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"Diesmal muss es einfach gelingen!" William Stalbridge wandte seine Augen nicht von der Flüssigkeit, die über dem Bunsenbrenner vor sich hin brodelte. Seine Wangen waren gerötet, und die Hitze in seinem Labor trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Fahrig wischte er ihn mit dem Hemdsärmel weg. Ein aufgeschlagenes Notizbuch lag auf seinem Labortisch. Die Seiten waren eng beschrieben und deuteten an, dass er sich sorgfältig auf das Experiment vorbereitet hatte. Rings um ihn herum lagen zerknüllte Blätter auf dem Boden verstreut und verrieten, dass er nicht nur einmal gescheitert war. Beim letzten Versuch hatten ihn die giftigen Dämpfe beinahe umgebracht. Doch Stalbridge, seines Zeichens fünfter Viscount und tiefschwarzes Schaf seiner Familie, war kein Mann, der sich von solchen Kleinigkeiten aufhalten ließ ...
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der lange Arm der Vergeltung
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Impressum
Der lange Arm der Vergeltung
von Katja Martens
»Diesmal muss es einfach gelingen!« William Stalbridge wandte seine Augen nicht von der Flüssigkeit, die über dem Bunsenbrenner vor sich hin brodelte. Seine Wangen waren gerötet, und die Hitze in seinem Labor trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Fahrig wischte er ihn mit dem Hemdsärmel weg.
Ein aufgeschlagenes Notizbuch lag auf seinem Labortisch. Die Seiten waren eng beschrieben und deuteten an, dass er sich sorgfältig auf das Experiment vorbereitet hatte. Rings um ihn herum lagen zerknüllte Blätter auf dem Boden verstreut und verrieten, dass er nicht nur einmal gescheitert war. Beim letzten Versuch hatten ihn die giftigen Dämpfe beinahe umgebracht. Doch Stalbridge, seines Zeichens fünfter Viscount und tiefschwarzes Schaf seiner Familie, war kein Mann, der sich von solchen Kleinigkeiten aufhalten ließ ...
Sein Arbeitszimmer war eine Kathedrale der Wissenschaft.
Dunkle Holzvertäfelungen zogen sich bis zur Decke, an der ein Kronleuchter aus altem Messing hing. Glasvitrinen säumten die Wände, gefüllt mit Fossilien, seltsam aussehenden Werkzeugen und Fragmenten uralter Knochen, die teilweise noch in verwitterten Stein eingebettet waren. Ein deckenhohes Bücherregal war überquellend gefüllt mit ledergebundenen Bänden über Geologie, Biologie und Paläontologie, während eine Weltkarte an der Wand mit Stecknadeln und Notizen gespickt war, die vergangene Expeditionen und zukünftige Pläne markierten.
Aus einer Mappe ragten Zeichnungen längst vergangener und beinahe vergessener Tierarten. Die Skizzen stammten allesamt von ihm.
Stalbridge war verdammt stolz auf das, was er geschaffen hatte.
In der Mitte des Raums stand ein langgezogener Tisch, der ihm als Arbeitspult diente. Hier dampfte und brodelte es gerade. Stalbridge beugte sich prüfend über ein gläsernes Gefäß. Darin brodelte eine milchig-weiße Flüssigkeit, die sich allmählich violett verfärbte, während dichte Dampfschwaden daraus aufstiegen.
Neben dem Glas lagen einige Knochenstücke. Ein jedes so lang und so schmal wie ein Finger. Er hatte sie kurz zuvor in den Behälter eingetaucht – und jetzt zersetzten sie sich vor seinen Augen zu einem hässlichen Brei.
»Verfluchte Plörre!«, fluchte Stalbridge, seine Stimme heiser von dem ständigen Husten, der ihn seit seiner letzten Ausgrabung heimsuchte. »Sollten diese verdammten Phosphorverbindungen nicht konservieren? Konservieren! Nicht – nicht ... auflösen!«
Er hustete heftiger, presste hastig ein Taschentuch an seinen Mund und sah mit tränenden Augen auf das Desaster. Der Husten war ein lästiges Andenken an seine letzte Reise nach Utah, wo er eine uralten Höhle untersucht hatte, die nach einem Felssturz freigelegt worden war. Dabei hatte er wohl auch ein paar Jahrtausende alten Staub eingeatmet, der ihm nicht gut bekommen war.
Während er nun fluchend den Bunsenbrenner kleiner drehte, wurde die Tür geöffnet und sein Butler, der steif wie ein Soldat und stets ungerührt wirkende Mr. Croft, trat ein. In seiner weiß behandschuhten Hand hielt er einen Umschlag, der Stalbridge sofort ins Auge fiel: schweres Pergament, mit einem Siegel versehen.
»Es ist ein Brief für Sie gekommen, Sir«, verkündete Croft, während er den Umschlag auf den Tisch legte und sich sofort zurückzog.
Stalbridge wischte sich die Finger an seinem ohnehin fleckigen Kittel ab und griff nach dem Brief. Schon das Siegel ließ keinen Zweifel daran, wer der Absender war: die Royal Society for Paleontological Advancement. Mit einem gezielten Schnitt seines Brieföffners öffnete er den Umschlag und entnahm ihm das Schreiben.
Sein Blick flog über die Zeilen, und sein Gesicht verdüsterte sich bei jedem weiteren Wort.
»... nicht ausreichend wissenschaftliche Beiträge vorzuweisen ...«, murmelte er, während seine Kiefer mahlten. »... der Ausschuss bedauert ... Oh, sie bedauern!« Seine Stimme wurde schärfer. »Dummköpfe! Banausen!«
Er schleuderte das Papier auf den Tisch, wo es zwischen den zersetzten Überresten seines Experiments landete. Einige Worte aus der Ablehnung schienen in seinem Kopf widerzuhallen, wie Spott eines unsichtbaren Publikums: ... keine nennenswerten Entdeckungen ... mangelnde Bedeutung der bisherigen Arbeiten ...
Stalbridges Augen verengten sich. Er nahm einen tiefen Atemzug, was einen weiteren Hustenanfall auslöste, doch dieses Mal beachtete er ihn kaum. Sie mochten ihn abweisen, aber das würde nicht so bleiben. Nein, er hatte genug von der Arroganz dieser Gesellschaft.
»Nicht genug Funde also?«, murmelte er, während er sich langsam an seinen Tisch setzte. Seine Finger strichen über ein Fossil, das an der Kante des Tisches lag – ein uraltes Stück Wirbelknochen, zerfurcht und schwer.
»Nun«, sagte er schließlich, »dann werde ich dafür sorgen, dass sie bald keine andere Wahl mehr haben, als mich aufzunehmen. Mit Kusshand. Und mit Ehrfurcht.«
Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen, während er in die Schatten seines Raumes starrte, als ob er dort die ersten Funken eines gerissenen Plans sehen könnte. Die Welt war ein Feld für die Tüchtigen, und er war nichts Geringeres als das.
Stalbridge ließ seinen Blick durch den überfüllten Raum schweifen, ohne auch nur ein Detail davon wahrzunehmen. Seine Gedanken kreisten um die Möglichkeiten, die ihm seine Stellung bot. Sein Wille war ungebrochen, und seine Mittel waren nahezu unbegrenzt. Irgendwie würde er die Gesellschaft, der ausnahmslos führende Köpfe aus Wissenschaft und Forschung angehörten, überzeugen, dass er dazugehörte.
Er war noch nie zimperlich in der Wahl seiner Mittel gewesen und würde jetzt gewiss nicht damit anfangen.
Das Gemisch auf seinem Labortisch dampfte immer noch.
Ein grollender Fluch entfuhr ihm.
Das Gebräu hatte ihm zum Durchbruch verhelfen sollen.
In den letzten Jahren waren viele bedeutende Funde gemacht worden. Knochen von Tierarten, die längst vom Angesicht der Erde verschwunden waren. Überbleibsel aus Jahrmillionen entfernten Zeiten. Sie zerbröselten unter allzu intensiver Sonneneinstrahlung oder Berührung und waren für immer verloren.
Es wäre ein enormer Gewinn, könnte man diese Knochen konservieren, ohne ihr Aussehen oder ihre Struktur zu verändern.
Doch sein Gemisch war ein Fehlschlag.
Einmal wieder.
Sei's drum.
Er musste größer denken. Viel größer.
Wenn er in die wissenschaftliche Gesellschaft aufgenommen werden wollte – und das wollte er mehr als alles andere auf der Welt, was gäbe es sonst schließlich noch für ihn zu erreichen? –, dann brauchte er eine Sensation. Etwas, das diese Sesselfurzer daheim in London von den Füßen riss.
Er brauchte ... einen Fund!
Während er hin und her grübelte, wie sich das bewerkstelligen ließe, wurde die schwere Eichenholztür seines Labors geöffnet und leise Schritte näherten sich. Das leise Rauschen von Stoff, der über den Boden strich. Unwillig wandte er den Kopf, um den ungebetenen Störenfried zurechtzuweisen. Doch ein Blick in das liebliche Gesicht seiner Tochter ließ ihn innehalten.
Jennifer hatte seine grünen Augen geerbt, die stets ein wenig nachdenklich in die Welt zu schauen schienen. Damit endete ihre Familienähnlichkeit jedoch bereits. Während er groß und stämmig war, ein Mann mit scharf geschnittenem Gesicht, Hakennase und gepflegtem Kinnbart, war sie klein und von zierlicher Statur. Ihre rotblonden Haare waren ein Erbteil ihrer Mutter und ringelten sich widerspenstig um ihr Gesicht, nicht willens, sich in einer ordentlichen Frisur bändigen zu lassen. Genauso wenig wie sie selbst sich bändigen ließ. Sie hatte ein lebhaftes Temperament und sagte stets offen, was sie dachte.
Sehr zu seinem Leidwesen.
Außerdem teilte sie seine wissenschaftliche Neugier, was absolut untragbar war.
»Wie ist dein Experiment gelaufen?« Sie warf einen kurzen Blick auf seinen Labortisch und stieß nach einem Moment hörbar den Atem aus. »Wieder ein Fehlschlag? Ich glaube, wenn du deine Mischung um etwas Silber ...«
»Nicht«, schnitt er ihr das Wort ab, bevor sie ihren Vorschlag zu Ende bringen konnte. »Du verstehst nichts davon und mir fehlt die Zeit, um mich damit herumzuschlagen. Ich habe eine wichtige Arbeit zu vollbringen.«
»Das weiß ich doch, Vater, und ich will dich wirklich nicht abhalten. Es ist nur ...« Ihre Wangen röteten sich und in ihre Augen trat ein wildes Leuchten. »Ich habe die Werke von Edmond Cuvier studiert und er betont darin die vielfältigen Anwendungen von Silber ...«
»Lass die Finger von meinen Büchern!«, polterte er.
»Aber ...«
»Du weißt, ich mag es nicht, wenn du an meine Fachbücher gehst. Das ist keine Lektüre für eine junge Lady.«
»Aber ich kann dir helfen ...«
»Ich komme bestens allein zurecht. Wenn du dich nützlich machen willst, dann geh und hilf deiner Mutter dabei, das Abendessen vorzubereiten.«
»Aber ...« Sie wollte noch etwas einwenden, aber seine Gedanken drehten sich bereits wieder um sein aktuelles Problem: wie er sich einen Weg in die Royal Society for Paleontological Advancement verschaffen konnte – und zu dem Ansehen, das damit verbunden wäre.
Mürrisch nahm er sich die Morgenzeitung vor, die ihm sein Butler hingelegt hatte.
Während er die Artikel überflog, hörte er nur mit halbem Ohr, wie sich die Tür hinter seiner Tochter schloss. Jennifer verschwand vollends aus seinen Gedanken, als er auf einen Bericht stieß, der sein Interesse weckte.
»Na sieh mal einer an«, raunte er halblaut. »Wem mag der gute Shelton da auf der Spur sein?«
✰
Das Ausgrabungscamp lag in einer weiten Senke, in der die rostrote Erde Colorados mit vereinzelten Felsbrocken durchzogen war, die wie die abgebrochenen Zähne urzeitlicher Titanen aus dem Boden ragten. Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte gnadenlos auf die Gruppe herab. Ein trockener Wind trug den Staub und den Geruch nach erhitztem Gestein mit sich. Das Summen der Insekten wurde nur vom Hämmern und den Rufen der Arbeiter unterbrochen, die das Camp abbauten.
Jacob Shelton saß vor seinem Zelt, ein Mann von schlanker, sehniger Statur, mit einem sonnengebräunten Gesicht, in das Wind und Wetter ihre Spuren gemeißelt hatten. In seinen Händen hielt er eine zerknitterte Ausgabe des Copper Creek Chronicle, deren Ränder die Spuren vieler Hände trugen, die sie durchgereicht hatten. Mit zusammengezogenen Brauen las er den Artikel erneut, der seine Abwesenheit aus der Stadt und das Rätsel um sein plötzliches Verschwinden thematisierte.
Was treibt Jacob Shelton, der gefeierte Paläontologe des Nordens, fern von allen bekannten Grabungsstätten? Hat er sich in die Wildnis zurückgezogen oder ist er etwa einem neuen Fund auf der Spur? Einem, der alle früheren übertrifft?
Jacob ließ die Zeitung sinken und strich sich mit der flachen Hand den Schweiß und den Staub von seiner Stirn. »Wenn die wüssten«, murmelte er und schüttelte den Kopf. Sein Blick wanderte zum Rand des Camps, wo seine Helfer gerade vorsichtig eine der letzten großen Holzkisten auf die Ladefläche einer Frachtkutsche bugsierten.
In dieser Kiste lagen mehrere gewaltige Halswirbelknochen von Big Monty –so hatte er seinen Fund getauft, der sein Herz in den letzten Wochen vor Aufregung und Ehrfurcht höher hatte schlagen lassen. Es war ein vollständig erhaltenes Brontosaurier-Skelett, von den massiven Rippen bis zu den zarten Wirbeln des Schwanzes. Solch ein Fund war nicht nur eine wissenschaftliche Sensation, sondern eine Entdeckung, die seinen Namen unauslöschlich in die Annalen der Paläontologie eintragen würde.
Er stand auf und schob die Zeitung in die Tasche seiner Leinenjacke. Seine Stiefel knirschten auf dem trockenen Boden, als er zu dem beladenen Wagen hinüberging.
»Vorsichtig, Leute!«, rief er seinen Assistenten zu, die sich gerade mit einer weiteren Kiste abmühten. »Das sind keine Sandsäcke. Jeder Splitter, jeder Kratzer bringt uns in Schwierigkeiten.«
»Aye, Boss!«, rief einer der Helfer zurück. Josh war ein breitschultriger Mann mit sonnengegerbter Haut, der sich die Stirn mit einem Halstuch abwischte. »Keine Sorge, Big Monty kommt heil nach New York.«
Jacob schmunzelte kurz, aber seine Augen blieben wachsam. Er hatte Wochen gebraucht, um diesen Fund in absoluter Geheimhaltung zu bergen. Weder Schaulustige noch neugierige Reporter oder gar andere Forscher hatte er auch nur in die Nähe seines Camps gelassen. Big Monty war ein Jahrhundertfund – das Skelett eines Brontosauriers, so vollständig, dass selbst die feinsten Details noch intakt waren. Der Gigant war vor Millionen Jahren in ein Schlammloch geraten, hatte sich aus eigener Kraft nicht befreien können und war schließlich von einer Schicht aus feinem Sediment begraben worden. Der Schlamm hatte das Skelett wie ein Leichentuch umhüllt und es über die Äonen hinweg vor Zerstörung bewahrt.
Doch jetzt, da die Frachtkutschen beladen wurden und das Camp sich in Auflösung befand, wusste Jacob, dass sein Geheimnis nicht mehr lange eines bleiben würde. Sobald die Kutschen mit ihren wertvollen Ladungen Richtung Osten rollten, würden Gerüchte und Spekulationen wie ein Buschfeuer um sich greifen. Reporter, Wissenschaftler, Neugierige – sie würden alle herkommen, getrieben von der Sensationslust. Aber bis dahin, so hoffte er, wäre Big Monty längst auf dem Weg ins Museum.
Jacob lehnte sich an die Seite der Kutsche und schaute hinauf zum wolkenlosen Himmel. Er spürte, wie die Verantwortung für seinen Fund schwer auf ihm lastete. Das Geld, das er dafür bekommen würde, war ein Segen – nicht nur ihn, sondern für seine Heimatstadt, die schwer unter dem Minenunglück im vergangenen Jahr und der nachfolgenden Schließung der Mine gelitten hatte. Mit dem Geld konnten sie die Mine wieder eröffnen und sicherer machen, Arbeitsplätze schaffen. Sie würden eine Schule bauen, vielleicht auch ein Krankenhaus. Das war es wert, jeden Tropfen Schweiß, jeden Atemzug in dieser trockenen Hitze.
»Alles sicher verstaut, Mr. Shelton«, meldete Elias, einer seiner Assistenten, ein junger Mann mit einem etwas zu schiefen Grinsen. »Sobald wir die Zelte abgebaut haben, sind wir bereit zum Aufbruch.«
Jacob nickte und schaute ein letztes Mal über das Camp – die Zelte, die verstaubten Werkzeuge, die Menschen, die ihm bei dieser Mammutaufgabe geholfen hatten. In den nächsten Tagen würden all diese Spuren verweht sein, wie die Fußabdrücke der Dinosaurier vor Millionen Jahren.
»Gut. Dann machen wir uns in zwei Stunden auf den Weg.«
»Ich sag es den Männern.« Damit wandte sich Elias um und stapfte davon.
Die Pferde schienen den nahen Aufbruch zu spüren, denn sie schnaubten und stampften im nahen Corral. Auch Jacob spürte, wie sich etwas in ihm regte – ein Triumph, gemischt mit einer tiefen Nervosität. Die Welt würde bald von Big Monty erfahren. Dann war es vorbei mit ihrem ruhigen Alltag, mit den endlosen Stunden, die sie im Staub gekauert und dem Boden mit Hammer, Meißel und Pinsel sein Geheimnis entrissen hatten. Doch das war erst ein winziger Schritt gewesen.
Jetzt galt es, Big Monty heil nach New York zu schaffen.
Beinahe zweitausend Meilen quer durch das Land.
Eine schier unmögliche Aufgabe.
Auch wenn der größte Teil der Reise des Giganten auf Schienen geplant war.
So vieles konnte schiefgehen ...
Unwillkürlich schweifte sein Blick über die nahen Hügel.
Niemand zu sehen. Tall Bull und seine Krieger hielten sich fern.
Jacob hatte mit ihnen einen Frieden ausgehandelt: Weder er noch sein Team drangen tiefer in die Jagdgründe der Cheyenne ein. Dafür ließen die Krieger ihr Camp in Ruhe. Tall Bull respektierte, dass er nicht nach persönlichem Gewinn, sondern nach Erkenntnissen suchte, und er war bereit, ihn in Frieden arbeiten lassen. Eine Zeitlang hatte es jedoch auf Messers Schneide gestanden ...
»Ist alles in Ordnung, Jacob?« Eine kühle Hand legte sich sanft auf seine Wange und der Duft von Kirschblüten stieg ihm in die Nase. Seine Frau stand in einem schlichten hellblauen Musselinkleid neben ihm und lächelte ihn an, dass die Sommersprossen auf ihrer Nase zu tanzen schienen.
»Ja, die letzte Kiste ist verstaut. Sobald wir die Zelte abgebrochen haben, können wir los.«
»Du wirkst nicht glücklich darüber. Was bedrückt dich, Jacob? Der Gedanke an die weite Reise?«
»Zweitausend Meilen, auf denen wir nicht wissen, was uns erwarten wird. Angriffe, Unwetter, Stürme ...« Er fuhr sich stöhnend mit der flachen Hand über das Gesicht. »Monatelang habe ich diesem Tag entgegengefiebert, aber nun, wo es soweit ist, würde ich Big Monty am liebsten wieder der Erde übergeben, wo er sicher ist.«
»Wir werden gut auf ihn aufpassen.« Lucy lehnte sich zu ihm und ihr warmer Atem streichelte seine Wange. Sie brachte ihre Lippen nah an sein Ohr und flüsterte: »Unser Sohn schläft. Du weißt, was das heißt, oder?«
Ben schlief? Gütiger Himmel, das kam unerwartet. Der kleine Mann war gerade drei Jahre alt und besaß Energie für mindestens fünf Kinder. Wenn Jacob abends todmüde ins Zelt kroch, wurde Ben gerade richtig wach. An romantische Stunden mit seiner Frau war seit langem nicht zu denken gewesen. Entweder die Arbeit oder der Kleine hatten sie in Atem gehalten.
Jetzt jedoch sah die Sache anders aus. Die Arbeit war getan und Ben schlief.
Hitze breitete sich in seinem Körper aus und er wackelte mit den Augenbrauen. »Ich hoffe, du denkst an dasselbe wie ich.«
»Wenn du daran denkst, ein Auge auf Ben zu haben, während ich ein Bad nehme, dann ja.«
»Ein Bad?«
»Unten im Fluss. Ich schätze, sobald wir unterwegs sind, komme ich nicht mehr oft dazu, mehr als eine Katzenwäsche zu machen.«
»Ich könnte mitkommen und dir den ... Rücken schrubben.« Er zog sie in seine Arme und hob sie hoch. Instinktiv schlang sie die Beine um seine Hüften. Selbst durch die Lagen ihrer Röcke und seine Hosen spürte er die Hitze, die von ihr ausging, und er wurde hart. »Lucy«, stöhnte er.
Sie fasste nach seinem Hosenlatz und zerrte daran. Oh, wie gern hätte er sie gewähren lassen, aber nicht hier, wo jeder sie sehen konnte.
Er packte ihre Hand und wollte sie mit sich zum Zelt ziehen.
Rings um sie herrschte rege Betriebsamkeit. Das Camp war in Auflösung begriffen, die letzten Zelte wurden abgebaut und die Pferde aus dem Corral geführt und vor die Kutschen gespannt. Big Monty war fast bereit für seine lange Reise in den Osten, als der dumpfe Donner von Hufen die aufgeladene Stille durchbrach.
»Staubwolken! Reiter kommen!«, rief Josh, einer der Helfer, und hielt den Braunen fest, den er gerade einspannen wollte und der nun nervös wiehernd tänzelte.
Alle Köpfe wandten sich zum Horizont, wo mehrere Gestalten in einer dichten Staubwolke auftauchten. Zwölf Reiter waren es ... vielleicht auch mehr. Auf die Entfernung war das schwer zu sagen.