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Was war das für eine Zeit, damals, in den 1960er Jahren, als alles noch unter einem grauen Schleier lag? Uns Jungen gingen die alten Autoritäten auf den Sack. Lehrer zogen uns noch an Haaren und Ohren. Die Eltern sprachen nicht über Sex. Die Zeitungen berichteten von Bombenteppichen über Vietnam im Namen der Demokratie. Wir hatten das Gefühl, von allen belogen zu werden. Eine heuchlerische, verkorkste Gesellschaft. Eine lieblose, prüde Gesellschaft. Die Alten waren zu feige gewesen, sich gegen Hitler zu wehren. Jetzt schoben sie alles auf ihn: Er – er allein – hatte den Krieg gemacht. Er allein hatte die Juden vergast. Und so weiter. Welch eine Lüge. Wollten uns unsere Alten verarschen? Für uns wurde der Aufbruch eine Frage des inneren Überlebens. Wir wurden rebellisch und hofften auf die Befreiung durch die "sexuelle Revolution": Make Love – Not War. Und: Wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment. Wir wurden politisch: Amis raus aus USA, Winnetou ist wieder da! Bier und Hanf gehör'n zum Kampf! Und wir wurden antiautoritär und unausstehlich: Für die Abschaffung des Alltags! Gemeinsam sind wir unausstehlich! Im Bett zart – gegen Bullen hart! Aber unsere Hoffnung starb nicht. Unsere Visionen erreichten Blüten. Unsere Illusionen kämpften mit der Realität. Wir hofften und bangten. Und dann kam Willi Brandt und wollte mehr Demokratie wagen. Und dann kam Karin und wollte mehr Liebe wagen. Es waren sexy Zeiten.
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Seitenzahl: 509
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Stefan Koenig
Sexy Zeiten - 1968 etc.
Zeitreise-Roman Band 1
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Stefan Koenig
Widmung
Impressum:
Vorbemerkung
Liebe im lieblosen Grau
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Wie wir aufwachten
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Love and Peace
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Make Love Not War
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Einfach nur Liebe
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Dank und Nachbetrachtung
Folgeromane zu „Sexy Zeiten“
Crazy Zeiten - 1975 etc.
Bunte Zeiten – 1980 etc.
Zum Buch »Tag 1 – Als Gott entstand«
Leseprobe
Inhaltsangabe für die Printausgabe
Impressum neobooks
Sexy Zeiten 1968 etc.
Zeitreise-Roman Band 1
Aus dem Deutschen ins Deutsche übersetzt von Jürgen Bodelle
Das sichtbarste Abenteuer eines jeden jungen Menschen
(eines jeden wirklich jungen Menschen) besteht aus einer Folge von Akten,
die das Gesetz brechen …
Gewidmet der Jugend, die nicht vergessen sollte,
dass aller Fortschritt und alle Freiheiten erkämpft sein wollen.
© 2018 by Stefan Koenig
Verlag Pegasus Bücher
Fünfte überarbeitete Auflage, 2020
Lektorat:
Herbert Bauch, Frankfurt am Main Alexandra Pfeifer, Laubach
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich ge- schützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Kontakt zum Autor: Mailadresse: [email protected]
Postadresse: Pegasus Bücher Postfach 1111
D-35321 Laubach
Was weiß man von Menschen, die in der Jugend mit einem den Weg teilten? Einige von ihnen leben nicht mehr, andere leben und haben völlig andere Lebenswege eingeschlagen, als sie in ihrer Jugend je zu wagen gedacht hätten. Alles in diesem »Roman über eine bewegte Jugendzeit« entspricht meinen ureigenen historischen, gelebten und gefühlten Erinnerungen. Erinnerungen sind immer persönlich, völlig subjektiv. Zugleich entspricht nicht alles meinen unmittelbaren persönlichen Erlebnissen und ist in Roman-Form „umgeformt“. Wie immer, however, musste ich in altbewährter Manier mal wieder an meinem Alter rumbasteln, um die Zeiten passend hinzubiegen. Über- haupt ist nicht alles Persönliche unbedingt authentisch. Aber gerade deshalb ist es ja ein über das persönliche Erlebnis hinausgehender Zeitreise-Roman und keine Autobiographie.
Personen der Zeitgeschichte habe ich mit ihrem Klarnamen benannt. In anderen Fällen wurden die Namen ausgetauscht. Viele der älteren Leser werden die Erinnerungen teilen, weil sie dabei waren, als das Land sich veränderte, sich verändern musste. Viele haben den glückseligen Aufschwung, die Überwindung des gesellschaftlichen Grauen Stars mit der engagierten Jugend- und Friedensbewegung geteilt. Wir haben viel getanzt, unendlich geliebt und laut gesungen, waren farbenfroh und voller Ideen und Hoffnungen. Einige Angepasste aber kamen immer zu spät. So ist es eben, das Leben.
Als ich diesen Band Ende 2017 schrieb, dachte ich nicht im Entferntesten daran, dass daraus eine ganze Zeitreise-Serie entstehen würde. Ich hatte lediglich jenes große Schicksalsjahr der deutschen Geschichte vor Augen, jenes Jahr, das ich intensiv miterlebt hatte: 1968. Jenes Jahr einer Zeitenwende, das zum Zeitpunkt dieser Erstveröffentlichung – in 2018 – sein fünfzigstes Jubiläum feierte. Nur als eine Art Geburtstagsgeschenk an jenes Jahr hatte ich mein Buch vorgesehen. Aber es kam ganz anders. Das lag an den letzten überlebenden Hippies, den letzten hippieesken Mohikanern unseres Landes. Seit Jahrzehnten feiern sie, zirka 12.000 an der Zahl, in faszinierend unbeschwerter Weise in der letzten Juliwoche in Mittelhessen auf Burg Herzberg ihr deutsches Woodstock. Sie waren meine Rettung. Warum?
Voller Enttäuschung hatte ich in der ersten Verkaufssaison, im Sommer 2018, festgestellt, dass meine ins Marketingvisier genommene potenzielle Leserschaft, Alt-68er, Alt- und Frisch-Grüne, Alt-und Neu-Linke und Zeitgeschichtsinteressierte, sich nicht hinreichend als Kunden gewinnen ließen. Die typischen Alt-68iger winkten müde ab: „Kennen wir doch alles. Haben wir doch selbst erlebt. Danke, kein Bedarf.“ Dabei hatten sie fast alles vergessen, wussten vieles nicht mehr, stotterten rum, wenn sie Zeitumstände etwas detaillierter schildern sollten.
Viele von ihnen nutzten immer noch keine eMail. Hatte man jemanden „an der Angel“ und ihm eine erläuternde Mail zu meinem Zeitreiseprojekt geschrieben, weil er sich angeblich mit Mails auskenne und Postzusendung unnötig sei, dauerte es Monate, bis er sie geöffnet hatte. Und noch einmal Monate, bis er sie gnädiger Weise beantwortet hatte. Mir wurde schlagartig klar, dass ich mit diesem etwas angerosteten Klientel nichts anfangen konnte. In dieser Situation erhielt ich den Rat, es mit einem Verkaufsstand auf dem Burg Herzberg Festival zu versuchen. Und das war mein Glück. Das Buch wurde mir dort aus der Hand gerissen.
Die Festivalbesucher waren herzlich, aufgeschlossen und höchst interessiert an meinem Zeitreise-Roman, der über die Geburtswehen einer neuen Zeit berichtete. Fünf Tage blieb ich bei den Althippies, Neohippies, Möchtegern-Hippies und Liebhabern alter wie neuer Hippie-Rhythmen. Ich verkaufte ordentlich und hatte gute Gespräche, fühlte mich so jung wie damals – ein herrliches feeling. Ein Superfestival. Hier wollte ich jedes Jahr hin.
Schon nach dem ersten Festivaltag kam ein Hippiemädchen, Mitte Zwanzig, und meinte: „Ich hab‘ gestern den ganzen Nachmittag gelesen, dann von Mitternacht bis morgens um vier. Jetzt bin ich fertig. Da bin ich ja mal auf die Fortsetzung gespannt. Hast du den Folgeband dabei?“
„Den gibt es nicht, sorry“, antwortete ich. Enttäuscht zog sie ab, sagte aber zuvor: „Überleg dir das doch: Wie sich die Zeitumstände entwickelt haben, wär‘ doch interessant zu erfahren …“ Als in den Folgetagen immer wieder begeisterte Leser/innen an meinen Stand kamen und fragten, wie die Zeit damals war und wie es weiterging, da reifte in mir tatsächlich der Gedanke an einen Fortsetzungsroman nach »Sexy Zeiten«. Und so war dort gedanklich die Geburtsstunde von »Wilde Zeiten – 1970 etc.«. Und so war es auch im Folgejahr, in dem ich mich endgültig entschloss, eine spannungsgeladene zeitgeschichtliche, musikalisch-kulturelle und gesellschaftskritische Fortsetzungsserie über jene Jahre zu verfassen.
Was wurde aus den Hippies, was aus den Revoluzzern, was aus den ewig Angepassten und Angepissten? Natürlich wollte und musste ich darüber berichten, wie sich die Zeiten und Jugendbewegungen änderten. So entstanden, jeweils für eine halbe Dekade, die Folgebände: »Crazy Zeiten – 1975 etc.«, »Bunte Zeiten – 1980 etc.«. Und gerade heute erschien der neueste Serienband »Rasante Zeiten – 1985 etc.«.
Ich plane – mitten in der Corona-Zeit – als sportives Risikogruppenmitglied waghalsiger Weise die Fortsetzung der Serie bis in die Jetztzeit. So sollte der letzte Band sinniger Weise heißen »Verfickte Zeiten – 2020 etc.“ und uns später in Erinnerung rufen, wie wir heute fühlen, wie wir leben, wie wir hoffen und bangen. Ich hoffe, es möge für uns alle märchenhaft weitergehen – aber bleiben wir realistisch und schließen mit dem Spruch mit dem alle Märchen schließen: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
In diesem Sinne: Genießen Sie das Leben, sofern sie noch leben.
Laubach, 25. Mai 2020
Ihr Stefan Koenig
Hanna und ich hatten die Entjungferung für ein Wochenende im August 1966 geplant. „Gehst du immer noch mit der Tussi von der Bettinaschule?“ hatte mich Pit noch am Freitag vor dem Matheunterricht gefragt. So eine blöde und plumpe Frage! Das hätte ich von meinem besten Schulkumpel nicht erwartet. Erstens war Hanna alles andere als eine Tussi, denn sie hörte Beethoven. Und zweitens gingen Hanna und ich schon seit vier Wochen miteinander. Und wenn man mehr als zehn Tage miteinander ging, dann war das quasi ein Eheversprechen. Außerdem fummelten wir schon seit einem gefühlten halben Eheleben. Und natürlich hatte ich meinem guten Freund Pit darüber ausführlich er-zählt. Was für eine doofe Frage also!
Diesmal war ich Pit um eine Nasenlänge voraus. Das konnte er ruhig wissen. Der Entjungferungszeitplan von Hanna und mir ging ihn allerdings nichts an, fand ich. Am Samstagmittag war es endlich soweit. Ich kaufte Teelichter und pflückte heimlich Blumen in unserem Kleingarten, den meine Eltern diesmal ausnahmsweise nicht beackerten. Schließlich waren sie heute auswärts eingeladen. Mit Übernachtung. Und meine acht Jahre ältere Schwester Ulla feierte ihren vierundzwanzigsten Geburtstag seit zwei Tagen bei ihrem französischen Liebhaber, Monsieur Pierre Beaugrande, mit Dauerübernachtung im Odenwald, eine Autostunde entfernt von unserem Elternhaus in Frankfurt. Mein sieben Jahre älterer Bruder Günter war als gelernter Schriftsetzer am Puls der Zeit, im fernen Berlin.
Ich hatte also sturmfreie Bude, und das wussten Hanna und ich nun schon seit acht Tagen. Acht Tage Vorfreude. Acht Tage hingen wir, jeder für sich, wie wir uns später gestanden, in der ewigen Frageschleife, wie das wohl werden würde. Beide waren wir scharf darauf. Und hatten gleichzeitig irgendwie ein wenig Schiss. Aber bisher hatten wir keine Gelegenheit gehabt. Wir muss-ten den Stier bei den Hörnern packen. „Heute geht‘s zur Sache, Liebes“, sagte ich völlig unromantisch ins Tele- fon, eine Stunde bevor Hanna kam, und ich kam mir danach etwas dämlich vor. „Die Sache“ war damals kompliziert. Aber es offen anzusprechen, war schick. Direktheit war bei uns jungen Wilden der Stil der Zeit. Anders die verschnörkelte, hinterfotzige und verquirlte Erwachsenenwelt, wo mit verklemmten Andeutungen und verdunkelten Schlafzimmern die Liebe penetriert wurde. Das war nicht die reife Romantik, als die sie es zu verkaufen suchten, das war pure Prüderie.
Streng wachte 1966 das Auge des Gesetzes über unsere Sexualität. Die Autoritäten für uns „Halbstarke“, wie uns manch einer nannte, waren Lehrer und Eltern. Und meine Eltern hielten mir immer wieder vor, was passieren würde, wenn ich ein Mädchen zum Übernachten mit nach Hause nehmen würde. „Wir müssen es ausbaden“, sagte Mama. „Man wird uns Eltern als Verkuppler hart bestrafen. Das kann direkt ins Gefängnis führen.“
Mein Vater hatte Hanna und mir noch am Mittwoch vor unserem Geheimplan versucht, einen Strich durch die Rechnung zu machen. Wir waren beide erst sechzehn Jahre jung. Wahrscheinlich ahnte er etwas von „der Sache“. Er war ja immerhin auch ein Mann. Stillschweigend hatte er uns am Nachmittag nach Kaffee und Kuchen diskret einen ziemlich alten Zeitungsartikel von 1961 auf dem Esstisch hinterlassen. Titel: „Urteil des Bundesgerichtshofs“. Darin hieß es: „Die moralische Ordnung fordert, dass körperliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern grundsätzlich sich nur in monogamen Ehen vollziehen, da Zweck und Ergebnis dieser Beziehung das Kindist.“
Auch mein Gymnasiallehrer, Herr Hahn, hatte unsere Klasse vor einem Jahr – da waren wir gerade Fünf-zehn geworden – beiläufig wissen lassen, dass außerehe-liche Gemeinschaften verboten sind. Dabei hatte er allerdings heftig mit dem Auge gezwinkert. Er war auch derjenige, der uns annähernd wahrheitsgetreu aufklärte. Eines Tages sagte er: „In der Liebe ist alles erlaubt. Man darf sich küssen und lecken, wo auch immer.“ Dabei schaute er uns unverblümt in die Augen. Ich bekam einen knallroten Kopf – und wahrscheinlich nicht nur ich.
Hanna war auf einer reinen Mädchenschule. Ihre Lehrer waren echt verklemmt, wohl mehr, als die Pau-ker an unserer Jungenschule. Also hatte sie von Tuten und Blasen keinen blassen Schimmer. Aber wie sie mir erzählte, hatten auch ihre Eltern sie nicht aufgeklärt. Folgerichtig hatten ihre Alten die von ihr vorsichtig angefragte Übernachtung meiner Wenigkeit in Hannas mädchenhaft eingerichtetem „Kinderzimmer“ abge-schmettert.
„Wer unter seinem Dach ein unverheiratetes Paar auch nur für eine Nacht beherbergt, macht sich strafbar nach dem Kuppelei-Paragrafen. Da stehen bis zu fünf Jahre Zuchthaus drauf!“, hatte ihr Vater in seiner typischen Akademikerart doziert. Ihr Vater war Physiker, die Mutter Hausfrau, wie das eben üblich war; denn ein einziger Verdiener für die Familie war absolut ausreichend. Und es sicherte die Vormachtstellung des Verdieners.
Wer sollte uns oder unsere Eltern eigentlich verpet-zen, wenn einer von uns in der Wohnung des anderen übernachtete? Wenn wir gegenüber den Eltern einwand-ten, dass das doch keinen Menschen interessiere, dann kam immer derselbe Satz: „Aber was sollen die Nach-barn denken!“ Und irgendwie war da was dran. Nach-barn fungierten in den 1960er Jahren noch gerne als selbst ernannte Blockwarte. Sie schwärzten jeden an, den sie nicht leiden konnten.
Der großartigste Aufklärungsheld für uns Jugendliche hieß Oswalt Kolle. Sieben Jahre später, 1973, als der Kuppeleiparagraph endlich abgeschafft war, berichtete er, dass es damals jährlich bis zu vierhundert Verfahren gegeben hatte.
Ja, es kotzte uns an, dass Sex nur im Ehebett statt-finden durfte. Vieles ging uns gegen den Strich: Der mörderische US-Bombenkrieg in Vietnam, die Doppel- moral unserer Eltern, die rücksichtslose Polizeigewalt gegen friedliche Sitzdemos an den Unis, wo Studenten gegen ihre dogmatischen Professoren in ihren verstaub- ten Talaren streikten.
„Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren!“ So skandierten sie auf dem Campus und in den Hörsälen. Und uns Schülern gingen die autoritären Lehrer gegen den Strich. Wir jungen Revoluzzer wollten uns das nicht länger gefallen lassen. Während weltweit irgendwelche Befreiungskämpfe tobten, die wir in unserem pubertären Modus noch wenig verstanden, kämpften wir Schüler erst mal gegen die sexuelle Unterdrückung, gegen die Fesseln der Prüderie. Und gegen die Allmacht der autoritären Erwachsenenwelt, in der die Prügelstrafe eher noch Regel als Ausnahme war. Da hatte ich verdammtes Glück, mein Elternhaus gehörte zur Ausnahme. Aber meine Lehrer schlugen noch auf die Finger, verteilten Backpfeifen, rissen an Ohren und Haaren, stellten uns in die Ecken und warfen mit Schlüsselbund und Kreide.
Endlich war heute sturmfrei. Das heißt, da gab es noch eine Tante Ria im Haus. Meine Mutter hatte die Stadtvilla von ihren Eltern geerbt, ein Teil dieser Erbschaft bestand in Tante Ria, die weder eine richtige Tante noch sonst irgendwie angenehm war. Sie hörte, sah und roch alles. Und sie hatte mir seit unserem Einzug in das Haus 1962 noch niemals eine Aufmerksamkeit, nicht einmal ein Bonbon als Geschenk gemacht. Als wir in das Bornheimer Haus einzogen, ich war gerade zwölf geworden, litt ich unter der mangelnden Aufmerksamkeit dieser Nenntante arg. Schließlich hatte ich in unserem bisherigen Preungesheimer Wohnblock, in der Nähe des Frankfurter Knastes, gleich gegenüber der amerikanischen Kaserne, eine liebe, dicke und gut riechende „Oma“ als Nachbarin gehabt, die mir wöchentlich ein Stück Schokolade oder Bonbons zusteckte. Das war in den Zeiten meiner Kindheit, zwischen 1950 bis zu unse-rem Auszug 1962, wahrer Luxus.
Daher kam in meiner Kindheit und frühen Jugend wohl auch die herzliche Verbundenheit zur amerikani-schen Besatzungsmacht, denn die Soldaten machten sich eine Gaudi daraus, uns Kindern, die wir vor dem hohen Stacheldrahtzaun der Kaserne spielten, Kaugummis und Lutscher zuzuwerfen. Wir prügelten uns darum. Nach der Rauferei zeigten sie auf einzelne von uns, die nichts abbekommen hatten, und warfen ihnen auch etwas zu.
Das war wohl Besatzungsgerechtigkeit. Niedergeschrieben schon in der Bill of Rights, damals, vor langer Zeit, 1789. Doch über Geschichte machten wir uns in jenen jungen Jahren keine Gedanken. Schließlich hatte die Geschichte gerade erst mit uns Nachgeborenen begonnen. Der Krieg war wie der Einschlag eines Kometen, der die Dinosaurier ausgelöscht hatte. Der Krieg war für mich eine Ewigkeit her. Ich war schließlich ganze fünf Jahre nach seinem Ende geboren. Der Krieg war eine totgeschwiegene, aber unleugbare Vergangenheit, die in meinen jugendlichen Augen vor urig langer Zeit für immer vergangen war. Brennend interessierte uns die Gegenwart – und das andere Geschlecht.
Um unseren Entjungferungsplan an jenem hochsommerlichen Samstag umzusetzen, mussten Hanna und ich noch Tante Ria schachmatt setzen. Aber wie? Sie hatte im zweiten Geschoss einen Balkon zum Hausgarten hin, auf dem sie nachmittags gerne residierte. Wenn ich Hanna vorne zur Haustür rein ließ, war sicherzustellen, dass Tante Ria schön hinten auf ihrem Balkon sitzen blieb. Hanna und ich mussten uns also auf die Minute abstimmen und ständig auf unsere klobigen Armbanduhren schauen. Übrigens waren Armbanduhren eine luxuriöse Ausnahme. Hanna kam mit der Straßenbahn; die hielt am Prüfling, da war Endstation. Von dort hatte sie nur zwei Minuten bis zur Obernhainerstraße 7.
Gottseidank besaßen meine Eltern – wohl eher aus beruflichen als aus privaten Gründen – eine Luxustech- nik. Das war ein marmorweißer Telefonapparat mit Ziffern-Wählscheibe und mit einer elegant geschwungenen Telefongabel, auf der dezent ein gleichfarbiger Tele- fonhörer ruhte. Dieses Telefon hatte seinen festen Platz im Flur und thronte auf dem extra beim Versandhaus Neckermann bestellten Telefontischlein, auf dem ein dunkelrot besticktes Unterlegdeckchen dem Apparate- tisch einen quasi-religiösen Charakter verlieh – ein ver- ehrenswerter Telefonschrein.
Nun also musste ich vorab telefonisch mit Hanna besprechen, wann genau ich die Haustür offen stehen lassen musste, damit sie unbemerkt über den Flur zur Kellertür und hinunter in mein Souterrain-Zimmer gelangen konnte. Im Garten hatte ich aus Ablenkungsgründen eine große Wanne aufgestellt und einen Wasserschlauch hineingelegt. Wasser war teuer. Geld war knapp. Wasservergeudung war eine schlimme Sache. Das war mein Köder.
Ich hantierte extra laut singend im Garten herum, bis sich Tantchen gestört fühlte und schimpfend an die Balkonbrüstung trat. „Kannst du nicht einmal ein biss- chen leiser sein. Es ist Mittagsruhe! Kaum sind deine Eltern aus dem Haus, wird es hier unerträglich laut!“
„Ach, Tante Ria“, sagte ich, „Gut, dass du gerade auf deinem Balkon bist. Ich möchte dich bitten, einen Augenblick auf das Wasser hinunterzuschauen, damit es nicht überläuft. Ich muss noch etwas im Keller suchen. Wenn ich es nicht rechtzeitig schaffe, rufe einfach durch den Treppenflur. Dann stelle ich das Wasser ab.“
Der Plan klappte. Die neugierige Tante war ausge- trickst. Heute war aus einem weiteren Grund ein idealer Tag für unser Vorhaben. Es gab noch eine andere Miet- partei im Haus, nämlich im Erdgeschoss, weil meine Eltern die aufgenommene Hypothek auf das nur zur Hälfte geerbte Haus nicht alleine stemmen konnten, um Mutters Schwester, Tante Anneliese, auszubezahlen. Die Mieter waren Herr und Frau Winkelmann, Geschäftsleute, die einen teuren Möbelladen am Römerberg be- trieben. Die attraktive Frau Winkelmann war vierzig Jahre alt und konnte ziemlich laut in ihrem Schlafzim- mer, das genau über meinem Souterrain-Jugendzimmer lag, stöhnen. Das war für mich Erotik pur. Geiles Kopfkino. Und Hanna lernte, wie ich mitbekam, auch sehr schnell von ihr. Die Winkelmanns waren an jenem Samstag auf Einkaufstour in Italien, wo sie teilweise ihre exquisiten Möbel anfertigen ließen. Bis auf Tante Ria hatten wir also tatsächlich absolut freie Fahrt.
Nun war Hanna endlich unbemerkt in meinem Zimmer angekommen. Jetzt musste ich nur noch si- cherstellen, dass Tante Ria nicht ausgerechnet heute ihren Waschtag hatte, denn die Waschküche war genau neben meinem Souterrainzimmer. Und falls Hanna oder ich im Laufe unseres sexuellen Startups zu laut werden würden, na ja, dann wäre unser ganzer Aufwand um- sonst gewesen. Also stapfte ich die Treppe hoch und klingelte.
„Tante Ria, ich wollte jetzt Wäsche waschen; aber falls du heute …“
„Nein, nein“, unterbrach sie mich, „heute ist mein freier Tag!“
„Das hast du auch verdient“, sagte ich. Aber bei mir dachte ich, dass sie eine ganz schön faule Sau sei, denn sie ging weder arbeiten, noch half sie meiner Mut- ter beim Reinigen des Hausflures, der Treppen, des Vorhofes oder bei der Pflege des Gartens. Doch ich verbarg meine unschicklichen Gedanken hinter einem freundlichen Lächeln. Und tatsächlich war ich auch erleichtert.
Wenn du beim ersten richtigen Sex auch noch darauf achten sollst, wie laut du sein darfst, dann haben die Schweine gesiegt. Und Schweine waren natürlich alle, die die rostbraunen und grauen Zustände dieses Landes repräsentierten. Das war das Establishment. Oft reichte das Establishment bis hinunter zu unseren Eltern und den maroden Verwandten. Insbesondere bis zu Onkel Karl, dem alten Nazi und ehemaligen SS-Standarten-Führer, der nach ultrakurzer Entnazifizierung im Handumdrehen zum bestverdienenden Allianz- Direktor aufgestiegen war. Aber in der Hauptsache standen unsere Lehrer allesamt für das verpönte Establishment, gegen das wir mit den ersten Songs der Beatles und Rolling Stones rebellierten.
Im Sommer 1966 war „19th Nervous Breakdown“ mein Lieblingshit der Stones. Das unerträglich nervige Grau unseres Deutschlands musste zum Abblättern gebracht werden. Wir würden das westdeutsche Haus total renovieren. Aber als erstes mussten wir uns sexuell befreien. Wenn wir die Gefühlswelt befreit hätten, dann würde sich die Menschheit zum Besseren wenden. Han- nas und mein Befreiungsakt stand unmittelbar bevor.
Alles war erstmal wie immer und es begann halb so wild, wie wir es uns vorgestellt hatten. Wir hatten ja bereits Petting, hatten uns befummelt und aneinander gerieben und liebkost, hatten nach vier Wochen Schülerliebe fast alle Entdeckungsreisen an unseren Körpern abgeschlossen. Und nun kam der letzte Kick, der erste Akt – und, na ja, wie soll ich sagen, er war uns nicht so recht geglückt. Mir schien es ziemlich schwer, bei meiner Liebsten durch- und reinzukommen. Aber nach einer Weile fühlte es sich sehr feucht an und wir beide schauten, was sich da getan hatte.
Hanna schrie auf. Ich staunte nicht schlecht. Eine ansehnliche Blutlache hatte Laken und Bettdecke ver- saut. Wir nahmen das bereitgestellte Toilettenpapier – eine erotischere Variante hatte sich nicht finden lassen – und ich wischte Hanna ab. Aber Hanna hatte nur Augen für meinen Pimmel. Das Wort „Schwanz“ wurde noch lange nicht benutzt. Und sie schrie wieder: „Du blutest da!“
Mein Bändchen an der Vorhaut war eingerissen, das blutete wie die Sau. In meiner Erregung hatte ich das nicht mitgekriegt. Es tat auch nicht weiter weh, noch nicht – musste aber verbunden werden, worum sich Hanna liebevoll, zärtlich und mitfühlend bis mitleidig kümmerte. Das war mir höchst peinlich. Der erste reale Sex war eine blutige Erfahrung. Hanna war nicht entjungfert, stattdessen ich. Die romantischen Kerzen waren nicht zum Einsatz gekommen, dazu war es noch zu hell. Der Rest dieses ereignisreichen und doch so jämmerlichen Tages war irgendwie noch ganz schön, wenngleich ich etwas breitbeinig gehen musste. Deshalb saß ich viel. Die Nacht verbrachte Hanna natürlich bei mir.
Vorher rief sie ihre Eltern an und sagte, dass sie bei ihrer Freundin übernachten würde. Bei der hatte sie zuvor angerufen und sichergestellt, was zu sagen sei, falls Hannas Eltern dort anrufen. Aber gutbürgerliche Eltern glauben ihren pubertierenden Gören. Das wirklich Gute an den guten alten Wählscheiben-Telefonen war, dass der Angerufene nie sehen konnte, von welchem Apparat aus angerufen wurde.
Jetzt schlichen wir uns hoch in die elterliche Wohnung, machten uns Brote, holten Obst, das ich am Tag zuvor in unserem Garten gepflückt hatte, Pflaumen und Brombeeren. Dann endlich zündeten wir die Kerzen an, machten uns an Vaters Weinvorrat zu schaffen und hörten halbbetrunken vom Schallplattenspieler das wilde Wild Thing von The Troggs und den klassischen Loversong jenes Jahres: When a Man Loves a Woman von Percy Sledge.
So kam es, dass wir ohne Komplikationen den ers- ten Abend, die erste gemeinsame Nacht miteinander verbringen konnten – sex- und fast geschlechtslos, total dem äußeren prüden Flair des ganzen großen Landes ergeben. Wir waren aber auch recht fleißig, so fleißig und gewissenhaft wie uns täglich im Übermaß vorgelebt wurde, und wir wuschen sogleich Laken und Bettdecke mit kaltem Wasser aus. Die Blutflecken hinterließen keine verdächtige Spur mehr. Meine Mutter würde am nächsten Abend nicht merken, was in der Liebeshöhle im Souterrain geschehen war.
Mutter war total lieb und fürsorglich, aber wie wohl alle Mütter war sie total interessiert am Intimleben ihres Jüngsten. Eines Tages, als ich Verdacht schöpfte, sie würde in meine Schreibtischschublade gucken und heimlich meine Liebesbriefe lesen, zog ich zur Kontrolle ein dünnes Nähfädchen über die Schublade. Als ich aus der Schule kam, lag das Fädchen tatsächlich auf dem Boden. Von da an versteckte ich die Liebesbriefe, die ich schrieb und die ich erhielt, zwischen meinen Schulsachen und schleppte sie täglich mit zur Schule.
Den gescheiterten Entjungferungsabend ließen wir ab 20:00 Uhr mit bourgeoisem Fernsehen ausklingen. Den kleinen Schwarz-Weiß-Kasten hatten sich meine Eltern erst ein Jahr zuvor angeschafft. Hannas Akademiker-Eltern fanden das Fernsehen derart schrecklich, modisch-unnütz und verwerflich, dass sie solch einem Gerät noch weitere drei Jahre den Zutritt in das Familienleben verweigerten. „Fernsehen verblödet“, sagten sie. Hanna und ich waren tatsächlich ganze sechzehn Jahre unseres jungen Lebens ohne TV aufgewachsen.
Hin und wieder sahen wir bei Freunden, die mit dem neuesten großformatigen Fernsehmodell ihrer Eltern prahlten, ausschnittweise jenes Leben, das aus Amerika zu uns herüberschwappte. Niedlich fand ich den bekanntesten Delfin der Fernsehgeschichte. Im ZDF meisterte „Flipper“ in der gleichnamigen US-Serie gemeinsam mit Küstenwächter Porter Ricks die gewagtesten Abenteuer. Dabei halfen an Floridas Küste die beiden Söhne von Ricks, Sandy und Bud. Gemeinsam brachte das Quartett so manchen Gangster hinter Schloss und Riegel. Und Flipper war einfach immer spitze.
Da gab es noch lange keine Baywatch-Boys und keine Pamela Anderson, denn die wurde erst ein Jahr später geboren. Die Rettungsschwimmer von Malibu kamen dann schließlich 1989 in Kalifornien zum Einsatz und ins TV. Dazwischen lag eine rasante Fernsehgeschichte; zugleich eine Geschichte des großen Rückzugs ins Private, eine Entwicklung der schleichenden Entpolitisierung und des Bildungsabbaus im Rahmen der Öffentlich-Rechtlichen – und überhaupt. Aber eilen wir der Zeit nicht voraus.
Unser „Marken-Fernseher“ von Grundig war Baujahr 1965 und in einem Nussbaum-Fernsehschrank mit zwei Flügeltüren versteckt. Das passte so leidlich zu der antiquierten Chippendale-Einrichtung, die meine Mutter von ihren Eltern geerbt hatte. Meine Großeltern mütterlicher- wie väterlicherseits habe ich nie kennen gelernt. Lediglich Vaters Mutter ist mir noch in Erinnerung, da sie mich einmal zu Hause am Krankenbett besuchte. Da lag ich mit einer dicken Bronchitis und Fieber im Bett. Und es musste mir wohl sehr schlecht gegangen sein, denn Oma hatte unsere Wohnung weder vorher noch danach jemals betreten.
Das lag an ihrer „grenzenlosen Eifersucht“, wie mir Mutter in späteren Jahren einmal erklärte. Mein Vater war alleine mit ihr aufgewachsen, Opa früh verstorben. Meine Oma hatte sehr geweint, als ihr einziger Sohn Otto eine andere Frau kennen lernte, liebte und heiratete. Opa war Goldschmied gewesen. Aber woher sein Vater kam und wer Uropa war, das hatte mir mein Vater aus unerklärlichem Grund nie erzählt. „Wir sind hugenottischer Abstammung und unsere Kirche ist die lutherisch-reformierte Gemeinde im Günthersburg-Park.“ Das war im Grunde genommen seine ganze Familiengeschichte, die er erzählen mochte.
In diese schlichte Kirche, die sich sanft und unaufdringlich in den angrenzenden Park eingliederte, ging mein Vater jeden Sonntag zum Gottesdienst. Und bis zur Konfirmation war ich immer mit dabei gewesen. Dieses calvinistische Gotteshaus gefiel mir wesentlich besser als die goldüberladenen Kirchen der Katholiken. Hier bei den Reformierten strotzte es vor Einfachheit, vor gottesfürchtiger Bescheidenheit. Kein Bild. Kein Prunk. Nur ein steinerner, tuchbedeckter Altar, hinter dem ein schlichtes Kreuz ohne Jesus hing. Auf dem Altar lag die Bibel. Dann war da noch die Kanzel zum Predigen. Das war’s schon. Und weil man nicht abgelenkt wurde, hörte man mehr auf die Predigt als in all jenen Gotteshäusern, die ich auch kennen lernen durfte und wo mein Blick stets von einem schön-schrecklich-bunten Ereignisbild zum anderen wanderte.
Viele Gemeindemitglieder waren Hugenotten, wie auch der Pfarrer, der Niederländer war und mit seinem amüsanten Dialekt den Predigten eine besondere Note verlieh. Er war ein sehr sensibler Mensch. Ich mochte ihn. Er sprach in seinen Predigten auch von dem großen Unheil, das die amerikanischen Langstreckenbomber in dem kleinen, unterentwickelten Vietnam anrichteten. Er betete für Vietnam. Später, es muss 1969 gewesen sein, erfuhr ich von seinem Suizid. Ich habe immer die Vermutung gehabt, dass dieser feine Mann mit der schamlos brutalen Welt nicht ins Reine kam. Später sollte ich noch viele Kirchenmitglieder kennen lernen, die mit mir Seite an Seite gegen die Ungerechtigkeiten und Kriege dieser Welt auf die Straße gingen. Was aber die Geschichte der Hugenotten, den grausamen Kampf zwischen Christen und Christen betraf, legte ich damals wenig Interesse an den Tag.
Erst vor wenigen Jahren konnte ich dank meines Facebook-Freundes Burkhard Götzl und dank der evangelisch-reformierten Gemeinde am Günthersburg-Park in Erfahrung bringen, wie die jüngere Geschichte meiner hugenottischen Vorfahren verlaufen war. Burkhard ist ein brillanter Ahnenforscher, und von ihm erfuhr ich nach Vorlage von alten Dokumenten und Kirchenbucheinträgen, dass meine protestantischen Ahnen vor rund 320 Jahren aus Südfrankreich vor dem religiös aufgeputschten katholischen Mob flüchteten. Sie konnten sich 1699 in den wallonischen Teil Belgiens retten. Dort fand der Vater Arbeit in seinem alten Beruf als Uhrmacher; aber nicht alle Kinder der Familie hatten ein solches Glück. Sie blieben lange Zeit ohne Arbeit.
So zog einer der Söhne meines Ururgroßvaters nach Mittelhessen und landete – wie der Zufall es will – nur fünf Kilometer von meinem jetzigen Wohnort Laubach entfernt in Röthges.
Johann, so hieß er, wurde um das Jahr 1715 Tagelöhner bei einem Bauern und trug für diesen die Hühner in Transportställen auf seinen Schultern nach Frankfurt auf den Markt. Eine Fußstrecke von rund 60 Kilometern. Er war nun also von Beruf Hühnerträger – oder im damaligen Sprachgebrauch: Hühnergarth. Noch heute ist dieser Familienname hier in der Gegend verbreitet. Meinen Urahn aber hielt es nicht länger in Röthges, nachdem er genug Geld angespart hatte.
Auf dem Frankfurter Markt hatte er die Frau seines Herzens gefunden und zog zu ihr in die große Stadt. Aus seiner Ehe ging 1722 mein Urgroßvater Philipp hervor, der sich bei einem Goldschmied ausbilden ließ. So nahm die Ahnenreihe ihren Lauf bis schließlich am 16. Oktober 1870 Opa Heinrich in die Goldschmiede hineingeboren wurde. 1908 wurde mein Vater Otto Heinrich im Frankfurter Marienhospital geboren. Die Abstammung meiner „grenzenlos eifersüchtigen“ Großmutter blieb mir hingegen bis heute ein Geheimnis.
Apropos Eifersucht. Hanna und ich schworen uns, niemals der bürgerlichen, kleinkarierten und durchaus behandlungswürdigen Eifersucht zu verfallen. Eifersucht, das war ein Zeichen kleinbürgerlicher Dekadenz – und natürlich hochkapitalistisch. Wir begannen Sigmund Freud zu lesen. Und weil ja alles mit dem Kapitalismus zusammenhängt, wie uns die studentischen Vorbilder lehrten, wendeten wir uns auch dem großen Philosophen und Ökonom Karl Marx zu. Sein Freund und Weggenosse Friedrich Engels, Sohn eines gestandenen Unternehmers, hatte etwas geschrieben, was uns besonders interessierte. Wir erforschten den „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“.
Aber was heißt erforschen? Mit gerade mal sechzehn Jahren waren uns die Texte noch viel zu schwer, auch wenn wir uns noch so sehr bemühten und fleißig am Ball blieben – vieles war uns total unverständlich. Erst zwei Jahre später, als ich die Schriften erneut las, konnte ich begreifen. Denn zwischenzeitlich hatte sich echt „Griffiges“, wirklich zu „Begreifendes“, ereignet. Schuld daran waren die Bullen.
Mitte der 60er Jahre kam es zu vielen Demonstrationen gegen althergebrachte Gesellschaftsstrukturen. In einem Café wurde ich einmal Mithörer eines Gesprächs zwischen zwei krawattenbetuchten Anzugmenschen, und der eine meinte: „Wir leben in einem durch und durch braun-schwarz durchtränkten Land“. Das gab mir zu denken, denn wenn selbst Krawattenmenschen so aufmüpfig redeten, dann musste etwas dran sein. Ich begann zu recherchieren und meine Lehrer zu befragen. Das aber waren die Falschen. Trotzdem fand ich heraus, dass Hunderttausende ehemaliger Funktionsträger der Nazis immer noch – oder schon wieder – in den Amtsstuben, in Ministerien und als Richter in den Hallen von Justitia saßen.
„Wird Zeit, was zu unternehmen. Die Christdemokraten sind die Schutzherren der braunen Garde. Auf einen parlamentarischen Wechsel unserer Politik können wir lange warten“, sagte der eine Krawattenträger, und sie erwähnten drei Buchstaben, die mir damals noch nichts sagten: APO.
Das war die Außerparlamentarische Opposition. Hier organisierten Unorganisierte regelmäßige Protestaktionen auf der Straße und in den Vorlesungsräumen der Universitäten wegen der bundesdeutschen Wiederaufrüstung, wegen des westdeutschen Strebens nach Atomwaffen, wegen der geplanten Notstandsgesetzgebung und wegen des grausamen US-Krieges in Vietnam. Der Protest hatte viele Gesichter, wie ich bald erkannte, und er war mit einem Mal allgegenwärtig. Die Polizei stand mit ihren oft unangemessenen Mitteln im öffentlichen Scheinwerferlicht und war ständiger Kritik ausge- setzt. „Die Bullen haben wieder eine Schülerdemo niedergeknüppelt!“ Das Schimpfwort für die Polizei nahm Gestalt an.
Zu Hause begannen wir aufmüpfige Literatur zu lesen. Woher aber hatten wir die Schriften von Marx, Engels und Freud? Wir gammelten tagsüber am Opernplatz rum, wann immer wir Zeit fanden. Statt Hausaufgaben zu machen, zwitscherte ich ab. „Lollo!“, rief ich meiner Mutter zu – so nannte ich sie, weil mein Vater sie so nannte, denn sie sah in den Augen meines Vaters der italienischen Schauspielerin, Fotografin und Bildhauerin Gina Lollobrigida recht ähnlich: „Ich fahre mal mit der Tram in die Stadt.“ Wir wohnten zwar in der Stadt, im urbanen Stadtteil Bornheim, aber wenn man in „die Stadt“ ging, dann bedeutete es, dass man zur Zeil, jener bekannten Einkaufsstraße der Wirtschaftswundermetropole, oder zum Opernplatz oder zur Hauptwache ging.
Am Opernplatz befand sich der Marshallbrunnen, der seinen Namen dem von 1947 bis 1949 amtierenden US-Außenminister zu verdanken hatte. Der Marshall-Plan pumpte gleich nach dem Sieg über die Nazis aus dem völlig unzerstörten Nordamerika 13 Milliarden Dollar nach Westeuropa, um hier gegen die durch den Krieg fast völlig deindustrialisierte Sowjetunion zu punkten.
Verkauft wurde uns diese Aktion von der BILD-Zeitung und von anderen US-hörigen Pressesatelliten Jahr für Jahr in einhämmernder Weise als „großzügige und uneigennützige Hilfe aus den Vereinigten Staaten“. So hatte ich es auch in der Grundschule gelehrt bekommen. Und von meinen Eltern gehört. Und von meinen Verwandten. Und so sprachen und dachten auch unsere Nachbarn. Und diese Lehre saß sehr tief. Sogar äußerst tief, und sie wirkte äußerst lange nach – bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr, als ich begann, Fragen zu stellen.
Ein uralter Gammler, er war gewiss schon Mitte zwanzig, erklärte mir bei einem Protest-Sit-in wegen des US-Vietnamkrieges an der Alten Oper, was er von der amerikanischen Nachkriegs-Hilfe hielt. „Die sogenannte Hilfe ist nichts weiter als das umfangreichste Bestechungsgeld, das weltweit jemals floss.“
Ein Jahr später arbeitete ich diese Aussage in mein Geschichtsreferat ein: „Die Marshallplan-Hilfe entspricht heute rund 129 Milliarden Dollar. Damit schufen sich die USA wirtschaftlich-politischen Einfluss und sicherten sich langfristig einen großen westeuropäischen Absatzmarkt für ihre Waren und Ideologien.“ Mein sozialdemokratischer Sozialkunde- und Geschichtslehrer gab mir darauf eine „ungenügend“. Er war sechs Jahre zuvor aus der „Zone“ geflohen.
Am Marshallbrunnen saßen all die Outlaws, die Beatniks, Hippies, Gammler und Provos. Dort hatte Kurt, einer der ewigen Langzeit-Studenten, einen sogenannten wilden Bücherstand aufgebaut. Er wurde wohl geduldet, denn die Bullen ließen ihn in Ruhe. Bei ihm gab es längst jene Bücher, die zu dieser Zeit noch keine der normalen Buchhandlungen in ihrem Sortiment führte. Ich hatte von meinem 10-DM-Taschengeld im Laufe der Monate etwas zusammengespart und kaufte jede Woche bei Kurt mindesten ein Buch im Wert von fünf bis acht Mark. Ein wirkliches Taschengeld-Opfer. Ansonsten saßen wir am Brunnen und gammelten.
»Gammeln« war ein neuer Lebensstil, das war Ausbruch pur. Wir wollten raus aus der absoluten Leistungsgesellschaft, der schulischen „Leistungshysterie“, in der wir uns bereits in jungen Jahren nur als kleine Rädchen in einem undurchschaubaren Getriebe vorkamen. Und Noten waren Scheiße. Wie konnte Mensch sich erdreisten, andere Menschen zu benoten! Was ein autoritärer Kack!
Die Gammler von Frankfurt trugen wie die Gammler in München, Hamburg oder Westberlin Zottelhaar, Militärjacken, Parkas, Fellwesten und Fellmützen, Ketten und Amulette. Jacken und Parkas waren meist aus amerikanischen Armeebeständen, die mit Parolen wie Ban The Bomb, Namen von Beatbands und dem Ostermarschabzeichen versehen wurden. Die männlichen Vertreter dieser Spezies trugen Bart. Am Opernplatz traf sich der Frankfurter Ableger jener einzigartigen Subkultur, die sich durch lässige Haltung und Vorliebe für Beat- und Folkmusik auszeichnete. Aber sie stand für keine politischen Inhalte, die über eine Verweigerungshaltung hinausgingen. Deutsche und ausländische Beatniks und Gammler hatten hier ihr Durchgangslager vor ihren Reisen in fremde Länder aufgeschlagen. Für den Spießbürger waren es schmarotzende Arbeitsverweigerer. Und so wurden wir mit ausdrucksstarken Worten bedacht: „Adolf hätte euch in Arbeitslager geschickt!“
Nun war ich kein echter Gammler, denn ich war als Gymnasiast fest im Würgegriff der bürgerlichen Gesellschaft. Aber ich hatte Haare, die waren so schrecklich lang – so „lang“ wie die Haare der Beatles, jener „Affen“, die mit afrikanischer Trommelmusik nur Unheil in den Köpfen der Jugend anrichteten – wie Nachbarn, Tanten, Onkel und manche Pauker meinten. Dabei reichten meine Haare noch nicht einmal bis zu den Schultern.
Als ich einmal zu Fuß unterwegs in die Stadt war, fuhr plötzlich ein LKW langsamer und dann im Schritttempo mit mir auf einer Höhe. Gleich darauf wurde auf der Beifahrerseite die Scheibe runtergekurbelt und ein stoppelhaariger Prolet warf mir einen Groschen mit den Worten zu: „Spar mal auf‘n Friseur!“ Solche Erlebnisse teilten wir uns am Marshallbrunnen natürlich mit, und es stellte sich heraus, dass dieser Satz wohl unabdingbarer Bestandteil unseres blutjungen Lebens sein sollte: „Geh mal zum Friseur!“
Eines Tages kam mein Vater vom Friseur, der hieß Oskar. Die beiden waren gleichaltrig und kannten sich aus frühen Zeiten und vom Sportverein. Irgendwie war Vater an diesem Abend komisch. Ich hatte bisher vor den Eltern geheim halten können, dass ich mich am Marshallbrunnen rumtrieb.
„Machst du da bei den Nichtsnutzen vom Opernplatz mit?“, fragte er mich.
„Nein, wieso?“
„Irgendjemand hat dich dort wohl gesehen“, antwortete mein Vater.
Ich schüttelte den Kopf und stammelte, dass ich nur mal dort vorbeigekommen bin. Aber ich war ein schlechter Lügner, und Otto sah mich scharf an. „Ich will nicht belogen werden. Merk dir das!“
Damit war die Sache erledigt. Später erfuhr ich von Pit, der nur zwei Tage später beim selben Friseur war, dass mein Vater dort die Tränen nicht mehr an sich halten konnte, als er von Oskar erfuhr, wo ich mich rumtrieb. „Ich hab ihn doch so ordentlich erzogen!“, soll er gesagt haben. Das war mir voll peinlich. Aber „Ordnung und Sauberkeit“ waren nun mal die alles bedeutenden Messwerte jener grauen Zeit.
Mein Vater war nach dem frühen Tod seines Vaters von seiner Mutter alleine großgezogen worden. Da entstand eine sehr enge Bindung. Daher rührte wahrscheinlich jene schwiegermütterliche Eifersucht auf meine Mama. Otto musste nun der alleinige Versorger für seine Mutter werden und suchte sich einen schnell zu erlernenden Beruf aus. Er wurde 1925 Maurer. Einige Jahre später wechselte er auf die sichere Staatsseite und ging zur Baupolizei. Wiederum etwas später wurde er Staffelführer bei der Bereitschaftspolizei.
In jenem Jahr 1966 befragte ich ihn zu seiner Polizeierfahrung und ließ mir Anekdoten aus seiner Einsatzzeit erzählen. Was bei mir tief im Gedächtnis und als politische Erfahrung hängen blieb, war folgendes Gespräch.
„Was war der aufregendste Einsatz, den du leiten musstest?“, fragte ich meinen Vater.
„Das war der Einsatz in Köln 1932. Ich befehligte zwei Hundertschaften, die dort eine Demo der KPD von der einen Aufmarschseite her absichern sollten. Von der anderen Seite hatte sich eine unangemeldete NSDAP-Marschkolonne in Gang gesetzt, um die gegnerische KPD-Demonstration zu stören und zu zerschlagen. Ich rief meinen Vorgesetzten im Präsidium an. Da hielt sich gerade unser erster Bundeskanzler, Konrad Adenauer, auf; der war damals Oberbürgermeister von Köln. Ich fragte, ob es nicht sinnvoll sei, mit meinen Hundertschaften zwischen die beiden Fronten zu gehen, die sich aufeinander zu bewegten, was zu bösen Auseinandersetzungen mit vielen Verletzten und vielleicht sogar mit Toten enden könnte. Man beriet sich dort kurz und übermittelte mir nach zirka zehn Minuten den Befehl, ich solle die Parteien aufeinander losschlagen lassen und nur zusehen, dass nicht die Geschäfte ringsum in Mitleidenschaft gezogen würden. Wenn sich Rechte und Linke gegeneinander aufrieben, dann brauche der Staat nur zusehen. Ich fand, dass dies eine grobe Fehlentscheidung war. Das Resultat waren zwei Tote auf Seiten der Rot-Front-Leute und über sechzig Verletzte, darunter zwölf Schwerverletzte.“
Mein Vater war damals Mitglied der SPD.
Hanna und ich erzählten uns unsere Familiengeschichten und fanden es spannend herauszufinden, wie sich „die Alten“ damals im »Tausendjährigen Reich«, das zwölf Jahre währte, wohl verhalten hatten. Wir entdeckten von Treffen zu Treffen immer neue, manchmal recht überraschende Nuancen unserer Familiengeschichten, und da wir im Geschichtsunterricht laut Lehrplan gerade die Nazizeit durchkauten, war es für uns besonders spannend. Das war zwar keineswegs ein erotisches, vielmehr ein ernüchternd lehrreiches Thema. Und dennoch sprachen wir – meistens nach unseren knutschreichen Liebeleien – gerne über die Erfahrungen mit unseren Familien.
Noch mehr aber sprachen wir in jener wolkenbe-deckten Augustwoche über die sinnentleerten Wohlstandsideale und wie man andere Ideale an deren Stelle setzen könnte. Da gab es die Gegenkultur der Hippies, der Blumenkinder, die sich seit 1965 rasant von San Francisco aus über die westliche Hemisphäre der Jugendlichen verbreitet hatte.
„Schatzi“, sagte ich, „ich finde die Hippies gut, die haben eine Lebensvorstellung, wie sie mir gefällt: frei von Zwängen und frei von all den kleinbürgerlichen Tabus.“
„Ja“, antwortete Hanna, „frei von diesem und jenem – das klingt gut. Aber wofür sollten wir eintreten? Was ist unser Ziel?“
„Unsere Selbstverwirklichung“, sagte ich.
Anders als die Gammler, die dem Leistungsdruck nur entfliehen wollten, war die Flower-Power-Bewegung der Hippies auf der Suche nach neuen, menschlicheren Lebensweisen und Umgangsformen. Und wie wir hörten, entstanden in den USA auf dem Land die ersten Kommunen.
Die Hippies trugen bunteste Klamotten und schulterlanges Haar wie die Gammler. Die Mädels steckten sich Blümchen ins Haar, trugen wie die Jungs farbige Stirnbänder und bunt gescheckte Halstücher. So etwa kleidete sich jetzt auch Hanna, sogar in der Bettinaschule, wo sie von nun an das erste Hippiemädchen und modisches Vorbild für ihre Klassenkameradinnen war.
Nur ein Jahr später sollte die BRAVO das Hippie-Outfit kommerzialisieren und auf eine reine Modebewegung reduzieren.
Ich ging in den Schulmonaten nach den Sommerferien morgens als braver Schüler im üblichen und langweiligen Dresscode zum Unterricht. Aber nach der Schule ließ ich die Sau raus und ließ die Farben in mein graues Leben. Das war fast schon als mutig zu bezeichnen.
„So willst du auf die Straße!“, rief Mutter entsetzt aus. „Was sollen denn die Nachbarn denken!“
Als hätte die Schallplatte einen Sprung, hörte ich diese Vorhaltungen wohl gefühlte Ewigkeiten lang. Aber tatsächlich kümmerte mich die spießige Besorgtheit meiner Eltern schon nach wenigen Wochen keinen Deut mehr. Ich war ich. Hatte ich nicht das Recht auf Selbstverwirklichung – und wenn es nur die Selbstverwirklichung mit Hilfe des Klamotteninhalts aus dem furnierten Kleiderschrank der Fünfziger Jahre war?
Zwei Wochen nach unserem ersten missglückten Entjungferungsversuch, wagten Hanna und ich es erneut. Diesmal im zwei Kilometer entfernten Gartenhäuschen des Kleingartens, als wir sicher sein konnten, dass mein Vater auf einem Sportfest war und auf dem Gartengelände nicht auftauchen würde. Mutter war keine Gefahr, sie mochte den Schrebergarten in jenen Jahren sowieso nicht mehr so wie früher. Denn jetzt, als wir Kinder groß waren und keinen „erweiterten Spielplatz“ mehr benötigten, bedeutete er ihr nur noch zu- sätzliche Arbeit. Und davon hatte sie wahrlich genug.
Wir hatten uns Decken und Getränke mitgebracht. Es war ein herrlicher Sommertag; Hanna trug nichts unter ihrem Minirock und ich nichts unter meinen Shorts. Und das war gewiss das falsche Omen, denn wieder passierte – nichts. Wieder ging es schief. Alles schien verbaut. Falsche Einfahrt. Da kam ich nicht durch. Wir waren frustriert. Ich holte Bier im nahegelegenen Wirtshaus. Doch weder Hanna noch ich vertrugen Bier. Bald schon hingen wir bei der sommerlichen Hitze erschlafft und todmüde in den Sonnenstühlen und schliefen unter dem halb lichten Kirschbaum den Schlaf der Gerechten. Und Unbefriedigten. Wir wachten mit Sonnenbrand auf. Ich glaube, dass wir uns aus purer Verzweiflung abermals in die Geschichte unserer Familien vertieften.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Vater samt seiner Polizeieinheit in die Wehrmacht eingegliedert. Da war er dann bei den Feldjägern an der Ostfront. Das waren keine heiligen Jungs. Ob er inzwischen politisch „umgedreht“ war, konnte ich niemals in Erfahrung bringen. Ich nehme es an, denn der fanatische Nationalismus hatte einer breiten Volksmehrheit den klaren Verstand geraubt. Die Zeit bei der Militärpolizei muss bei ihm so schreckliche Eindrücke hinterlassen haben, dass er sie beharrlich totschwieg.
Noch schlimmer aber waren die Angehörigen der Waffen-SS. Mein Vater hasste sie. Nicht nur weil sie ihm in die berufsmäßige „polizeiliche“ – und in seine religiöse sowie moralische – Quere kamen. Sie brannten „ohne Kriegsgrund“ ganze Dörfer ab und erschossen die Dorfbewohner. Das waren Kriegsverbrechen gegen Zivilisten. Die Waffen-SS, die ihnen, den auf militärischen Ehren eingeschworenen Soldaten, nicht geheuer war, war selbst für die abgebrühten Frontsoldaten eine unmoralische und gnadenlose Mörderbande.
Vater sagte einmal: „Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, mit welcher Brutalität, mit welchen Mordgelüsten diese Verbrecher von der Waffen-SS in Russland wüteten.“
Später sagte er einmal, er würde verstehen, wenn uns die Russen bis zum Sankt Nimmerleinstag hassen würden. Gottseidank bekam er jedoch noch mit, dass dies nicht der Fall war. Dafür mochte Otto seinen Schwager, meinen Onkel Karl, überhaupt nicht, denn der war ein hohes Tier bei der Waffen-SS gewesen.
„Was der für ein Gewissen hat, möchte ich gerne wissen! Wie der damit leben kann!“
Mehr erfuhr ich aber nicht. Nur meine Mutter bemerkte eines Tages, als es am Familientisch um das Thema Kriegsschuld ging, dass Onkel Karls Einheit in sehr böse Sachen verstrickt gewesen war. Wie ich heute weiß, scheute sie sich vor der ganzen schrecklichen Wahrheit. Das hätte womöglich auch das Bild von ihrer Schwester beschädigt.
Jedenfalls mochten sich Onkel Karl und mein Vater gegenseitig nicht. Für Karl war Otto ein kleiner nichtsnutziger sozialdemokratischer Beamter. Und für meinen Vater war sein Schwager Karl ein großkotziger Altnazi, der jetzt mit Hilfe alter Seilschaften Karriere an der Spitze des größten deutschen Versicherungskonzerns machte. Ohne dass ich damals einen blassen Schimmer von „Kommunismus“ hatte, kannte ich schon den „Antikommunismus“. Denn ich hatte Onkel Karl von Anfang an als einen fanatischen Antikommunisten kennen gelernt – wahrscheinlich entlud sich hierin sein schlechtes Gewissen, wenn er denn überhaupt noch ein Gespür dafür besaß, was er den Menschen Russlands angetan hatte.
Eine damals typische Erkrankung der Frontsoldaten rettete meinem Vater im Krieg das Leben. Er er- krankte 1943 an Ruhr und wurde von der Ostfront abgezogen. Nach seiner Genesung kam er nach Italien, wo er 1945 von den Amerikanern gefangen genommen wurde. Das war reine Glückssache. Als er 1948 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, waren seine Kinder Ursula und Günter bereits sechs und fünf Jahre alt.
Hanna hatte keine Geschwister. Als Einzelkind ge- noss sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Eltern, was bedeutete, dass ihre schulischen Leistungen super gut waren. Meine hingegen pendelten in der Gymnasialzeit um den mittleren Level herum. Ich war auf dem naturwissenschaftlichen Zweig, der mir sehr lag. Mathe, Chemie, Physik, Bio – das waren „meine“ Fächer, sie waren mir sehr wichtig und ich bemühte mich redlich. Meine Lieblingsfächer aber waren Geschichte und Sozialkunde. Religion fand ich kotzlangweilig. Erst in der letzten Klasse wurde aus dem religiösen Gebrabbel mehr ein pseudophilosophischer Ethikunterricht. Das war halbwegs interessant. Hanna besuchte den sprachlichen Zweig ihres Mädchengymnasiums. Mitte der Sechziger Jahre wurden die Geschlechter noch getrennt unterrichtet.
Die sexuelle Revolution von Hanna und mir fand in den folgenden drei Sommerwochen des Jahres 1966 nicht so recht statt. Wir fabrizierten eher kleine Reförmchen. Wir dümpelten liebestechnisch mit Dingen dahin, die wir uns in BRAVO und TWEN oder – noch viel besser – in irgendwelchen studentischen Aufklärungsbroschüren angelesen hatten. Wir lernten neue Fremdwörter kennen. Mit Fellatio versuchte Hanna an mir die hohe Kunst vom Lecken, Saugen und Lutschen. Mit Cunnilingus revanchierte ich mich bei ihr für den Blow-Job. Das Petting-Programm beschäftigte uns in ziemlich gleichberechtigter Weise. Schließlich hatte die BRAVO und sein Dr. Sommer-Team sachkundig aufgeklärt, was Petting bedeutet, nämlich knutschen, fummeln, streicheln, zärtlich beißen, kurzum: heiß machen. So vergingen die hochsommerlichen Wochen.
In einer jener Wochen, am Abend der dritten miss- glückten Entjungferung und zehn Tage vor unserer Trennung, erzählten Hanna und ich uns wieder einmal unsere Familiengeschichten. Und wieder fragten wir uns, wie unsere Väter und Mütter in der Nazizeit und während des Krieges wohl gewesen waren. Wir fragten, warum keiner dieser Männer und Frauen, die wir als Eltern und Großeltern zutiefst zu kennen schienen und die wir als solche auch bei unseren Schulkameraden kennen lernten, warum keiner von ihnen aufgemuckt hatte. Niemand außer einer Handvoll Verschwörer hatte versucht, dem Nazipack Einhalt zu gebieten. Was für ein Volk waren wir denn?! Hochnäsige Herrenmenschen und doch nur hochfeige? Großkotzig und doch nur kleinkarierte Duckmäuser?
Noch empfanden wir Jugendliche unsere Alten nicht als das, was sie zu diesem Zeitpunkt aus tiefenpsychologischer Sicht wohl waren – eine gebrochene Generation, ein gebrochenes Volk. Weit über fünf Millionen deutsche Männer kamen aus dem Wahnsinnskrieg nicht mehr lebend heim, in den eine braun-konservative Allianz unser Land gestürzt hatte. Die, die es nachhause schafften, mussten jetzt die Ärmel hochkrempeln und aufbauen.
Die Frauen leisteten dabei in den ersten Nachkriegsjahren den Hauptanteil an dieser Schwerstarbeit. Es sollte später ein schwerwiegendes Argument sein, um sich auf dem Gebiet der Erwerbsarbeit an die gleichen Rechte, wie sie die Männer besaßen, heranzupirschen. Das war eine mühselige, bis heute andauernde Arbeit. Oder anders gesagt: Es war eine politische Schwerstarbeit, behindert von braun-schwarz durchsetz- ten Strukturen und ihren Repräsentanten. Sie setzten den Erhalt männlicher Privilegien irrtümlich mit der Sicherung der kapitalistischen Wirtschaft gleich.
Aufstehen! In die Hände spucken! Aufräumen und aufbauen! Aus Ruinen auferstehen! So lauteten die Schlagworte jener Zeit. Ein historisch unweigerliches Folge-Produkt des Nazi-Desasters war übrigens die antifaschistische Nachkriegs-Ordnung im Osten, die DDR.
„Wer hat denn die DDR aufgebaut“, fragte ich Klint, einen meiner älteren Gammlerfreunde, der fast jeden Tag am Marshallbrunnen auf seiner Klampfe spielte und auf alles eine Antwort zu wissen schien.
„Sie wurde von Männern und Frauen gegründet, die unter den IG Farben, unter Krupp und Hitler im Knast, in Folterkellern, in KZ’s oder im Exil saßen und das Glück hatten zu überleben.“
Noch wusste ich zu wenig. Mit sechzehn Jahren war mir die Ostzone – oder nur »Zone«, wie sie verkürzt von den Westzonlern genannt wurde – noch ein fernes, fremdes und völlig unverständliches Ausland.
Mein Vater war im Dritten Reich trotz seiner sozi- aldemokratischen Einstellung kein wirklicher Wider- ständler gewesen. Er habe zwar „gemuckt“ sagte er, schließlich jedoch „widerwillig mitgemacht, weil alle mitmachten.“ Ich glaube, dass er ursprünglich ver- dammt antisozialistisch war, wahrscheinlich ein „rech- ter“ Sozi. Später zeigte er allerdings zunehmend Interes- se für meine bohrenden Fragen und wurde lockerer.
Allerdings interessierte ihn die DDR bis zum Jahr 1966 keinen Deut. Denn „da drüben“ herrschte „unmenschlicher Kommunismus und Stalinismus“ und überhaupt war das nix Deutsches „da drüben“. Und mich interessierte dieses andere Deutschland bis dahin nur mäßig. Ich kannte „die Zone“, dieses „da drüben“, lediglich über die märchenhaft-grauenvollen Erzählungen bei den Treffen unserer Jungen Union. Ich glaubte alles. Ohne mit der Wimper zu zucken. Völlig ohne zu hinterfragen.
Mit vierzehn war ich Mitglied geworden, schwenkte bei jedem Anlass die Deutschlandfahne und spielte auf meinem gottverdammten Akkordeon ununterbrochen das Deutschlandlied. Sieben Jahre lang hatten mich meine Eltern im moralischen Sinne gezwungen, dieses mir damals fremde, verhasste Instrument zu spielen. Zur christdemokratischen JU war ich freiwillig gegangen, weil sie die Einzigen in Bornheim waren, mit denen man in jungen Jahren „philosophieren“ konnte. Damals verwechselte ich in meinem jugendlichen Leichtsinn philosophieren mit politisieren. Wie schnöde und einseitig das JU-Gesülze war, konnte ich noch nicht erkennen. Zeitgleich war ich bei den evangelischen Heliand-Pfadfindern engagiert.
Der „Heliand“, das war unser Heiland. Hin und wieder kam hier das Akkordeon zum Einsatz. Bei den Pfadis war ich bereits seit meinem zehnten Lebensjahr und hatte dem Heiland bei paramilitärischen Morgenappellen für immer und ewig die Gefolgschaft geschworen. Wir lernten stramm zu stehen, uns an den Schuhspitzen auszurichten, den Führer mit Zack zu grüßen und unserem Vorbild, Baden-Powell, der im kolonialistischen südafrikanischen Burenkrieg kleine Jungs als Krieger eingesetzt hatte, nachzueifern.
Auch wir sollten kleine Krieger sein, Krieger Gottes, die Truppe des Heilands, natürlich naturverbunden. Das hieß auch, auf dem Boden robbend den Gegner unbemerkt von hinten anzupirschen. Man lehrte uns ein Leben mit schlichten Ansprüchen, mit schlichtem Untertanengeist und wenig Fragen auf den Lippen. Das entsprach meiner bisherigen elterlichen, calvinistisch-puritanischen Erziehung. Das Beste bei unseren wöchentlichen Pfadi-Treffen waren sportliche Wettkämpfe wie Speerkämpfe, Waldläufe und Kletter- und Anseilwettbewerbe. Einhalten von Regeln, Disziplin, Gehorsam und Drill, stramme mehrstündige Wanderungen mit Vollgepäck gehörten zum Pfadfinderalltag – eine vorweggenommene Bundeswehrzeit.
1965 war ich schließlich aus der Jungen Union und bei den Pfadis ausgetreten. Ich war kritisch geworden. Und das lag an unserem Pfadfinderführer, Helmut, dem wir be- sonders vertrauten, auf den wir besonders stolz waren und den wir wegen seiner Herzlichkeit und menschlichen Wärme außerordentlich schätzten. Er teilte unserer Sippe eines Tages bei einem Sippentreffen mit, dass er das autoritäre Pfadi-Theater nicht mehr mitmache. Er redete kurz und bündig, aber sehr überzeugend. Helmut wollte mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung in unser Pfadfinder-Dasein einführen. Die alten Pfadi-Haudegen waren dagegen. Es gab Auseinandersetzungen in Form von offenen Diskussionen, die zuvor undenkbar gewe- sen waren. Ab da verfielen unsere „Sitten“.
Andere Sitten hingegen verfielen nicht so einfach. Vater regte sich 1966 tierisch über die „Flichtlinge“, wie er sie nachäffend nannte, auf. „Wegen den Flichtlingen gibt’s keinen Wohnraum!“, schimpfte er. Die Flüchtlin- ge waren Deutsche aus den osteuropäischen, ehemals deutschen Protektoraten und aus „der Zone“. Zwanzig Jahre lang hatte ihnen die antidemokratische Hugen- berg-Presse vor der und während der Hitler-Ära Angst vor den Kommunisten, vor den bösen „jüdisch-bol- schewistischen Untermenschen“ gemacht.
Nach dem Krieg, nach dem Untergang der unsäglich konservativen Hugenberg-Presse schlug die US-hörige Presse in dieselbe Kerbe. Axel Springer hatte – nach eingehendem CIA-Briefing – von den Amis die Lizenz für die BILD-Zeitung erhalten. Sie wurde zum angstmachenden Sprachrohr des Kalten Krieges für die Massen, befeuert aus dem Amerika des Kommunistenjägers und Antidemokraten McCarthy. Nun flohen die Menschen scharenweise vor der „roten Gefahr“, denn sie wussten von den Rückkehrern, wieviel Blut die Deutschen im Osten vergossen hatten. Sie fürchteten böse Rache.
Nach der Befreiung vom Faschismus schloss sich Otto – gewohnheitsmäßig, wie schon einmal – den Durchschnitts-Lemmingen an, die sich nun zwar nicht mehr in den Abgrund, aber in die Arbeit stürzten. Ar- beit, Arbeit, Arbeit.
„Ich muss arbeiten.“
„Ich habe keine Zeit, ich habe so viel zu tun.“
Arbeit. Arbeit. Arbeit!
Wir Jugendliche verstanden nicht, weshalb die Erwachsenen tagein tagaus über Arbeit sprachen. Waren unsere Alten nicht allesamt verrückt?
Kaum aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, hatte mein Vater einen bautechnischen Kurzlehrgang besucht und konnte sich nun beim bundesdeutschen Neuanfang mit seiner früheren Erfahrung in der Baubranche und bei der Baupolizei als Bauingenieur betätigen. Aber er wählte nicht den goldenen Weg der Selbständigkeit, der in der Aufbauphase des Wirtschaftswunders – bei kriegsbedingtem männlichem Arbeitskräftemangel – schon einfache Bauleiter zu Millionären werden ließ. Otto wählte den sicheren Weg des Beamten, der er auch als ewig treuer Staatsdiener war, und wurde Leitender Ingenieur beim Hessischen Staatsbauamt in Frankfurt.
In dieser Funktion baute er nach 1949 sämtliche durch Bombardierungen beschädigte Kirchen im Rhein-Main-Gebiet wieder auf, was ich schon als Sechsjähriger mitbekam, denn des Öfteren kamen einige Pfarrer zu uns zu Besuch, um sich bei Otto zu bedanken und über weitere Bauprojekte zu sprechen. Er baute aber auch das Preungesheimer Gefängnis, das Frankfurter Arbeitsamt, das Landesarbeitsamt und alle Arbeitsämter im Umkreis von Frankfurt.
Mein Vater war ein absoluter Familienmensch, was mir später arg zu schaffen machte, denn eigentlich sah „unsere Revolution“ die Überwindung solcher bourgeoisen Institutionen wie der Familie vor. Otto hatte in meiner Mutter Erna die ideale Partnerin gefunden. Bei- de lebten in unseren Kinderaugen ein harmonisches und gleichberechtigtes Leben. Nur später, Anfang der 1960er Jahre, als Mutter gerne arbeiten und eigenes Geld verdienen wollte, rumpelte es in der Ehe eine Zeit lang.
„Warum soll ich nicht arbeiten gehen und zusätz- lich Geld verdienen dürfen?“, fragte sie Otto beim Abendbrot.
„Ich habe dir doch bereits die Eröffnung eines ei- genen Kontos bei der Sparkasse erlaubt, was darf es denn noch alles sein? Meinst du die Friedel bekommt von ihrem Mann die Genehmigung, einen Arbeitsver- trag zu unterzeichnen? Peter hat seiner Friedel noch nicht einmal eine Bankgenehmigung erteilt. Er sagt, was er alleine verdient, will er alleine auch kontrollieren. Frauen haben sich da rauszuhalten. So ist es ja auch vom Gesetz vorgesehen!“
„Ich will nicht länger nur Taschengeldempfängerin sein! Was unsere Freunde machen, ist deren Sache. Aber ich möchte, dass deine Liebe sich im Vertrauen zu mir beweist. Frau Zimmermann geht in einem amerikani- schen Offiziershaushalt putzen und hat Zugang zur PX und erhält immer die neuesten Sachen von dieser Fami- lie geschenkt. Neulich bekam sie sogar Nylonstrümpfe.“
Nylonstrümpfe waren purer Luxus wie meine Armbanduhr oder wie die uns zugeworfenen Kaugummis der amerikanischen Soldaten.
Die PX im Stadtteil Eschersheim war der Super- markt für die Soldatenfamilien der amerikanischen Be- satzungsmacht. Deutsche durften da nicht einkaufen – es sei denn, sie wurden als Hilfspersonen beim Einkauf mitgenommen. Frau Zimmermann war eine Nachbarin im Wohnblock und wusste stets die Vorteile der ameri- kanischen Kasernennachbarschaft zu nutzen. Ihr Sohn, in meinem Alter, war vom gleichen Kaliber und der Chef-Bettler vor den Kasernenfenstern gewesen. Ich glaube, damals, als ich noch Kind war, habe ich mich das erste Mal in meinem Leben für einen anderen Men- schen fremdgeschämt.
Freitagabends, Anfang September 1966, besuchten Hanna und ich den Club Voltaire. Das war ein legendärer Club für die aufrührerische Jugend. Politik, Kultur, Literaturkritik, Musik, Zusammensein, Diskussionen – das war das tägliche Programm rund um die Woche. Dort verkehrten aber auch junge Anwälte, kritische Banker und Journalisten. Wir waren mit sechzehn Jahren zweifellos die Jüngsten, aber keiner fragte nach unserem Alter. Wenn man die Tür reinkam, war linker Hand der Tresen, hinter dem mit wachen Augen Else zugange war und Bier zapfte, Wein einschenkte oder Limo und Wasser über die Theke reichte. Brezeln hingen an einem Hirschgeweih, und Soleier lagen in einem Glas, daneben ein großer Bottich Senf.
Else schmierte uns auch Schmalz-Brote, die sie mit amerikanischem Sound in der Flötenstimme „Sandwich“ nannte. Das Licht war etwas schummrig, doch vorne in Richtung der kleinen Bühne wurde es heller. Hier fanden Streitgespräche, Lyrikvorträge, Filmvorführungen und Bildungsabende statt. Heute Abend waren auch einige stadtbekannte Gammler und Provos hier. Provos waren die politisierte Ausgabe von Hippies und Gammlern, hatten ihren Ursprung in Amsterdam und wollten auf witzig-pazifistische Weise die bürgerliche Gesellschaft an ihren Schwachpunkten packen und provozieren.
Ich kannte die Leutchen vom Marshallbrunnen und von meinem ersten Sit-in vor dem amerikanischen Generalkonsulat wegen des Vietnamkrieges. Thema des Abends war „Sex und Revolution“, Referent war der Student Günter Amendt vom SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Er fragte an jenem Abend, was bei uns zu Hause in puncto Sex alles verboten sei. Es folgte eine heiße Diskussion.
Einer aus unserer Clique, Kai, zwei Jahre älter als ich, antwortete ihm: „Ich weiß nicht genau, wie ich das beschreiben soll. Eigentlich gab es bei uns in der Familie keine direkten sexuellen Verbote, als ich jünger war. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter oder mein Vater gesagt hätten, tu die Hand vom Sack oder so was. Das Thema wurde eher totgeschwiegen. Nur wenn andere Erwachsene dabei waren, wurde darauf geachtet, dass ich mir nicht zwischen die Beine gegriffen habe.“
Wir lachten, und Kai, der mit achtzehn in meinen Augen schon erwachsen war, obwohl die Mündigkeitsgrenze damals noch bei einundzwanzig Jahren lag, erzählte weiter: „Mit den Verboten ging es eigentlich erst los, als ich älter wurde. Sie haben mir auch dann nicht gesagt, ich soll nicht onanieren oder keine Mädchen küssen. Die Verbote liefen über den Umweg der Ausgangssperre und derlei Sachen. Sie hätten nie gesagt, dass ich die Finger von einem Mädchen lassen solle, sie haben einfach nur gesagt, ich habe um die und die Uhrzeit zu Hause zu sein, oder sie ließen mich erst gar nicht weg. Auf die Art haben sie Einfluss auf mein Sexualleben genommen. Nach Hause konnte ich sowieso kein Mädchen mitbringen.“
Ein Pärchen, er sechsundzwanzig, sie dreiundzwanzig Jahre, erzählten, dass ihre Eltern ihre Heirat mit allen Mitteln, bis hin zum Erbentzug, verhindern wollten. Er war Landwirt an Frankfurts Stadtrandsiedlung Bonames und sie Frisörin. Vom Abend im Club Voltaire hatten sie von einer Kundin erfahren.
„Alle anderen dürfen schon viel früher heiraten, nämlich mit einundzwanzig und achtzehn Jahren. Was sollen wir da bloß machen?“
Da stand eine der älteren Mädels auf, ich schätzte sie damals auf halbtot, das bedeutete, so um die Dreißig, und sie sagte: „Wenn ihr euch liebt und zusammenbleiben und Kinder haben wollt, dann macht ein Kind, und schon kriegt ihr den Freifahrtschein zur Hochzeit. Denn ein uneheliches Kind wird eure Verwandtschaft als das schlimmere Übel sehen!“
„Mein Vater sagt, dass er einer Mischehe nicht zustimmen könne, weil ich katholisch und Fritz evangelisch ist“, meinte das Mädel.
„Die Protestanten gestatten Mischehen, die Katholiken nicht. Dann lasst ihr euch halt nur standesamtlich trauen“, sagte die uralte Dreißigjährige, die vielleicht auch nur Mitte Zwanzig war. „Scheiß auf das heuchlerische Kirchenpack! Eure Liebe ist das Wichtigste. Nichts weiter.“
Es ging dann noch darum, ob sie sich heimlich ver- loben sollten und ob es nötig sei, dass ihr Freund bei ihrem Vater um die Hand seiner Tochter anhielt. „Diese verstaubten Rituale sollten langsam der Geschichte angehören“, sagte die Mittzwanzigerin. Ob Mitte Zwanzig oder gar schon Dreißig – so schrecklich alt wollten wir Jungen nicht unbedingt werden. Erst viel später erkannten wir, dass Teile der älteren Generationen genau wie wir tickten und ebenso für etwas ganz und gar Neues eintraten.
(Zwei Jahre später begegnete ich dem „Misch-Ehepärchen“ an einem herbstlichen Feiertag auf der Zeil. Beide waren glücklich und schoben einen Kinderwagen vor sich her. Der Schachzug war geglückt. Sie hatten den Heiratssegen ihrer popligen Verwandtschaft erhalten. Das waren wahrhaft schwarz-braune Zeiten, gelebter Konservatismus, den wir Jugendlichen aufbrechen mussten!)