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Vergeblich wartet Dr. Julia Sperling auf ein Lebenszeichen ihres Freundes. Marc hüllt sich in Schweigen und ist unerreichbar. Julia versteht die Welt nicht mehr. Waren die zärtlichen Küsse des Polizisten nur ein Strohfeuer? Ihr bleibt nicht viel Zeit, um darüber nachzugrübeln, weil ihr nächster Einsatz sie in ihre Heimat führt. Auf dem Darß verschwinden Haustiere. Spurlos. Die geliebten Vierbeiner sind wie vom Erdboden verschluckt. Was geschieht mit ihnen? Julia muss mit einem Kollegen zusammenarbeiten, um das Rätsel zu lösen. Dr. Lennard Thiess ist ebenso attraktiv wie gefährlich - und er scheint zu allem bereit zu sein, um Karriere zu machen ...
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Seitenzahl: 169
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Kurzbeschreibung:
Vergeblich wartet Dr. Julia Sperling auf ein Lebenszeichen ihres Freundes. Marc hüllt sich in Schweigen und ist unerreichbar. Julia versteht die Welt nicht mehr. Waren die zärtlichen Küsse des Polizisten nur ein Strohfeuer? Ihr bleibt nicht viel Zeit, um darüber nachzugrübeln, weil ihr nächster Einsatz sie in ihre Heimat führt. Auf dem Darß verschwinden Haustiere. Spurlos. Die geliebten Vierbeiner sind wie vom Erdboden verschluckt. Was geschieht mit ihnen? Julia muss mit einem Kollegen zusammenarbeiten, um das Rätsel zu lösen. Dr. Lennard Thiess ist ebenso attraktiv wie gefährlich - und er scheint zu allem bereit zu sein, um Karriere zu machen ...
Katja Martens
Vier Pfoten für Julia
Winterzauber
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2017 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2017 by Katja Martens
Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart
Lektorat: Tatjana Weichel
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-047-1
www.facebook.com/EdelElements/
www.edelelements.de/
Hunde kommen, wenn sie gerufen werden. Katzen nehmen die Mitteilung zur Kenntnis und kommen gelegentlich darauf zurück.
Re:Nur noch zwei Wochen bis Weihnachten
Von:Julia Sperling
An:Carola Aldag
Am liebsten würde ich Weihnachten in diesem Jahr ausfallen lassen, Caro. In letzter Zeit geht alles nur noch schief. Mein Großvater kann sich plötzlich nichts mehr merken. Er vergisst von einer Stunde zur nächsten, dass er schon zu Mittag gegessen hat oder noch Schneeschippen wollte. Gestern wusste er nicht einmal mehr seine eigene Telefonnummer. Ich mache mir Sorgen, aber Du kennst ihn ja. Zum Arzt geht er erst, wenn er den Kopf schon unter dem Arm trägt. Das ist aber noch nicht alles. Stell Dir vor: Lennard hat mir die Vertretung in Ahrenshoop weggeschnappt! Seinem Angebot, für die Hälfte des üblichen Honorars zu arbeiten, konnte die Leitung der Tierklinik nicht widerstehen. Nun sitze ich ohne Stelle da. (Erinnerst Du Dich eigentlich noch an Lennard?)
Frustrierte Grüße,
Julia
Re:Nur noch zwei Wochen bis Weihnachten
Von:Carola Aldag
An:Julia Sperling
Natürlich erinnere ich mich an Lennard Thiess: ein Meter neunzig geballte Energie, dunkle Haare, so dicht, dass man seine Hände darin verlieren kann und ein Tausend-Watt-Lächeln, gegen das die Weihnachtsbeleuchtung am Rockefeller Center eine müde Funzel ist, richtig? Ihr wart auf der Uni ein Paar. Sag bloß, er wohnt jetzt wieder in deiner Nähe? Ist das nur ein Zufall? Oder will er an eure Vergangenheit anknüpfen? Nach allem, was damals war? Du musst mir unbedingt mehr erzählen, wenn wir wieder telefonieren!
Was ist eigentlich mit Marc? Du hast schon ewig nicht mehr von deinem sexy Polizisten und seiner niedlichen Tochter gesprochen. Bei deinem vorigen Einsatz im Bayerischen Wald wart ihr unzertrennlich. Und jetzt Funkstille? Was ist passiert?
Weißt Du übrigens, was gegen Deinen Weihnachtsfrust helfen würde? Wenn Du Dich spontan in den Zug setzt und Deine beste Freundin in Berlin besuchst! Wir könnten zusammen shoppen gehen, Eis laufen und so viele gebrannte Mandeln essen, bis uns richtig schlecht wird. Überleg es Dir, ja? Oh, verflixt, ist es wirklich schon kurz vor fünf? Ich muss los. Gleich ist Redaktionssitzung. Melde mich später wieder. Bis dahin gönn‘ Dir eine Packung Lebkuchen und schau Dir ‚Anastasia‘ auf DVD an. Das wird schon!
Caro
Julia Sperling nippte an ihrem Teebecher, während sie die E-Mail zum zweiten Mal las. Ihre beste Freundin hatte ein überschäumendes Temperament und war immer bereit, sich kopfüber in ein neues Abenteuer zu stürzen – sei es in ihrem Beruf als Journalistin oder privat mit einem neuen Mann. Carolas Beziehungen hielten nie lange, aber sie war eine verlässliche Freundin, auf die Julia jederzeit zählen konnte.
Was ist eigentlich mit Marc? Diese Frage ließ Julia nicht los. Ihre Freundin hatte den Finger zielgenau auf ihren wunden Punkt gelegt. Seit einer Woche hatte Julia nichts von Marc gehört. Kein Sterbenswort. Dabei hatte er ihr versprochen, sich zu melden. Warum schwieg er sich nun aus?
Ihr erster Einsatz als Vertretungstierärztin hatte Julia in den Bayerischen Wald geführt. Dort war sie einer Organisation von Schmugglern auf die Schliche gekommen, die Tiere für den Transport von Drogen über die tschechische Grenze ins Land missbrauchten. Gemeinsam hatten Marc und sie ihnen das Handwerk gelegt. Darüber waren sie sich auch privat nähergekommen. Zum Abschied hatte Marc ihr sein Wort gegeben, dass sie sich bald wiedersehen würden. Und er hatte sie geküsst. Oh, ihr wurde immer noch heiß, wenn sie an seinen Kuss dachte. Es hatte sich angefühlt, als würde die Welt aus den Angeln gehoben. Nun gab Marcs Schweigen ihr Rätsel auf. Hatte er es sich etwa anders überlegt? Oder hatte er einfach nur viel zu tun?
Julia drehte ihren Becher zwischen den Fingern. Vor ihrem Fenster wirbelten weiße Flocken vom Himmel, als würden sie zu einer unhörbaren Melodie tanzen. Es war so kalt geworden, dass die Bewohner auf dem Darß schon befürchteten, die Ostsee könnte wieder zufrieren, wie es ungefähr alle zwanzig Jahre einmal vorkam.
Seit ihrem Abschluss vertrat Julia Kollegen, die ihrer Arbeit eine Zeit lang nicht nachgehen konnten. In der Tierklinik von Ahrenshoop wurde ein Tierarzt gesucht. Julia hatte sich für die Stelle beworben, die keine Viertelstunde Autofahrt von ihrem Zuhause entfernt war. Lennard Thiess, ein Kollege, war ihr jedoch zuvorgekommen und hatte der Klinikleitung ein Angebot gemacht, das diese nicht ausschlagen konnte.
Nun saß Julia ohne neue Stellung in dem gemütlichen Darßhäuschen ihres Großvaters, dessen reetgedecktes Dach sich unter der Schneelast zu biegen schien. Ihr Zimmer verfügte über einen kleinen Kamin und war mit seinen schrägen Wänden überaus gemütlich. Neben dem Bett stapelten sich Romane und Fachbücher in einem Bücherregal und auf dem Fensterbrett reihte sich eine Kakteensammlung aneinander. An einer Wand hing ein Poster von den schottischen Highlands. Julia träumte davon, dort einmal Urlaub zu machen.
Unter ihrem Schreibtisch hatte sich Raudi zusammengerollt und den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet. Die Französische Bulldogge mit den Fledermausohren wich Julia nicht von der Seite, seitdem sie ihr mit einer Notoperation das Leben gerettet hatte. Er kaute am liebsten auf ihren Pantoffeln herum. Außerdem stibitzte er hin und wieder ein Stück Käse aus der Küche, wenn niemand hinschaute.
Ob ich den Kleinen mit nach Berlin nehmen kann? Die Großstadt kennt er noch nicht. Carola wird ihn gar nicht mehr weglassen wollen, wenn sie ihn sieht. Sie spricht seit Jahren davon, dass sie gern einen Hund hätte, aber bei ihrem Beruf ist daran nicht einmal zu denken. Sie ist ja ständig unterwegs. Ich würde sie wirklich gern besuchen … Soweit war die Tierärztin gerade mit ihren Gedanken gekommen, als plötzlich sämtliche Lichter in ihrem Zimmer ausgingen. Auch ihr Computer schaltete sich ab. Schlagartig war es stockdunkel im Raum.
»Was ist denn nun los?« Verwundert kniff Julia die Augen zusammen. Selbst das rote Standby-Lämpchen an ihrem Fernseher war erloschen. Ein Stromausfall? Sie öffnete die obere Schublade ihres Schreibtischs und wühlte darin herum. Hatte sie früher hier nicht eine Taschenlampe gehabt? Sie musste hier doch irgendwo … »Autsch!« Etwas Spitzes bohrte sich in ihren Daumen. Vermutlich die Spitze des Zirkels, der noch aus ihrer Schulzeit stammte. Die Taschenlampe fand sie jedoch nicht. Also brauchte sie Plan B: Julia tastete nach der Kerze und den Streichhölzern auf ihrem Schreibtisch und riss eines an. Im nächsten Augenblick wurde ihr Zimmer in den sanften Schein der Kerze getaucht. Das war gemütlich. Die E-Mail ihrer besten Freundin würde sie allerdings erst beantworten können, wenn es wieder Strom gab.
Mit der Kerze in der Hand verließ Julia ihr Zimmer.
Ein Stockwerk tiefer befanden sich fünf Gästezimmer sowie der Frühstücksraum der Pension ‚Seestern‘, die ihrem Großvater gehörte. Das weiß gekalkte Kapitänshaus war nur einen Steinwurf von den Prerower Dünen entfernt. Julia ging hinunter ins Erdgeschoss. Das Trappeln von Pfoten verriet, dass Raudi ihr auf dem Fuß folgte. Sie wandte sich dem Arbeitszimmer ihres Großvaters zu. Als sie die Tür aufstieß, knisterte ein Birkenholzfeuer im Kamin. Im Lichtschein kramte Rasmus Sperling in seinem Schreibtisch. Er war ein großgewachsener Mann, der sich stets so aufrecht hielt, dass man ihm seine neunundsechzig Jahre nicht ansah. Seine Haare waren weiß und kurzgeschnitten, und ein ordentlich gestutzter Bart zierte sein Gesicht. Er murmelte etwas Undeutliches vor sich hin.
Julia blieb in der offenen Tür stehen. »Was ist denn passiert? Ist der Strom ausgefallen?«
»Vermutlich ist nur die Sicherung rausgesprungen. Wo habe ich bloß diese verflixte Taschenlampe hingetan? Ah, da ist sie ja.« Triumphierend brachte ihr Großvater das Gesuchte hervor und knipste die Lampe an. »Schon besser, oder?«
»Warum ist denn die Sicherung rausgesprungen?«
»Vermutlich habe ich es mit dem Dekorieren übertrieben. Ich habe gerade eine Lichterkette am Fenster des Frühstücksraumes angebracht. Als ich sie einschalten wollte, wurde es plötzlich dunkel im Haus.«
»Noch eine Lichterkette?« Julia rollte die Augen. »Deine Pension ist doch kein Coca-Cola-Truck. Wenn du noch mehr Lichter anbringst, machen dich die Stromwerke noch zum Ehrenkunden.«
»So viele sind es gar nicht.«
»Du hast drei Tage gebraucht, um alle Lichterketten aufzuhängen. Als dein Nachbar eine Laterne vor seiner Haustür aufgestellt hat, hast du zwei doppelt so große Laternen gekauft, und als er ein beleuchtetes Rentier in seinem Garten aufgebaut hat, kamst du mit einer ganzen Hirschfamilie an.«
»Findest du das zu viel?«
»Jedenfalls ist es zu viel für unsere Stromleitung. Was hältst du davon, dass ich dir helfe, etwas von der Dekoration wieder abzubauen? Anschließend trinken wir eine heiße Schokolade zusammen und kosten die frischen Kokosmakronen.«
»Du willst die Lichter abnehmen?« Ihr Großvater sah sie so entgeistert an, als hätte sie ihm soeben vorgeschlagen, das Haus niederzubrennen.
»Ansonsten verbringen wir den Abend im Dunkeln«, gab Julia zu bedenken.
Ihr Großvater kämpfte sichtlich mit sich. »Also schön, ich werde eine Lichterkette abmachen, aber nur eine. Und vorher muss ich nach den Sicherungen sehen.« Er stapfte durch den Flur und werkelte am Sicherungskasten herum. Nach ein paar Handgriffen ging das Licht im Haus wieder an. Julia atmete auf.
Auf dem Fensterbrett saß Poppy. Die Katze ihres Großvaters hatte braun getigertes Fell und grüne Augen. Ursprünglich war ihr Name Madame Pompadour gewesen, aber im Lauf der Zeit war Poppy daraus geworden. Sie ließ keinen Blick von Raudi. Er hütete sich jedoch, sich ihr weiter als eine Armlänge zu nähern, denn er hatte gleich an seinem ersten Tag Bekanntschaft mit ihren Krallen gemacht. Eine Schorfwunde an seinem rechten Ohr zeugte davon, dass sie keine Zurückhaltung kannte, wenn es darum ging, einem Neuankömmling klarzumachen, wer die Dame des Hauses war.
»Möchtest du jemanden über die Feiertage einladen, Liebes?« Ihr Großvater drehte sich um. »Deine Freundin vielleicht?«
»Das wäre schön, aber Carola ist leider schon anderweitig verplant. Sie fährt zu ihren Eltern.«
»Und was ist mit diesem Marc? Als du hergekommen bist, hast du ständig von ihm gesprochen. Kommt er her?«
»Ich glaube nicht. Er hat sich seit Tagen nicht gemeldet.«
»Oh!« Ihr Großvater legte tröstend eine Hand auf ihre Schulter. »Vielleicht ist es auch besser so. Du bist in deinem Beruf ständig woanders im Einsatz. Das wäre eine Belastungsprobe für jede Beziehung, meinst du nicht?«
Stimmte das? Hatten Marc und sie nie eine Chance gehabt? Darüber dachte Julia nach, als es unerwartet an der Haustür klingelte. Ihr Großvater öffnete, und kurz darauf wirbelte eine rundliche Frau mit einer Kuchenplatte herein. Ihre Haare waren kinnlang, braun gefärbt und schienen ebenso wie sie selbst ständig in Bewegung zu sein. Es war Gerti Winkler, die Nachbarin ihres Großvaters.
»Ihr seid also doch noch wach!«, rief sie munter aus. »Ich dachte schon, ihr wollt heute einmal mit den Hühnern zu Bett gehen, weil es plötzlich stockdunkel im Haus war. Was war denn los? Hast du es mit den Lichtern übertrieben, Rasmus?«
»Fang du nicht auch noch an, Gerti. Julia behauptet auch ständig, ich würde zu viele Lichter anbringen«, brummte er.
»Mach dir nichts draus. Deine Pension strahlt so hell, dass sie bestimmt noch vom Weltraum aus zu sehen ist. Falls irgendwelche Raumfahrer auf der Suche nach einem Quartier sind, finden sie auf jeden Fall hierher.« Gerti kniff verschmitzt ein Auge zu. »Ich habe euch ein paar Stücke von meinem Bratapfelkuchen aufgehoben. Ihr solltet sie gleich essen. Frisch schmecken sie am besten.«
»Hört sich gut an, aber das muss leider warten. Ich habe versprochen, die Gerstners vom Bahnhof abzuholen. Sie wussten nicht, ob sie so spät noch ein Taxi erwischen. Ich muss los. Bis später, ja? Und vielen Dank für den Kuchen, Gerti!« Rasmus nahm seine Winterjacke vom Haken, schlüpfte in seine Stiefel und war kurz darauf aus der Tür.
Julia bat Gerti ins Haus, aber die Besucherin winkte ab. »Ich habe das Café voller Gäste und muss wieder rüber. Wir trinken ein andermal zusammen Kaffee, ja?«
»Sehr gern. Du, sag mal, Gerti …«
»Ja? Was ist denn, Schätzchen?«
»Du kennst meinen Großvater schon viele Jahre. Ist dir in letzter Zeit etwas an ihm aufgefallen?«
Gerti musste nicht überlegen. »Du meinst, dass er ein bisschen vergesslich geworden ist? Natürlich ist mir das aufgefallen. Ich würde ihm raten, es mit Ginkgo-Kapseln zu versuchen. Darüber habe ich neulich einen Artikel gelesen. Der Wirkstoff ist rein pflanzlich und verbessert die Durchblutung im Gehirn. Soll ich deinem Großvater eine Packung besorgen?«
»Vielleicht. Es ist dir also auch aufgefallen?«
»Sicher. Wie gesagt: Ginkgo kann helfen.« Die Vierundsechzigjährige probierte liebend gern Gesundheitstipps aus, die sie in Illustrierten und der Apothekenzeitung sammelte. »Ich mache übrigens gerade eine Ölziehkur. Dabei werden Giftstoffe aus dem Körper gezogen und man fühlt sich viel frischer und wacher. Das solltest du deinem Großvater einmal vorschlagen. Und morgen bringe ich euch das Ginkgo-Präparat, ja?« Mit diesen Worten wirbelte die Besucherin herum und machte sich auf den Weg.
Julia blickte ihr nach, bis Gerti in ihrem Café am Ende der Straße verschwand. Hinter ihren Schläfen pochte es mit einem Mal. Vielleicht würde ein Spaziergang das Kopfweh vertreiben? Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als Raudi heranflitzte. Er hielt seine Leine zwischen den Zähnen und wedelte erwartungsvoll mit der Rute.
»Du kannst wohl Gedanken lesen, was?« Lächelnd machte Julia die Leine an seinem Halsband fest. Danach zog sie ihre wattierte Jacke und Stiefel an. Sie nahm ihren Schlüssel vom Brett und schloss die Haustür hinter sich. Sie hatte kaum einen Fuß nach draußen gesetzt, als sie erschauerte. Der Nordwind war eiskalt! Er schlug ihr entgegen wie ein Peitschenhieb und brachte den salzigen Geruch der Ostsee mit. Julia schlug ihren Kragen hoch und schob ihre Hände in die Taschen, ehe sie losmarschierte. Der Schnee knirschte unter ihren Sohlen. Raudi sauste ihr voraus, dass sich die Flexileine in Windeseile abrollte und der Schnee unter seinen Pfoten aufstob.
Julias Eltern waren vor zehn Jahren bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Danach hatte ihr Großvater sie bei sich aufgenommen. Julia liebte ihre Heimat. Der Darß hatte zu jeder Jahreszeit seine Reize. Er konnte sich wild und rau zeigen, aber auch sanft und voller Wärme. Hier schienen die Uhren ein wenig langsamer zu ticken als in der Großstadt.
Die höchste Erhebung der Halbinsel war die Hohe Düne mit ganzen vierzehn Metern Höhe, was so manchem Urlauber aus dem Süden einen ungläubigen Blick entlockte.
Es schneite sacht, als Julia die Straße entlanglief. Die Laternen tauchten den Gehweg in sanftes Licht. Bei dieser Kälte blieben selbst die Möwen in ihren Verstecken, sodass sich nirgendwo Leben regte. Hier und da blinkten reich mit Lichtern geschmückte Buchsbäume hinter den Zäunen.
Mit einem Mal zerriss ein Ruf die Stille.
»Hilfe, Julia. Hier drüben. Ich brauche Ihre Hilfe!«
Am Ende der Waldstraße stand das Tierheim von Prerow. Es war in einem Rohrdachhaus mit einer orangefarbenen Fassade untergebracht. Im Garten bogen sich Rhododendren unter der Schneelast. Ein vom Schnee geräumter Pfad führte um das Gebäude herum zum hinteren Teil des Grundstücks, in dem mehrere Tierunterkünfte untergebracht waren. Rauch ringelte sich aus dem Schornstein in den Abendhimmel.
Die Eingangstür des Heims war mit schmückenden Ornamenten verziert, die typisch für den Darß waren. Symmetrisch aufgemalte Blumenranken, eine Sonne und ein grüner Rahmen zierten die Tür. In der Öffnung stand ein großgewachsener Mann mit einem dunklen Vollbart und winkte lebhaft. »Kommen Sie rüber, Julia! Schnell!«
Jonte Langstein leitete das Tierheim seit vier Jahren. Er wirkte von Kopf bis Fuß bodenständig. Seine kräftigen Hände verrieten, dass er keine schwere Arbeit scheute. Sein grobgestrickter Pullover und die Jeans schienen schon allerhand mitgemacht zu haben. Hinter seiner rahmenlosen Brille blickten braune Augen offen und eine Spur nachdenklich in die Welt.
Julia ging zu ihm. »Ist etwas passiert?«
»Leider ja. Sie schickt der Himmel, Julia! Gerade hat mir der Pfarrer einen Hund gebracht. Er hat ihn am Waldrand gefunden. Verletzt!«
»Wurde er angefahren?«
»Nein, angeschossen!«
»Was sagen Sie da? Angeschossen?!«
»Ja, er scheint einem Jäger oder Wilderer vor die Flinte gelaufen zu sein. Hier auf dem Darß gibt es eine Menge Rotwild, aber der Schuss muss fehlgegangen sein. Wer auch immer geschossen hat, hat den Hund einfach liegengelassen. Der arme Kerl hat sich noch bis zum Waldrand geschleppt, aber dort haben ihn wohl die Kräfte verlassen.«
»Das ist ja furchtbar. Bringen Sie mich bitte zu ihm.«
Jonte nickte und bedeutete ihr, ins Haus zu kommen. Sie folgte ihm und machte Raudi im Flur von der Leine los. »Warte hier, Raudi.« Folgsam rollte sich der kleine Hund zusammen und bettete den Kopf auf den Vorderpfoten.
Jonte Langstein führte Julia zum Quarantäneraum, in dem Neuankömmlinge untergebracht wurden, bis feststand, dass sie gesund waren. Hier gab es einen Schrank mit verschiedenen Medikamenten, Futtermitteln und Instrumenten, die im täglichen Umgang mit den Tieren nützlich waren. Außerdem stand hier auch ein Tisch mit einer Metallplatte, auf dem Tiere untersucht und im Notfall behandelt werden konnten. Einen solchen Notfall hatten sie jetzt. Auf dem Tisch lag ein Golden Retriever. Er zitterte am ganzen Leib und winselte so kläglich, dass sich etwas in Julia verkrampfte. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner rechten Vorderpfote und verkrustete bereits sein Fell.
Die Tierärztin nahm sich ein Paar Einweghandschuhe aus dem Regal und zog sie an. Dann beugte sie sich über den Rüden. »Ich weiß, es tut weh, aber ich werde alles tun, um dir zu helfen.« Sie blickte auf. »Halten Sie bitte seinen Kopf, Jonte, damit er nicht zuschnappen kann.«
»Natürlich.« Der Chef des Tierheims hatte genügend Erfahrung, um zu wissen, was zu tun war.
Julia untersuchte den verletzten Hund behutsam. Er hatte eine Wunde am Ellbogen, aus der dunkles Blut austrat. Seine Schleimhäute waren rosafarben und sein Blick wach und aufmerksam. Das Zittern war jedoch kein gutes Zeichen.
»Gibt es hier ein Blutdruckmessgerät?«
»Ja, dort drüben. Im Schrank mit der Ausrüstung.«
Julia holte das Messgerät und fand ihre Befürchtung wenig später bestätigt. Der Blutdruck des Rüden betrug 180/145 mmHg. Das war zu hoch. Die Schmerzen und der kompensatorische Schock ließen seine Werte ansteigen.
Sie wünschte sich, sie hätte die Ausrüstung einer Tierarztpraxis zur Verfügung, vor allem einen Röntgenapparat, aber daran war nicht einmal zu denken. Das Tierheim verfügte nur über eine medizinische Grundausstattung. Julia suchte Oxymorphon gegen die Schmerzen heraus. Sie beugte sich über ihren Patienten, schob eine Hautfalte mit den Fingern zusammen und stach die Nadel hinein, ehe sie das Medikament langsam injizierte. Anschließend legte sie einen Tropf, um dem verletzten Hund Flüssigkeit zuzuführen. Zum Schluss bedeckte sie seine Wunde mit einer sterilen Auflage. Es dauerte nicht lange, dann ließ sein Zittern nach.
»Mehr kann ich hier leider nicht für ihn tun. Er muss in die Klinik und geröntgt werden. Es könnte sein, dass innere Organe verletzt sind. Außerdem müssen einige Tests gemacht werden, bevor operiert wird. Können Sie ihn in die Tierklinik fahren?«
»Natürlich. Mein Wagen parkt draußen. Was glauben Sie, wird er es schaffen?«
»Das ist ohne Röntgenbild schwer zu sagen. Im Moment ist sein Zustand stabil. Das ist schon viel.«
»Ich verstehe. Und seine Pfote? Ist sie noch zu retten?«
»Das kommt auf den Grad der Zertrümmerung an. Schusswunden können schwere Zerstörungen verursachen. Wenn die Wunde gründlich gereinigt wird und sich keine Infektion einstellt, ist es möglich, die Extremität zu erhalten.«
»Also heißt es, die Daumen zu drücken.« Jonte strich dem Retriever über den Kopf. »Und du drückst am besten alle Pfoten, Kleiner, zumindest die gesunden, hast du verstanden?«
»Wissen Sie schon, wem er gehört?«
»Leider nein, aber er trägt eine Marke, also werden wir seinen Besitzer schon ausfindig machen. Bis dahin werde ich mich um ihn kümmern. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Julia.«
»Dafür bin ich doch da. Kommen Sie, bringen wir ihn gemeinsam zu Ihrem Wagen. Haben Sie eine Decke zum Unterlegen, falls er den Verband durchblutet?«