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Das Buch enthält eine Vielfalt an Texten, von der einfachen Notiz über die Reiseimpression, die Kurzgeschichte bis zum Essay. Wie alle Bücher der Reihe „Bunte Steine“ nimmt es als Schwerpunkt die kleinen Schriften und Erstversionen eines Jahres, ergänzt durch ältere Texte, über die der Autor bei seiner Zusammenstellung gestolpert ist.
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Volker Friebel
Siebzehn Hundertstel frei
Bunte Steine
Edition Blaue Felder
„Seltsam! Ich werde in jedem Augenblick von dem Gedanken beherrscht, daß meine Geschichte nicht nur eine persönliche ist, daß ich für Viele etwas thue, wenn ich so lebe und mich forme und verzeichne: es ist immer als ob ich eine Mehrheit wäre, und ich rede zu ihr traulich-ernst-tröstend.“
Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, Ende 1880, Kritische Studienausgabe, Band 9, Seite 339.
„[...] Aber schon jetzt können wir schließen, daß der Schriftsteller gewählt hat, die Welt und besonders den Menschen den andren Menschen zu enthüllen, damit diese gegenüber dem derart aufgedeckten Gegenstand ihre ganze Verantwortung übernehmen. [...] Ebenso ist es die Funktion des Schriftstellers, dafür zu sorgen, daß niemand über die Welt in Unkenntnis bleibt und daß niemand sich für unschuldig an ihn erklären kann.“
Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Rowohlt Taschenbuch, Reinbek, 1981 (Nachdruck 1990; französisches Original 1948), Seite 27.
Edition Blaue Felder, Volker Friebel
Denzenbergstraße 29, 72074 Tübingen (Deutschland)
www.Volker-Friebel.de
Text und Gestaltung: Volker Friebel
Veröffentlicht: Januar 2021
Alle Rechte vorbehalten
Inhalt
Vorwort
Anker
Frühlingsgesänge
Die Honigsteige
Die Wäscherinnen
Übern Gebirgskamm
Die stärkere Realität
Gemüpfelt
Nike
Die Gänse vom Schwärzloch
Tödlicher Realismus
Der Sommerwind
Wanderung zum Lej Sgrischus
Eroberung
Bindungen
Keine Wörter
Strand bei Chennai
Hier sind wir nun ...
Unsere Natur
Wie viele Blütenblätter?
Großvatertanne bei Freudenstadt
Der Seelenbaum
Die Farbe der Amsel
Mit dem Wind
Zugfahrt durch das flache Land
Vergriffen
Impressionen aus Luang Brabang
Antworten
Langsam und schnell
Jakobuskapelle Nonnenhorn
Am wilden Apfelbaum
Den Himmel betrachten
Ohne den Menschen …
Einen Spalt weit offen
Gruorn
Lauschen
Vertreibung aus dem Paradies
Die Tiefe des Blaus
Im Lusam-Gärtlein
Frühlingslust
Eis vom Eismann
„Achtung Maschinenarbeiten!“
Demonstration
Die Problematik von Sachtexten
An der Ampel
„Faktische Handlungsmuster“
Eriskircher Ried
Dieser Ton
Busfahrt durch Rajasthan
Das Gefühl der Freiheit
Haiku: Abendlieder
Mörike-Ruhe bei Bebenhausen
Mehrere Schatten
Chorprobe
Glückselige Insel
Steinzeichen
Musik der Erde
Buntstifte gespitzt!
Nutzen der Wahrheit
Beschnittener Baum
Daodejing
Rahmen
Kaufprämie für Elektro-Autos
Der Vesuv
Kinder der Zukunft
Aus Träumen gemacht
Nachricht aus Trawnegeg
Gütersteiner Wasserfall
Lichterstube
Die Heuneburg
Aus einer Wanderung zum Lunghinsee
Leaning into the wind
Schmuckverkauf bei Herakleion
Inselmitte
Haiku: Neuschnee
Das Baumhaus
Schlucht bei Porto Moniz, Madeira
Fado
Prinz Vogelfrei
Vom Waldsee bewegt
Der Maikäfer
Die Augen geschlossen
Seifenblasen
Reime
Musik und Predigt
Unfrei geboren
Die Wiederentdeckung der Schönheit
Alles ist schön
Was Flügel hat, fliegt
Zu Buch und Autor
Schon immer haben mir kleine Texte besonders gut gefallen, die Sudelbücher Lichtenbergs, die Aphorismen Nietzsches und Verse, davon Haiku als kürzeste Form ...
So entstehen fortwährend auch zahlreiche eigene Texte, mit denen ich nicht weiß, wohin. Vielleicht wird der eine oder andere einmal in einem größeren Werk ein Zuhause finden, zunächst aber versammeln sie sich hier.
Dieses kleine Buch enthält also keine durchgehende und abgeschlossene Geschichte, sondern eine Vielfalt an Texten, von der einfachen Notiz über die Reise-Impression bis zum Essay.
Die Sammlung nimmt als Schwerpunkt kleine Schriften und Erstversionen eines Jahres, ergänzt durch ältere Texte, mit denen ich mich in dieser Zeit beschäftigt habe – ohne starr auf die Tage zu schauen. Dafür schieße ich manchmal ein paar Bilder zu, wenn ein Text danach ruft.
Die Zusammenstellung hat so viel Freude gemacht, dass ich davon gern etwas an die Leser abgeben kann.
Volker Friebel
Ein Tag vor dem Schirm – so viel Leben aus zweiter Hand, dass die Unwirklichkeit mürbe macht. Dann am Waldbach frag ich die Luft vor mir nach Ankern.
Ein Anker ist das Sitzen am Waldbach, im einen Ton des Wasserfalls, der doch fortwährend neu aus dem Vielen entsteht.
Ein Anker ist der Ton eines Vogels, der durch den Ton des Wasserfalls springt.
Ein Anker sind immer die Wolken, auch die Wolken im Spiegel des Wassers.
Ein Anker ist die Fahrt auf dem Rad, mit dem Wind im Gesicht und den geforderten Muskeln.
Ein Anker ist der Atem, sein Vergehen und wieder Entstehen, sein zur Ruhe kommen auf der Wippe der Stille.
Ein Anker ist bereits das Innehalten am Schirm, wo diese Worte entstanden sind.
Frühlingsgesänge.
Ein Blatt auf dem Waldboden
öffnet die Lider.
Erste Schlüsselblumen! Und auch der Huflattich ist schon da! Es würde mich nicht wundern, wenn die Erderwärmung hinter den kahlen Bäumen bald Löwen hervorlockt und Papageien die Buchen bekrächzen.
Vielleicht wird so doch noch etwas aus dem alten Plan der Weltregierung, ausgewählte Bevölkerungsteile vor der aufziehenden Wüste zu retten und in einem großen Kreuzfahrtschiff zum Weihnachtsmann an den Nordpol zu schippern.
Wenn auch der Boden dort zunächst noch kalt sein mag, wird sich das in den Sommer hinein schon geben. Und jeder Auserwählte bekommt ein Luxus-Apartment!
Das er allerdings selbst in Stand halten muss, denn im Lande des Weihnachtsmanns sind nicht nur die Frauen, sondern alle Menschen gleichgestellt.
Aber vielleicht zeigt der Weihnachtsmann doch ein bisschen Respekt vor den unterschiedlichen Verdiensten der Auserwählten. Je verdienstvoller einer war, ein umso größeres Apartment könnte er doch erhalten!
Und der relativ Beste unter den Verdienstvollen bezieht eine Bretterbude auf einem Ruderboot.
Stoppelfelder.
Im Abenddämmern verschwindet
ein Vogelschwarm.
Vom Talgrund der Jagst führt der Weg außen an der Klostermauer von Schöntal entlang, am Haus der Stille vorbei, dann biegt er ab, wird steiler, führt das Tal des Honigbachs aufwärts, teilt sich in Sträßlein und Wanderpfad: die Honigsteige.
Wir sind aus dem Wald herausgetreten, ins Offene, schauen nun links über die Wellen der teils schon gemähten Felder, rechts auf einen Hang mit Obstbäumen und hohem Gras, hinter dem die Straße liegen muss.
Gelegentliche Motorengeräusche, ab und zu pfeift ein Vogel, sonst ist es still. Es ist eine Stille, die zu atmen scheint. Der Tag war heiß, die beginnende Dämmerung bemalt Schleierwolken, lässt sie dichter werden.
Langsame Schritte. Auf der zur Straße gewandten Seite des Pfads stehen Hecken. Ich pflücke und koste die ersten schwarzen Brombeeren. Sie sind sauer.
Da schließ ich die Augen und denke an damals, an die Wanderung auf dem Jakobsweg, dem Küstenweg, durch das spanische Baskenland mit seinen vielen Brombeerhecken. Ich höre das Meer, spüre die Sonne – und der Geschmack der Beeren wird süßer.
Das Grün von Teichen zwischen dem Grün der Bäume. So viele Grüns – jede Schattierung kann eine neue Färbung der Hoffnung sein, die jetzt aber schon alt werden muss, im Gewitter der Zeit, dunkler erscheinen und eben damit immer noch schön, vertieft durch den Tod.
Den großen Hund auf dem Pfad ruft ein Schäfer über den Zaun zurück. Als wir vorbeikommen, wendet er sich ab, seinen Tieren zu.
Wallfahrtskapelle Neusaß. An diesem Ort soll im Jahr 1152 das Kloster Schöntal gegründet worden sein, bevor es wenig später ins Tal verlegt wurde. Das ist umstritten. Eine Marienwallfahrt nach Neusaß jedenfalls ist erstmals für das Jahr 1395 belegt. Auch einen Markt gab es hier. Heute steht nur noch ein Forsthaus, das ist deutlich jünger, wie auch die heutige Kapelle, die geschlossen hat.
Wir gehen zum Heiligenbrünnle, einer in Stein gefassten Quelle mit Grotte, ein paar Schritte abseits. Blumensträuße, Putten, Kerzen. Maria. Die Augen mit diesem Wasser zu netzen, soll gegen Augenkrankheiten helfen. Über dem Rohr angebracht allerdings eine Warnung: „Kein Trinkwasser“.
Auf dem Rückweg spricht Elisabeth den Schäfer an. Der junge Kerl ist ausnehmend freundlich, nennt uns die Öffnungszeiten der Kapelle: „Wir im Forsthaus haben den Schlüssel“. Auch den Standort der tausendjährigen Linde, die bei der Kapelle stehen soll, beschreibt er uns, es ist gleich hinter dem Forsthaus.
Zurückgegangen stehen wir am mächtigen Baum und schauen ins dichte Blattwerk, spüren die Zeit. „Tausend Jahre sind weit übertrieben“, summt eine Eintagsfliege. Ich scheuche sie weg. Gut, 500 Jahre vielleicht. Oder einfach: Mächtig und alt.
Am nächsten Morgen hat das Wetter umgeschlagen. Wir sind die Honigsteige noch einmal gegangen, durch Nieselregen zur Andacht, stehen nun im vollbesetzten Raum. Warum ich, ohne zu glauben, gern an solchen Orten bin?
Wallfahrtskapelle.
Durch die Predigt flattert
ein Schmetterling.
Er flattert zum Licht, stößt ans Fensterglas, stößt, stößt …
Ein trüber, kalter Vormittag, ein 24. Dezember. Ich gehe nach langer Zeit wieder einmal den Weg von meiner Wohnung zur Universitätsbibliothek. Als Student und Doktorand ging ich hier oft, die Füße finden den Weg auch allein, die Gedanken schaukeln über ihnen träge dahin. Wie sich die Öffnungszeiten seit damals günstig entwickelt haben: Durch die Automation der Ausleihe ist die Bibliothek nun fast rund um die Uhr geöffnet.
Am alten Nussbaum bleibe ich stehen. Und lache. Denn ich sehe mich drüben stehen, auf der anderen Straßenseite, damals ...
Bei einem Gang zur Bibliothek war mir aufgefallen, dass sich unter dem Baum Wäscherinnen versammelt hatten, neben ihnen ein Leiterwagen der Klinik mit viel weißer Wäsche. Die Frauen bückten sich ab und zu, aßen etwas. Was konnte das sein?
Ich ging damals weiter, zu meinen Büchern. Auf dem Rückweg aber betrat ich den Rasen unter dem Baum: Walnussschalen! Hoch in den Wipfel schauen! Einen Walnussbaum hatte ich noch nie bewusst wahrgenommen, hatte gedacht, dass es so etwas nördlich der Alpen gar nicht gäbe. Seither, erst seither sehe ich überall solche Bäume und sammle Walnüsse. Diese Wäscherinnen haben mein Leben bereichert.
Nun stehe ich wieder hier. Die alte Wäscherei ist Teil der ausufernden Bibliothek geworden. Aber Asphalt, Fußweg, Straße, auch der Rasen unter dem Baum: Alles ist übersät mit Walnüssen! Die Studenten eilen vorbei. Niemand bleibt stehen. Keine Wäscherinnen zeigen mehr in die Wirklichkeit jenseits der Bücher.
Gras, feucht und kalt,
und nass meine Finger, die eine Walnuss
berühren.
Meine Tasche mit Nüssen gefüllt, gehe ich weiter zur Bibliothek. Sie hat geschlossen.
Der Verkehrslärm aus Immenstadt und die Motoren der Fabrik für Klebeband am Berg werden leiser, je höher wir kommen. Bald hören wir nur noch das Geräusch der Tropfen, die nach dem Regen am Morgen nun aus den Bäumen fallen – und stärker und stärker einen Gebirgsbach, der angeschwollen ins Tal stürzt.
Wir wandern zwischen Bäumen, dann einen Wiesenweg den Mittag hinauf. Die Seilbahn steht.
Auf der Terrasse der Bergstation rasten wir. Und blinzeln zum ersten Mal heute in die Sonne, nun schon fast 700 Höhenmeter über Immenstadt. Angekündigt waren schwere Gewitter.
Vor uns liegt die Nagelfluh-Kette, im Norden der Allgäuer Alpen, ein letzter Ausläufer des Hochgebirges, an den sich das Alpenvorland anschließt. Auf den etwa 20 Kilometern der Kette liegen dicht an dicht zahlreiche Gipfel. Der Mittag ist mit 1.451 Metern über dem Meer der erste, der Großhäderich, in Österreich gelegen, mit 1.565 Metern der letzte, dazwischen geht es mal auf, mal ab, über den Grat der Kette, von Gipfel zu Gipfel, bis 1.822 Meter über dem Meer, mit herrlichen Ausblicken über das Land, auf die Alpen, in die ziehenden Wolken.
Nagelfluh bezeichnet das Gestein dieser Gebirgskette, es ist ein nach geologischen Maßstäben junges Konglomerat-Gestein, eine Mischung aus Geröll und Schlamm, die während der Entstehung der Alpen von den Wassern in einer großen Schwemmebene vor den sich langsam erhebenden Bergen abgelagert und von Zeit, Druck und Temperatur verbacken wurde, zu „Herrgottsbeton“. Diese Gesteinsschichten schoben sich auf die europäische Kontinentalplatte und falteten ein Gebirge auf, das nun von uns Eintagswesen betrachtet und bestiegen wird.
Der Aufstieg auf den Mittag war steil. Nun erst, in der Höhe, kommt die ganze Schönheit der Berge ans Licht. Die Wiesen sind vom Regen feucht. Der Wanderpfad ist hier und da aufgeweicht, muss umgangen werden. Der Himmel aber hat sich aufgelockert.
Kuhglocken läuten.
Vor den Herden des Himmels
ein Zaun.