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"Hängt das Weib an den nächsten Baum!"
Eine wütende Menge hat sich vor dem Marshal's Office von Paradise versammelt und stößt die Fäuste in den Himmel. Sie wollen die Fremde tot sehen, die den örtlichen Arzt becirct, in die Ehe gedrängt und am Ende umgebracht hat.
Juanita. Das Leben der Schönen ist keinen Cent mehr wert. Unwahrscheinlich, dass sie noch lebt, wenn der Richter in vier Wochen wieder in der Stadt ist.
Der einzige Mann, der Zweifel an ihrer Schuld hat, ist Lassiter. Doch damit steht er allein gegen eine ganze Stadt. Und als er herausfindet, dass der Doc durchaus kein Heiliger war, geht der Ärger erst richtig los...
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Seitenzahl: 142
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Für Juanita durch die Flammenhölle
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Impressum
Für Juanita durch die Flammenhölle
von Katja Martens
Lassiter war den ganzen Tag durch den Wald geritten. Seine Winchester lag griffbereit vor ihm über dem Sattel. Ringsum rührte sich nichts. Selbst das Zwitschern der Vögel war in der Hitze verstummt. Sein Brauner setzte stoisch einen Huf vor den anderen, scheinbar unbeeindruckt von den Meilen, die hinter ihnen lagen. Seit Wochen hatte es keinen Regen gegeben, und so zeigte sich der Talboden im Red Alder Valley trocken und rissig und war übersät mit den Nadeln der Hemlock-Tannen.
Da machte Lassiter weiter oben auf dem Hang eine Bewegung aus. Alarmiert griff er zum Feldstecher, schwenkte suchend über das Grün und entdeckte eine Gestalt, die sich mehrere Yards über dem Boden an den Ast einer Schwarzpappel klammerte.
»Damned«, murmelte er verblüfft, denn die wirbelnden Röcke und das gelockte Blondhaar gehörten eindeutig zu einer Frau!
»Was treibt diese Lady denn dort oben in den Bäumen?« Lassiter bemerkte, dass die Unbekannte mit den Beinen strampelte. Offenbar versuchte sie, auf den Ast zu gelangen, an dem sie sich verzweifelt festhielt. Ihre Röcke machten dieses Unterfangen jedoch unmöglich. Ihr Sturz schien unvermeidlich zu sein.
Die Schwarzpappel war ein knorriger Baum mit mehreren dicken Ästen, die sich in alle Richtungen verzweigten. Weder ein Pferd noch andere Menschen waren zu sehen. Lassiter suchte die Umgebung mit dem Feldstecher ab. Bis er auf ein halbes Dutzend grauer Schatten stieß, die sich in das Gestrüpp unter dem Baum duckten.
Grauwölfe! Sie hatten die Schwarzpappel eingekreist. Es war nicht schwer zu erraten, dass sie es auf die Frau abgesehen hatten. Früher oder später würde sie wie eine reife Frucht vom Baum fallen und dann wäre ihr Schicksal besiegelt.
Lassiter murmelte einen Fluch und wog seine Möglichkeiten ab.
Sollte er schießen? Auf diese Entfernung würde er kaum einen der Wölfe treffen, aber der Knall würde möglicherweise genügen, um sie zu vertreiben.
Möglicherweise aber auch nicht. Es war ein riskantes Unterfangen. Wenn er ohne Vorwarnung feuerte und die Frau erschreckte, würde sie womöglich loslassen und mitten zwischen die Beutegreifer stürzen.
Nein, das war keine Option.
Lassiter schob seinen Feldstecher zurück in die Satteltasche und spornte sein Pferd mit einem Schenkeldruck zu einer schnelleren Gangart an. »Heya!« Tief beugte er sich über den Rücken seines Reittiers, um den Zweigen zu entgehen, die ihm entgegenschlugen und an seiner Kleidung zerrten. Sein Brauner übersprang mit einem Satz einen umgestürzten Baum und preschte weiter.
Unter dem Blätterdach war es heiß und stickig gewesen. Doch als sich der Wald nun zu einer Lichtung öffnete, schlug Lassiter die Hitze entgegen wie ein Fausthieb.
Es war, als würde er den Kopf in den Heizkessel einer Dampflokomotive stecken!
Er kniff die Augen gegen die Sonne zusammen und suchte den Hang nach einem Pfad ab, auf dem er schneller zu der Unbekannten gelangen konnte.
Zu seiner Linken erhob sich eine gewaltige Felswand. Aus dem Gestein traten an ungezählten Stellen Wasser hervor. Im Frühjahr mochte das Schmelzwasser aus den höheren Regionen hier rauschende Wasserfälle talwärts schicken. Jetzt rieselten lediglich Rinnsale gemächlich in die Tiefe. Die Nähe des Wassers lockte riesige Mückenschwärme an.
Rechts von ihm ragte ein bewaldeter Berghang auf. Dort oben ragte die Schwarzpappel empor. Lassiter trieb sein Pferd höher hinauf. Vorbei an gewaltigen Hemlocktannen, von denen einige eine Höhe von fünfzig, sechzig Yards erreicht hatten. Endlich war er nahe genug heran.
»Gut festhalten!«, rief er. »Verstanden?«
Er wartete nicht auf ihre Erwiderung, sondern packte die Winchester, lud durch – und feuerte.
Krachend hallte der Knall des Schusses von den Felsen wider.
Lautlos wie Schatten sprangen die Wölfe auf und suchten mit langen Sätzen das Weite. Wenige Herzschläge später hatte der Wald sie verschluckt.
Lassiter schob die Winchester in den Sattelschuh, brachte seinen Braunen neben der Schwarzpappel zum Stehen und glitt aus dem Sattel. Mit zwei, drei langen Schritten brachte er sich unter die Frau. Keinen Augenblick zu früh! Mit einem angstvollen Schrei löste sich ihr Griff und sie stürzte in die Tiefe.
Geradewegs in seine Arme.
Der Schwung ihres Sturzes war so groß, dass es Lassiter von den Füßen riss. Rücklings landete er im trockenen Gras – und die Unbekannte auf ihm. Die Luft wurde aus seiner Lunge gepresst, sodass ihm ein zischender Atemzug entwich.
Sanfte Rundungen pressten sich an seinen vom harten Leben in der Wildnis gestählten Körper. Eine weiche, anschmiegsame Frau, die sich durchaus nicht unangenehm anfühlte. Als sie sich auf ihm regte, reagierte sein Körper sofort und wurde noch härter. Sie rutschte auf ihm herum und versuchte, sich aufzurichten. Ihre Zappelei trieb ihm noch mehr Blut in den Unterleib.
Lassiter hörte die Unbekannte nach Luft schnappen.
Offenbar war ihr seine Reaktion nicht entgangen.
»Die Wölfe sind fort«, sagte er rau. »Sie sind jetzt sicher, Miss.« Mit diesen Worten setzte er sich auf, fasste mit einem Arm um sie herum und stand dann mit ihr im Arm auf. Sie war fast so groß wie er, was durchaus ungewöhnlich war für eine Frau, und so schlank, dass er ihre Taille mühelos mit beiden Händen umfassen konnte. Ihre Frisur hatte sich gelöst und ihre blonden Haare fielen ihr in weichen Wellen über den Rücken. Eine seidige Pracht, bei der es ihm in den Fingern juckte, hindurchzufahren und herauszufinden, ob sie sich so weich anfühlte, wie sie aussah. Einen Herzschlag lang malte er sich aus, ihr Haar um seinen Schaft zu winden und zu spüren, wie es sich um ihn schloss. Der Gedanke trieb noch mehr Hitze in seinen Unterleib.
Sie war nicht im klassischen Sinn schön, aber ihr fein geschnittenes Gesicht wurde von grünen Augen dominiert, deren Farbe ihn an einen Waldsee erinnerte und die ebenso aufmerksam wie nachdenklich blickten. Ihr Kinn stand ein wenig vor und verriet einen gewissen Eigensinn, und ihre Lippen... oh, das waren Lippen, die einen Mann zu fesseln wussten. Schön geschwungen und von einem sinnlichen Rot. Ihre Unterlippe war ein wenig voller als die Oberlippe und als sie nun darauf herumkaute, wünschte er sich, sie würde damit aufhören und ihn stattdessen küssen.
Ihr Reisekleid war grün wie ihre Augen und betonte ihre reizvolle Sanduhrfigur.
Sie blickte zu ihm hoch und ihre Augen weiteten sich. Anstatt zurückzutreten, musterte sie ihn ebenso intensiv wie er sie, und das Lächeln, das ihr Gesicht wärmte, verriet, dass ihr gefiel, was sie sah. Und das wiederum freute ihn. Verdammt, es freute ihn sogar sehr.
Widerstrebend besann er sich darauf, ein Gentleman zu sein, und trat einen Schritt zurück, um etwas Abstand zu ihr zu gewinnen, bevor er ihr das Kleid vom Leib riss und in sie stieß, bis sie ihren eigenen Namen vergaß.
»Sind Sie wohlauf, Miss?«, erkundigte er sich.
»Ja, dank Ihnen. Ich hätte es keine Minute länger da oben ausgehalten.« Sie warf einen Blick auf die Schwarzpappel und schauderte. »Als die Wölfe auftauchten, hat mich mein Pferd abgeworfen und ist auf und davon gelaufen. Ich bin auf den Baum geflüchtet, aber ich habe den Halt verloren und wäre beinahe abgestürzt.«
»Das hätte leicht schiefgehen können.«
»In der Tat. Meine Waffe steckt noch in meiner Satteltasche und die ist mit meinem Pferd mittlerweile vermutlich über alle Berge.« Sie stieß den Atem aus. »Ich hatte nicht mit Wölfen gerechnet. Nicht am helllichten Tag.«
»Ich bin froh, dass Sie unverletzt sind.«
»Und ich danke Ihnen«, hauchte sie.
»Darf ich fragen, was Sie hier draußen machen. So allein?«
»Ich war drüben in Arlington, um für einen Artikel über den Fortschritt beim Eisenbahnbau zu recherchieren.«
»Arlington? Das ist ein Tagesritt.«
»Und ein staubiger noch dazu.« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, blies den Atem aus und wirkte mit einem Mal erschöpft. »In meiner Heimatstadt wartet man sehnsüchtig darauf, dass die Strecke bis zu uns gebaut wird. Die Eisenbahn wird viele Verbesserungen in die Stadt bringen. Dann erreichen uns Reisende, Waren und die Post nicht mehr nur einmal in der Woche – oder gar noch seltener. Ich hoffe, mein –«
»Sie schreiben also für die Zeitung, Miss?«
»Noch nicht, aber ich hoffe, mit diesem Artikel den Durchbruch zu schaffen. Wenn meine Arbeit gefällt, darf ich vielleicht bald regelmäßig für den Paradise Chronicle schreiben.«
»Paradise?« Lassiter horchte auf. »Ist das Ihr Ziel?«
»Ja. Kennen die Stadt?«
»Noch nicht, aber ich bin auf dem Weg dorthin.« Er lüftete seinen Hut. »Mein Name ist übrigens Lassiter.«
»Candy.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihm messerscharf unter die Haut ging. »Candy Woodward.«
»Stammen Sie aus Paradise, Miss Woodward?«
»Nein, mein Vater war Reporter in New York. Er starb bei einem Kutschenunfall, als ich acht Jahre war. Meine Mutter ist damals mit mir zu ihrem Bruder in den Westen gezogen. Onkel Martin hat eine Farm. Er hätte es gern gesehen, wenn ich sie irgendwann übernommen hätte, aber das ist nicht meine Welt.«
»Ihnen liegt das Schreiben für eine Zeitung im Blut«, folgerte Lassiter.
Candy nickte erneut lebhaft. Sie war nicht nur bildschön, sondern auch klug. Eine Kombination, die er unwiderstehlich fand. Wenn sich die Gelegenheit ergab, würde er gern mehr Zeit mit ihr verbringen. Vorher gab es jedoch etwas für ihn zu tun.
Sein alter Freund hatte ihn gebeten, nach Paradise zu kommen.
»Möchten Sie jemanden in Paradise besuchen, Lassiter?«
»Ja, einen alten Freund. Sein Name ist Henry Hays.«
»O ja, unser Doc.« Sie nickte lebhaft. »Er ist ein guter Arzt.«
»Das war er schon früher. Hat im Krieg viele meine Kameraden zusammengeflickt. Mich übrigens auch. Und einmal habe ich ihn zusammengeflickt, als er bei einem Angriff selbst verletzt worden war und sich nicht selbst behandeln konnte. Hat geflucht wie ein Bierkutscher, ich hätte die Naht verhunzt, aber er ist immerhin wieder gesund geworden.«
»Und seitdem sind Sie Freunde?«
»Ja, obwohl wir einander lange nicht mehr gesehen haben.«
»Er wird sich freuen, Sie zu sehen. Sie haben Glück, wenn Sie bei ihm daheim zum Essen eingeladen werden. Seine Frau macht die besten Enchiladas, diesseits und jenseits des Green River.« Ein Lächeln blitzte in ihren Augen.
»Sie kennen die beiden wohl gut?«
»Nun ja, es ist mein Beruf, die Leute in der Stadt zu kennen. Oder vielmehr hoffe ich, dass er das einmal sein wird. Noch hat mich Mr. Talbot leider nicht eingestellt.«
»Mr. Talbot?«
»Roger Talbot. Der Herausgeber unserer Zeitung. Ein harter Brocken, aber ich werde nicht aufgeben, ehe ich ihn überzeugt habe, mir eine Chance zu geben. Zum Glück sind meine Aufzeichnungen nicht mit meinem Pferd verlorengegangen.« Sie klopfte sich vielsagend auf den Rock, in dem sich offenbar eine Tasche verbarg.
»Es ist gut möglich, dass Ihr Pferd den Heimweg gefunden hat.«
»Hoffentlich haben Sie recht. Ich habe Pearl, seitdem sie ein Fohlen war.« Ihr Blick trübte sich und verriet, dass ihr Herz an der Stute hing.
»Bis nach Paradise können es nur noch einige Meilen sein. Es ist gut möglich, dass sie längst vor dem Stall auf Sie wartet, Miss Woodward.« Lassiter deutete zu seinem Braunen. »Möchten Sie mit mir zurückreiten?«
»Das würde es mir ersparen, zu Fuß zu gehen. Von Herzen gern.«
»Dann kommen Sie. Sehen wir zu, dass wir vor dem Anbruch der Nacht unser Ziel erreichen.« Er schwang sich wieder in den Sattel, dann reichte Candy seine Hand und zog sie hinter sich auf sein Pferd.
Sie schmiegte sich an ihn und schlang die Arme um ihn. Ihr süßer Duft stieg ihm in die Nase. Sie roch nach Äpfeln, Seife und etwas, das er nicht genau benennen konnte, das aber eindeutig weiblich und sehr verführerisch war.
Lassiter ließ sein Pferd wieder antraben und sie ritten zusammen weiter.
Unterwegs hielt er die Augen nach weiterem Ärger offen, aber die Wölfe tauchten nicht noch einmal auf.
Nach und nach neigte sich die Sonne den Bergen entgegen und die Schatten wurden länger. Mit den sinkenden Temperaturen erwachte das Leben im Wald. Vögel zwitscherten und kleine Tiere raschelten im Unterholz, freilich ohne sich zu zeigen. Eine gute Stunde nach ihrem Aufbruch sahen sie die Lichter von Paradise vor sich.
Die kleine Stadt schmiegte sich zwischen bewaldete Hügel und wurde durchbrochen vom Lauf des Green River, der die Siedlung teilte. Eine Brücke führte über den Fluss. Vor ihnen zeichnete sich eine Mühle ab, deren Räder sich geräuschlos im Wind drehten.
An einer Kreuzung vor der Stadt tippte seine Begleitung Lassiter auf die Schulter. »Halten Sie an.« Candy wartete, bis der Braune stand, dann glitt sie aus dem Sattel und deutete zu dem Trail, der in westliche Richtung weiterführte. »Folgen Sie der Straße ungefähr eine halbe Meile, dann stoßen Sie auf das Haus von Doc Hays.«
»Unsere Wege trennen sich hier also?«
»Ja, jetzt habe ich es nicht mehr weit. Ab hier kann ich zu Fuß gehen. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Lassiter.«
»Passen Sie auf sich auf, Candy.« Lassiter bedachte die junge Frau mit einem nachdenklichen Blick. »Sehen wir uns noch?«
»Paradise ist klein. Das wird unvermeidlich sein.« Sie zwinkerte ihm zu und ihr Lächeln versprach ihm ein Wiedersehen.
»Bis bald, Miss Woodward.« Lassiter zupfte grüßend an seiner Hutkrempe. Dann lenkte er den Braunen nach links und machte sich auf den Weg zum Haus seines alten Freundes.
Tatsächlich tauchte nicht lange nach seinem Abschied von Miss Woodward ein Blockhaus mit einem flachen Anbau vor ihm auf. Es war das einzige Haus weit und breit und das Schild mit der Aufschrift Praxis H. Hays neben der Eingangstür verriet ihm, dass er hier richtig war.
Allerdings lag das Haus in völliger Dunkelheit. Hinter keinem der Fenster zeigte sich Licht. Dafür stand die Haustür sperrangelweit auf.
Seltsam, ging es ihm durch den Kopf und unwillkürlich nahm er seine Winchester zur Hand. Sollten Henry oder seine Frau nicht zu Hause sein? Irgendjemand?
»Hallo?« Falls doch jemand daheim war, wollte er ungern unangekündigt hereinplatzen und sich eine Kugel einfangen, darum machte er sich bemerkbar. »Hier ist Lassiter, Henry. Ist jemand daheim?«
Im Haus rührte sich nichts.
Bis auf das Flüstern des Windes in den Tannen hinter dem Haus blieb alles still.
In der Tat. Seltsam. Henry wollte mich eigentlich hier erwarten.
Lassiter stieg vom Pferd und band es am Holm an, bevor er die drei Stufen zur Haustür hinaufstieg und gegen den Rahmen klopfte.
»Hallo?«
Immer noch tat sich nichts.
Er spähte durch die Tür ins Haus – und zerbiss im nächsten Moment einen Fluch auf den Lippen.
Drinnen war alles verwüstet!
Eine silbrige Mondsichel stand über den Baumwipfeln und sandte gerade genug Licht durch die Schiebefenster ins Haus, um die umgekippten Stühle und verrutschten Teppiche zu enthüllen. Schubladen waren aufgerissen und samt Inhalt wahllos auf dem Boden verstreut worden.
Lassiter trat näher und warf einen Blick durch eine Tür, die vom Wohnzimmer abführte, in eine Art Behandlungszimmer, das sich in dem flachen Anbau befand. Auch hier herrschte ein Durcheinander, das nichts Gutes verhieß. Scherben und medizinische Gerätschaften lagen auf dem Boden verstreut. Skalpelle und Tupfer lagen über der Liege verstreut. Und auf dem hölzernen Dielenboden zeichneten sich dunkle Flecken ab.
Lassiter ging in die Hocke und befühlte die Flecken.
Sie waren getrocknet, aber ein schwacher metallischer Geruch lag noch in der Luft.
Blut.
Er richtete sich wieder auf und blickte sich um.
In seinem Magen bildete sich ein Knoten angesichts des Tohuwabohus.
Jemand hatte hier gewütet – und es war Blut vergossen worden. Reichlich davon, der Größe des Flecks nach zu urteilen. Und er war sich recht sicher, dass das nichts mit einer Behandlung seines Freundes bei einem Patienten zu tun hatte. Nein, dieses Chaos hatte einen anderen Grund.
Er tastete nach seinem Hemd und zog das Telegramm hervor, das ihn vor zwei Tagen erreicht hatte.
stecke gewaltig in der klemme – stopp – bitte komm nach paradise – stopp – henry
Lassiter presste die Kiefer so fest zusammen, dass es in seinen Ohren knirschte.
Was auch immer seinem alten Freund Sorgen gemacht hatte, schien schlimmer geworden zu sein.
Er schaute sich noch eine Weile im Haus um. Die übrigen Räume wirkten unversehrt und blitzsauber. Lediglich Wohnzimmer und Praxis waren verwüstet.
Aber warum? Und wo waren Henry Hays und seine Frau?
Eine Antwort würde er hier wohl vorerst nicht finden. Vielleicht aber in der Stadt?
Er verließ das Haus, machte sein Pferd los und stieg wieder in den Sattel.
Sein nächstes Ziel war Paradise.
Er wollte seinen alten Freund suchen und herausfinden, was hier passiert war.
»Heya!« Lassiter stieß seinem Pferd die Fersen in die Seiten.
Wenig später sah er die Stadt vor sich – und hörte mit einem Mal Gebrüll, das lauter wurde, je näher er den Häusern kam. Ein vielstimmiger Chor rief durcheinander. Wild und wütend.
Seine Nackenhärchen richteten sich warnend auf.
Das klang nicht gut. Ganz und gar nicht gut!
✰
»Hängt das Weib an den nächsten Baum!« Eine wütende Menge hat sich auf der Mainstreet von Paradise versammelt. Genauer gesagt vor einem langgezogenen Steinbau mit vergitterten Fenstern. Das Marshals Office, wie ein verschnörkelter Schriftzug über der Tür verriet.
Lassiter ritt langsam näher heran und beobachtete die Versammelten. Gut einhundert Menschen waren es. Vielleicht sogar mehr. Sie brüllten, stießen die Fäuste in den Himmel und blickten so grimmig drein, als würden sie jeden niedermähen, der ihnen in die Quere kam. Viele von ihnen trugen Fackeln, die die Straße in gespenstisch flackerndes Licht tauchten. Und er sah Waffen. Eine Menge Waffen. Die Männer trugen ausnahmslos Bleispritzen, die Frauen schwenkten Schürhaken, Bratpfannen und Schrotflinten.