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"Chase?" Sam Watford blinzelte in die nächtliche Dunkelheit. Er war sich nicht sicher, was ihn geweckt hatte, und spitzte die Ohren. In den Baumwipfeln flüsterte der Wind. Ansonsten war alles still. Beinahe zu still. Als hielte der Wald selbst den Atem an.
Langsam richtete sich Sam auf. Das Lagerfeuer war erloschen und sandte nur noch den schwachen Geruch von Rauch in die Nacht. Von seinem Begleiter war keine Spur zu sehen.
"Chase?" Sam schälte sich aus seinen Decken und fröstelte. Der erste Schnee würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Auf seinen nächsten Ruf antwortete ihm ein gedämpftes Brummen.
Sam griente erleichtert. "Was? Hab' ich dich beim Pinkeln gestört? Stell dich nicht so an. Es ist so dunkel, dass ich..." Der Rest des Satzes blieb ihm buchstäblich im Halse stecken, denn was sich nun vor ihm aus der Dunkelheit schälte, war nicht Chase...
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Seitenzahl: 137
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Die letzte Trophäe
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Impressum
Die letzte Trophäe
von Katja Martens
»Was machst du da eigentlich?« Sam Watford spähte zu seinem Begleiter. Der saß nur zwei Armlängen entfernt auf einem flachen Stein und hantierte mit seinem Bowiemesser. Doch was er trieb, blieb ungewiss. Im Nebel war seine hagere Gestalt kaum mehr als ein Schemen.
Dichte Schwaden stiegen vom Yellowstone River auf und krochen wie Raubtiere auf der Suche nach Beute über das flache Ufer. Selbst der zuckende Schein des Lagerfeuers verschwamm in dem allgegenwärtigen Grau. Sam kniff die Augen zusammen, aber das machte es nicht besser. Er fluchte leise vor sich hin.
»Still!«, stieß sein Begleiter mit gedämpfter Stimme hervor. »Da drüben ist irgendetwas!«
»Ja«, brummte Sam verdrossen. »Noch mehr Nebel.«
»Kein Nebel.« Chase klang so angespannt, als hätte er einen Skorpion auf seiner Nasenspitze entdeckt. »Ich habe etwas gehört.«
»Wird 'ne Krötenechse mit Schluckauf gewesen sein.« Sam gluckste.
»Das ist nicht witzig, Sam. Ich habe wirklich etwas gehört. Irgendetwas schleicht durchs Unterholz.«
»Na schön. Ich werde nachsehen.« Sam stemmte sich von seinem Platz hoch und griff nach Libby. Seine Hawken Rifle war aus Walnussholz und so glatt wie die Haut einer schönen Frau. Mit ihrem langen Lauf und dem sanft geschwungenen Hinterschaft lag sie trotz ihres beachtlichen Gewichts gut in der Hand. Sie erinnerte ihn an ein Freudenmädchen, das er einst gekannt hatte und dem es seinen Namen verdankte.
Geduckt huschte er fort von der Wärme des Lagerfeuers und tauchte ein in die Nebelschwaden, die ihm wie ein kaltes, nasses Handtuch um die Ohren schlugen. Beinahe lautlos bewegte er sich durch das Unterholz und umrunde das Lager einmal, ehe er zum Feuer zurückkehrte und sich wieder auf das weiche Moos sinken ließ.
»Und?« Die Stimme seines Begleiters war nur ein Flüstern. »Was hast du gesehen?«
»Rein gar nichts. Und was wortwörtlich. Der elende Nebel ist überall. Als wäre man blind geworden. Die Augen tun einem weh, wenn man zu lange hineinstarrt.«
»Und das Geräusch?«
»Wer weiß.« Sam legte sein Gewehr so neben sich ab, dass er es mit einem Griff packen konnte. »Hab nichts Ungewöhnliches bemerkt. War alles ruhig.«
»Ich hätte schwören können, dass da etwas war.«
»Schon möglich, aber noch kein Grund, nervös zu werden. Schätze, du liest zu viele von diesen Groschenheften.«
»Gerade genug, um zu wissen, dass hier draußen unter jedem Stein eine Gefahr lauert.«
»Wann war das jemals anders?« Sam zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Ich hab schon viele seltsame Dinge erlebt hier draußen. Vor vielen Jahren war ich in einem Canyon unterwegs, größer, als du es dir vorstellen kannst. Er war gewaltig. Wenn ich abends vor dem Schlafengehen ›Wach auf, Sam!‹ gerufen habe, wurde ich morgens vom Echo geweckt.«
»Tatsächlich.« Chase gluckste. »Das ist noch gar nichts. Ich war mal an einem See oben im Norden angeln. Das Wasser war in einem Yard Tiefe kochend heiß. Wenn du dort eine Forelle geangelt und Land gezogen hast, war sie fix und fertig gekocht.«
»Tatsächlich«, murmelte Sam und schob einen trockenen Ast ins Feuer.
Chase zog derweil eine Handvoll grüner Stängel aus seiner Tasche, die er an diesem Tag gesammelt hatte, und machte sich daran, sie mit seinem Messer auf einem flachen Stein klein zu hacken.
»Was ist das für 'n Zeug?«, fragte Sam.
»Nennt sich Specklepod Locoweed. Man sagt auch Narren-Spitzkiel dazu. Lässt einen verrückte Sachen sehen. Das Zeug setzt den stärksten Grizzly außer Gefecht.«
»Und was hast du damit vor?«
»Einen Köder will ich herstellen. Wir mischen es mit frisch erlegtem Wild und legen es aus, sobald wir auf Spuren unserer Beute stoßen.«
»Du willst das Viech vergiften? Kommt mir nicht sehr fair vor.«
»Ich will nur die Chancen ausgleichen. Das Ungeheuer, hinter dem wir her sind, könnte uns umbringen, bevor wir auch nur fluchen können. Dieses Kräutlein hier wird uns eine reelle Chance geben, es zu erwischen, bevor es uns erwischt.«
Sam beugte sich vor und beäugte die Halme skeptisch. »Schätze, ich bleibe lieber bei der guten alten traditionellen Art, einen Grizzly zu erlegen.« Er legte eine Hand auf seine Hawken Rifle.
Sein Begleiter schnaubte. »Bei einem normalen Grizzly würde ich es genauso machen, aber bei dem Monstrum, hinter dem wir her sind...« Er ließ den Rest seines Satzes in der Luft hängen. Sam wusste jedoch auch so, was er meinte. Sie waren seit Wochen unterwegs und folgten einer Legende, die von einem Riesenbären erzählte. Der Grizzly sollte ein wahres Ungetüm sein – größer als jeder andere Bär, der jemals von einem Menschen entdeckt worden war.
Auf den hatten sie es abgesehen.
Sie wollten ihn finden und sich seinen Pelz sichern.
Eine Trophäe, wie kein anderer Jäger sie vorweisen konnte.
Jetzt war die beste Zeit dafür. Der Winter stand bevor und das Fell des Bären würde dicht und voll sein und um einiges kostbarer als während der warmen Jahreszeit. Was ein Glücksfall war, konnte sich jedoch auch leicht gegen sie wenden. Sie würden sich sputen müssen, um ihn aufzuspüren und zu erlegen, bevor die Temperaturen noch weiter fielen, denn dann würde der Bär seine Winterruhe beginnen und sie mussten bis zum nächsten Frühling warten, um ihn aufzuspüren.
Sam hatte Fleisch, wilde Kräuter und ein paar Wurzeln der Elk-Distel klein geschnitten und mit Wasser in einen Topf über dem Feuer gestellt. Dort brodelte es seit geraumer Zeit. Allmählich verbreitete sich ein verlockend würziger Duft. Die Distelwurzeln waren stärkehaltig und schmeckten ihm besser als Kartoffeln. Sie wuchsen hier draußen überall.
Ganz in der Nähe rauschte der Yellowstone. Der Nebel dämpfte das Gurgeln des Wassers, aber ganz riss es nie ab.
Sam rührte den Eintopf mit einem Holzstück um.
Ihr Lagerplatz war sorgfältig ausgewählt. In ihrem Rücken standen Kiefern so dicht beisammen, dass sie einen natürlichen Schutz bildeten. Dazu gab es reichlich Heidelbeergestrüpp, das rascheln und knacken würde, sobald sich jemand unbemerkt näherte.
Sam zog ein Ledersäckchen unter seinem Hemd hervor. Es enthielt eine Zutat, die hier draußen unentbehrlich war, wenn man nicht dauernd fades Essen verspeisen wollte: Salz. Er streute etwas davon in die Suppe.
Chase fuhr derweil damit fort, die Stängel weiter zu zerkleinern.
»Narrenkraut«, brummte Sam.
»Narren-Spitzkiel. Ich saß mit einem alten Knochenbrecher in einer Zelle, der hat mir einiges beigebracht. War 'n Quacksalber, dem wohl etliche Patienten unter den Händen weggestorben waren, aber mit Giften kannte er sich aus.«
Sam furchte die Stirn. Sein Begleiter hatte einige Zeit hinter Gittern verbracht, weil er im Bett einer schönen Frau von deren Ehemann überrascht worden war. Schüsse waren gefallen und am Ende war der gehörnte Gemahl tot gewesen und Chase in eine Zelle gewandert. Nach ein paar Jahren war ihm die Flucht gelungen. Seitdem schlug er sich in der Wildnis als Jäger und Fallensteller durch und ging jedem Ärger aus dem Weg.
Im letzten Winter hatte Chase Sam aus einer verdammt misslichen Lage geholfen. Hatte ihm beigestanden, als eine Handvoll Shoshone es auf Sams Skalp abgesehen hatten. Seitdem arbeiteten sie zusammen.
»Verdammte Sesselfurzer«, murmelte Chase. »Sagen, das hier wäre jetzt ein Nationalpark, und wollen uns das Jagen verbieten. Weißt du, wir sollten uns ranhalten, wenn wir den Grizzly noch erwischen wollen, bevor die Wildhüter hier auftauchen und man keinen Schritt mehr machen kann, ohne dass sie einem auf die Zehen treten.«
»So schnell geht das nicht.«
»Schnell genug. Denk nur an die Shoshone...«
»Ich kümmere mich nicht um die Angelegenheiten anderer, und das solltest du auch nicht machen.«
»Wenn wir nicht aufpassen, sind ihre Angelegenheiten ganz schnell auch unsere Angelegenheiten.«
»Lass uns einfach diesen Grizzly finden. Dann haben wir ausgesorgt. Wir werden den Pelz für mehr Geld verkaufen, als du dir vorstellen kannst. Die Leute werden uns das Ding aus den Händen reißen. Vielleicht kauft es sogar ein Museum im Osten.«
»Klingt gut. Wenn wir wirklich so viel Geld bekommen, werde ich mich zur Ruhe setzen. Bin langsam zu alt, um bei Wind und Wetter hier draußen zu sein. Mein Gliederreißen wird immer schlimmer. Ich werde mir 'n warmes Plätzchen in Kalifornien suchen und den Herrgott einen guten Mann sein lassen. Und du?«
»Ich?« Sam rieb sich das Kinn. »Ich werde mir 'ne einträgliche Mine kaufen und zur Abwechslung mal andere für mich arbeiten lassen. Mein Geld soll mehr werden, nicht weniger.«
»Kein übler Plan«, murmelte Chase. »Wär' nicht übel, wenn wirklich was draus würde.«
»Im Leben ist nur eins gewiss – und das ist die Ungewissheit...« Sam streckte die Beine aus, brachte sie näher an das Feuer. Seine Füße waren so kalt wie Eisklumpen. Genießerisch spürte er, wie die Wärme des Feuers allmählich durch das Leder seiner Stiefel drang.
»Verdammt noch mal«, murmelte Chase unvermittelt.
»Was ist los?«
»Ich dachte schon wieder, ich hätte etwas gehört. Ich würde ungern im Schlaf von dem Grizzly überrascht. Vielleicht sollten wir Glöckchen in die Bäume hängen. Wenn wir welche hätten, meine ich.«
»Glöckchen? Wozu sollte das denn gut sein?«
»Na, um das Viech davon abzuhalten, uns im Schlaf zu zerfetzen.«
»Ich glaube kaum, dass sich ein Grizzly von einem Glöckchen abschrecken lässt.« Sam gluckste belustigt. »Das ist ein Märchen, das sie ahnungslosen Siedlern erzählen, die glauben, die Viecher würden vor dem Klingeln Reißaus nehmen, aber die Wahrheit ist: Grizzlys sind unberechenbar. Two Toes war so einer. Den hat das Läuten sogar noch angelockt. Der war neugierig und wollte erkunden, was das ist. Hat 'ne ganze Familie zerfetzt.«
»Two Toes?«
»So wurde er von den Zeitungen genannt. Für 'ne leckere Mahlzeit hätte der alles gemacht.« Sam zuckte mit den Achseln. Dann rührte er erneut den Eintopf um. »Unser Abendessen ist gleich fertig. Lass uns essen. Danach sollten wir uns aufs Ohr hauen. Wer übernimmt die erste Wache?«
»Das kann ich machen. Nach all dem Gerede über Grizzlys und zerfetzte Leiber werde ich vermutlich ohnehin heute Nacht kein Auge zumachen«, murmelte Chase. »Würde mich gar nicht wundern, wenn du absichtlich davon angefangen hättest.«
»Zu viel der Ehre.« Sam grinste, auch wenn sein Begleiter das im Nebel vermutlich nicht sehen konnte. »Ich übernehme dann also die zweite Wache...«
✰
»Heiliger Rauch!«
Mit einem Ruck fuhr Sam aus dem Schlaf hoch. Sein Herz wummerte wild gegen seine Rippen, und seine verdammte Blase drückte schon wieder. Sie riss ihn seit einiger Zeit mehrmals in der Nacht aus dem Schlaf. Allerdings erklärte das nicht den Schrecken, der in seinen Adern pulsierte und seine Nackenhärchen aufstellte.
Irgendetwas stimmte nicht.
Dabei war nicht gleich offensichtlich, was das sein konnte. Die Nacht um ihn herum war noch genauso neblig wie zu dem Zeitpunkt, als er zwischen seine Decken gekrochen war. Kein Ruf durchdrang die Stille, lediglich das Rauschen des Flusses war zu vernehmen. Dazu war es stockdunkel.
Verdammt, das war es.
Sam packte seine Hawken Rifle, hob den Kopf und lauschte.
Nichts Ungewöhnliches zu hören, aber das Feuer... es war heruntergebrannt und nur noch eine schwache Glut. Dünne Rauchfäden stiegen davon auf und sandten nur noch den schwachen Geruch von Rauch in die Nacht.
Warum hatte Chase das Feuer fast ausgehen lassen? Und wo war er eigentlich?
Sam kniff die Augen zusammen, versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen, aber genauso gut hätte er versuchen können, den Rauch mit bloßen Händen zu fangen. Es war aussichtslos. Also beugte er sich vor, ertastete einen Zweig und stocherte in der Glut, bis die Flammen wieder höher schlugen und die Umgebung in milchig verschwommenes Licht tauchten. Der Nebel machte es unmöglich, weiter als ein, zwei Armlängen zu schauen.
Verdammt. In der grauen Suppe konnte er kaum seine eigenen Stiefel erkennen.
Sam stieß den Atem aus, der in weißen Wölkchen vor seinem Gesicht aufstieg. Es war kälter geworden. Das bedeutete, er musste einige Stunden geschlafen haben.
Warum hatte Chase ihn nicht für die Ablösung zur Wache geweckt?
Kaum merklich schüttelte er den Kopf.
Das gefiel ihm nicht. Das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Der Platz des anderen Jägers am Feuer war leer.
Und mit einem Mal bezweifelte er, dass ihn wirklich der Druck auf seine Blase aus dem Schlaf gerissen hatte. »Chase?« Sam stützte einen Arm auf seine Decken und blinzelte in die nächtliche Dunkelheit. Er war sich nicht sicher, was ihn geweckt hatte, und spitzte die Ohren. In den Baumwipfeln flüsterte der Wind. Vom Fluss wehte das Rauschen des Wassers herüber. Ansonsten war alles still. Beinahe zu still.
Als hielte der Wald selbst den Atem an.
»Chase?« Sam schälte sich aus seinen Decken und fröstelte, als ihm ein eisiger Windhauch unters Hemd fuhr. Der erste Schnee würde wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. »Chase? Verdammt noch mal, wo steckst du?«
Auf seinen nächsten Ruf antwortete ihm ein gedämpftes Brummen.
Sam griente erleichtert. »Was? Hab ich dich etwa beim Pinkeln gestört? Stell dich nicht so an. Es ist so dunkel, dass ich dir schon nichts...« Der Rest des Satzes blieb ihm buchstäblich im Halse stecken, denn was sich nun vor ihm aus der Dunkelheit schälte, war nicht Chase...
Etwas Großes, Schweres brach zwischen den Bäumen hindurch. Im Nebel waren nur verschwommene Umrisse zu erkennen, aber was dort auf ihn zu stampfte, war ein Ungetüm, wie er es sich in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Sam packte sein Gewehr fester. Er lud, schwenkte den Lauf auf das Monstrum und zog den Stecher durch.
Krachend sandte die Hawken Rifle eine Ladung heißes Blei auf den Koloss.
Der röhrte auf und stürmte noch schneller auf Sam zu.
Der schoss erneut, konnte den Angreifer damit jedoch nicht aufhalten. Nicht einmal langsamer wurde das Biest. Noch war es kaum mehr als ein Schatten im Nebel, doch Sam hatte nicht vor, es noch näher herankommen zu lassen.
Er schoss wieder, war sich sicher, getroffen zu haben.
Doch da war der Angreifer bereits heran, ragte wie ein Turm vor ihm auf. Bevor er sich besinnen konnte, raste eine gewaltige Pranke auf ihn zu. Sam duckte sich ab, aber er war nicht schnell genug.
Messerscharfe Krallen fetzten ihm eine tiefe Wunde in die Brust.
Der Schmerz war unbeschreiblich.
Er konnte nicht atmen, nicht denken. Sein ganzes Sein war auf diesen einen glühenden Ball aus Schmerzen reduziert, der durch seinen Körper raste. Das Gewehr rutschte ihm aus den plötzlich kraftlosen Händen. Er taumelte, wankte herum und stolperte vorwärts. Blutrote Schwaden schienen vor seinen Augen zu wabern. Er wankte weiter, blind und taub für seine Umgebung, jeden Augenblick einen weiteren Hieb erwartend...
Vor ihm tauchte ein Hindernis auf. Er wollte es umrunden, aber es bewegte sich mit ihm, also packte er zu, spürte etwas Weiches und klammerte sich daran fest.
Dann war vor ihm plötzlich kein fester Boden mehr.
Er stürzte vornüber und versank unvermittelt im Wasser.
Der Yellowstone! Dieser eine, klare Gedanke raste ihm noch durch den Schädel. Das Wasser war eiskalt und betäubte seine Schmerzen. Oben und unten vermischten sich. Eine schier undurchdringliche Schwärze umgab ihn, und bevor er wusste, wie ihm geschah, wurde er von den Fluten mitgerissen und einem ungewissen Schicksal entgegengetragen...
✰
»Weg hier!« Enzo Díaz nahm den Zügel seines Pferdes fester in die Hand. Dann stieß er mit der anderen seinen Colt in die Luft und gab damit das Signal zum Rückzug.
Seine Männer sprangen auf ihre Pferde und preschten kurz darauf an ihm vorbei, dass der Staub hoch aufwirbelte. Ein jeder von ihnen war vom Hut bis zu den Stiefeln in Schwarz gekleidet. So verschmolzen sie wie Schatten mit der Nacht. Die dunklen Bandanas vor ihren Gesichtern verstärkten diesen Eindruck noch. Ein halbes Dutzend Reiter waren es, die sich nun blitzschnell von dem hell erleuchteten Zug der Northern Pacific Railway entfernten. Drei von ihnen führten ein Packpferd mit sich, das keinen Reiter, dafür aber vollgepackte Satteltaschen trug.
Stumm zählte Díaz die Fliehenden mit. Er war der Kopf der Bande, er würde nicht eher davonreiten, bis er sicher war, dass es jeder seiner Männer aus dem Zug geschafft hatte. Das gebot ihm seine Ehre. Eine Ehre, an der sämtliche Sternträger von hier bis zur Ostküste zweifelten, aber darauf gab es nicht mal das Schwarze unter seinen Nägeln. Banditenehre. Das war es, worauf es seinem Trupp ankam. Und die würde er niemals verraten.
Sein Blick schweifte über die Reiter – und mit einem Mal stutzte er.
Einer seiner Männer fehlte.
Díaz fluchte derb.