Zwei Sylt-Romane - Angelika Friedemann - E-Book

Zwei Sylt-Romane E-Book

Angelika Friedemann

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Beschreibung

Mit der Flut kommen die Toten Auf der Nordseeinsel Sylt herrscht Hochbetrieb. Es amüsieren sich die vielen Touristen, geniessen das Klima, den breiten Strand, das sonnige Wetter, bei den Prominenten fliesst der Champagner. Die Stimmung bei den Partygästen, den Reichen und Schönen schlägt sekundenschnell um, als neben einer der Yachten eine nackte Frauenleiche gegen den Bug treibt. Drei Tage später wird einer der wohlhabenden Playboys als Tatverdächtiger festgenommen. Stella Küster, eine ehemalige Schulkameradin und für kurze Zeit Gespielin des mutmasslichen Täters, glaubt fest an dessen Unschuld. Mit Unterstützung ihrer Freundin will sie mehr über die Tote herausfinden. Sie gerät dadurch in einen Strudel von Intrigen, Neid, Eifersucht. Die Tote im Sand Rike Jessen lebt mit ihren zwei Kindern ein ruhiges, beschauliches Leben als Goldschmiedin. Die Zwillinge stellen ihr den neuen Klassenkameraden Rafael vor. Ein verschüchterter Junge, der einen schweren Schicksalsschlag erlitten hat, da seine Mutter über Nacht auf unerklärliche Weise verschwunden ist. Fast zeitgleich erscheint ihr geschiedener Ehemann Kai auf der Insel. Die Ereignisse überschlagen sich: Rafael verschwindet spurlos und das löst eine ungeahnte Lawine aus.

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Prolog
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Die Tote im Sand
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Impressum

Angelika Friedemann

2-Sylt-Romane

Wer die Freiheit aufgibt,

um Sicherheit zu gewinnen,

wird am Ende beides verlieren.

Mit der Flut kommen

die Toten

Prolog

Er stand an der Reling und schaute auf das wogende Wasser, das im gleichmäßigen Rhythmus gegen die Spitze seines Bootes schlug. Kleine helle Schaumkronen spritzten auf. Der fast voll erscheinende Mond spiegelte sich entfernter in der Nordsee, verlieh der Oberfläche einen sanften silbernen Schimmer. Silber, welches sich in dem Wellenspiel auf und ab bewegte. Er hatte keinen Blick für dieses romantische Farbenspiel, da ihm gerade jegliches auf die Nerven ging: Die vielen Leute auf seiner Yacht, die Musik, der Champagner, das Stimmengewirr, das teilweise gekünstelte Lachen, die schmachtenden Mienen der Frauen, deren dümmliches Gerede, ihre plumpen, unehrlichen Säuseleien. Sie wollten allesamt das Gleiche von ihm: Ihn erobern, um sich danach in seiner Nähe zu sonnen, Beachtung zu finden, im Reichtum zu schwelgen.

Er war 34, Rechtsanwalt, mit einer 60-Stunden-Arbeitswoche. Die Medien sahen in ihm hingegen nur den reichen Playboy, der nur Frauen, Partys und Sex im Kopf hatte. So konnte man es in dem neusten Artikel dieser blöden Klatsch- und Tratschillustrierten lesen. Seiner Freundin Marion hatte das am Donnerstag gereicht und sie hatte die Beziehung kurzerhand beendet. Nur deswegen hatte er für heute Abend diese Party kurzfristig angesetzt. Nun bereute er diesen Schritt, wünschte er die meisten Gäste am liebsten weit weg.

Er setzte sich auf den Bootsrand, blickte vom Wasser empor zum Himmel. Solch eine Nacht hätte er gern zusammen mit einer Frau erlebt, die ihm etwas bedeutete - Marion.

Er hatte drei Frauen in seinem Leben in der Tat geliebt, begehrt, gewollt. Alle anderen waren nur ein Spielball für ihn, ein kurzer unwichtiger Zeitvertreib.

Sinja, seine Klassenkameradin, war die erste Deern. Sie hatte ihn fasziniert, ihm unzählige schlaflose Nächte bereitet. Sie war etwas ganz Besonderes. Eine junge Frau, die intelligent war, exakte Ziele vor Augen hatte. Sie war ein bezaubernder Anblick, schon mit siebzehn eine Schönheit, ein zauberhaftes, anmutiges Wesen, noch nicht ganz Frau, jedoch da klar erkennbar, dass sie sich zu einer starken Persönlichkeit entwickeln würde. Sie verkörperte die Geschmeidigkeit einer Raubkatze mit Krallen, wenn es sein musste. Sie verfügte über eine unübersehbare Eleganz, einen Sinn für ansprechende Kleidung. Sie besaß Stil, Benehmen, eine große Portion Charme. Er war bisweilen mit ihr weggegangen: Eis essen, Cola oder Cappuccino trinken. Letzteren mochte sie vorzugsweise, allerdings musste so ein runder Keks dabei sein. Mehrmals hatte er den, ganz Kavalier spielend, nachgefordert. Am Wasser sitzend sprachen sie über ihre Pläne und ihr bevorstehendes Leben. Ihre Lebensplanung verlief in vieler Hinsicht konform, stellten sie damals überraschend fest. Sie waren in der kalten Nordsee geschwommen, um danach ihre Körper von der Sonne erwärmen zu lassen. Mehr, als den Arm um sie zu legen, einen Kuss auf die Wange, gab es nie. Sie wollte kein Techtelmechtel mit ihm, nannte sie es: Nimm dir weiter eine der Touristinnen, wenn du Sex wünschst. Ich bin noch nicht so weit, hatte sie prononciert.

Am Tag ihres Abiturs hatte er sie und zwei ihrer Freundinnen zu seiner Party eingeladen. An dem Abend hatte er sie eifersüchtig machen wollen und mit ihrer Freundin geflirtet. Sie war als Mädchen bekannt, die bereits zahlreiche Männergeschichten hinter sich hatte. Er war selber noch zu töricht, unreif gewesen, obwohl er sich da längst als sooo erwachsen sah. Sinja war früher gegangen und er hatte sich anderweitig getröstet, nicht ahnend, dass diese dumme Gans am nächsten Tag gleich alles aus plapperte, damit bei den ehemaligen Klassenkameradinnen angab. Das Telefon musste bei ihr geglüht haben. Damit hatte er jegliche Chance bei Sinja verspielt, da sie das tief getroffen hatte, wie sie ihm Jahre später gestand. Über seine anderen kurzen Eskapaden hatte sie hinweg gesehen, aber das mit ihrer Freundin, war etwas Andersartiges. Er hatte trotz allem lange sein Glück versucht - vergebens. Sie waren zumindest Freunde geblieben, studierten gemeinsam, lernten, lachten zusammen. Sie trafen sich heute noch regelmäßig. Einige Male waren auch sie und ihr Mann bei solchen Partys anwesend gewesen. Sinja und Hennes zählten zu seinen engsten Freunden.

Drei Jahre darauf war Vivian in sein Leben getreten. Fast ein Ebenbild von Sinja, nur vom Wesen her völlig anders. Überraschend war sie nach fünf Jahren schwanger geworden. Er hatte sich trotzdem gefreut, auch wenn er als Student nie an Heirat dachte. Es folgte der Unfall, ihr Tod. Für ihn war eine Welt eingestürzt.

Nach einer langen Zeit der Leere waren zahlreiche Aktivitäten gefolgt. Damit wurde der Grundstein für die ersten Artikel über den reichen Playboy gelegt. Jede Frau an seiner Seite wurde von der Presse sofort als seine Neue tituliert. Die Frauen, die er schnell haben konnte, waren darüber mehr als erfreut. Die anderen, Frauen mit Köpfchen, mit denen er rein platonisch befreundet war, die über Verstand verfügten, reagierten eher empört darauf. So hatte er sich einen Dreh ausgedacht, wie man dem entgehen konnte: gelegentliche Partys auf dem Boot.

Es war die erste Yacht, die ihm seine Eltern zum zweiten Staatsexamen und Geburtstag schenkten. Dort fand man nur die Frauen, die ihm unwichtig waren, sich aber etwas darauf einbildeten, in seiner Gegenwart gesehen zu werden. In der Woche hatte er seine Ruhe, da man ihm nur noch an den vereinzelten Wochenenden auflauerte, wenn er so wie heute, feierte. Was sie da erwarteten? Keine Ahnung! Er war nie betrunken, nahm keine Drogen. Eigentlich eher langweilige Feten. Die Medien interessierten sich nie für ihn, wie er alltäglich lebte, weil das zu langweilig war. Keiner dieser Schmierfinken war je in seiner Kanzlei aufgetaucht, um wirklich mehr über sein reales Leben zu erfahren. Seinen wenigen wahren Freunden, die zuweilen mit feierten, war das dümmliche, verlogene Geschmiere ein Dorn im Auge. Mehr als einmal forderten sie, er solle gerichtlich dagegen vorgehen. Nur er lehnte das ab, da es nur neue Schlagzeilen und Geschichten geben würde. Diese zwei Journalistinnen besaßen eine zu rege Fantasie.

Vor fast vier Jahren hatte es eine erneute Wende gegeben: Marion. Vom Äußeren der gleiche Typ wie Sinja und Vivian. Durch diese blöden Zeitungsartikel vor drei Wochen und am Donnerstag war nun auch das passé, dabei hatte es seitdem keine andere Frau als Marion in seinem Leben gegeben. Nur das glaubte sie ihm nicht. Er fand das auch ein wenig enttäuschend, da er eigentlich annahm, sie würde ihn nach knapp drei Jahren Beziehung besser kennen, ihm vertrauen. Irgendwie schien er kein Glück zu haben, nur dusseligen Frauen rannten ihm nach. Wer setzte wohl vor Tagen, bereits vor Wochen diese Lügengeschichten in die Welt, fragte er sich nicht erst heute. Diese breesigen Klatschjournalistinnen nannten es Informanten, gaben ihm keinen Namen. War es nur, weil man ihn und Marion trennen wollte? Nur warum? Steckte da doch viel mehr dahinter?

Zu diesem grundlegenden Debakel gesellte sich der Anruf seines Cousins, der ihm mitteilte, wer diese beiden unbekannten Frauen auf seinem Boot waren. Er fragte sich, wer diese engagiert hatte und warum? Es musste jemand sein, der ihn prägnanter kannte, wusste, dass er auf dunkelhaarige Damen stand, obwohl seine unwichtigen Betthäschen überwiegend Blondinen waren. Besonders einfältige Wesen färbten sich deswegen sogar die Haare, nur um sich eine Chance bei ihm auszurechnen. Primitiv und albern. Dass man ihm jetzt nichtsdestotrotz eine dunkelhaarige Schönheit unterjubelte, stimmte ihn mehr als nachdenklich. Einen Reim konnte er sich bisher nicht darauf machen.

Die Mondnacht war zauberhaft. Eine Nacht wie geschaffen für sinnliche Stunden. Das weite dunkelblau, dass zum Schwarz wurde, darauf, wie von einem Künstler genau platziert, der Mond mit silbrig schimmerndem Schein, umgeben von unendlich vielen Sternen, die hin und wieder kurz aufblitzten. Er betrachtete die Sternenbilder, überlegte, wie sie hießen. Sinja hatte sie ihm einmal erklärt. Der ganz hell leuchtende musste die Venus sein. Der große und der kleine Bär. - zwei Quadrate mit drei oder vier Sternen als Schwanz. Einmal nach vorn und einmal nach links. Er suchte sie eine Weile, bis er sie fand - jedenfalls vermutete er das. Dann gab es den Bärenhüter. Irgendein Gebilde, das an ein Trapez erinnerte, mit zwei gespreizten Füßen. Er musste schmunzeln. Viel von ihren Erklärungen hatte er anscheinend nicht behalten, dafür wusste er noch, dass sie nach Les Poisons geduftet hatte. Er liebte diese Duftkompositionen.

Von unten erklang lautes Lachen, Musik ertönte. Er schaute auf die Uhr. Anscheinend waren sie alle satt und die Party nahm ihre Fortsetzung. Morgen Vormittag wollte man noch einige ruhige Stunden auf der Nordsee verbringen. Nur Freunde und deren Kinder. Darauf freute er sich wirklich.

Er schlenderte langsam Richtung Treppe, da kam ihm eine dieser dubiosen Frauen entgegen. Die Blondine setzte sofort ein Lächeln auf, als sie ihn gewahrte, strich sich lasziv langsam durch die Löwenmähne. „Ich habe dich vermisst“, säuselte sie.

Er nahm sie bei der Hand. Nun würde ihre Freundin eine Niederlage erleben und damit derjenige, der die zwei Frauen auf ihn angesetzt hatte.

„Komm mit, wir gehen in meine Kabine“, äußerte er kurz angebunden. Er musste nie irgendwelche blöde Sprüche loswerden, nicht einmal versuchen, charmant zu sein, Sie alle waren zu gern bereit, ihm zur Verfügung zu stehen. Er konnte da aus dem Vollen schöpfen und die sich ihm zahlreichen anbietenden erotischen Abenteuer mitnehmen. So wie jetzt. Sie strahlte förmlich. Wie billig und breesig sie doch waren. Fragte man sie, warum gibst du dich dafür her, kam der Spruch von Liebe. Grotesk!

Er führte sie durch das Partyvolk, bemerkte den Blick der schwarzhaarigen Frau, die ihn konsterniert anglotzte. Dusselige Gans! Demonstrativ legte er den Arm um seine Begleiterin, die sich sofort enger an ihn schmiegte. Wie einfältig sie doch war. Warum sagte keine von dieser dusseligen Deern: Du spinnst! Falsch - drei Frauen hatte es gegeben - nur drei.

Die Blicke seiner Gäste folgten ihm, wie er wusste. Am liebsten hätte er sie alle zum Teufel geschickt, nur in Ruhe ein Bier direkt aus der Flasche mit seinen beiden Freunden getrunken, dem Plätschern des Wassers gelauscht, sich sinnvoll unterhalten.

In seinem Schlafzimmer kam er unverzüglich zur Sache. Da gab es kein langes Geplänkel, kein Vorspiel. Er drückte sie gegen die Tür, damit sie sich mit den Händen abstützen konnte, holte ein Kondom aus der Hosentasche, schob seine Hose herunter, riss die Packung mit den Zähnen festhaltend auf, zog es geschickt über. Nun schob er ihr Kleid hoch. Sie trug keinen Slip. Völlig unerotisch. Probleme, eine Erektion zu bekommen, kannte er nicht. Sein Freund Fabian äußerte dazu einmal: Ich kenne keinen Mann, der so pragmatisch eine Braut vernascht, wie du. Wie schafft man das? Die Antwort wusste er nicht, es funktionierte einfach, wenn er es wollte. Nur so ganz emotionslos absolvierte er den eigentlichen Akt gewiss nie.

Danach öffnete er eine Flasche Grapefruitsaft, goss zwei Gläser voll, reichte ihr eins. Ob seine jeweilige Gespielin den mochte, war ihm egal. Es war sein Lieblingsgetränk seit über 15 Jahren. Sinja hatte ihn da auf den Geschmack gebracht, da sie das Zeug liebte, kiloweise Pampelmusen essen konnte. Erst vor Kurzem hatte Hennes erzählt: Ich komme mit Konfekt nach Hause, da fragte Sinja mich, hast du Grapefruits mitgebracht? Er schmunzelte, ohne es zu bemerken.

Er zog sie und sich aus, legte sich auf das Bett, taxierte ihren Körperbau, der gut geformt war. Zärtlich streichelte er sie, sah, wie sie sich wohlig rekelte, und musste grinsen: Temperament hatte sie, obwohl sie zunächst eher einen anderen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte.

Ein Weilchen später stöhnte sie verhalten und ihr Körper begann zu zittern, streckte sich seinen Fingern entgegen.

Er schob einige Kissen unter seinen Kopf und nun war sie an der Reihe, ihn nochmals zu befriedigen. Das machte sie gut, ausgesprochen gut. Die Professionalität war nicht zu übersehen, aber genau das schätzte er, genoss es. Er schaute nach Möglichkeit zu, wenn eine Frau ihn etappenweise befriedigte, fand es antörnend, zu Mal kein Kondom etwas an den direkten Empfindungen schmälerte. Sie verstand eine Menge davon, wie man es nicht nur anschaulich richtig inszenierte, sondern wie man es wieder und wieder hinauszögerte, ihn kurz vor dem erlösenden Orgasmus stoppte, ihm Zeit zum Pausieren gab, um ihn erneut in Fahrt zu versetzen. Sie wusste sehr bewandert, ihre Finger, den Mund, die Zunge, sogar die Zähne zum Einsatz zu bringen. Bei dem Preis, den Unbekannt in die Frauen investierte, konnte man das auch erwarten.

Eine Weile lag er nur still da, ließ das behagliche Gefühl abklingen, bevor er sich an die Gespielin wandte, deren Namen er bereits vergessen hatte. „Du bist gut, aber jetzt gehe bitte. Ich möchte allein sein.“

Er griff neben sich in die Schublade, zog einen Geldschein heraus und reichte ihr den. „Für ein Taxi. Der Ruhe nach zu urteilen, sind sie alle weg.“

Sie blickte ihn trotzdem lächelnd an, obwohl er mit einer Szene gerechnet hatte, so wie zigmal zuvor. Sie stand auf und zog das Kleid über, da sie nicht mehr getragen hatte.

„Sag, wer hat euch für euren Auftritt bezahlt?“

Nun allerdings mischte sich Verlegenheit in ihren Gesichtsausdruck. „Niemand. Wie kommst du darauf?“ Etwas nervös ordnete sie die langen blonden Haare mit den Fingern.

„Du lügst schlecht. Verderbe nicht den positiven Eindruck, den ich bisher von dir hatte. Ich weiß, ihr habt dafür 2.000 Euro bekommen. Für ein Wochenende ein reichlich bemessener Verdienst. Wer?“ Seine Stimme klang eine nicht überhörbare Spur kälter.

„Das hat unsere Agentin uns vermittelt. Den Mandanten erfahren wir nie, außer derjenige erwähnt es, bestellt uns persönlich.“

Mandant nannte man Freier neuerdings, belustigte er sich. „Wie lautete die Anweisung?“

„Eben nett zu dir sein, obgleich das ursprünglich Erikas Auftrag war. Ich sollte nur als Alternative dienen.“

„Eher umgekehrt. Ich mag keine Dunkelhaarigen.“

Sie guckte ihn merkwürdig an, hatte die Stupsnase dabei keck nach oben gezogen, die Stirn leicht gerunzelt. „Ich denke, du magst den dunklen Frauentyp und Blondinen sind nur dein Fall, wenn nichts anderes greifbar ist?“

Er lächelte mit einem amüsierten Glitzern in den braunen Augen. „Wer behauptet das?“, tat er uninteressiert.

„Unsere Chefin. Sie meinte, Du stehst auf rassige Evas. Ich spielte deswegen nur die zweite Geige, sollte Erika begleiten, weil zwei weibliche Wesen weniger auffielen. Zuweilen würdest du es auch mit zwei Ladys lieben. Es sollte eben für alle Eventualitäten gesorgt sein, damit es für dich ein reizvoller Abend wird. Jemand wollte dir eine Freude bereiten.“

„Da hat sich in der Tat ein bestimmter Mensch sehr viel Mühe gegeben, mich zu analysieren. Du hast das dessen ungeachtet im Alleingang geschafft.“ Seine Stimme wurde eine Spur härter, die Augen blickten kalt, die Pupillen färbten sich schwarz. „Beschaff mir nächste Woche den Namen des Auftraggebers und du bist 5.000 Euro reicher. Die gehören dir allein. Komme in mein Büro. Bin ich nicht da, sage den Namen meiner Sekretärin und sie gibt dir das Geld. Versuche nicht, mich zu hintergehen, weil ich dich sonst vor Gericht bringe. Deine Tätigkeit für die Zukunft - passé. Zu keinem Menschen ein Wort darüber, auch nicht zu deiner Kollegin. Gute Nacht.“

Er stand auf, als sie weg war, duschte gründlich, hörte in der gegenüberliegenden Kabine seinen Freund laut stöhnen, grinste. Dirk war wirklich zu lautstark, wie Anita, seine Frau, stets feststellte. Er legte sich ins Bett und schlief sofort ein.

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Stella schaltete die Töpferscheibe aus, ergriff den bereits leicht geformten Tonklumpen und warf den mit Heftigkeit in die Kiste. Von der Wucht des Aufpralls spritzte der weiche Ton an den lila Seiten der Plastikbox hoch, Tropfen von ihren schlammigen Händen verteilten sich weiträumig auf dem Boden, auf ihrem weißen Shirt.

Sie stand auf, wusch die Hände, trocknete sie lange ab und verließ die Werkstatt. Draußen atmete sie mehrmals tief durch. Seit sie vorhin den Artikel in der Zeitung gelesen hatte, war sie völlig durcheinander.

Sie lief barfuß über den mit Tau bedeckten Rasen, schwang sich etwas schwerfällig auf die Steinmauer, den Friesenwall, setzte sich hin. Ihr Blick schweifte zu dem weiten Wattenmeer. Jetzt, am frühen Vormittag, schimmerte die nasse Oberfläche wie flüssiges Blei, welches mit Gold durchzogen zu sein schien. Die Sonnenstrahlen, die schräg darauf fielen, zauberten dieses wunderschöne Farbenspiel. Nur vereinzelte kleine Schäfchenwolken segelten langsam über das satte Blau des Himmels. Einige Möwen oder Austernfischer flogen auf, drehten eine Runde, bevor sie sich abermals auf dem Schlick niederließen und nach Nahrung suchten. Gerade bei Ebbe war dort der Tisch reichhaltig für sie gedeckt.

Trotzdem fand sie heute hier nicht ihre gewohnte Ruhe. Der Zeitungsbericht weckte all das auf, was seit anno dazumal in ihr schlummerte. Zu intensiv beschäftigte sie seitdem die Vergangenheit.

Vierzehn Jahre waren es her. Nein, fast fünfzehn.

Sie hatte stolz ihr Abitur in der Tasche. Als sie Sven einlud, das abends am Strand zu feiern, hatte sie mit Begeisterung und vor Siegesgewissheit glühenden Wangen, zugesagt. Während der Schulzeit hatten sie nie privaten Kontakt, aber wie fast alle Schülerinnen, schwärmte sie für den Klassenkameraden. Er war schlichtweg der Mädchenschwarm der Schule. Sie hatte keinem erzählt, selbst Krischan nicht, mit wem sie sich vergnügen wollte. Ihre Freundin Carla hatte prompt eine Ausrede gefunden, es als Frauenabend tituliert. Sie wusste, ihre Eltern hätten ihr das strikt verboten; Krischan hätte sie für dumm erklärt, da sie nicht zu diesen Reichen passte. Seine Worte hatte sie als puren Neid und Eifersucht interpretiert.

Mit ihren Freundinnen Carla und Sinja radelte sie nach Kampen hinüber. Dort ließen sie die Räder stehen. In Svens total überfüllten Sportwagen fuhren sie Richtung Ellenbogen. Eine Truppe Mädchen und Jungs erwarteten sie mit lautem Hallo und bereits gefüllten Sektgläsern. Niemand hatte gefragt, wer sie seien. Die drei Neulinge integrierte man sofort in die Clique, als wenn sie dazugehörten. Die weiblichen Gäste scharrten sich wie eine Traube um Sven, himmelten ihn an.

Sie trank zum ersten Mal Champagner, der ihr im Grunde genommen nicht schmeckte, aber um Sven zu gefallen, hatte sie den hinter gekippt, gelobt. An dem Abend war sie sich sooo erwachsen vorgekommen. Sie hatten sich geküsst und es war zu mehr gekommen. In der Nacht fand sie alles sooo toll, aufregend neu. Sie vergaß, dass Welten zwischen ihr und Sven lagen, dass sie Krischan versprochen war. Sie sah sich bereits als Frau Stella Andresen, eine Luxuslady, die sich alles kaufen konnte, was sie wollte. Noch wichtiger jedoch war für sie gewesen, sie, Stella Mertens, hatte den Traummann erobert.

Am späten Abend war der Traum beendet. Sven sagte „Tschüss“, als er sie an ihrem Fahrrad absetzte. Nein, warum sollte ich dich nochmals treffen, hatte er auf ihre Frage, ob er sie nachher bei den Eltern abholen würde, geantwortet. Drei Wochen später zog er nach Hamburg, da er dort studieren würde. Gesehen hatte sie ihn nicht mehr. Sie hatte mehrfach bei ihm angerufen, aber er hatte sie grob angemeckert, sie solle ihn nicht belästigen, nerven. Aus den Augen, aus dem Sinn. Sie hatte wenige Monate später Krischan geheiratet.

Man traf sich im Laufe der Jahre eher zufällig, außer Moin sprach man nichts, nickten sich wie flüchtige Bekannte zu, nicht einmal wie Freunde, die sich freuten, einander zu begegnen.

Die Erinnerungen verblassten im Laufe der Zeitspanne, wenn sie nie gänzlich verschwanden. Was sie damals für ihn empfunden hatte, war vermutlich nur Einbildung gewesen. Der Strom der Zeit war breit, sehr breit geworden. Für wenige Stunden kreuzten sich ihre Wege. Jeder führte danach sein eigenes Leben. Sie mit Krischan, den Kindern; er mit zahlreichen dusselig aussehenden Frauen, wie sie bisweilen seit sieben, acht Jahren las. Jeden Artikel über ihn hatte sie verschlungen, so oft gelesen, bis sie ihn auswendig kannte. Plötzlich gab es keine mehr. Sie war oft zu seinem Boot geradelt. Lag die hier vor Anker, war er nie zu sehen. Gerade in den Sommermonaten war die wochenlang verschwunden. Sie hatte sich gefragt, wo er damit war, welche blöden Weiber bei ihm wären. Sie hatte sich sogar gefragt, ob es deswegen keine Geschichten mehr über ihn gab, weil er einen neuen Liegeplatz hatte. Dann lag sie plötzlich an der alten Stelle, nur an den Wochenenden passierte nie etwas. Keine ausschweifenden Partys, keine pompösen Feiern, besser Events - nichts. Da war ihr zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass er fest liiert war. Das war ein Schock für sie. Womöglich würde er heiraten, Kinder kriegen. Das durfte nicht sein.

Sie hatte sich oft ausgemalt, wie es zwischen ihnen weitergegangen wäre, hätte Sven sich für sie entschieden. Das waren die Momente, wo sie von dem wunderschönen Leben an seiner Seite träumte. Sie würde nicht arbeiten müssen, da alles Personal erledigte. Sie hätte Geld im Überfluss, würde in Saus und Braus leben. Partys, um die Welt fliegen, mit den Reichen verkehren. Sie musste nie bei jedem Euro überlegen, planen, ob sie den jetzt für eine bestimmte Sache ausgeben konnte, sondern hätte nach Herzenslust all die schicken Sachen in den teuren Läden kaufen können, die sie jetzt nur vom Ansehen kannte. Unerschwinglich für sie, außer …

Versonnen schaute sie dem Tagpfauenauge nach, der lustig an ihr vorbei flatterte und sich auf der Blüte des Hibiskus niederließ.

Vierzehn Jahre Ehe. Eine Ehe, die eigentlich keine war. Sie sah Krischan einige Male im Jahr für wenige Tage und wenn sein Urlaub anstand. Jeder lebte in seiner Welt. Sie als Hausfrau, alleinerziehende Mutter, Töpferin, Gärtnerin, Mädchen für alles. Er als durch die Welt reisender Kapitän, der auf dem Papier eine Familie hatte. Nur ein Familienleben gab es nie. Keine gemeinsamen Unternehmungen, keine gemeinsamen Entscheidungen oder dergleichen. Nicht einmal besonders schöne gemeinsame Stunden, von denen man zehren konnte. Nichts.

Habe ich mir so mein Leben vorgestellt? Sie war 34 und ihr Leben verlief eintöniger, wie das von ihrer Mutter. Sie fuhr vier-fünfmal jährlich einen Tag nach Hamburg, ansonsten lebte sie nur auf der Insel. Sie war nie irgendwo anders gewesen, kannte weder Urlaub oder nur ein freies Wochenende. Jahr für Jahr 360 Tage gleichbleibend. Ihr war es egal, da ihr das reichte, Krischan sie wenigstens finanziell gut versorgte und sie ansonsten in Ruhe ließ. Er hatte seit Jahren eine Freundin in Hamburg, mit der er zusammen wohnte, die er jeden Abend sah. Er handhabte das diskret, damit kein Makel auf sie fiel. Um ihren guten Ruf war sie immer sehr besorgt gewesen. Aus dem Grund war sie so entsetzt, als Krischan vor Monaten die Scheidung forderte. Es war zu einem heftigen Streit gekommen, da es die nie geben würde. Sie wollte nicht als geschiedene Frau leben, sich dem Getratsche der Nachbarn aussetzen, aber noch wichtiger war, sie wollte nicht auf das Geld seiner Familie, von ihm verzichten. Die waren reich, und wenn er eines Tages starb, würde ihr die Hälfte davon gehören. Das war ihre Belohnung für diese Ehe. Nur das würde noch Jahre dauern. Bis dahin war sie eine alte Frau. Das Leben war an ihr vorbeigerauscht, ohne all die Annehmlichkeiten, die diese Reichen tagtäglich genossen.

„Stella, Stella“, hörte sie Carla rufen.

„Ich bin hinten. Komm her“, drehte sie sich ein wenig um. Sie seufzte. Was wollte die denn um diese Zeit hier?

„Moin. Arbeitest du heute nicht?“, begrüßte ihre Freundin sie, gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Keine Lust. Was machst du so früh hier?“

„Hast du keine Zeitung gelesen? Dein Shirt ist völlig verdreckt.“

„Doch. Was meinst du?“, tat sie desinteressiert.

„Traust du daaass Sven zu?“

„Snaks! Warum sollte er eine junge Frau ermorden?“

„Sie haben ihn festgenommen.“ Carla schwang sich auf die Steinmauer. „Ich liebe den Blick über das Wattenmeer. Weißt du noch, wie ich hier heruntergefallen bin?“

„Ja. Die Knie blutig, aber du hast gelacht. Oma kam angerannt, als wenn du ohne Kopf herumlaufen würdest“, schüttelte sie noch heute empört darüber den Kopf.

„Stella“, wurde sie ernster, „was, wenn er es doch war?“

„Wird er verurteilt“, tat sie bewusst burschikos.

„Und Berit?“

„Krischan und ich wollen es ihr in den Sommerferien generell sagen“, log sie, so wie immer, wenn sie von ihrem Mann sprach. Sie schaute den zwei Zitronenfaltern nach. „Weißt du, was mich zuweilen gewundert hat?“

„Das keinem aufgefallen ist, das niemals Krischan der Vater sein kann. Mich hat Tore irgendwann mal gefragt, aber ich habe geschickt abgelenkt, wollte ja nicht lügen.“

Stella erwiderte nichts. Sie hatte vor dem Tag Angst, wenn die Wahrheit ans Tageslicht kam, da sie schlecht einschätzen konnte, wie ihre gerade pubertierende Tochter darauf reagierte. Nun jetzt war alles anders.

„Bist du eigentlich glücklich?“

Sie schaute ihre Freundin verblüfft an. „Ja.“ Sie zögerte. „Ich habe zwei gesunde Kinder, ein hübsches Haus, lebe auf einem wunderschönen Fleckchen Erde, habe meine Arbeit. Lese ich in der Zeitung von den vielen Arbeitslosen, den Armen und wie die Leute ihren Lebensunterhalt bestreiten, wird mir klar, wie privilegiert wir im Grunde genommen leben.“

„Du hast keinen Mann, mit dem du dein Leben teilen kannst. Kein Mann ist da, mit dem du reden, die kleinen Alltäglichkeiten erleben, kannst. Nicht einmal zum Schmusen, Kuscheln, für den Sex ist jemand da.“

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Carla, hast du eine Idee, wie man Sven helfen kann?“ Das beschäftigte sie wesentlich mehr, als diese nie praktizierte Ehe.

„Was hast du mit ihm zu tun?“

„Nichts. Trotzdem, der war es nicht und der ist Berits Vater.“

„Mann, der wird sich eine Armada der besten Anwälte nehmen. Allen voran seinen Vater und bald freikommen. Das Sven niemand ermordet, ist ja wohl klar.“

„Der war es nicht“, erwiderte sie brüsk, schwang die Beine zur anderen Seite und sprang hinunter. Carla folgte ihr und sie gingen ins Haus. „Magst du einen Cappu?“

„Danke. Sie schreiben, er hätte was mit ihr gehabt.“

„Sven hat ständig was mit irgendwelchen dusseligen Weibern.“

„Es ist komisch. Jahrelang war Ruhe, nicht eine Affäre wurde ihm zugeordnet. Plötzlich, innerhalb von drei Wochen, gleich zwei von diesen dusseligen Artikeln. Das kann doch nur jemand an die Medien gegeben haben, der immer mit dabei war. Sie schrieben, es hätte da große Champagnergelage gegeben, dazu Prostituierte, mit denen er sich amüsiert haben soll. Irgendwie passt das alles nicht zu ihm. Glaube mir, da stimmt etwas nicht. Nun sogar noch eine Tote.“

„Vermutlich hat einer seiner Dirnen gequatscht. Trifft man ihn, ist permanent eine andere Tussi an seiner Seite. Deswegen bringt der sie doch nicht um und ist so dusselig, die Leiche direkt neben seinem Boot ins Wasser zu werfen. Ein Döskopp ist der gewiss nicht.“

„Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Sie müssen aber mehr entdeckt haben, sonst hätten sie ihn nicht festgenommen“, beharrte Carla. „Eventuell war es eine Affekttat, weil sie ihn nervte.“

Stella schmunzelte. „Was glaubst du, wer mich bisweilen alles nervt. Zum Beispiel eine gewisse Carla.“

„Döskopp! Er war duun und schwupp war sie doth.“

Sie stellte die beiden Tontassen auf den Tisch. Die stammten aus ihrer eigenen Kreation und zeigten plastisch die geschwungene Dünenlandschaft der Insel mit dem Hafergras und einem Schmetterling. Davon gab es zwölf verschiedene Exemplare.

„Du überlegst doch etwas?“, forschte Stella nach. Wenn ihre Freundin die Stupsnase hochzog, die Stirn dabei kräuselte, dachte diese angestrengt nach.

„Ich rekapituliere. Sie feiern auf dem Boot. Da waren zig Leute dabei. Im Grunde genommen könnte es jeder gewesen sein.“

„Sicher, nur dann hätten sie Sven nicht festgenommen?“

„Na gut. Nehmen wir an, sie hat vorher mit ihm gestritten und das haben Anwesende gehört. Sie verschwindet, die Party geht weiter und vormittags findet man sie tot neben seinem Boot.“

„Sie schrieben, man habe sie erwürgt und sie war nackt.“

„Hatte sie mit einem der Männer Sex. Vermutlich mit Sven. Es gibt Streit, sie rennt raus und trifft auf ihren Mörder. Der Kerl war eifersüchtig, dass Sven sie in die Kiste gezogen hatte, nicht er. Man müsste wissen, wer da sonst alles dabei war.“

„Carla, lass es. Wir finden da gewiss nichts, was nicht die Polizei bereits weiß.“

„Hast du möglicherweise recht. Nur du hast mich gefragt, wie man ihm helfen kann.“ Sie blickte auf die Uhr. „Schiet! Ich muss los. Die Kinder haben heute früher Schulschluss, da wieder eine Lehrerin krank ist. Ich muss vorher einkaufen.“

„Ich muss noch was tun. Überall wuchert das Unkraut. Tschüss.“

„Tschüss.“ Abermals folgte eine kurze Umarmung.

„Wir müssen eine Art Gästeliste von seiner Party bekommen“, rief Stella ihr noch beim Hinauseilen zu. Nun lehnte sie sich schmunzelnd zurück.

Sie hockte sich vor das breite Beet und begann eher halbherzig den Boden zu harken, das Unkraut zu entfernen. Die Blumen blühten gerade zurzeit in allen Farbtönen. Von Weiß bis Dunkellila. Ein wahres Farbenmeer, dazu verströmten sie ein süßliches Odeur.

Es war einer der malerischen Gärten, der zu jedem der alten uthlandfriesischen Häusern gehörte. Vorn ein spitzer Giebel über der Eingangstür, der sich bis knapp unter den First erstreckte. Die Klöntür war ebenfalls fester Bestandteil. Die Klinkerhäuser standen fast alle in Ost-West-Richtung, um dem Westwind eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten. Sie bewohnte das alte Haus ihrer Urgroßeltern. Selbst einige alte Möbelstücke gab es heute noch. Eigentlich sollte das seinerzeit Stefan, ihr zwei Jahre älterer Bruder erhalten, aber der lebte in Hamburg, kam nur zu Besuch auf die Insel. Stefan wollte, dass sie es bekam. Schließlich sollte es seiner kleinen Schwester an nichts Fehlen, hatte er sie geneckt. Er fehlte ihr zuweilen sehr. Mit ihm konnte sie über alles reden. Er sah ihr an, wenn etwas nicht stimmte. Er war ihr Vertrauter, der mehr als selbst ihre Freundinnen von ihr wusste. Nur seine blöde Frau hielt ihn davon ab, dass er sie öfter besuchte, ihr mehr Geld zusteckte. Sie hatte ihre Schwägerin vom ersten Moment an gehasst. Als Lehrerin verdiente diese blöde Gans mehr als sie, dann hatte die noch von den Eltern Geld bekommen, als Stefan baute. Die hatte ihren Bruder förmlich aufgelauert, ihm ein paar Jahre später sogar die zwei Gören angehangen, nur damit der bei ihr blieb. Überall schleimte die sich ein, sogar bei ihren Eltern. Selbst ihre Kinder jubelten, wenn die Familie zu Besuch nach Sylt kam. Dabei war die Schlampe zu blöde, die beiden Flegel zu erziehen. Sie hatte Stefan schon so oft gesagt, was das für eine war, aber er wollte sich nicht trennen, lachte sie nur aus, weil sie spinnen würde. Sie setzte sich auf die Wiese, da die blöde Gartenarbeit sie anödete,

Nun wanderten ihre Gedanken zum wiederholten Male zu Sven. Wie es ihm wohl dort erging? Er, der Sonnyboy, eingesperrt in eine karge Zelle. Warum hätte er die junge Frau töten sollen? Er hatte Hunderte Frauengeschichten, wie man hörte, las und niemals war es deswegen zu einem Skandal gekommen. Er gab nie eine längere Beziehung, so viel sie wusste. Warum ergo sollte er dermaßen ausrasten und eine Frau töten? Das passte einfach nicht zu ihm. Damals war er ein Kavalier. Aufmerksam, höflich, stets freundlich, gut gelaunt. Ihn brachte nichts aus der Ruhe. Er war beliebt bei Jungen und Mädchen. Eben ein Sonnyboy. Dank des Reichtums seiner Großeltern und Eltern hatte er nie wirklich arbeiten müssen, obwohl er Rechtsanwalt war. Auch das wusste sie aus der Zeitung. Dass er nie arbeitete bei all dem vielen Geld, war generell jedem klar.

Nur sie konnte nicht abschätzen, ob er sich nicht im Laufe der Jahre verändert, wie er gelebt hatte. In ihren Augen war er der Schulfreund, der Junge, den sie geliebt und mit den sie wunderschöne Wochen verlebt hatte. Sie hatte sich da im Laufe der Jahre, so wie auch bei Krischan, eine andere Geschichte zusammen gesponnen. Die war für sie inzwischen Realität. Die Wahrheit verdrängte sie auch jetzt.

„Mama, Mama.“

„Ich bin draußen“, hockte sie sich rasch hin und begann mit spitzen Fingern Unkraut herauszuziehen.

Der 12-jährige Bent kam angerannt. „Hab ne eins gekriegt.“

„Moin, mein Großer. Fein. Wieso bist du schon daheim?“

„Sind die letzten Stunden ausgefallen. Die haben alle Grippe oder so.“

„Für was die eins?“

„Aufsatz über Kairem.“

Sie schmunzelte. „Was hast du über Keitum geschrieben?“

„Na alles. Im 17. und 18. Jahrhundert haben sich hier zahlreiche wohlhabende Kapitäne angesiedelt, so wie Opas Opa und das deswegen viele reiche Leute hier wohnten. Dass es viele sehr alte Friesenhäuser mit Friesenwällen gibt und alte Bäume. Na und über die Mönchsmarsch, den Hafen, die Kornmühle.“

„Super. Ich lese mir den nachher durch. Hast du Hausaufgaben auf?“

„Wir müssen bis nächste Woche ein dusseliges Gedicht lernen. Wir nehmen Pidder Lüng durch.“

„Frii es de Feskfang, frii es de Jaght, frii es de Strönthgang, frii es de Naght, frii es de See, de wilde See en de Hornemmer Rhee.“

„Kann ich schon. Der Amtmann von Tønder, Henning Pogwisch, schlägt mit der Faust auf den Eichentisch: Heut fahr´ ich selbst hinüber nach Sylt und hol´ mir mit eigner Hand Zins und Gült. Mehr kann ich nicht.“

„Und kann ich die Abgaben der Fischer nicht fassen, sollen sie Nasen und Ohren lassen, und ich höhn ihrem Wort: Lewwer duad üs Slaav.

Im Schiff vorn der Ritter, panzerbewehrt, stützt er sich finster auf sein langes Schwert. Hinter ihm, von der hohen Geistlichkeit, steht Jürgen, der Priester, beflissen bereit. Er reibt sich die Hände, er bückt den Nacken. Der Obrigkeit helf ich, die Frevler zu packen, in den Pfuhl das Wort: Lewwer duad üs Slaav.

Gen Hörnum hat die Prunkbarke den Schnabel gewetzt, Ihr folgen die Ewer, Kriegsvolk besetzt. Und es knirschen die Kiele auf den Sand, und der Ritter, der Priester springen ans Land. Waffenrasselnd hinter den beiden, entreißen die Söldner die Klingen den Scheiden. Un gilt es, Friesen: Lewwer duad üs Slaav.

Die Knechte umzingeln das erste Haus, Pidder Lüng schaute verwundert zum Fenster heraus. Der Ritter und der Priester treten allein über die ärmliche Schwelle hinein. Des langen Peters starkzählige Sippe sitzt grad an der kargen Mittagskrippe. Zeige dich, Pidder: Lewwer duad üs Slaav.

Der Ritter verneigt sich mit hämischem Hohn. Der Priester will anheben seinen Sermon. Der Ritter nimmt spöttisch den Helm vom Haupt und verbeugt sich einmal: Ihr erlaubt, dass wir euch stören bei euerm Essen. Bringt hurtig den Zehnten, den ihr vergessen, und euer Spruch ist ein Dreck. Und was kommt nu?“

„Lewwer duad üs Slaav.“

„Gut. Jeden Tag zwei Strophen lernen, und du kannst es. Bring deinen Rucksack hinein. Du weißt, wir fahren nachher einkaufen?“

„Ja, aber um drei muss ich am Stall sein, sonst meckert Jochen.“

„Seid ihr diese Wochen dran?“

„Hhmmm.“

„Ich fahre dich hin, damit die Äpfel endlich wegkommen. Hier vergammeln sie und die Gäule freuen sich darüber.“

„Cool.“

Belustigt schaute sie ihm nach, wie er ins Haus flitzte. Nun widmete sie sich seufzend der Gartenarbeit.

Abends, als die Kinder schliefen, saß sie am Schreibtisch und las Artikel, die sie im Internet über Sven fand. Seine erfolgreiche Teilnahme an Poloturnieren und Katamaran-Segel-Wettbewerben. Die Verleihung der Doktorwürde, etwas über seine neue Yacht, die er aus dem Grunde von seiner Familie geschenkt bekam. Es gab einen geplatzten Prozess, da er kurzfristig sein Mandat niedergelegt hatte und natürlich zig Beiträge über seine Partys mit Prominenten und den unzähligen Frauengeschichten.

Diese Geschichten kannte sie alle, da sie die immer förmlich verschlungen hatte. Es hatte ihr jedes Mal einen Stich versetzt. Sie hatte sich oft vorgestellt, dass sie an solchen Festlichkeiten teilnehmen würde, wie sie diejenige war, die er in den Arm nahm, die an seiner Seite abgelichtet wurde, wenn man in einen der berühmten Restaurants aß. Aber er hatte sie nie eingeladen. Kein Wunder, da sie verheiratet war. Gebundene Frauen waren nie dabei, so viel sie wusste. Mangel an weiblicher Begleitung hatte er generell nicht, da jede zu gern bereits war, wenn er Interesse an ihr zeigte. Nur war anscheinend nie die richtige Frau für ihn dabei gewesen. Nie hatte sie gelesen, dass er länger liiert war. Oft hatte sie sich gefragt, warum nicht? Über drei Jahre hatte sie gar nichts über ihn gelesen, hatte sich oft gefragt, was er nun machte. Sie hatte bisweilen bei den Andresens vor dem Grundstück gewartet und ihn kurz gesehen. Gut schien es ihm zu gehen. Dann vor drei Wochen der Artikel über seine ausschweifende Party mit diesen Dirnen. Sie grinste vor sich hin, als sie den letzten Artikel vom Donnerstag las. Warum man so lange nichts über ihn las, wusste sie immer noch nicht. Vielleicht war er ja im Ausland gewesen oder so. Egal! Jetzt saß er für immer im Knast. Der einzige Erbe des Andresen-Vermögens im Knast. Es gab folglich nur eine Erbin, wenn der Alte nun sterben würde, da Sven sonst keine Kinder hatte. Das Berit einen Mörder zum Vater hatte, war bei dem riesigen Vermögen unwichtiger Kram. Egal! Sie war endlich reich, konnte sich alles kaufen, musste nie wieder arbeiten. Sie überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis sie ein Teil des Geldes bekam. Sie sollten Berit erst einmal zehn Millionen überweisen. Zehn Millionen! Zehn Millionen! Nun fing sie an zu grübeln, sprang auf, holte einen Zettel, einen Stift und begann zu schreiben. Was sie als erstes Wichtiges benötigte. Ach, was es jetzt alles zu erledigen gab. Den Kahn musste sie verkaufen, ein neues größeres Boot bestellen. Seine Kanzlei in Hamburg auflösen, sich um seine Eigentumswohnung kümmern, die teilweise neu einrichten. Sie musste sich informieren, was der beste und teuerste Jeep war. Das Cabrio wollte sie nur bei schönem Wetter fahren.

~~~~~

Sie hatte kaum geschlafen, da sie der Mord an der Frau zu sehr beschäftigte. Heute Morgen las sie, dass die Frau erdrosselt worden war. Der Tod war durch die Unterbrechung des Blutstromes zum Gehirn eingetreten. Erst folgend habe man den Leichnam ins Wasser geworfen, wie die Obduktion ergeben hatte.

Sie hatte immer gedacht, wenn man jemand erwürgt, dann bekommt derjenige keine Luft mehr und stirbt deswegen. Sie schaute fix im Internet nach.

Oh je, da gab es Unterschiede zwischen Erwürgen und Erdrosseln. Bei Erdrosseln stand weiter: Es gab Stauungsblutungen im Bereich der Augenbindehäute, Nasenschleimhäute, Trommelfell, Gesichtshaut, Augenlider, hinter den Ohren. Voraussetzung für das Auftreten: sistierter venöser Abfluss bei zumindest teilweise erhaltener arterieller Zufuhr. Deshalb fehlen Stauungsblutungen beim typischen Erhängen, sie sind aber ausgeprägt beim Tod durch Drosseln und Würgen, stand da weiter. Sie verstand nicht, was die damit ausdrücken wollten. Na gut, war ja auch egal.

Sie stellte sich Sven vor, wie er die Frau erdrosselte, solange etwas zuzog, bis sie tot umfiel. Snaks! Das passte nicht zu ihm - oder doch?

Wie lange dauerte so was eigentlich?

Nochmals suchte sie: 8 bis 15 Sekunden hieß es auf einer Seite. Woanders 10 bis 20 Sekunden, bei anderen gab man keine Zeitangaben an. Egal! Dafür bekam er lebenslänglich. Sie lehnte sich zurück, versuchte, sich das vorzustellen, aber es wollte ihr nicht gelingen.

Stella wollte gerade zu töpfern beginnen, als sie Carla vorfahren sah. Was wollte diiiee denn zu so früher Stunde? Die nervte!

„Moin“, gab sie ihr einen Kuss. „Ich habe etwas überlegt.“

„Magst du einen Kaffee?“

„Einen Großen. Also pass auf. Wir müssen mehr über die Tote herausfinden. Wissen wir etwas über sie, kann man daraus Rückschlüsse ziehen. Also, ab ins Internet.“

„Das bringt doch nichts. Weißt du, was die Andresens für Anwälte nehmen? Nur die Besten und die werden das alles überprüfen.“

„Das sind Dösbaddel. Die und die Polizei gehen nach dem gleichen Schema vor. Zeugen befragen und ende. Wir durchleuchten das Opfer, anschließend den angeblichen Täter - fertig. Sieht man in jedem Krimi.“

Stella stellte ihr kopfschüttelnd den Laptop hin. „Hast du keine Gästeliste?“

„Nein. Judith Meyer“, tippte Carla. „Schiet! Da gibt es über eine Million Einträge.“

„Kannst du vergessen.“

„Nu warte ab. Sei nicht so pessimistisch. Also die Erste ist eine Designerin. Können wir wohl ausschließen.“

„Gib Berlin dazu ein. In der Zeitung stand was von Berlin.“

Abermals tippte sie. „Gibt’s noch jede Menge. Warum muss sie einen Allerweltsnamen haben?“

Stella lachte. „Du bist ein Dösbaddel.“

„Du ein Döskopp! Also, sie ist eine Schwarzhaarige. Sie kann es folglich nicht sein, da die Tote blond war und schlanker. Die Nächste eine Friseuse, aber zu alt. Hast du eine Tafel Schokolade? Da kann ich besser denken.“

„Ja. Carla, du willst ja wohl nicht Tausende von Internetseiten durchsuchen?“

„Gerade junge Dinger haben heute alle irgendwo bei Facebook, Twitter, oder wie das Tügs heißt, ein Bildchen von sich eingestellt. Tore sagte auch, nur so können wir mehr über sie herausfinden. Sie wäre gewiss nicht allein auf der Insel gewesen, sondern mit einer Freundin. Diese Frau müsste man finden und mit ihr reden. Joost kennt den alten Richard gut und er will probieren, ob er ihm da mehr erzählt. Ich habe ihm gesagt, dass wir mit Sven zusammen in der Schule waren und wir es deswegen wissen wollen.“ Carla grinste.

„Weißt du was, der hat kontinuierlich den gleichen Frauentyp abgeschleppt.“

„Nee, damals hatte er auch Dunkelhaarige. Sinja war da eher sein Typ. Deswegen hatte er uns doch zu der Abifeier eingeladen. Er war immer schrecklich in Sinja verliebt, wollte sie.“

„Sinja und Sven?“, erkundigte sich Stella entsetzt, lachte plötzlich. „Mensch, der nimmt nur sehr hübsche Frauen mit.“

„Du bist gehässig oder neidisch. Sinja ist eine Schönheit. Bei ihr konnte er nur nie landen, weil sie nicht die Sorte war, die sich sofort abschleppen ließ. Ich war gestern und heute Morgen als Detektiv unterwegs. Es gibt Tausende Artikel über ihn und dazu viele Bildchen mit seinen Frauengeschichten. Es sind stets Blondinen. Alle dein Typ. Blonde Haare, blaue Augen, die meisten zierlich, schlanker als du, hübsch aussehend.“

„Was heißt schlanker als ich? Meine Figur ist perfekt. Deswegen warst du nie sein Geschmack“, setzte sie gehässig nach.

„Präzise formuliert. Eigentlich schade. Ich war damals schrecklich in ihn verknallt. Hast du es jemals bereut? Übrigens hast du zu kurze Beine und perfekt ist niemand. Du bist zu klein für dein Gewicht. 8 bis 10 Kilo weniger, dann wärst du eher sein Typ. Ich sagte zierliche Frauen und als zierlich kann man dich gewiss nicht bezeichnen. Guck auf deine Oberschenkel. Da kriegst du bereits überall Cellulitis. Du solltest mehr Sport treiben.“

Stella sah ihre Freundin verärgert an, schob es beiseite. Das war der pure Neid. Sie trank den Kaffee, überlegte. „Nein, nie. Ich bin erschrocken, als ich Berit das erste Mal sah. Bereut habe ich es trotzdem nicht. Ich habe viele intensiv schöne Wochen mit ihm verlebt. Viel mehr Zeit habe ich in meiner Ehe mit Krischan nie verbracht. Ich kam mir irgendwie akzeptiert vor, nicht nur wie ein Etwas, das man eben kurz mitnimmt. Er war so, wie Stefan mit mir umgegangen ist.“

Ihre Freundin blickte sie nachdenklich an. „Du meinst so liebevoll, vertraut, eben als Ganzes wahrgenommen und geliebt zu werden?“

„Ja, obwohl man bei Sven nicht von Liebe sprechen konnte, mehr Verliebtheit. Der Auslöser war die Gelegenheit, vermutlich mein tolles Aussehen. Nur davon hat man nichts bemerkt. Er war eben charmant, wir konnten uns gut unterhalten, lachten zusammen, selbst über uns. Er war so liebevoll, aufmerksam, rührend um mich besorgt. Wie ich sagte, es existierte eine gewisse Ähnlichkeit mit Stefan. Der fehlte mir damals schrecklich. Besonders das erste Jahr ohne ihn fand ich fürchterlich. Mein großer Bruder war immer da gewesen, hatte mich getröstet, auf meiner Seite gestanden, wenn ich Ärger mit den Eltern bekam. Er hat mir Schwimmen, Reiten, Segeln, eben alles beigebracht. Sicher gab es bisweilen Streit, aber der war fix vergessen. Stefan war nicht nur mein Bruder, sondern mein Freund, mein Vertrauter, mein Berater, Beschützer, einfach alles. Diesen Platz hat irgendwie in meiner Fantasie für diese Wochen Sven eingenommen, dazu natürlich der erste feste Freund. Krischan habe ich nie als Freund gesehen. Er war da, kam kurz vorbei, weil die Eltern beschlossen, ihr heiratet später. Zwischen Krischan und mir lagen immer Lichtjahre. Ich war für ihn die dumme Kleine, die erst erwachsen werden muss. Es gab nichts, über das wir reden konnten. Er hatte generell völlig andere Interessen als ich. Meine Dinge waren ihm immer schietegal. Ich habe ihn nach Stefans Weggang zwei-dreimal etwas Schulisches gefragt, da meckerte er nur, ich solle ihn mit dem Kinderkram in Ruhe lassen. Ergo wurstelte ich mich allein durch und das ist bis heute so geblieben. Er taucht hier auf, fragte, alles in Ordnung? Sage ich, diese oder jenes ist passiert, winkte er ab, ich solle ihn mit den Tügs in Ruhe lassen, da er sooo anstrengende Wochen hinter sich hatte.“

Carla lehnte sich zurück. „Warum lässt du dich nicht scheiden? Du bist verheiratet, aber real nicht. Was habe ich von einem Mann, der nie da ist?“

„Wir haben zwei Kinder. Krischan hat mich wegen Berit nie verraten, zu mir gestanden. Er hat mich geheiratet, als ich schwanger war. Ich wusste vorher, was er beruflich arbeitet, obwohl ich mir meine Ehe so nie vorstellte.“

„Das ist ja alles lobenswert, aber trotzdem musst du deswegen nicht dein eigenes Leben hinten anstellen?“

„Egal! Was ist nun mit der Meyer?“, lenkte Stella ab. „Wenn diese jungen Dinger bei Facebook, Twitter oder wie diese Dinger heißen, gelistet sind, warum versuchst du es nicht einfach dort?“

„Gehst du auf die Seite, wollen die sofort, dass du dich registrierst. Meinen Namen und Daten kriegen sie bestimmt nicht. Die vermarkten die Daten sofort.“

„Ich muss arbeiten, da die Touristen trotz toter Frau kaufen. Lina meinte, sie stürmen förmlich her, nur um zu sehen, wo man die Leiche gefunden hatte.“

„Bekloppt! Ich komme mit in die Werkstatt.“

„Ich habe sie entdeckt“, jubelte Carla zwei Stunden später.

„Erzähle. Ich kann nicht unterbrechen.“

„Hei, ich bin Judith, süße 18 Jahre alt. Ich biete dir einen schönen Abend.“

„Wie? Das hört sich nach Prostitution an.“

„Du siehst sie fast nackt. Hier steht, sie lebte in Hamburg. Körbchengröße D, Taille 58, Hüfte 68, 1,72 und sie erfüllt dir gern deine Wünsche.“

„Sven hat sich mit einer Nutte eingelassen? Eine Braut für Sex gekauft? Das hätte ich nu nie erwartet. Warum dann so eine hässliche Gans?“

„Eventuell wusste er das nicht? Sie war hier, er hat sie gesehen und eingeladen oder so. Warum sollte er sich eine von der Sorte kommen lassen? Sie sah übrigens schnuckelig aus. Ich gucke, ob ich mehr über sie finde.“

Stella erwiderte nichts, schüttelte nur den Kopf. Dass er sich mit solchen Weibern einließ, war irgendwie ein Schock für sie. Der Kerl war irre oder so. Er hätte nie diese ganzen Tussis gebraucht, hätte sie haben können. Dabei hätte er noch viel Geld gespart. Was sie sich davon alles Schickes hätte kaufen können?

„Aha. Sie war bei einem Escortservice gelistet. Da heißt es, sie wäre 22 Jahre alt, sehr gebildet und würde jeden Mann bereichern, der sich in ihrer Gegenwart zeige. Da ist sie abgebildet zu sehen. Richtig aufgebrezelt.“

„Ich denke, die Tussis gehen nur mit den Männern weg?“

„Ja, erst, danach ab in die Kiste.“

„Was du alles weißt?“, amüsierte sich Stella.

„Hab ich in einem Krimi gesehen. Da hat man eine von einem Escortverein umgebracht. War der Freund aus Eifersucht.“

„Vielleicht hatte sie einen Mann oder so?“

„Das wüsste die Polizei. Ob die wissen, was sie in Wirklichkeit gemacht hat?“

„Keine Ahnung. In der Zeitung stand nichts davon. Da hieß es nur, sie wäre seine Freundin gewesen. Wieso ist sie einmal 18, das nächste Mal 22?“

„Deern, du bist naiv. Süße 18 verkauft sich besser als normale 22. Denkt jeder Kerl, die hatte noch nicht viele Lover. Mann, das ist ja ein Ding“, staunte Carla laut.

„Was hast du gefunden?“

„Sie hat man wegen Kokainbesitz festgenommen und verurteilt. Das war vor zwei Jahren. Sie hat seinerzeit eine Bewährungsstrafe bekommen. Da lebte sie in Berlin. Steht in der Zeitung. Damals war sie bereits 23.“

„Sag mal, bist du sicher, dass das dieselbe Tussi ist? Eine 25-Jährige sieht doch nicht mehr wie 18 aus?“

„Logo. Sind Fotos bei. Ich hab´s. Bei Facebook war sie auch. Da wurde sie angeblich 1986 in Berlin geboren. Unwichtig. Da stehen alle möglichen Namen.“

„Carla, ich denke, da gehst du nicht rein?“

„Heiße momentan Hildegard Müller und wohne in Köln“, amüsierte die sich. „Muss ich ja, sonst finde ich nichts. Hast du bitte einen Stift?“

„Im Schreibtisch.“ Stella schaltet die Scheibe aus, schnitt die Vase ab, die sie auf die Platte legte. Mit schmutzigen, nassen Fingern guckte sie auf den Laptop. Dem kleinen Foto nach zu urteilen, konnte es die Tote sein.

„Ich suche mir die Freundinnen raus, ob ich etwas über sie entdecke. Sie war bestimmt nicht allein hier?“

„Wenn Sven sie hat kommen lassen, schon.“

„Snaks! Er hätte jede Frau umsonst abgeschleppt, da lässt er sich doch keine Prostituierte aus Hamburg kommen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich kenne ihn.“

„Ja, da waren wir Schüler, Jugendliche. Weißt du, wie der sich in den letzten fünfzehn Jahren verändert hat?“

„Ja. Das passt nicht zu ihm und gerade du müsstest das wissen. Mensch Stella, er brauchte bloß die Hand ausstrecken und hatte an jedem Finger eine. Er sieht verflixt gut aus, verfügt über Charme, Charisma, Intelligenz, nicht zu vergessen, er ist reich, hat einen Sportwagen, ein Boot und so weiter. Eben ein Playboy. Er ruft nicht irgendwo an, damit eine tolle, schöne Frau zu ihm kommt. Sie hat er an irgendeinem Ort auf der Insel gesehen und mitgenommen.“

„Na gut. Du wirst es ja wissen. Mach.“

„Hier, die Frau könnte es sein“, triumphierte Carla laut. „Tamara, auch süße 18, Hamburg. Sie hat BH C, Taille 57, Hüfte 61 und ist 1,74 groß. Dürre.“

„Sag ehrlich, das hört sich an, als wenn ich eine Waschmaschine kaufe. Länge, Breite, Höhe.“

Carla lachte. „Döskopp, die Männer wollen doch wissen, für was sie ihr Geld ausgeben, so wie du für eine Waschmaschine. Tore hat neulich erzählt, es gibt Waschmaschinen, die mit dir reden. Du sagst Buntwäsche, dann fragt sie, 30, 40 oder 60 Grad. Jedenfalls so ähnlich. Wir waren bei Tamara.“ Sie drehte die langen braunen Haare geschickt zu einem Knoten und schaute auf den Monitor. „Nun suche ich, ob sie zufällig bei diesem Escortservice arbeitet.“ Sie tippte rasch und jubelte. „Ich wusste es. Ich habe sie gefunden und nun schaue ich nach, was ich sonst über diese Tamara finde. Die beiden Frauen haben über dreitausend Facebook-Freunde. Bilder siehst du fast nur von Männern, wenn man da so forstet.“

„Na logisch. Jeder will eine Frau, süße 18, mit ein wenig Figur und mittelmäßigem Aussehen.“

„Sie sahen sehr gut aus, nicht nur mittelmäßig. Ob da auch Lover bei sind? Ich meine solche Herren, die für die Dienste bezahlten?“

„Woher soll ich das wissen?“, amüsierte sich Stella. „Eventuell aber ihr Mörder.“

Carla guckte entsetzt zu der Freundin. „Du meinst, einer von den sogenannten Freunden könnte der Mörder sein? Schiet!“

„Er weiß ja nicht, dass du ihm nachspionierst.“

„Döskopp! Irgendwas war da mal im Fernsehen. Da hat sich ein junges Mädchen mit so einem Kerl aus dem Internet getroffen und der hat sie abgemurkst. Mensch, den müssen wir finden.“

„Wen, den Mörder von damals?“, lachte Stella. „Klar, gib ´ne Anzeige auf und er meldet sich postwendend.“

„Dösbaddel! Man benötigt ein zweites Gerät, dann könnte man die Bildchen der Herren von Judith und Tamara vergleichen.“

„Jemand, der auf Blondinen steht, nimmt keine dunkelhaarige Frau in Anspruch. Vermute ich zumindest. Wer sagt dir übrigens, dass es ein Mann war?“

„Du denkst … Coole Idee! Es war eine Frau, die herausgefunden hat, dass ihr Mann was mit ihr hatte. Eifersucht ist immer ein ganz großes Motiv neben Geldgier natürlich, habe ich gelesen.“

„Sicher. Sie schleicht sich auf Svens Boot, wartet, bis die Frau mit dem Sex fertig ist, und bringt sie um. Carla, lass es. So wird das nie etwas. Du brauchst eine Gästeliste, damit man weiß, wer alles von der Prominenz an Bord war.“

„Snaks! Über diese Tamara gibt es nichts weiter. Nur dass sie bei dem Escortservice bereits 24 ist. Die preisen sie als sehr gebildete Dame mit Stil an. Sie habe ein Faible für Opern, Kunst im Allgemeinen, könnte sich perfekt auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen.“

„Woher willst du nun wissen, dass die Person ebenfalls auf dem Boot war?“

„Weibliche Intuition. Wenn sie keiner engagiert hat, dann sind sie so hergekommen. Sie beabsichtigten nur, ein schönes Wochenende hier zu verleben. Sie wollten Männer anbaggern. Reiche Herren. Die findet man gerade um diese Jahreszeit an den bekannten Plätzen reichlich. Sven sieht diese Judith und sie passt in sein Beuteschema. Er lädt beide auf sein Boot ein. In das Getümmel huscht der Mörder hinauf. Der wartet nun auf eine günstige Gelegenheit und Exitus. Sie wirft er ins Wasser und verschwindet.“

„Sag mal“, Stella hielt inne, ließ die Töpferscheibe weiter drehen. „Wieso ist diese Dirne nach dem Sex mit Sven überhaupt an Deck gegangen?“

„Gute Frage. Ein Klo hat der bestimmt nebenan. Vielleicht hat oben der Mann auf sie gewartet, der sie bezahlte und sie wollte den Lohn abholen? Oder sie ging hinauf, um nur frische Luft zu schnappen. Du musst dir das anders vorstellen. Sie hat mit ihm aus geschäftlichen Gründen geschlafen. Da kuschelt man danach nicht, schläft in den Armen des anderen ein. Nummer absolviert, Kunde befriedigt, Vertrag erledigt.“

„Hört sich gruselig an.“ Sie formte nun die Vase weiter.

„Ist eben ein Geschäft.“

„Nur dann muss Sven die Braut doch gebucht haben. Ekelig!“

„Oder der Mörder, um sich an Sven zu rächen, oder weil er die Frau loswerden wollte. So konnte er jemand den Mord unterschieben. Sven! Nun weiter zu Tamara. Ich gucke, wer da alles bei beiden Frauen gelistet ist.“

„Carla, die Gästeliste wäre da wichtiger. Die Leute werden genau von seinem Personal kontrolliert, bevor sie seine Yacht betreten dürfen.“

„Du spinnst, Stella. Dienerschaft gibt es da nicht.“

„Natürlich. Die Andresens haben für alles Angestellte. Da macht keiner einen Handschlag.“

„Weißt du?“, fragte Carla spöttisch. „Es gibt keine Gästeliste und die wäre eh unwichtig. Du hörst dich so an, als wenn du Sven das zutrauen würdest.“

Stelle erwiderte nichts.

Erst mittags ging Carla, als Bent aus der Schule kam.

„Mama, hör zu. Frii es de Feskfang, frii es de Jaght, frii es de Strönthgang, frii es de Naght, frii es de See, en de Hornemmer Rhee. Ein dänischer Steuereintreiber hatte Pidder Lüng und seine Eltern, die in ihrer Hörnumer Hütte gerade beim Abendmahl saßen, bös gedemütigt und zu guter Letzt noch in den Topf gespuckt, in dem frischer Grünkohl dampfte. Da sprang der junge Pidder erbost auf, rief: Wer in den Kohl spuckt, der soll ihn fressen. Er drückte das Gesicht des Steuereintreibers lange in den dampfenden Kohl, bis sich der Zappelnde nicht mehr rührte. Auf der Flucht vor seinen Häschern verließ Pidder schleunigst die Insel und kreuzte mit Gleichgesinnten ruhelos übers Meer. Doch nach einiger Zeit wurde aus dem Heroen ein gemeiner Seeräuber, mit dem es ein böses Ende nahm: Auf Sylt wurde Pidder Lüng vor Gericht gestellt. Sein Lebenslicht und das von sechs seiner Spießgesellen verlöschten auf dem Galgenhügel bei Munkmarsch. Nun sollen wir daraus eine Geschichte basteln. Mindestens eine DIN-A4-Seite.“

„Auch wenn man es sich vielleicht nicht vorstellen kann, so gut, wie es den Bewohnern der Insel Sylt heute geht, war es nicht immer. Es gab Zeiten, in denen die Hörnumer Bürger nicht heiraten konnten, weil sie weder Wohnungen noch Möbel besaßen, da die Arbeit fehlte und sie überwiegend vom Fischfang lebten. Jakob Lüng hatte etwas Geld, da er ein Schiff besaß. Eines Tages kam ihr Sohn Peter auf die Welt. Eben jener Pidder, wie man ihn überall nannte. Die Fischer trieben ständig ihre Späße mit dem Kind, um sich ein wenig ihre lange Zeit zu vertreiben. Wenn Pidder bemerkte, dass sie ihn wieder einmal nur veräppelten, wurde er traurig und missmutig. Bald vertraute das Kind niemandem mehr mit Ausnahme seiner Eltern. So wurde Pidder Lüng mit den Jahren eigensinnig und misstrauisch, widerspenstig, aber auch hartnäckig. Er half seinem Vater beim Fischfang, sobald er den Kinderschuhen entwachsen war. Eines Abends hatte der junge Mann ein unheimliches Erlebnis. Pidder war zu dem Ort gegangen, an dem einst das Haus seines Großvaters gestanden hatte. Gerade zu dieser Zeit waren die ersten Vögte auf Veranlassung des Pfarrers auf die Insel gekommen. Als Pidder nun über das Grundstück seines Großvaters schaute, da entdeckte er eine Gestalt im Dunkeln. Je genauer er dieses Wesen anschaute, desto deutlicher konnte Pidder es erkennen. Wer bist du, fragte er nach einer ganzen Weile. Das Wesen antwortete: Ich bin die Stavenhüterin. Dort wo einst rechtschaffene und freie Menschen lebten, da bewache ich die Stätte ihres Wirkens, damit der Ort nicht durch Lug und Betrug, durch Unrecht und Unterdrückung entweiht wird. Und nach einer Weile fügte die Stavenhüterin hinzu: wenn doch nur Jens Lüng leben würde. Da horchte Pidder auf: Jens Lüng? Das war mein Großvater, sagte er. Wie schön wäre es, antwortete da die Stavenhüterin, wenn du wie dein Großvater Friesland vor der näherkommenden Verwüstung, vor allen Ärgernissen retten könntest. Wenn du eintreten würdest für Tugend und Freiheit. Und wenn du dein Leben geben würdest für die gute Sache, wie es einst deine Vorväter getan haben. Lewwer duad üs Slaaw – lieber tot als Sklave, sagten diese Männer stets. Pidder war tief erschüttert und schwor, sein Leben in den Dienst der Freiheit der Friesen zu stellen. Nach diesem Schwur verschwand die Stavenhüterin plötzlich.

Es kam jener Tag, der das Leben der Inselbewohner drastisch verändern sollte. Pidder hatte an jenem Morgen für seine Mutter Grünkohl aus Westerland geholt, weil dieser Kohl auf der Erde in Hörnum nicht besonders gut wuchs. Vater und Mutter Lüng liebten Grünkohl über alle Maßen und deshalb hatte es dem Sohn, der inzwischen 26 Jahre alt war, nichts ausgemacht, die schwere Last den weiten Weg zu tragen. Am nächsten Tag kochte die Mutter das Kraut und abends saß man gemütlich beisammen, um sich das Mahl schmecken zu lassen. Plötzlich öffnete sich ohne vorheriges Klopfen die Tür zur Stube und ein junger Mann in kostbarer Kleidung trat ein. Begleitet wurde er von jenem Pfarrer, dem die Fischer einst übel mitgespielt hatten, dem Landvogt von Hörnum und dem Strandvogt von Rantum.

Der gut gekleidete Mann polterte gleich los: Dort wohnt jenes Gesindel, das sich Gott und den Oberen nicht unterwerfen möchte? Daraufhin ließ Pidders Mutter vor lauter Schreck den Löffel in den Grünkohl fallen und Pidder zerbrach seinen vor lauter Wut. Doch er sagte nichts. Nur sein Vater antwortete: Wir sind kein Gesindel, sondern gottesfürchtige Fischer. Wer aber seid Ihr, der es wagt, in das Haus eines freien Friesen ohne Aufforderung einzudringen? Da staunte der gut gekleidete Jüngling nicht schlecht. So, so. Ihr wollt also wissen, wer ich bin? Ich bin der Sohn des Amtmanns Henning Pogwisch in Tønder und bin hier, um Euch Gehorsam beizubringen und Euch für Euer rebellisches Verhalten zu strafen. Kaum hatte der Sohn des Amtmanns seine Worte gesprochen, da kroch ein Husten in seiner Kehle empor, der ihn stark röcheln ließ. Um sich zu befreien, aber auch, um seinem Ärger Luft zu machen, spuckte er aus voller Seele in den Kohltopf der Familie Lüng. Das war zu viel für Pidder. Glühend und zitternd vor Zorn stand er auf, packte den Amtmannssohn und stülpte ihn kopfüber in die Kohlschüssel. Dabei sprach er die Worte: Wer in den Kohl spuckt, der soll ihn fressen. Klar, dass der Pogwisch dieses Attentat nicht überlebte. Seine Begleiter verließen sofort das Haus. Diejenigen, die draußen gewartet und es sich dort richtig gemütlich gemacht hatten, kamen nun in Aufruhr. Jene unleidigen Gesellen wie Henker, Fußknechte und Diener hatten nämlich längst damit begonnen, die Plätze, an denen normalerweise die Fische nach dem Fang getrocknet wurden, für ihre eigene Beute vorzubereiten. Hier hängen wir die Strandräuber, riefen sie nun. Doch die Herren machten die Rechnung ohne die Fischer. Denn die waren längst nicht gefangen und hatten auch nicht vor, sich von diesen Gesellen des Amtmanns fangen zu lassen. Abgaben wollt Ihr von uns haben, riefen sie aufgebracht. Wir wollen Euch gut entlohnen. Nun griffen die Fischer die Schwänze der Giftrochen und hieben damit auf die Knechte des Amtmanns und seiner ganzen Gefolgschaft ein. Pidder bestieg das Boot seines Vaters und flüchtete über das Meer. Jahrelang soll er sich nicht mehr nach Hörnum gewagt haben. So erzählte man zumindest.