Tod im Kanzleramt - Stefan Koenig - E-Book

Tod im Kanzleramt E-Book

Stefan Koenig

0,0

Beschreibung

Große Gala-Party im Kanzleramt. Die Prominenz ist vertreten, und natürlich ich, verantwortlich für Angies Autobiografie. Als Vertrauter der Kanzlerin darf ich eine Dame meiner Wahl mit auf die Party nehmen. Ich komme mit Gabriele Krone-Schmalz. Außerdem kümmere ich mich während der Party um den kleinen Yousef, Angies sechsjährigen Adoptivsohn aus Syrien. Alles läuft glatt, und alle haben eine Menge Spaß - bis die Natur aus den Fugen gerät. Es beginnt mit einer scheinbar harmlosen sommerlichen Gewitterfront über Berlin und endet in einem tödlichen Nebel, der alles gnadenlos zu verschlingen scheint. Nun gerät die Party außer Rand und Band. Im Kanzleramt, das keiner mehr verlassen kann, drängen sich Angies Gäste zusammen, die der schreckliche Nebel und seine grauenvollen monströsen Auswirkungen gefangen hält. Wird diese exklusive Gesellschaft implodieren oder wird man die ausweglose Situation bewältigen? Auch die erlauchten Botschafter Russlands, Chinas und der USA sind hier gefangen, während meine Frau Alexa zu Hause auf mich wartet. Sie hasst die Partys der Upperclass, aber sie lässt mich meinen Job machen und ist keinesfalls eifersüchtig auf Gabriele. Doch jetzt, nach der schrecklichen Sturmnacht über Berlin, habe ich plötzlich Angst um sie und möchte zu ihr. Da plötzlich kommt der Nebel über die Hauptstadt. Im Kanzleramt hören wir das Geheul von Sirenen, dann kehrt Totenstille ein. Kein Mensch kommt mehr in den Regierungskomplex hinein und niemand, der ihn verlässt, kommt lebend davon. Wir stellen bestürzt fest, dass sich im Nebel etwas Grauenvolles verstecken muss. Sind es Putins Geheimwaffen? Um diesem Grauen zu entgehen, schlägt eine fanatische Hobbypolitikerin ein Menschenopfer vor. Dabei schaut sie bedeutungsvoll den russischen Botschafter an. Für mich kommt die Zeit zu handeln. Mit Angies Adoptivsohn Yousef, mit Gabriele Krone-Schmalz und drei weiteren mutigen Partygästen will ich aus dem Kanzleramt hinaus in den Nebel und den Kampf aufnehmen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 292

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Stefan Koenig

Tod im Kanzleramt

Als der Nebel kam

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Aufräumen mit Vorurteilen

Widmung

Erinnerung

Es geschah

Die ersten Anzeichen

Als der Sturm aufkam

Herunterkrachende Bäume

Die erste Nacht

Als die Nacht um war

Bevor die Elektrik erneut versagte

Sirenen ertönen

Die Ereignisse überschlagen sich

Im Generator-Raum

Die Tentakel

Die Botschafter und Steinmeier

Ken Jebsens Bekanntmachung

Die Unbelehrbaren

Prozession am Ausguck vorbei

Invasion der Insekten

Hang on, Sloopy

Erster Entschluss

Zurück im Kanzleramt

Blutopfer

Hinaus ins Ungewisse

P.S.:

Herzlichen Dank

Weitere Romane von Stefan Koenig

Impressum neobooks

Aufräumen mit Vorurteilen

Pressestimme

„Der Autor landete mit seinem Erstling »maschendrahtzaun« einen Volltreffer. Seine Kultgemeinde schätzt die für den deutschen Sprachraum einmalige Stephen-King-Adaption, mit der sich Stefan Koenig sein eigenes Genre aus Comedy, Horror und kulturkritischem Politkrimi schuf.

Zweifellos ist sein Anliegen nicht nur die auf Hochspannung fixierte Unterhaltung, das Eindringen in die Schwächen unserer voyeuristischen Psyche. Es geht ihm ebenso um Sensibilisierung für jene kritischen Ansätze, die hinter der johlenden Kommunikationsfassade die gähnende Leere unserer scheinbaren Wertegesellschaft auszumachen glauben.

Vor Stefan Koenig und Stephen King hatte bereits 1943 der große deutsche Schriftsteller Hermann Hesse in seinem Alterswerk »Das Glasperlenspiel« vor dieser nahenden dekadenten Kultur eines »feuilletonistischen Zeitalters« gewarnt. Umsonst.“

(Michael Winkler im Vogtland-Anzeiger)

(Statt eines Vorwortes)

Wenn ich bedenke, mit wie viel Eitelkeiten die Welt bestückt ist, mit wie vielen selbstsüchtigen TV-Auftritten und medialem Klamauk sich die Protagonisten unserer realen Welt umgeben, dann habe ich das Gefühl, einen Beitrag hinzufügen zu sollen. Ist es nicht im Sinne unserer Selbstdarsteller, wenn man sie als Romanfiguren mit völlig neuen Identitäten ein anderes Leben, ein Leben in einer unmöglichen Zukunft leben lässt? Ich habe mich dazu entschlossen, weil Personen der Zeitgeschichte es würdig sind, dass man sie über die Zeitgeschichte hinaus in immer neuen Märchen und in immer neuem Gewande weiterleben lässt.

Viele meiner Leser haben mich auf meinem Facebook-Portal gefragt, wie ich auf diesen Titel kam: Tod im Kanzleramt. Sie sahen darin offensichtlich sofort den unausweichlichen Tod der Kanzlerin. Das, ehrlich gesagt, wäre mir zu unappetitlich. Zu billig. Ich bin kein Freund dieser Frau, allerdings glaube ich nicht, dass Gewalt irgendetwas löst. Nein, sie spielt nur eine Rolle in einem Theaterstück; dazu hören wir Musik: Puppet on a String, von Sandie Shaw. In meinem Stück spielen die Namen keine Rolle. Sie können austauschbar sein, so wie der Tod – man tauscht das Leben gegen ihn.

Aber was ich Ihnen gerne verraten möchte ist, wie ich auf den Titel meines Thrillers kam. Auf die Idee brachte mich die britische Schriftstellerin Hilary Mantel mit ihrem 2014 erschienenen Titel »Die Ermordung Margaret Thatchers«. Zuerst fand ich den Titel überaus geschmacklos, da die als „eiserne Lady“ bekannte radikalkonservative Ex-Regierungschefin gerade ein Jahr vor Mantels Veröffentlichung an den Folgen eines Schlaganfalls auf durchaus natürliche Weise verstorben war.

In Mantels Story allerdings wird ein Anschlag auf Thatcher im Stil der Kennedyermordung verübt – es bleibt offen, wie der Anschlag ausging. Ich fand das skurril. Und dann las ich, dass Hilary Mantel noch im Jahr dieser Veröffentlichung von Königin Elisabeth II.zur »Dame Commander of the Order of the British Empire« ernannt wurde. Seit 2014 hängt sogar ein Bild von ihr in der British Library. Jetzt also kennen Sie mein Ziel. Worum ich Sie gefälligst bitten möchte: Räumen Sie folglich auf mit Vorurteilen gegen Königinnen, knallharten Regentinnen und wenig charmanten Autorinnen und Autoren.

Lowbrook, irgendwann

Ihr Stefan Koenig

Widmung

Dieses Buch

widme ich dem schrecklichen Nebel –

in der trügerischen Hoffnung,

er möge uns verschonen*

* … und natürlich widme ich es meinen treuen

Leserinnen und Lesern, immer in der Hoffnung,

dass sie noch gut schlafen können.

Erinnerung

Bitte vergessen Sie nicht,

dass es sich bei dem vorliegenden Werk

um eine frei erfundene Story handelt.

Keine Angst also!

Namen, die Ihnen vielleicht

durchaus bekannt vorkommen mögen,

gehören nicht zu real existierenden Personen.

Jedenfalls gibt es sie so nicht, nicht so!

Orte, Ereignisse und Romanfiguren

sind allesamt Erfindungen.

Nackte Illusionen.

Faktische Fiktionen.

Fiktive Fakten.

Es geschah

Folgendes geschah im Jahr 2019: An jenem Abend, als die größte Hitzewelle in der Geschichte Mitteleuropas endlich zusammenbrach - am Abend des 20. Juli 2019 -, wurde die gesamte Region rund um Brandenburg und Berlin von den heftigsten Gewitterstürmen heimgesucht, die ich je erlebt habe. Angela Merkel, ihre Partygesellschaft und mich erwischte es ausgerechnet am Abend, als die Galaparty im Kanzleramt ihren unheilvollen Anfang nahm.

Jetzt fragen Sie sich, wie ich aus einer Zukunft in der Vergangenheitsform berichten kann, obwohl jeder BILD-Leser weiß, dass dies unmöglich ist. Ich erwarte von Ihnen allerdings Aufgeschlossenheit und keine Vorurteile gegenüber BILD-Lesern; insbesondere appelliere ich an Ihre Vorstellungskraft – und an Ihre Wahrhaftigkeit. Wie oft haben Sie schon behauptet, Sie hätten Pferde kotzen sehen? Sehen Sie, das ist es, was ich meine. Mein Name ist Stefan Koenig und ich denke, auch Sie sollten verstehen - rechtzeitig verstehen! – dass es Dinge gibt, die zwar nicht durch unsere verschlungenen Hirnwindungen wollen, und doch existieren diese Dinge.

Die Ereignisse, die den heftigen Gewitterstürmen nach heutiger Sicht vorausgingen und sie in gewisser Weise beeinflussten, überstürzten sich Anfang des Jahres 2015. Niemand anderes als Deutschlands Kanzlerin, die Ex-Physikerin Angela Merkel, wusste besser, dass das in diversen kritischen Magazinen umgehende Gerücht stimmte. Es gab auf europäischem Boden ein einmaliges Fracking-Experiment; ein physikalisches Forschungsprojekt mit einem Sonderetat, bestritten vom IWF, dem Internationalen Währungsfonds, der eigentlich den USA gehört. Man munkelte von 143 Milliarden Euro. Doch wer immer Angie ausforschte, um herauszufinden, wo genau dieses Experimentierfeld lag, blieb erfolglos. Sie blieb schweigsam. Auch bei dieser Frage fügten sich ihre Hände automatisch zur Raute. Es entzieht sich freilich meiner Kenntnis, inwieweit Joachim Sauer, ihr Gatte, übrigens auch ein Physiker, diese Situation hinzunehmen bereit war. Jahre später, auf der Party, von der hier zu berichten ist, habe ich sie und ihn darauf angesprochen. Doch dazu komme ich noch.

Im Januar 2015 flog die Kanzlerin mit ihrem damaligen Außenminister, Frank-Walter Stein-meier, nach Minsk, um ein Abkommen zu unterzeichnen. Ich kam mit, denn als ihr biografischer Auftragsautor sollte ich dieses wichtige Treffen zwischen Putin, Poroschenko, Hollande und ihr nicht versäumen.

Solche politische Treffen langweilen mich in der Regel zu Tode, aber hier in Minsk traf ich einen ukrainischen Reporter, mit Vornamen Oleksander, mit ziemlich fanatischen Augen, und irgendwie machte er kein Hehl aus seinen wahren Interessen. „Wir brauchen keinen Waffenstillstand“, sagte er mir an der Bar im Foyer, als ich mir in einer Besprechungspause ausnahmsweise zwei Red Bull am Stück genehmigte. Es war drei Uhr morgens und es schien, als würden sich die Verhandlungen noch sechs Stunden hinziehen, nachdem nun bereits acht Stunden hintereinander verhandelt worden war. Mir brummte der Kopf. Ich schluckte hinter vorgehaltener Hand ein Tebonin; dann ein zweites. Schließlich eine Kapsel Ginseng.

„Das riecht nach einer russischen Finte!“ sagte er, als mir die weißrussische Blondine hinter der Bar den Energydrink einschenkte. „Und Putin mit seinen Oligarchen steckt mit der EU unter einer Decke, so wahr mir Gott helfe!“

Das alles interessierte mich nicht; von lausigen Journalisten-Analysen halte ich mich fern. Es gibt selten Presseleute, denen ich heute noch vertraue. Aber das ist meine ganz persönliche Einstellung, die ich selbst vor der Kanzlerin geheim halte.

Ich sah ihn mit leicht gespieltem Interesse an und stellte ihm, innerlich zutiefst gelangweilt, eine der damals üblichen Fragen. „Wie entwickelt sich eigentlich …“, so fragte ich Oleksander, „… die Wirtschaft in eurem Land?“

Eine ganz normale Frage, wie ich finde, insbesondere wenn man bedenkt, wofür die Menschen im März 2014 angeblich auf Kiews Straßen gegangen waren. Aber er sah mich an, als habe ich in ein Wespennest gestochen, und dann sprudelte etwas aus ihm heraus, was ich erst heute, vier Jahre später, in einen logischen Zusammenhang bringen kann. Und das wiederum hängt mit dem schrecklichen Nebel rund um Berlin zusammen, der dem ungewöhnlichen Sommersturm folgte. Doch alles der Reihe nach.

Oleksander berichtete aus seiner westukrainischen Heimat, nahe Kiew, wo er auf ungewöhnliche Bauarbeiten, sehr ungewöhnliche Arbeiten, aufmerksam wurde. 140 km Luftlinie nördlich der ukrainischen Hauptstadt liegt Tschernobyl, ein atomarer Langzeittrümmerhaufen aus dem Jahr 1986. Atomarer Fallout hatte damals im Mai weite Strecken Nord- und Mitteleuropas verseucht. Frische Milch gab es nur mit atomaren Rückständen. Dabei war nicht das Verfallsdatum der Milch, sondern das Zerfallsdatum des viele Jahrtausende haltbaren Strontiums, Cäsiums und Plutoniums von Interesse. Ich musste auf abenteuerlichste Weise Säcke voller Milchpulver aus der Vorjahresproduktion für befreundete Eltern und für den Kindergarten, in den meine drei Söhne gingen, besorgen. Ich war Elternvertreter und seit jeher Atomkraftgegner.

Nur fünfzig Kilometer westlich dieses unrühmlichen Atom-Molochs entdeckte Oleksander den Bauzaun um ein riesiges, etwa fünfzig Hektar großes Areal. In der ersten Zeit ließ die Absperrung noch Einblicke zu, wie er sagte. Aber schon nach einer Woche wurde der kilometerlange Zaun mit einer hohen Sichtblende versehen. Die Oblast Kiew, zu dessen Regierungsbezirk das weithin verseuchte Gelände gehört, hatte den Bebauungsplan geändert; das Gelände, das ursprünglich für Monsantos gentechnische Feldversuche vorgesehen war, wurde nun einem amerikanischen Schiefergasunternehmen zugeschrieben. Aber selbst ihm, Oleksander, dem treuen Mitarbeiter des ukrainischen Staatsfernsehens und begeisterten Maidan-Demonstranten, erteilte die zuständige Behörde lediglich die lapidare Antwort: Es handele sich um ein internationales Forschungsprojekt zur Erderwärmung. Und ja, es stimme, der Sohn des amerikanischen Vizepräsidenten, Hunter Biden, sei von der Kiewer Zentralregierung zu einem der zwei wissenschaftlichen Direktoren ernannt worden.

Oleksander wurde gebeten, nicht über dieses Geheimprojekt zu berichten, da er ansonsten mit Schwierigkeiten zu rechnen habe. Aber damals, 2015, an der Bar im Prunkpalast von Minsk, erzählte er mir trotz Sprechverbot davon, während die Kanzlerin die Toilette aufsuchte, sich erfrischte und neu schminken ließ. Vielleicht hatte Oleksander ein wenig zu viel getrunken; vielleicht wollte er sich auch nur ein wenig wichtig tun, hatte ich ihm zuvor doch auf seine Frage, für wen ich arbeite, geantwortet, dass ich ein persönlicher Mitarbeiter der deutschen Kanzlerin sei. Nun gut, auch das war in gewisser Weise eine Aufschneiderei, weil ich ihn im Unklaren ließ, in welcher Funktion ich diente. Tatsächlich bin ich lediglich ein armseliger Hilfsautor für die Erstellung von Angies Biographie, und das nun schon seit über vier Jahren.

Wie mir Oleksander am Tresen berichtete, rückten irgendwann Bohrkräne an, und es begannen monatelange geheime Bohrarbeiten. Er verfolgte das Projekt nicht weiter und ging als Kriegsberichterstatter an die Front in der Ostukraine. Wir sahen uns nie wieder.

Die ersten Anzeichen

Ich hielt mich zu dieser Zeit gelegentlich in Berlin auf; und dort arbeitete ich für die Kanzlerin noch vier Jahre später (es war ein Samstag), als Angie - wie ich sie nennen durfte - und ich den ersten Sturm kurz vor Einbruch der Dämmerung aus Richtung der Joachim-Gauck-Allee im Osten Berlins, der früheren Josef-Stalin-Allee, heraufziehen sahen. Noch eine Stunde vorher war es völlig windstill gewesen. Die Hitze lastete schwer und drückend auf uns und auf den ersten Partygästen. Am Nachmittag hatten Angie und ich abgeschirmt im Pool des Kanzleramtes gebadet, aber das Wasser, das direkt aus einer kühlen Quelle gespeist wurde, brachte keine Erfrischung – die Sonne hatte es in kürzester Zeit aufgeheizt. Vielleicht können Sie sich die Kanzlerin nicht in einem Swimmingpool vorstellen, doch ich versichere Ihnen, sie ist ein ganz normaler Mensch, und sie schwimmt wirklich sehr gerne. Weder die Kanzlerin noch ich wollten länger im Pool bleiben, weil wir befürchteten, Yousef könne einen Hitzekoller bekommen. Yousef ist fast sechs Jahre alt. Gegen Ende des Jahres 2015 hatte das Ehepaar Merkel-Sauer ihn adoptiert. Für Yousef hieß die Kanzlerin einfach „Mama“ und Professor Sauer nannte er selbstverständlich „Papa“. Gelegentlich musste ich auf Yousef aufpassen. So wie an jenem Samstag, dem 20. Juli 2019.

Eine Stunde vor Beginn der Party kam ein Kanzleramtsbediensteter, und an seiner Seite sah ich Gabriele Krone-Schmalz, eine gute Freundin von mir und meiner Frau, und eine noch viel bessere Journalistin. Sie war meiner Einladung gefolgt; Frau Merkel hatte mir mit ihrem spitzbübischen Lächeln freigestellt, jemanden mitzubringen, unter der Voraussetzung, meine Frau, die zuhause in Lowbrook geblieben war, wäre damit einverstanden. Gabriele ist meine ehemalige Journalisten-Kollegin und wollte schon immer mal die Kanzlerin persönlich kennen lernen, außerhalb von beruflichen Interviewterminen. So hatte ich sie kurzfristig angerufen, und nun stellte ich sie meiner Arbeitgeberin vor.

Um halb sechs nahmen wir auf der großzügig angelegten Kanzleramts-Terrasse, die nach Osten mit Blick zum Fernsehturm am Alexanderplatz hinausgeht, ein kaltes Abendessen ein. Die Kanzlerin hatte bereits eine kurze Ansprache gehalten, und die annähernd 200 Gäste hatten an den Tischen Platz genommen. An unserem Achtertisch saß Yousefs deutscher Professoren-Vater, der Physiker (und ich erwähnte es schon: der Gatte meiner Arbeitgeberin) Joachim Sauer. Neben ihm saßen in ausgesuchter Reihenfolge die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, dann einer der unauffälligen Typen vom Sicherheitsdienst, neben ihm der Außenminister mit den exklusiv herabhängenden Mundwinkeln, der emsige Frank-Walter Steinmeier, schließlich Gabriele und ich neben Yousef, der direkt neben seiner Mutter saß. Wir alle knabberten ziemlich lustlos an Käsesandwiches und stocherten in einem hausgemachten Kartoffelsalat von Johann Lafer herum. Keiner ließ sich die Lustlosigkeit so richtig anmerken. Alle gaben dem Wetter die Schuld. Das Essen war wirklich vorzüglich und es gab eine große Auswahl; von Seezunge und Shrimps über Steaks und Königsberger Klopsen bis zu veganen und vegetarischen Speisen. Aus jedem Bundesland wurde eine typische Speise angeboten.

Der Exklusivkoch arbeitete heute - extra eingeflogen aus München - im Untergeschoss des Kanzleramtes in einer supermodernen Küche, wo er von den folgenden schrecklichen Ereignissen erst ziemlich spät, fast zu spät, erfuhr. Eine weibliche Bedienung, eine sehr stilvolle junge Frau mit brünettem Haar unter ihrem Häubchen, kam an unseren Tisch. Niemand schien etwas anderes zu wollen als Mineralwasser oder, wie ich, Cola Zero, das man uns in einem schicken Metallgefäß voller Eiswürfel kühlte. Wir beobachteten die unruhigen Vögel auf den Baum-Ästen im Kanzleramtsgarten.

Plötzlich überkam mich ein komisches Gefühl und in meinem Geiste sah ich vorüberfliegende Drohnen, immer taumelnd, in Gefahr abzustürzen – und reflexartig warf ich Uschi, unserer Drohnenexpertin, unauffällig einen Blick zu. Sie saß ziemlich ungerührt auf ihrem Platz, etwas steif, vielleicht sogar so steif wie ihre Frisur. Und dann lenkte ich mich ab und stellte mir vor, wie auf der Friedrichstraße hübsche Frauen ihre zunehmend nervösen Hunde eilig Gassi führten.

Als mir dies nicht weiterhalf, wandte ich mich mit einem Ruck an den Kanzlergatten; ich weiß auch nicht, was mich geritten hatte, jedenfalls fragte ich ihn ganz unverblümt: “Wie sollte man unter physikalischen Gesichtspunkten das Fracking beurteilen, was meinen Sie, Herr Sauer?“ Ich kann mich erinnern, dass er mich mehr als nur merkwürdig ansah. Vielleicht zweifelte er in diesem Moment an meinem Verstand, und ich glaube, einen kurzen Augenblick lang zweifelte ich selbst daran. Denn das war keineswegs eine der üblichen Small-Talk-Fragen, die man auf der Party von Sauers Gattin hätte stellen sollen. Aber nun war mir die Frage in all meiner Hilflosigkeit herausgerutscht und so musste ich das Beste daraus machen.

„Fracking kennen wir hier ja gar nicht“, sagte er trocken und stocherte mit professoraler Würde in Lafers Kartoffelsalat herum.

„Ich meine, diese tiefen Bohrungen und all die Chemie, die Umweltschäden …“

„Nicht hier. Haben wir hier nicht“, wiederholte er knapp sein Statement.

„Aber in Amerika; man liest so viel darüber …“

„Ja, es wird viel geschrieben.“ Sauer sah zur Kanzlerin und sie sah zu mir. In ihrem Blick loderte jener Funke Misstrauen auf, der mich veranlasste, die entscheidende Frage nicht zu stellen. Zu gerne hätte ich gewusst, ob der Kanzlergatte eingeweiht war in das Wissen seiner Frau. Ob er wusste, dass amerikanische Unternehmen in der Ukraine experimentierten. Eine unangenehme Stille entstand. Langsam dämmerte mir, dass ich ihm die Frage vielleicht in vertrauter Zweisamkeit hätte stellen sollen. Um die Peinlichkeit zu überbrücken, landete ich meinen nächsten Gesprächsversuch nun bei einer sicheren Zielperson, bei Gabriele Krone-Schmalz, und ich sagte: „Schön, dass Du doch noch gekommen bist.“ Sie hat extra wegen der Kanzleramts-Party einen Termin für den Bericht aus Berlin mit der ARD abgesagt. Doch man hatte ihr versprochen, sie stattdessen in der Folgewoche zu interviewen. Das war ein Wort. Ob man jedoch Wort hielt - das war Gabriele wohl bewusst -, war eine andere Sache. Sie nickte mir milde zu. Sie spürt immer, wenn ich etwas aus Verlegenheit sage. Ich glaube mich zu erinnern, dass sie kurz meinen unbeholfenen Gesprächsfaden aufnahm und daraufhin jedenfalls ein paar der üblichen Höflichkeiten mit Angela wechselte; wahrscheinlich Belanglosigkeiten, obwohl das nicht ihr Ding ist. Ich weiß es nicht mehr.

Nach dem Abendessen ging Yousef im hinteren Bereich des Kanzleramtsgartens auf sein Klettergerüst, um Pirat zu spielen. Ein Sicherheitsbeamter begleitete ihn, weil die Kanzlerin meine Anwesenheit an ihrem Tisch wünschte und weil ich ungern meine Begleiterin Gabriele alleine am Tisch zurück gelassen hätte; die Kanzlerin spürt so etwas. Was immer man politisch über sie denken mag, aber in solchen Punkten ist sie absolut feinfühlig. Wir konnten Yousef aus der Ferne beobachten. Er saß auf dem Ausguck und ich glaubte, ihn rufen zu hören: „Achtung, Schiff backbord. Bereit zum Entern!“

Rundum herrschte Partystimmung. Die Puhdys, eine bekannte Rockband aus DDR-Zeiten, spielten in angenehmer Lautstärke Songs der achtziger und neunziger Jahre. Ich vernahm Stimmen, die ich, ohne mich größer umsehen zu wollen, versuchte, irgendwelchen bekannten Personen zuzuordnen. Hörte ich da nicht die Stimmen der gut versicherten Veronika Ferres und ihrem Gemahl Maschmeyer? Na klar. Und dann schien ich Til Schweiger zu hören, und etwas weiter entfernt vernahm ich zwei unangenehme Stimmen, auf die ich heute wirklich hätte verzichten können; sie gehörten, ich war mir sicher, zu Alice Schwarzer und Wolf Biermann.

Nun hatten unsere Tischgäste die wetterbedingte Lustlosigkeit doch noch überwunden und sich bis eben angeregt und locker unterhalten. Aber jetzt saßen die Kanzlerin, ihre Tischgesellschaft und ich eine kurze Zeitlang da, ohne viel zu reden, tranken kaltes Cola, O-Saft oder Wasser und blickten hinüber nach Osten in Richtung des hochragenden Berliner Fernsehturms. Die immer grünen Bäume des äußerst gepflegten Kanzleramtsgartens sahen staubig aus und wirkten erschlafft. Selbst der immer blaue Himmel der letzten Tage nahm allmählich ein staubiges Blau an.

Im Osten bauten sich langsam massive purpurne Gewitterwolken auf, formierten sich wie eine grandiose und schlagkräftige Armee, wie gemacht für Frau von der Leyen. Ein feiner Nebel zog auf. Blitze zuckten, die selbst die dunklen Gewitterwolken in ein grelles merkwürdiges Hell verwandelten; sie waren noch weit entfernt und doch registrierte sie mein Bewusstsein, als zuckten sie unmittelbar vor dem Kanzleramt.

Yousef schrie vom Klettergerüst herunter: „Achtung, Blitzschüsse auf den Bug!“

Flinten-Uschi lachte. Man durfte sie niemals so nennen, aber wenn wir einfachen Mitarbeiter unter uns waren, rissen wir schon einmal Schoten und nannten sie so.

Ich musste zur Toilette. Als ich am Büro des Kanzleramtsministers Peter Altmaier vorbeikam, hörte ich, dass sein Radio - er war ein passionierter Radiohörer - auf jene Rundfunkstation eingestellt war, die vom östlich gelegenen Frankfurt/Oder klassische Musik sendet, und bei jedem Blitz gab es laute Störgeräusche von sich. Altmaier war ein dicker Freund von Angie, eine echte alte Seilschaft, ein typisch sparsames Nachkriegskind, was man seinem Bauchumfang jedoch nicht ansah. Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Krankenschwester. Vielleicht war es das, weshalb viele in dem später einsetzenden Partychaos ihre ganze Hoffnung auf ihn setzten. Einst arbeitete er als Rechtsanwalt, dann eine Zeitlang als Hoher Beamter in der Generaldirektion der Europäischen Kommission.

Altmaier war einem kleinen Dorf an der Saar entsprungen, und hier oben in Berlin hatte er in Affengeschwindigkeit eine Karriere im Kanzleramt hingelegt. Er hatte sich vor zwei Jahren mit mir zerstritten, und er hat ein Elefantengedächtnis und kann weder vergessen, noch verzeihen. Er hatte gegenüber dem Vizekanzler Gabriel behauptet, ich nutze meine Stellung als Kanzlerin-Biograf, um die Regierungschefin politisch zu beeinflussen, was natürlich völliger Quatsch war. Er spielte auf meine Einstellung zur Ukraine an, deren Regierung ich wahrhaftig nicht als leuchtendes Vorbild einer demokratischen europäischen Demokratie bezeichnen würde. Aber Siegmar Gabriel hatte ohne mich zu fragen in bester sozialdemokratischer Manier nichts Anderes zu tun, als dies weiter zu tratschen.

Die Sache kam vor die Kanzlerin. Sie stellte sich auf meine Seite, was Altmaier als Niederlage empfand. Er behauptete, ich hätte nur gewonnen, weil sie und ich uns duzten und weil er weniger im Kanzleramt sei als ich. Und weil er kein »Privatsekretär« wäre, so wie ich. Und weil ich »besondere Beziehungen« zu Frau Merkel hegen würde. Das war schon nicht mehr nur Quatsch, das grenzte stark an Verleumdung, und Altmaier und ich empfinden seitdem wenig Sympathie für einander.

Ich habe nur ein einziges Mal bei Angie wegen dem Geheimprojekt nahe Tschernobyl nachgefragt. Schließlich ging es nun, knapp drei Jahrzehnte nach dem tödlichen Atomdesaster von Tschernobyl, schon wieder um die Gesundheitsgefährdung unserer Kinder. Damals, in der ersten Hälfte des Jahres 2015, verhielt sich die Kanzlerin mir gegenüber eher zurückhaltend; sie könne nichts sagen, was über das allgemein Bekannte hinausginge; die Genehmigungen und Bohrungen zu Forschungszwecken seien Sache der souveränen ukrainischen Regierung; alles andere gehöre in den Bereich des Privatrechts oder der Phantasie. Die Ukraine profitiere enorm von den amerikanischen Investitionen und sei gerade deshalb in der Lage, schon bald ohne EU-Kredite auszukommen.

Das war die Zeit, als – trotz zunehmender Armut und trotz dem täglichen Hamsterrad, in dem sich ein Drittel der Deutschen befand – eine Teuerungsrate durch unser Land rollte; als der Euro gegenüber dem Dollar abschmierte, als Mietpreise, Grund- und Gewerbesteuer um durchschnittlich fünfzig Prozent angehoben wurden und die Bürgermeister mit den Fingern auf Berlin zeigten: „Letztendlich verbleibt uns am Ende der staatlichen Kette nur, für alle Leistungen, die wir den Bürgern erbringen, Steuern und Gebühren anzuheben. Ein Schritt, der allen Beteiligten nicht leicht fällt.“

Da ahnte noch niemand in Europas reichstem Land, wie die staatliche Kette zerreißen und das Ketten-Ende sich in seine Einzelteile auflösen würde. Noch regierte Hoffnung und man feierte die jährlichen Kanzleramtspartys. Und die eine Billion schwere Beamten-Pensions-Welle rollte, ohne dass jemand Tsunami-Warnung gab; die hauptberuflichen Warner kamen ungern ihrer Pflicht nach, schließlich waren sie selbst bald Pensionäre.

Dann aber rollte die Flüchtlingswelle aus Afrika und dem Nahen Osten heran, bäumte sich zu einer wahren Sturmflut auf und flutete Europa. Alle bisherigen Probleme traten in den Hintergrund. Das Tagesgeschäft im Amt drehte sich um die Migranten und um ein neues Asylgesetz, um Zäune und Polizeieinheiten, die man rund um die Festung Europa zu ziehen sich bemüßigt sah. Aber auch damals schon wurde trotz alledem zu schicken Kanzleramts-Partys eingeladen. Der amtliche Planungsstab gab stets sein Bestes. Made in Germany. Nur die VW-Manager wurden in jenen Tagen ausgeladen. Sie rochen nach Diesel.

Ich unterbrach meine Erinnerungen. Denn nun, vier Jahre später, war ich erneut Teilnehmer an einer Kanzleramtsparty, an der Seite von Angie. Ich sah noch einmal zu dem heraufziehenden Gewitter, und der Abend nahm seinen verhängnisvollen Lauf.

Als der Sturm aufkam

Die Kanzlerin hatte zur Befriedigung der anwesenden Boulevard-Reporter ihr berühmtes Bayreuth-Kleid an, das Kleid mit dem besonders großen Dekolletee. Sie seufzte und fächerte sich die Brüste mit dem Rand ihres Dekolletees. Ich bezweifelte, dass es ihr viel Kühlung verschaffte, aber es verbesserte ganz erheblich den Einblick.

„Ich will dich nicht beunruhigen“, sagte ich. „Aber ich glaube, dass ein gewaltiger Sturm im Anzug ist.“

Angie konnte sich auf meine Empfindung verlassen, denn als alter Pfadfinder hatte ich alle Wetterphänomene korrekt einzuschätzen gelernt.

„Wie schlimm wird es denn?“ war ihre Gegenfrage.

„Das weiß ich auch nicht“, sagte ich wahrheitsgemäß. Doch ich hatte schon ein sehr mulmiges Gefühl. „Der Wind kann von Osten herangebraust kommen wie ein ICE.“

Mich wunderte, dass noch keiner vom amtsinternen Partymanagement oder vom Sicherheitsdienst Alarm geschlagen hatte.

Kurz danach kam Yousef zurück und beklagte sich, dass das Klettern keinen Spaß mehr mache, weil er »völlig verschwitzt« sei und außerdem Angst habe. Ich strich ihm ersatzweise übers Haar, weil sich Joachim Sauer wegen dringlicher Forschungsarbeiten gerade verabschiedet hatte, und ich gab Yousef noch einen O-Saft. Zusätzliche Arbeit für den Zahnarzt, der hervorragend privat abzurechnen versteht. Ein wahrer IGeL-Fan. Für die Kanzlerin und ihren Adoptivsohn öffnet er seine Praxis – unweit von Angies Privatwohnung, gegenüber des Pergamon-Museums – zu jeder gewünschten Uhrzeit; wenn es sein muss auch mitten in der Nacht.

Die Gewitterwolken kamen jetzt näher und verdrängten den blauen Himmel. Nun konnte es keinen Zweifel mehr darüber geben, dass sich ein Sturm ankündigte.

Yousef saß zwischen seiner Mutter und mir und beobachtete fasziniert-ängstlich, wie es ein Kind tut, das zum ersten Mal im Leben ein solches Naturschauspiel sieht, den merkwürdigen Himmel. Donner grollte. Die Wolken griffen ineinander, verflochten sich, strebten wieder auseinander und wechselten ständig die Farbe; von schwarz zu Purpur, dann geädert, dann wieder schwarz wie die Nacht. Allmählich überquerten sie die weit östlich gelegenen Vororte der Hauptstadt, und ich sah, wie sie ein breites dichtes Regennetz unter sich ausbreiteten. Es war noch ein ganzes Stück entfernt.

Die Luft geriet in Bewegung, zuerst nur stoßweise, dann setzte ein stetiger frischer Wind ein, der den leichten Schweiß auf unseren Körpern trocknete und uns gleich darauf ein wenig frösteln ließ. Jetzt kamen die amtlichen Partybediensteten und baten die rund hundertfünfzig Gäste, den Kanzleramtsgarten und die großflächige Terrasse zu verlassen und im Inneren des Gebäudes weiter zu feiern.

Im nächsten Moment sah ich den blitzdurchzuckten Silberschleier über Berlins Silhouette wirbeln. Er verhüllte die Ostteile der Stadt in Sekundenschnelle und kam direkt auf uns zu.

"Geh'n wir rein", sagte ich, stand auf und legte den Arm um Yousefs Schultern.

"Siehst du es? Stefan, was ist das?" fragte er mich.

"Eine Windhose. Gehen wir lieber rein."

Die Kanzlerin warf einen raschen bestürzten Blick auf mein Gesicht, streichelte über seinen Kopf und sagte dann: "Komm, Yousef. Tu, was Stefan sagt."

Ich sah auf meine Uhr; es war kurz nach 20:00 Uhr.

Wir gingen zurück durch eine der ultragroßen automatisch bewegten Glasschiebetüren in den großzügigen Empfangssalon. Hinter uns, hinter Gabriele und Frau von der Leyen, hinter dem Außenminister und dem Bodyguard schloss sie völlig geräuschlos, und ich warf bei dieser Gelegenheit noch einen Blick nach draußen. Angie stand links neben mir am riesigen Panoramafenster, Yousef zwischen uns; rechts neben mir meine Partybegleitung, die Journalistin. Etwas verteilt an der Fensterfront standen andere Partygäste und schauten in das herannahende Spektakel. Auch wir vier schauten uns einen kleinen Augenblick das Kräftespiel der Natur an. Der Silberschleier hatte Berlins östliche Vororte zu drei Vierteln überquert. Die Windhose glich jetzt einer riesigen, mit rasender Geschwindigkeit herumwirbelnden Teetasse zwischen dem tiefhängendem schwarzen Himmel und den Alleen und Straßenschluchten, ihren Büroblocks und Hochhäusern, durchzogen von weißen nebligen Chromstreifen. Die grauen Straßen sahen gespenstisch aus wie Teilungsstreifen von Parzellen, die jetzt durch eine bedrohlich heranrollende Tsunamiwelle geflutet werden.

Es war ein hypnotischer Anblick, von dem ich mich, ebenso wie wohl viele andere Partygäste, nicht losreißen konnte. Schlagartig wurde es stockfinster. Die Windhose hatte uns fast erreicht, als ein wahnsinnig greller Blitz aufzuckte. In allen Räumen des Kanzleramtes befinden sich neben den Türen kleine Nischen, in denen Haustelefone angebracht sind. Die Telefone gaben ein bestürztes »Kling« von sich; ich drehte mich zur Seite und nahm erst jetzt die Kanzlerin und ihren Adoptivsohn bewusst wahr. Dann sah ich zu meiner Rechten Gabriele, die ich sehr oft einfach Gaby nenne. Im Normalfall bot einem das Fenster ein großartiges Panorama der östlich gelegenen Stadtsilhouette. Aber jetzt prasselte der Regen mit einer plötzlichen Wucht und verstellte uns die Sicht, als habe er uns etwas heimzuzahlen. Im selben Moment hatte ich eine jener schrecklichen Horrorvisionen, die vermutlich nur Ehemännern und Künstlern vorbehalten sind - das große Panoramafenster zerbirst mit einem tiefen, harten Klirren und bohrt seine zackigen Glassplitter in den nackten Bauch meiner geliebten Frau, und - in Gesicht und Hals jenes mir anvertrauten syrischen Jungen.

Auch wenn meine Kinder erwachsen sind, so fühle ich mich doch für Angies Adoptivsohn verantwortlich und habe stets sein traumatisches Kriegsschicksal in Syrien vor Augen. Dass die Splitter zuhause, im fernen Lowbrook, meine Staffelei samt Bild, an dem ich seit mehreren Wochen arbeitete, zerfetzen konnte, war mir in diesem Moment wirklich keinen einzigen Gedanken wert. Ich dachte an meine Frau und fragte mich, ob auch dort ein Unwetter tobte.

Ich packte Gabriele und Yousef ziemlich unsanft und riss sie zurück. „Was zum Teufel macht ihr da? Macht, dass ihr hier wegkommt!“ Auch der Kanzlerin warf ich einen Blick zu, der nicht gerade Verständnis ausdrückte. Gabriele warf mir einen bestürzten Blick zu. Yousef sah mich an wie jemand, der gerade aus tiefem Traum gerissen worden ist. Ich ging mit den Dreien in Richtung der Musikband quer durch den Partysalon. Unterwegs wurde die Kanzlerin von verschiedenen Gästen artig begrüßt. Und sie selbst begrüßte - bis wir in der Nähe der Band ankamen – nach einander das Ehepaar Ferres-Maschmeier, die olivgrüne Familie Beck-Fücks mit ihrer erwachsenen Tochter, dann noch Til Schweiger und Anne Will. Die Band machte gerade Pause. Wir befanden uns nahe eines der Telefonnischen und wieder gab das Telefon ein ungewohntes »Klingelingeling« von sich.

„Geh mal“, sagte die Kanzlerin, und ich eilte hin, um den Hörer abzunehmen. Doch alles was ich hörte, war ein unbestimmtes Rauschen, kein Tut-tut-tut, kein gewohntes Signal.

Dann war der Wirbelsturm direkt über uns. Es war so, als hätte das ganze große Kanzleramt vom Boden abgehoben wie ein Airbus. Es war ein hohes, atemloses Pfeifen, dann wieder ein dröhnender Bass, der Sekunden später in ein keuchendes Kreischen überging. Einige der Partygäste begannen laut zu reden und manche Stimmen überschlugen sich.

„Gehen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit bitte nach unten! Folgen Sie den Anweisungen Ihrer Servicekraft“, sagte eine bekannte weibliche Stimme aus den Lautsprecherboxen. Es war die bestimmte, aber äußerst verbindliche Stimme von Maybrit Illner, die hier ihre Wette mit Markus Lanz einlösen und sich als Eventmanagerin beweisen musste. Ich wollte mich mit Angie wegen Yousef abstimmen, aber der Lärm des brüllenden Sturms schien das Partygetöse locker zu übertönen. Jetzt musste ich brüllen, um mich verständlich zu machen: „Geht auch ihr runter!“

Direkt über dem Regierungsgebäude trommelte der Donner mit riesigen Stöcken, und Yousef klammerte sich an mein Bein.

„Geh Du auch runter!“ schrie Gabriele zurück.

Ich nickte und machte scheuchende Bewegungen. Angela schien es mir nicht übel zu nehmen, dass ich in dieser Situation das Kommando übernahm. Yousef musste ich von meinem Bein regelrecht losreißen. „Geh mit deiner Mutter. Ich will noch dafür sorgen, dass überall Kerzen stehen, für den Fall, dass der Strom ausfällt.“ Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, da das Kanzleramt mit Hochtechnik und allen nur denkbaren Notfallaggregaten bestückt ist. Ich ging dennoch Kerzen suchen.

Er ging mit ihr und mit Gabriele, und ich suchte Maybrit auf. Wie Sie vielleicht selbst wissen, sind Kerzen verdammt unauffindbar, wenn man sie einmal braucht. Glauben Sie nicht, dass das in einem Kanzleramt anders ist. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, bevor das hinzugezogene Hausmanagement, das Hausmeisterteam und die Büroleiterin, Frau Baumann, die Kerzen in einer der zahlreichen Asservatenkammern im Seitentrakt des Hauptgebäudes fanden, in der sich all das Zeug für Staatsempfänge stapelt: eine schwarz-rot-goldene Autoflagge und 195 andersfarbige kleine Flaggen für die Limousinen ausländischer Staatsgäste. Tischfähnchen aller Nationen, weit über hundert Fahnen aller Herrgottsländer, Reinigungsmittel, Vorratspakete für den Notstandsfall, zig Schutzbrillen, Instantverpflegung. Die Kerzen lagen genau hinter dem Regal mit den antistatischen Handschuhen aus Latex. Als Frau Illner, die uns begleitete, einen der Kartons mit den Tischkerzen gerade zur Hand nahm, ging die Beleuchtung aus, und die einzige Elektrizität waren jetzt die Blitze.

Wir warteten eine Weile in der Hoffnung, die Hauselektrik würde auf die Notstromversorgung umschalten, aber es tat sich nichts. Jeder Zweite von uns steckte eine Kerze an, während die anderen die Kartons mit den Kerzen trugen. Wir gingen zurück in den Partysaal. Er wurde von einer Serie weißer und purpurner Blitze in grelles Licht getaucht. Auf dem Weg dorthin hörte ich, dass Yousef in einem Nebenraum in Tränen ausbrach, und dass Gabriele leise und beruhigend auf ihn einsprach. Angela war wieder zu den Partygästen gegangen, um ermutigend auf sie einzuwirken. Ich glaubte gehört zu haben wie sie sagte: „Wir schaffen das!“ Doch ich kann mich auch täuschen. Gut war, dass sie ihre bekannte Beruhigungshaltung einnahm; es wäre ja auch wirklich zu beschämend gewesen, wenn sie sich in dieser Situation nur um Yousef gekümmert hätte.

Ich eilte zu Peter Altmaier, dem Kanzleramtsminister, der bereits mit einem Mitarbeiter der Gebäudeverwaltung und mit einem Sicherheitsbeamten sprach.

„Herr Koenig, wir haben nicht nur einen Ausfall des Normalnetzes zu verzeichnen. Auch die Notstromaggregate sind ausgefallen und ich bitte Sie, jetzt keine Staatsaffäre daraus zu machen.“

Ich kann diesen Mann, der dummerweise auch mein Büronachbar ist, nicht leiden. Er schießt immer völlig unnötige Spitzen gegen mich ab.

„Ich habe Kerzen besorgen lassen“, antwortete ich.

Er nickte gnädig. Ich spürte, dass er meine kluge Entscheidung später als vorauseilenden Gehorsam diffamieren wird. Der Regen hämmerte so schrecklich laut, dass ich den Eindruck hatte, das Kanzleramt würde von prasselnden Flammenzungen gefressen. Frau Illner ließ das Servicepersonal die Kerzen aufstellen und bald herrschte eine gemütlichere Stimmung als zuvor, wenn man in der Lage war zu vergessen, dass es ein Draußen gab. Ich fragte mich, ob die Moderatorin, oder sogar ich, vielleicht gute Innenarchitekten geworden wären. Allein dieser Gedanke zeugt davon, dass ich mir damals der dramatischen Situation nicht bewusst war.

Ich ging nun nach unten. Yousef rannte auf mich zu und umklammerte meine Beine. Ich hob ihn hoch und drückte ihn fest an mich. Dann zündete ich auch hier im Schutzraum neben der Küche die Kerzen an, brachte Lafer noch einen Karton von diesen altbewährten Leuchtmitteln aus purem Wachs, damit er bei flackerndem Licht und mit der Umschaltung auf Gasbetrieb weiterkochen konnte, und wir lauschten dem Brausen des Sturms und seinem wütenden Zerren am Amtssitz unserer Regierung. Trotzdem wir uns im Untergeschoss befanden, hörten wir doch, wenn auch gedämpft, wie oben das Unwetter tobte.

Gabriele und ich blieben vorerst hier, um den kleinen Yousef zu beruhigen. Etwa zwanzig Minuten später hörten wir ein gewaltiges Krachen; eine der großen alten Fichten im Kanzleramtsgarten stürzte zu Boden und das Gebäude schien zu erzittern. Angeblich ist es erdbebensicher gebaut, aber in dieser Situation konnten wir dem keinen Glauben schenken. Dann trat Windstille ein. Wir gingen wieder die Treppe hoch zur Party. Die Panoramafenster, die den Blick zum Garten hinaus freigaben, waren mit schweren Vorhängen verhangen worden. Wahrscheinlich hatten Illner und Angies Büroleiterin, Frau Baumann, beschlossen, die Gäste vor dem Anblick der wütenden Natur zu verschonen. Ich ging an die Fensterfront und schob den Vorhang etwas zur Seite. Der Mond schien in stummer Einsamkeit.

„Ist es vorbei?“ fragte Gabriele.

„Vielleicht“, antwortete ich. „Vielleicht aber auch nur eine kurze Unterbrechung.“

Und genauso war es. Etwa eine halbe Stunde später setzte der Wind wieder ein. Drei Wochen hatten wir in Berlin und Brandenburg Temperaturen von über vierzig Grad gehabt, und an sechs dieser einundzwanzig Tage hatte der Deutsche Wetterdienst sogar über fünfundvierzig Grad gemeldet. Komisches Wetter!

Ich sah mir jetzt mit der Distanz eines Scheintoten, wahrscheinlich den Ereignissen geschuldet, wie aus der Sicht eines plötzlich Schwebenden die Partygesellschaft an. Meine Tischnachbarin von vorhin, die Verteidigungsministerin, stand zusammen mit Günter Jauch und Carsten Maschmeier. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, Maschmeier habe Uschi mit einem lauten Auflachen an den Hintern gefasst, aber ich führte diese Halluzination auf meinen überreizten Zustand zurück. Sie schienen sich jedenfalls köstlich zu amüsieren. Offensichtlich spielte das Unwetter für sie keine Rolle mehr.