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Das Haiku-Jahrbuch 2015. Eine Auswahl deutschsprachiger Haiku, für das Projekt Haiku heute herausgegeben von Volker Friebel. Aus tausenden Texten ausgewählt 606 Haiku von 120 Autoren, eine Haiku-Sequenz sowie 9 Tan-Renga. Haiku heute ist ein Projekt zur Förderung des deutschsprachigen Haiku. Die Präsenz Haiku heute erstellt aus eingereichten Texten Auswahlen. Die Jahrbücher, von denen hier das dreizehnte vorliegt, wollen eine Auswahl der besten Haiku jedes Jahres versammeln und so einen Überblick zum Stand der deutschsprachigen Haiku-Dichtung geben. Dazu werden jedes Jahr auch Haiku außerhalb der Monatsauswahlen aufgenommen.
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Haiku heute
Zwiegespräch mit dem Irrlicht
Haiku-Jahrbuch 2015
Herausgegeben von Volker Friebel
Edition Blaue Felder, Tübingen
Haiku heute ist ein Projekt zur Förderung des deutschsprachigen Haiku. Die Präsenz www.Haiku-heute.deerstellt aus eingereichten Texten Auswahlen. Die Jahrbücher, von denen hier das dreizehnte vorliegt, wollen eine Auswahl der besten Haiku jedes Jahres versammeln und so einen Überblick zum Stand der deutschsprachigen Haiku-Dichtung geben. Dazu werden jedes Jahr auch Haiku außerhalb der Monatsauswahlen aufgenommen.
Alle Rechte bei den Autoren.
Edition Blaue Felder, Volker Friebel,
Denzenbergstraße 29, 72074 Tübingen (Deutschland).
www.Volker-Friebel.de
www.Haiku-heute.de
Redaktion, Foto und Gestaltung: Volker Friebel.
Veröffentlichung: Mai 2016.
Inhalt
Vorwort
Haiku
Tan-Renga
Haiku-Sequenz
Autoren
Herkunft der Texte
Vor dem Fenster blühen Kirschen, flöten Amseln, Blütenblätter tanzen im Wind – ein Haikumoment. Und ein Haikumoment ist das Brummen des Rechners, das Klappern der Tastatur unter dem Anschlag und wie aus dem Drücken der Tasten Worte entstehen und farbige Bilder.
Gegenwärtigkeit, Wahrnehmung, Kürze: Das sind die wesentlichen Charakteristika unserer Gedichtform. Das Haiku etabliert sich damit als ein fest gewordenes Aufmerken auf das, was geschieht, was sich einfach ereignet, noch bevor es analysiert, schematisiert, bewertet wird. Dieses Achtgeben erdet die immerwährende Arbeit unseres Geistes an der gegenständlichen Welt.
Literatur geworden, wird das Haiku zu einem Erkunden auch der Ausdrucksmöglichkeiten. Und zur Frage: Was gehört noch zu dieser Wolke der Möglichkeiten, was liegt am Rande, was außerhalb?
Das muss nicht immer entschieden werden. Es ist aber gut, sich damit zu beschäftigen. Und sich herausfordern zu lassen von Texten, die zunächst gar nicht so einfach und gegenständlich aussehen, wie es die Form des Haiku eigentlich will.
Vielfalt ist schön. Aber das heißt nicht, dass nun alles unterschiedslos Haiku ist. Manche Vögel werden näher an seinem Zentrum flattern, andere ferner, und bei manchem wird darüber gestritten werden, ob das nun ein Haiku ist, ein Epigramm oder einfach ein kurzes Gedicht.
Vielleicht wäre es tatsächlich besser, nur in gute und schlechte Texte zu scheiden und auf andere Kategorisierungen ganz zu verzichten. Aber die Auseinandersetzung auch um die Form, finde ich anregend und interessant.
Was ist ein guter Text?
Ein Text, der dem Autor gefällt?
Ein Text, der dem Leser gefällt?
Ein Text, der einem professionellen Literaturkritiker gefällt?
Jedenfalls ein Text, der berührt, inspiriert und bewegt,
Was dann aber heißt, da Menschen verschiedene Vorerfahrungen haben, in ihren Genen, in ihren Erinnerungen, in den aufgebauten Strukturen ihres Gehirns und ihres Geistes, und da sie deshalb von ganz verschiedenen Dingen berührt werden, dass eine sichere Einigung über „gut“ und „schlecht“ nicht möglich ist.
Manche Texte sagen allerdings für viele Menschen etwas Bewegendes aus, manche für wenige und manche nur für den Autor. Manche rühren an etwas, das Viele angeht, das zum Grundbestand des menschlichen Daseins gehört. Manche beschäftigen sich mit Dingen und Sichtweisen, die sonst kaum jemanden interessieren.
Sind Diamanten, weil sie selten sind, weniger wert?
Natürlich stellt jede Auswahl eben eine Auswahl dar. Das Haiku-Jahrbuch will aber auch auf die mögliche Vielfalt des Haiku hinweisen. So sind Texte aufgenommen, bei denen der Herausgeber vermutet, dass sie nur wenige Menschen ansprechen, dass sie vielleicht sogar provozieren. Weil Auseinandersetzung gut ist – womöglich sogar Voraussetzung für einen Haikumoment.
Dem Jahrbuch wünsche ich nicht unbedingt eine gute Aufnahme, sondern, dass es inspirieren möge – durch Zustimmung oder durch Widerspruch, jedenfalls durch Auseinandersetzung. Dass es Sichtweisen aufzeigen möge, die für die Lesenden neu sind, die nicht zu etwas Allgemeingültigem gemacht werden müssen, die aber zeigen, dass die Welt groß ist, viel größer als wir, und dass wir durch die Auseinandersetzung mit dieser Welt und diesen möglichen Sichtweisen gewinnen können..
Volker Friebel
Tübingen, 27. April 2016
Klemens Antusch
auf dem Gipfel
angekommen wir zwei
mitten im Lauschen
beim Nachtangeln
immer wieder flüstert sie
mit den Sternen
Sylvia Bacher
frühlingssonne
baustellen beginnen
zu blühen
nochmals schichtwechsel
von den oblaten geleckt
die schokolade
ein blühender baum
vor dem krankenhausfenster
ihr letzter ausblick
Marita Bagdahn
Rheinpromenade
neben dem Hündchen trippelt
die alte Dame
Der Straßenbettler
sein Blick folgt dem Hund
im Wollanzug
Krimilesung
Heimfahrt durch windige Nacht –
das zitternde Laub
Valeria Barouch
Friedhofweg –
zu heiter das Grün
der Abfalltonnen
Baustopp –
im Spinnennetz frostet
der Nebel
Sonja Bautz
Fertig, die Jacke!
Im Spiegel das Leuchten
meiner Augen.
Silvesterkarpfen
das Klatschen auf dem Schlachttisch
sie dreht sich um
Christa Beau
Zwiegespräch
der Wind antwortet
mit Pflaumenblüten
Silvesterparty
auf der Tanzfläche wirbeln
Parfümdüfte
Sturmnacht
das Schreibpapier wieder
und wieder zerknüllt
Frost
ich flüchte in den Sommer
des Fotoalbums
Parkplatz
zwischen die Autos legt sich
der Herbst
Martin Berner
Amselwettpfeifen
sein Rollatorrad
quietscht mit
das Greisengesicht
unter der Eintrachtmütze
rot vor Vorfreude
Vorstadtstraße
Kinder spielen Fangen
Stolpersteine sind Hola
verblasst
der Geruch winters
beim Kohlenhändler
entrümpeln
die Einmachgläser
wer durfte den Gummi ziehen
Berufsabschiedsfeier
man sieht
wie viele rechnen
brenne auf mein Licht
und nur
LED-Geblinke
eine Orgelpfeife
klemmt
inbrünstig
Testamentseröffnung
zwei Greise
mit gierigem Blick
erster Weihnachtsbrief
des Nachfolgers
nach Schreibfehlern suchen
„der ewig reiche Gott“
keinen Ton
lässt sie über die Lippen
schweres Sterben
der ungläubige Sohn
wird nicht mit im Himmel sein
Erde zu Erde
die fünf Trauergäste
kennen einander nicht
an ihrem Grab
breche alle Stacheln
von der Rose
Wolfgang Beutke
Heiße Sommernacht –
im dunklen Kühlschrank
eine reife Melone
Aus fahlem Licht
gewebt ein Blues –
lautlos schließt das Tor
Hart am Wind –
ich steige über die Saling
ins Gehölz der Nacht
Vom Schnee verweht
die Spur zum Molenkopf ...
eiskalt weht die Nacht
Hahnenschrei ...
sein Echo verschallt
im blassen Mond
Lidwina Bilgerig
Wüste voller Sand
Himmel voller Sterne
dazwischen
ich
Christof Blumentrath
Rummelplatz
in der Pfütze dreht sich
ein Fahrschein
Vogeltränke
der Sperling lässt
den Himmel spritzen
Tony Böhle
Mittagshitze –
Papas Beerdigung
am Strand
Gerald Böhnel
mahlers siebente –
hineinkomponiert
das läuten des telefons
„mein verflossener“ ...
sie schminkt die lippen nach.
Fingertrommeln.
Versonnen sagt sie: „Chopin“.
Gerd Börner
auf schmalen Pfaden –
ich halte Zwiesprache
mit dem Irrlicht
Bashô
das Licht in seinen Händen –
wie es sich anfühlt
Sanssouci –
eine Tasse Tee lang
der Blick der Putten
Hand in Hand –
im Mondschatten das kalte Licht
der Glühwürmchen
Bergziegen –
der Junge mit der Maultrommel
kennt ihre Namen
erstes Morgenlicht
aus dem Fenster zum Hof
schaut eine Fremde
Sommergras –
die Malerin wartet
auf den Duft des Regens
Smartphone
er hält die Stimme der Mutter
an die Klagemauer
vor dem Tor –
bis in die Fingerspitzen
den Himmel atmen