aber vielleicht auf den Anblick seiner Hand.

»Ja … den jungen, geschickten Krieger von damals kann ich dir nicht mehr bieten«, sagte er.

»Deshalb auch der Bart?«, fragte ich.

Loïc fuhr sich zu seinem Kinn. »Nein. Das erzähle ich dir später, lass uns erst essen.«

Es war eine dumme Frage gewesen. Er hatte einen Burschen, der ihn rasieren konnte, weshalb sollte also seine verkrüppelte Hand seinen Bart bedingen? Es war einer jener Sätze, die einem über die Lippen hüpften, wenn man innerlich völlig durcheinander war.

Mein Magen war verknotet und ich verspürte keinen Hunger. Doch ich benötigte Zeit, mich zu fassen. Wir hatten einander wiedergefunden. Ich war ihm nicht um den Hals gefallen, war scheu und zurückhaltend. Er ebenso. Anders als in meinen Träumen. Waren es doch nur Wunschträume gewesen? Das cynnedyf hatte uns wohl beiden viel abverlangt, keiner von uns konnte sicher sein, was der andere für ihn empfand, wenn jene Begegnungen im Zwischenreich der Nacht tatsächlich nur Träume gewesen waren.

Ich führte eine Dreifingervoll von dem dicken Brei zu meinem Mund. Lächelte und sagte, nachdem ich geschluckt hatte: »Er steht dir aber gut.« Loïc sollte nicht glauben, dass ich ihn für unbeholfen hielt, für unfähig, sich zu pflegen.

Seine Augen funkelten.

Samis rührte sein Essen nicht an, sondern starrte gebannt zur Türe, als erhoffe er, dass dort jemand käme, ihn zu retten.

Ich warf einen raschen Blick auf ihn. Ich wusste, er würde erst recht nicht essen, wenn ich ihn nun dazu aufforderte.

»Samis, wenn du den Eintopf nicht möchtest, so gib ihn Loïc. Ich bin sicher, der verträgt noch eine Schüssel nach seiner.«

Der Junge sah mich von unten herauf an, zog einen kleinen Löffel aus seinem Gürtelbeutel und begann zu essen, mit jedem Bissen gieriger.

Ich schmunzelte. Loïc erwiderte meinen belustigten Blick mit einem schiefen Grinsen.

»Ich dachte, du wärst in meiner Heimat«, sagte ich nach einer Weile des Schweigens. »Ein Händler behauptete das.«

»Und ich dachte, du wärst bei Voccio.«

Wir lächelten einander an.

Schweigend aßen wir weiter, die Gedanken immer noch verworren kreisend. Wir setzten hier und da gleichzeitig zu einer Frage an, lachten verlegen und widmeten uns wieder dem dicken Eintopf. Mir waren die Blicke bewusst, mit denen seine beiden Gefährten uns beobachteten.

Am Tisch neben der Feuerstelle, über der ein Kessel hing, klapperten Holzschüsseln, als der Wirt sie abstellte. Jemand schimpfte über sein Weib.

Loïc aß langsam und auch ich ließ mir für jeden Bissen, für jeden Schluck Zeit. Dabei wollte ich am liebsten alles beiseite schieben und seine Arme um mich fühlen. Aber er war so verändert. Eindeutig er, eindeutig der Mann, den ich mit all meinem Wesen liebte, aber doch so ganz anders geworden.

»Ich bin deinem Bruder vor kurzem begegnet«, sagte ich irgendwann.

»Ich auch«, sagte Loïc. »Und es tut mir leid, was er dir angetan hat.«

Ich runzelte die Augenbrauen. »Er? Er hat nicht viel getan.«

»Der Feuerlauf?«

Hitze schoss über meine Wangen und ich senkte den Blick. Er wusste davon. Es war erst einen Mond her und doch wusste er davon. Und ich wusste nichts darüber, was er getan hatte, seit er laut Dercilis vor drei Jahren verschwunden war.

»Das war Baldram. Der Anführer der Sueben.« Ich sah hoch. »Aber dieser Baldram hat nicht bedacht, dass ein Feuerlauf für jemanden, der seit Jahren meist ohne Schuhe über Stock und Stein läuft, wohl das harmloseste aller Götterurteile war.«

»Baldram …«, sagte Loïc und sein Mundwinkel zuckte. Natürlich, er musste den Sueben aus seinen Jahren jenseits des Rhenos kennen. Ich meinte mich nun zu erinnern, dass er mir einmal von ihm und den Wettkämpfen zwischen den beiden erzählt hatte.

Ich nahm etwas Brei, kaute lange. »Also hat dein Bruder überlebt …«, sagte ich. »Den Kampf gegen Voccio. Da du davon weißt.« Ich fand es beinahe tröstlich. Schließlich war Dercilis Loïcs Bruder, Teil seiner Sippe. Ich hoffte nur, dass auf Voccios Seite jene überlebt hatten, zu denen ich Nähe empfand.

Loïc nickte.

Wir schwiegen wieder. An einem der Tische nahe der Türe nahmen drei Männer Platz und bestellten Bier. Sie stießen einander an, deuteten auf uns.

»Er hat auch einen Kampf gegen mich überlebt«, sagte Loïc nach einer Weile. »Ich bin jetzt frei. Vollkommen frei. Dercilis’ Sohn ist nun Reix der Sequaner.«

Er war frei. Und er sagte es mit einer Betonung, die nur heißen konnte: frei für dich. Es wurde warm in meiner Brust, doch gleich darauf zog sich mein Magen zusammen.

»Und dein Weib?«, fragte ich kaum hörbar. »Die Tochter der Mandubier?«

Loïcs Mund wurde schmal.

»Sie ist bereits Dercilis’ Weib, seit ich Vesontio vor drei Jahren verlassen habe. Ich bin frei, Arduinna. Nichts bindet mich. – Außer meine Liebe zu dir.«

»Außer das cynnedyf «, sagte ich gleichzeitig.

»Ich kann es nun mit dir gemeinsam tragen«, sagte er.

Mein Blick suchte seinen. Gemeinsam. Ein Wort, das große Sehnsucht in mir erweckte. Doch ich wagte nicht, mir dieses Gemeinsam vorzustellen. Er war ein Herrscher, gewohnt zu befehlen. Ich eine Bardin, meiner Aufgabe verpflichtet, vor allem anderen. Wir waren einander bestimmt, doch es würde nicht einfach werden.

Seine Linke wanderte auf der Tischplatte in meine Richtung. Meine Finger kamen ihm entgegen.

»Ja«, sagte ich. Der Gedanke war einfach zu schön, dass wir gemeinsam weiterwandern konnten. Doch als unsere Finger einander berührten, ertönte plötzlich eine Männerstimme neben ihm.

»Loïc, der Junge ist hinausgelaufen«, sagte der jüngere seiner beiden Begleiter.

Ich zuckte zurück, mein Blick schoss neben mich, wo Samis eben noch gesessen hatte. Die Schüssel mit Eintopf stand leer am Boden vor Cú. Seine beiden Reisebeutel aber waren verschwunden.

»Oh bei Lug! Dieser verfluchte Dickkopf!«

»Wieso habt ihr ihn nicht aufgehalten?«, fragte Loïc und erhob sich.

»Anderos meinte, es sei dir vielleicht recht …«

Ein zorniger Blick traf den Krieger.

»Wir müssen ihn suchen«, sagte ich, voller Sorge. »Verdammt noch mal, Cú, warum sagst du nichts, wenn er davonrennt?«

Der Hund saß mit gesenktem Kopf da, leckte sich die Lefzen. Der Eintopf hatte wohl auch ihm geschmeckt.

Ich fühlte das Blut aus meinem Kopf weichen.

»Wir finden ihn«, sagte Loïc und legte mir beruhigend die Hand auf den Arm. »Er kann ja nicht weit sein.«

»Und jeder hier kennt ihn nach seinem Geschrei vorhin«, sagte der Krieger.

Ich nickte, um mir selbst Mut zu machen. »Ja. Natürlich werden wir ihn gleich wieder finden. Wir haben ja auch noch Cú und Branna … aber dass er überhaupt …« Ich sah zu Loïc.

Ja. Wir hatten uns beide unser Wiedersehen einfacher vorgestellt.

Kapitel 4: Auf der Suche

Wir teilten uns auf. Loïc und seine beiden Krieger suchten in der einen Richtung, ich mit Cú in der anderen. Branna war nirgends zu sehen. Vielleicht war sie ja bei Samis. Ich hoffte es.

Man wich uns aus, als wir rufend umhergingen. Wir umrundeten die Schenke, trafen uns dahinter wieder in dem engen Bereich, der zwischen Hauswand und Steilhang war. Ausgetrunkene Amphoren lagen hier, leere Holzkisten. Aber keine Spur von Samis. Wir trennten uns wieder, um in weiteren Kreisen Brigantion abzusuchen.

»Wir werden ihn bestimmt rasch finden«, sagte Loïc erneut, ehe er Titus! Samis! rufend mit seinen Kriegern weiterlief.

Hoffentlich kam Samis auf keine dummen Gedanken. So sehr hatte ich ihn bewundert, wie gefasst er mit dem Verlust seines Vaters umgegangen war, hatte ihm dadurch wohl mehr innere Stärke zugetraut, als er hatte. Es schien, dass das Wiedersehen mit Loïc ihn völlig aus dem Gleichgewicht geworfen hatte. Vielleicht war es auch schlichte Eifersucht, weil ich nach dem einen Mond, den er mich für sich gehabt hatte, nun so offensichtlich durch Loïcs Auftauchen gefesselt war. Oder die Befreiung seiner Stimme hatte auch all die Gefühle an die Oberfläche getrieben, die er fest unter dem Riegel seiner Stummheit in sich verschlossen gehalten hatte. Die Macht der Stimme war groß und konnte nicht nur nährend und beruhigend sein, sondern ungeleitet wie eine Flutwelle alles an Verstand unter sich begraben.

Fieberhaft überlegte ich, wo Samis wohl hingelaufen sein könnte. Ich eilte zurück zum Haus des Ambactos. Vielleicht hoffte er ja, dass der hohe Mann sich seiner annahm. Doch das Haus lag still da, nur eine Magd saß davor auf der Bank und rupfte einen Vogel. Sie hatte den Jungen nicht gesehen. Ich lief weiter, Cú an meiner Seite. Der Hund schnüffelte suchend am Boden, doch es waren so viele Menschen unterwegs, dass es ihm nicht möglich war, Samis’ Spur zu finden. Vielleicht war er ja auch woandershin geflüchtet. Vielleicht versteckte er sich ganz in der Nähe, nur um mich zu erschrecken. Was, wenn er dem Kerl über den Weg lief, den Cú beinahe in die Hand gebissen hatte?

So lange hatte ich davon geträumt, Loïc wieder zu begegnen und nun verbrachte ich die Zeit des Wiedersehens damit, dem Jungen nachzulaufen. Ich verstand, wie furchtbar es für Samis sein musste, das Gefühl zu haben, Loïc hätte seinen Vater retten können und hatte es nicht getan. Aber er konnte ihm doch nicht die Schuld geben … Natürlich konnte er. Er war ein Kind. Ich täte es vielleicht auch, wenn es nicht Loïc wäre, um den es ging …

Ich hielt inne, sah mich um. Lauter verwinkelte Häuser, eng beieinander stehend. Fässer, Kisten, Säcke in den schmalen Gassen dazwischen. So viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. So wie damals, im Reisewagen seines Vaters, verborgen unter Decken und Leinenbeuteln. Er musste hier irgendwo sein. Er war keiner, der flüchtete wie ein Reh, sondern mehr wie ein Kitz, das sich bei Gefahr ins hohe Gras duckte, um unsichtbar zu sein. Warum nur zeigte Cú keine Anzeichen, dass er den Jungen roch?

Ich eilte zurück zur Schenke. Vielleicht irrten wir uns ja. Vielleicht war er gar nicht weggelaufen, vielleicht hatte er sich nur kurz erleichtern müssen und stand nun verloren in der Gaststube, suchte uns. Ich mahnte mich zur Vernunft. Er hätte nicht die Leier dazu mitgenommen, nicht Cú mit den Resten seines Eintopfs abgelenkt. Dennoch lief ich zurück. Fragte den Wirt, ob der Junge zurückgekommen wäre, doch der schüttelte nur den Kopf.

Dann kroch Furcht in mir hoch. Was, wenn er sich nicht irgendwo versteckte, um mich zu ärgern oder seine verzweifelte Wut in Ruhe auszuweinen, sondern wenn er in seiner Gefühlsflut tatsächlich Brigantion verließ? Er war ein Kind. Er konnte doch nicht meinen, dass er ganz alleine und zu Fuß es wagen konnte, die Siedlung zu verlassen? Aber was … wenn er nicht zu Fuß …

Ich fragte den Wirt nach dem Stall und eilte dorthin.

Kapitel 5: Suchend unterwegs

Nachdem sie die Schenke umrundet hatten, schickte Loïc Anderos und Balcos in die höhergelegenen Teile der Siedlung. Als Loïc selbst noch ein Kind gewesen war, hatte er sich immer nach oben geflüchtet, wenn es Schwierigkeiten gab, denen er ausweichen wollte. Hinauf in die Krone eines Baumes, auf das Dach des Hauses, oder, wenn die Sueben ihr Lager in hügeligem Gelände aufgeschlagen hatten, höher den Berg hinauf. Immer dorthin, wo man einen guten Überblick hatte und Verfolger früh genug sah. Deshalb schickte er auch die beiden Krieger. Titus würde nur noch weiter laufen, wenn er Loïc sah. Und irgendwann war mit den Bergen nicht zu scherzen. Schroff erhoben sich die Felsen hinter der Siedlung.

Einen Augenblick wartete er, während Anderos und Balcos zwischen den Häusern verschwanden. Er atmete tief durch. Zwang die Wut hinab, die er verspürte. Neun Jahre hatte er auf diesen Augenblick gewartet, wieder mit Arduinna vereint zu sein, und nun mussten sie einem trotzigen Jungen nachlaufen. Wie konnte er dem kleinen Römer klar machen, dass er nicht der Mörder seines Vaters war? Nur die Götter konnten wissen, ob er Granius vor dem Tod bewahrt hätte, wäre er bei dem Reisewagen gewesen, als sie überfallen wurden.

---ENDE DER LESEPROBE---