Aber schön müssen sie sein - H.C. Scherf - E-Book

Aber schön müssen sie sein E-Book

H.C. Scherf

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Beschreibung

Patrick Schreiber wollte eigentlich nur seine Schreibblockade überwinden, als er die Ruhe in der beschaulichen Umgebung des sauerländischen Winterberg sucht. Als er in den dichten Wäldern auf Leichenteile einer jungen Frau stößt, wird er unweigerlich in die Suche nach einem grausamen Serienmörder gerissen. Der Strudel aus Mord, Lynchjustiz und Intrigen droht ihn zu verschlingen. Hilfe erfährt er durch den charismatischen LKA-Kommissar Kalkove, der mehr durch Zufall den Fall zugeteilt bekommt. Die Jagd beginnt nach einem Wahnsinnigen, der absolut keine Spuren hinterlässt. Erst als Patricks alte Liebe unverhofft auftaucht und in die Hölle des Täters gerissen wird, scheint sich der Nebel um ein Motiv endlich zu lichten. Doch die Zeit arbeitet gegen die Ermittler. Nach der Lektüre werden wir die idyllischen Wälder des Sauerlandes mit anderen Augen sehen. Nichts wird mehr so sein wie vorher. Als Bonus erhalten Sie in diesem Buch die Kurzgeschichte Das Leiden Bogdans Lesen Sie vom Bemühen um eine gute Nachbarschaft. Nur ein Vorschlag, um einen verfahrenen Konflikt der Generationen zu lösen.

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Aber schön müssen sie sein

Von H.C. Scherf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Aber schön müssen sie sein

 

Neuauflage © 2021 H.C. Scherf

Ewaldstraße 166 – 45699 Herten

http://www.scherf-autor.de

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Aktives Mitglied im Selfpublisher-Verband e.V.

 

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Bilder von:

daniilphotos, glenamoy, HayDimitriy 

alle von Clipdealer.de

 

Lektorat/Korrektorat: Heidemarie Rabe

[email protected]

 

Dieses E-Book ist geschützt und darf ohne Genehmigung des Autors nicht

vervielfältigt oder weitergegeben werden.

Aber schön

müssen sie sein

 

Lokalkrimi

von H.C. Scherf

 

Ein Vater wird zum Doppelmörder,

so er sein Kind missbraucht.

 

Er tötet nicht nur die Seele des Kindes,

sondern auch dessen Bild vom gütigen Vater.

 

1

Letzte Sonnenstrahlen bemühten sich, den Boden des Waldes zu erreichen, suchten den Weg durch die dichtbelaubten Baumkronen. Wie lange er schon durch das eng beieinanderstehende Unterholz stampfte, konnte er später nicht sagen. Zumindest tat es Körper und Geist gut und er genoss es, den Sauerstoff in seinen Lungen zu spüren. Die letzte Nacht hatte seinem Organismus dermaßen zugesetzt, dass er mit dieser Tortur die letzten Geister des Besäufnisses vertreiben wollte. Zumindest lief es so lange halbwegs gut, bis er mit den Füßen tief in das eklige Nass eintauchte.

»Verflucht. Dieses hundserbärmliche Schlammloch hat sich hervorragend getarnt!«, entfuhr es ihm, während er versuchte, seinen Fuß wieder daraus zu befreien.

Jetzt war auch dieses Paar Schuhe endgültig hinüber. Was soll´s, passte es eben zum Rest der Kleidung. Der aufsteigende Geruch von Aas, der die Schleimhäute bis zum Äußersten reizte, tat sein Übriges. Das war dann doch des Guten zu viel, und er nahm sich vor, sofort die Dusche zu benutzen, wenn er zurück war. Es würde nötig sein, bevor er eine Kleinigkeit zum Abendessen zu sich nahm und mit immer noch schmerzendem Kopf ins Bett fallen würde. Irgendwo in der Nähe musste sich ein verwesendes Tier unter der Erde befinden. Da war sich Patrick Schreiber ziemlich sicher. Während er schwankend versuchte, die Schuhe am umherliegenden Laub zu säubern, peilte er den Blätterhaufen an, auf den er sich setzen und ausruhen wollte. Es ähnelte mehr einem Fallen, als er endlich zur Tat schritt. Mit den Händen wollte er sich noch im letzten Moment abstützen, was ihm jedoch reichlich misslang. Tief versanken seine Arme im hohen Laub. Der bestialische Geruch wurde unerträglich. Seine Finger ertasteten etwas Schleimiges, das jedoch von spitzen Knochen durchsetzt schien. Er hörte sie sogar unter seinem Gewicht brechen. Verzweifelt versuchte er, die Hände wieder freizubekommen, indem er sich zur Seite warf. Jetzt kam zum Vorschein, was ihn für einen Moment in eine Schockstarre versetzte. Der Torso musste hier schon Tage, Wochen oder sogar Monate ungeduldig auf seine Entdeckung gewartet haben. Alles geschah gleichzeitig: das Aufstellen der Körperhaare, die Verfärbung seiner Augen zu Gelb und der gellende Hilfeschrei. Der Puls raste. Augenblicklich fühlte er das Einschießen des Adrenalins in seinen Blutkreislauf. Voller Verzweiflung und wachsender Abscheu versuchte er, sich aus diesem Dreckhaufen zu befreien. Erschöpft blieb Patrick Sekunden später abseits liegen, von Ekel gepackt. Ein unkontrollierbares Beben beherrschte ihn.

War das schon das beginnende Delirium? Hatte man mir gestern Drogen verabreicht? War ich schon tot und man hatte an höchster Stelle entschieden, mich in der Hölle braten zu lassen?

Der ätzende Geruch holte ihn in Windeseile wieder in die Realität zurück. Ein Gestank, der sich in seine Haut und die Lungen zu fressen schien. Panisch rieb er sich feuchtes Laub notdürftig in der Hoffnung über Gesicht und Hände, der Geruch würde den der Verwesung überdecken. Das Ergebnis war alles andere als befriedigend. In einer solchen Aufmachung zogen nur Eingeborene in den Krieg. Sein Verstand hatte Mühe, wieder die Oberhand zu gewinnen. Wo ein menschlicher Torso lag, mussten eventuell auch noch weitere Körperteile zu finden sein. Er wollte aber auf keinen Fall der Entdecker sein. Es reichte jetzt. Wie ein Besessener robbte er weg vom Ort der Begegnung und hinterließ eine Spur der Verwüstung. Irgendwann würde die Spurensicherung mutmaßen, dass mehrere Footballmannschaften hier die Meisterschaften ausgetragen hatten. Mit Ausnahme der Unterwäsche riss er sich alles vom Leib, warf es auf den Waldboden und trat es zur Sicherheit einige Meter weit weg. Dieser Geruch sollte endlich verschwinden. Es war mehr der Verzweiflung geschuldet, als es aus ihm herausquoll.

»Hilfe! Hilfe! Ist da jemand? Hilfe!«

Es schien ihm das einzig Vernünftige zu sein, was er jetzt tun konnte. Doch sein Krächzen, denn mehr war es eigentlich nicht, konnte allerdings keiner gehört haben, selbst wenn er nur zwanzig Meter entfernt gewesen wäre. Der verbliebene Rest des Verstandes signalisierte ihm, dass sein Telefon die Lösung seines Problems darstellen könnte. Jedoch erst zwanzig Meter weiter fand er einen Punkt, der ihm eine halbwegs stabile Verbindung zum Mobilnetz verschaffte.

»Polizeidienststelle Winterberg, Polizeiobermeister Pieper, was ist los?«, ertönte nach dem zehnten Klingeln eine sehr müde Stimme aus dem Hörer.

»Eine Leiche ... hier im Wald ... Kommen Sie bitte schnell!«

Zu mehr reichte es bei ihm nicht, was sich sofort rächte.

»Wie, Leiche? ... Haben Sie getrunken? Von wo rufen Sie an? Wie heißen Sie überhaupt?«

Bevor er auf diese Frage einging, lauschte er angestrengt, um zu verstehen, was der Polizist am anderen Ende der Leitung einer sich in der Nähe aufhaltenden Person zuflüsterte.

»Schreiber, Patrick Schreiber ... ich rufe mit dem Handy an. Ich befinde mich im Waldgebiet an der L721. Bin, so glaube ich zumindest, am Abzweig von der B236 abgebogen. Wenn ich mich recht erinnere, bei Züschen. Nach etwa 600 m links geht es in einen Feldweg. Ich warte da auf Sie. Bitte beeilen Sie sich.«

Hatte ich das gerade so präzise gesagt? Ich sollte das gewesen sein, der seine Position äußerst genau beschrieben hatte? War ich das auch, der rein mechanisch auf den roten Knopf gedrückt und das Gespräch damit unterbrochen hatte? Jetzt würde ich nur noch warten und hoffen können. Ich hatte den Staffelstab abgegeben. Die Zeit des Wartens war angebrochen!

Das Erste, was jedoch eintraf, war der Sonnenuntergang. Er erfreute nicht wie sonst das Herz, sondern ließ es ganz im Gegenteil verkrampfen. Musste ich hier nun die Nacht neben einer verwesenden Leiche verbringen, nur weil mir der Polizist am anderen Ende möglicherweise nicht geglaubt hatte?

Ein Licht! Tatsächlich mehrere Lichter. Im Schneckentempo näherten sich zwei Fahrzeuge seiner Position. Die Scheinwerfer der Fahrzeuge stachen wie grelle Laserstrahlen durch die jetzt einsetzende Dunkelheit, die ihm zwischenzeitlich Angst bereitet hatte. Gott sei Dank besaß sein Handy eine Licht-App, die er nun mit zittrigen Fingern aktivierte. Ein erstaunlich starker Lichtstrahl zuckte durch den Wald den beiden Fahrzeugen entgegen, die sich zu orientieren versuchten. Dem Anschein nach zögernd bogen die beiden Fahrzeuge von der Straße in den Feldweg ab und blieben in einer Entfernung stehen, die ihm äußerst unpassend erschien. Personen verteilten sich schattengleich seitwärts im Wald, ständig nach Deckung suchend. War ich hier als unfreiwilliger Statist in den Dreh eines schlechten B-Films geraten? Was taten die Idioten denn da?

Minuten vergingen, ohne dass außer dem Rascheln von Laub irgendetwas zu vernehmen war. Das sollte sich genau in dem Augenblick ändern, in dem sich Ärger und kalte Wut in Patrick auszubreiten begannen.

»Hey, Mann! Bleiben Sie genau da stehen, wo Sie gerade sind. Nehmen Sie ganz langsam die Hände über den Kopf und bewegen keinen Finger!«

Das konnte er nicht gehört haben. Es war eine Sinnestäuschung. Obwohl der Befehl eindeutig war, kam er aus dem Mund eines Mannes, der sich seiner Sache nicht absolut sicher schien. Es fehlte die letzte Überzeugung in der Fistelstimme, was Patrick dazu bewog, sich auch den nachfolgenden Anordnungen zu widersetzen.

»Legen Sie verdammt noch mal beide Hände an den Baum und spreizen Sie ganz langsam die Beine!«, klang es in diesem Augenblick von anderer Stelle.

»Einen Scheißdreck werde ich tun! Ist das hier ein Irrenhaus? Ich habe Angst und mir ist kalt. Helfen Sie mir lieber!«

Zunehmend baute sich Trotz in ihm auf. War ich das, der da gerade noch verkatert durch den Wald stolperte und nun mit dem Mut eines in die Enge getriebenen Rattenweibchens den Aufstand gegen die Polizei probte? Zugegeben, es musste schon etwas seltsam anmuten, wenn ein Mann, nur mit Unterwäsche bekleidet, mitten im Wald stand - bei gefühlten zwölf Grad. Doch was vermuteten die Trottel noch unter meiner Wäsche? Eine versteckte 44er Magnum?

Ein kurzzeitiges Rascheln hinter ihm. Plötzlich legten sich zwei Hände um seine Handgelenke und versuchten, ihm diese nach hinten zu drehen. Mit einem Ruck befreite er sich aus diesem eher zaghaften Griff, drehte sich um und sah in die zwei ängstlichsten Augen, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Ein Polizist, tatsächlich ein Polizist, der sich an ihn herangewagt hatte. Allerdings musste er in den Dienst eingetreten sein, bevor man bei der Einstellung eine Mindestgröße vorgeschrieben hatte.

»Ralf, der Kerl lässt sich nicht festnehmen, was soll ich machen?«, schrie dieser Uniformierte panisch zu einem Kollegen hinüber, bevor er vorsichtshalber einen Schritt zurücktrat und um sein Gleichgewicht rang. Der Lauf seiner Waffe, mit der er herumfuchtelte, zeigte ab und zu sogar auf Patricks Kopf, was ihm jedoch zusehends schwerer fiel. Panik überfiel nun auch Patrick, weil er jeden Moment damit rechnen konnte, dass sich ein unkontrollierter Schuss aus der Waffe löste. Sein Kopf fuhr herum, als die nächste Frage an ihn gerichtet wurde.

»Wer sind Sie? Was machen Sie hier mitten im Wald?«

Wieder diese unangenehme Stimme, die ihn schon am Telefon nervte. Sie kam aus dem Nichts. Der Fragende hatte sich wohl aus Sicherheitsgründen hinter einem Baum verschanzt. Ein Polizist, der nicht erkannt werden wollte. Mehr als seltsam.

»Da drüben liegt eine Leiche, verdammt noch mal. Oder glauben Sie tatsächlich, dass ich es bin, der so erbärmlich stinkt?«, rutschte ihm heraus, vermischt mit aufsteigender Verärgerung gegenüber der bisherigen Vorgehensweise.

»Sie sprachen am Telefon schon von dieser angeblichen Leiche. Wo finden wir die? Zeigen Sie einfach in die Richtung. Doch bleiben Sie auf jeden Fall dort stehen, wo ich Sie sehen kann.«

Patrick hatte mittlerweile Mühe, sich in der Dunkelheit zu orientieren, und suchte nach der Richtung, aus der er gekommen war. Als er sich halbwegs sicher war, wies er mit ausgestrecktem Arm dorthin. Für ihn absolut unverständlich wandte sich nun der Angesprochene wieder an den zu kurz geratenen Kollegen hinter Patrick, der sich halbwegs gefangen hatte.

»Geh mal rüber und schau nach!«

Die Minuten vergingen, in denen das uniformierte Rumpelstilzchen nach dem Laubhaufen suchte. Nur ein umherirrender Strahl der Taschenlampe verriet seine Position. Wieder die Frage des wartenden Kollegen hinter dem Baum: »Hast du die Stelle gefunden? Was siehst du? Hat der Typ recht?«

Gleichzeitig war der leitende Polizist nun endlich aus seiner schützenden Deckung herausgetreten. Er richtete seine gezogene Waffe in Patricks Richtung und erzeugte dadurch bei ihm ein erneut starkes Gefühl der Verunsicherung. Sein Wunsch sollte an entsprechender Stelle erhört werden.

Herr im Himmel – lass die Waffe bitte noch gesichert sein.

»Da liegt tatsächlich eine Leiche, zumindest ein Teil davon. Soll ich die Kripo rufen?«

Stolz präsentierte der Wicht in Uniform das Ergebnis seiner Sichtkontrolle und lieferte gleichzeitig brauchbare Vorschläge. Das roch nach präziser deutscher Polizeiarbeit. Man war also in diesem Teil der Republik für jede Art von Mordermittlungen gerüstet.

»Haben Sie diese Person getötet?«

Mit eisigem Blick richtete Ralf Pieper, so hieß der Uniformierte, wie Patrick später erfuhr, diese Frage mit der Härte und Präzision eines Pistolenschusses an ihn. Diese Vorgehensweise musste er wohl aus einem Til- Schweiger-Tatort übernommen haben.

»Aber sicher doch. Das mache ich immer so. Erst blase ich den Menschen das Licht aus, um dann Monate oder Jahre später der Öffentlichkeit die Früchte meiner Arbeit zu präsentieren. Was ist los mit euch? Wer von uns hat was getrunken? Ich habe die Leiche nur zufällig gefunden«, meinte Patrick nochmals sachlich feststellen zu müssen. Doch die beiden Beamten überraschten ihn mit klugem, antrainiertem Verhalten, mit dem er nicht mehr gerechnet hatte.

»Ruf die Kollegen von der Spurensicherung. Wir warten hier«, ordnete Pieper nun mit einer für Patrick ungewohnt klingenden Sicherheit in der Stimme an.

Pieper wandte sich ab und ließ seinen Gefangenen in seiner Unterwäsche einfach an Ort und Stelle mitten in der Dunkelheit des abendlichen Waldes stehen. Sekunden später zuckte Patrick zusammen. Die wärmende, jedoch leicht muffig riechende Wolldecke wurde ihm von einer jungen Polizistin um die Schultern gelegt, die scheinbar Mitleid gegenüber einem einsamen Wanderer entwickelt hatte. Es bestand jedoch auch die Möglichkeit, dass sie die Gefahr sah, den Reizen seines Astralkörpers nicht länger widerstehen zu können. Er wand sich um, da ihn doch interessierte, wie der Engel genauer aussah, der ihm so unendlich viel Gutes tat. Die Natur hatte es, vor allem was die kleinen Pölsterchen anging, besonders gut mit ihr gemeint. Das betraf in der Hauptsache ihre Hüften, die gewisse Spannungen in der Uniformjacke verursachten. Dieses für ihn unbedeutende Defizit machte sie allerdings durch einen inneren Liebreiz und Aufmerksamkeit wett. Der Volksglaube wurde wieder einmal bestätigt, dass korpulente Frauen nicht nur gut kochten, sondern auch eine begrüßenswerte Herzenswärme besaßen. Patrick Schreiber war ihr unendlich dankbar, was er mit einem Lächeln bestätigte.

Die Anzahl der parkenden Fahrzeuge hatte sich zwischenzeitlich auf acht erhöht, sodass der einst einsame Wald mittlerweile von einem wuseligen Leben erfüllt wurde. Das wirkte gleichzeitig beängstigend auf Patrick. Gestalten in weißen sterilen Ganzkörper-Kondomen zertrampelten scheinbar jede brauchbare Spur. Erneute Unruhe kam auf, als ein dürres Männchen mit schütterem Haar, allerdings auch in Polizeiuniform, durch das Unterholz stolperte. Während er mit den Armen wild gestikulierte und beim Laufen das Unterholz zur Seite fegte, versuchte er sich verbal verständlich zu machen. Seine weit aufgerissenen Augen suchten nach seinem Chef. Als er ihn endlich fand, stotterte er seinen Bericht.

»Noch mehr Leichen! Da hinten! Beine, Arme, Köpfe, einfach schrecklich ...!«

Während alle Beteiligten kurzzeitig in ihrer Tätigkeit stoppten, ließ sich der Todesbote erschöpft an einem modrigen Baumstamm in Zeitlupentempo heruntergleiten. Sein starrer Blick war auf seine bebenden Hände gerichtet, die er schließlich zur Beruhigung unter die Achselhöhlen schob. Zumindest die fürsorgliche Polizistin zeigte kurzfristig eine Reaktion und ging, begleitet von mehreren Weißkitteln, in die Richtung, aus der dieser klapperdürre Polizist zuvor erschienen war. Schon nach wenigen Schritten schien man fündig geworden zu sein, denn die Hektik vergrößerte sich zusehends, und zwei Beamte transportierten zusätzliche Scheinwerfer und diverse Koffer genau in diese Richtung. Das Interesse an Patricks Person war auf einen Schlag eingefroren. Er wurde vorsichtshalber auf die Rückbank eines Einsatzfahrzeuges verfrachtet. Eine Flucht in dieser Aufmachung schien keiner mehr zu befürchten. Die Wolldecke zog er sich bis über die Ohren und versuchte, es sich halbwegs gemütlich zu machen.

2

... Eine schmerzliche Zeit lag hinter Patrick, nachdem seine leiblichen aus Deutschland stammenden Eltern während eines Urlaubs bei einem Autounfall im kanadischen Vermont ums Leben gekommen waren. Ohne großes Zögern boten sich Mary und Fred Colmann als Pflegeeltern an.

Die beiden Familien hatten sich eher zufällig kennengelernt und sofort angefreundet. Das Angebot, einige Tage bei ihnen wohnen zu dürfen, nahmen seine Eltern damals auch gerne an. Er wusste nicht mehr, was seine Eltern bewog, schließlich ganz nach Kanada zu ziehen. Sie sollten es schnell bereuen. Als irgendwann die Idee bei ihnen entstand, diesen länger andauernden Ausflug nach Vermont zu unternehmen, waren die Colmanns gerne bereit, ihn, den kleinen achtjährigen Patrick, so lange unter ihre Fittiche zu nehmen. Die Strapazen der Reise und die Stadtbesichtigungen wollte man ihm ersparen. Es geschah in den Weiten der Wälder, als sie ein Holztransporter rammte und ihnen keine Chance ließ. Zu Hause in Deutschland hätte ihm das Heim gedroht, da es keine nahen Verwandten gab. Zumindest keine, die noch jung genug waren, um ihn aufnehmen zu dürfen. Den Geburtsnamen Patrick Schreiber durfte er behalten, obwohl er sich auch mit dem Namen Colmann hätte anfreunden können.

Wenn er mit Vater Colmann am Abend vom Angeln nach Hause kam und den Fang die Stufen zur Blockhütte hinauf trug, hatte Mutter sie meist schon längst bemerkt, öffnete mit einem erfrischenden Strahlen die Tür und ließ sie zufrieden lächelnd herein. Das Haus lag auf einer Anhöhe und erlaubte den Blick über diese traumhaft schöne Landschaft. Die Fische, zumeist imponierend große Wildlachse, wurden in gemeinsamer Arbeit ausgenommen, teilweise für abends frisch zubereitet und die restlichen Tiere später geräuchert. Das durfte nur Mutter, denn sie hatte da ihr besonderes Geheimnis bei der Zusammensetzung der Späne. Patrick liebte das Püree, das sie in unnachahmlicher Art aus Kartoffeln und Erbsen herstellte. Das gab es zusätzlich beim Abendessen, welches bei ausgelassener Stimmung am großen grob gehauenen Tisch herumgereicht wurde. Den hatte Vater Colmann selbst gezimmert und das scheinbar für die Ewigkeit. Lauren, der riesige Mischlingshund, der stets zu Mutters Schutz zurückblieb, wartete ungeduldig auf die Happen, die natürlich ganz zufällig vom Tisch fielen und dann wie von Zauberhand in seinem Rachen verschwanden. Stets lag er beim Essen träge, einem Teppich gleich in der vollen Länge des Tisches ausgebreitet auf dem Boden. Nur seine schwarzen Augen waren hellwach und beobachteten unaufhörlich die Tischkante. Bei einem früheren Aufenthalt am Flussdelta war ihnen das hellbraune Fellbüschel durch zaghaftes Quieken aufgefallen. Ganz verloren versteckte es sich halb verhungert hinter einem verrottenden Baum. Das Muttertier hatte wohl versucht, ihren frischen Wurf vor einem Raubtier zu schützen, wobei es selbst den Tod fand. Ebenso drei ihrer Welpen. Alle lagen zerfetzt oder angefressen in der näheren Umgebung. Es war klar, dass sie diesen kleinen Kerl nicht allein in der Wildnis zurücklassen konnten. Mutter Colmann hatte sofort ein Wiederaufbauprogramm ins Leben gerufen und den putzigen Kleinen in kürzester Zeit aufgepäppelt. Es entstand eine Verbindung zwischen ihnen allen, die sich mit Worten kaum beschreiben ließ. Keiner wusste später mehr, warum er ausgerechnet Lauren gerufen wurde. Es entstand von der ersten Sekunde an eine klare Ordnung in der Befehlskette. Lauren nahm nur Mutters Anordnungen entgegen. Vater und Patrick wurden von ihm lediglich gnädig geduldet. Allerdings war deutlich spürbar, dass er sie auch mochte und Patrick dachte, dass er für jeden von ihnen sein wertvolles Hundeleben gegeben hätte.

Vater ermöglichte Patrick damals als Siebzehnjährigen den Besuch einer bilingual geführten Universität. Sein Wunsch ging sehr schnell in Erfüllung, einmal Schriftsteller werden zu wollen, indem man ihn sofort nach der Schule ausreichend mit Papier, Schreibmaschine, Zeit und Geduld ausstattete. Es war schon ein ergreifender Augenblick, als er dann wieder den Umzug von der Uni in das Haus der Colmanns vollzog, das relativ weit in der Wildnis, etwa dreißig Meilen entfernt vom nächsten Ort lag. Gefertigt aus Holzstämmen strahlte es etwas unerhört Erhabenes aus. Die typische Bauweise im Land des Ahornbaumes hatte ihn schon immer in seinen Bann gezogen. Eine wilde Romantik – und er war ein Teil davon. Für ihn gab es zu dieser Zeit nichts Größeres auf dieser Welt. Enge Häuserschluchten, das Gewusel in den Geschäften, die ständige Gier nach Luxusgütern in den großen Städten – nichts davon erzeugte bei ihm einen Reiz. Ihm war das Leben mit den einfachen Menschen, die weit verstreut um sie herum wohnten und ehrlicher wirkten, viel lieber. Wenn er und Vater Colmann einmal im Monat mit dem Wagen in die nächste Stadt fuhren, gaben sie im Store Mutters Liste ab und gingen auf einen Kaffee zu Mother Reynolds. Dort erfuhr man, was für sie und die Nachbarn wichtig war. Wenn sie danach zum Store zurückkehrten, hatten die schon alles in den Wagen verpackt, und sie fuhren mit einem guten Gefühl nach Hause. Immer wieder hatte Vater es geschafft, eine kleine Aufmerksamkeit für seine Mary im Store zu finden, die er ihr dann nach der Heimkehr liebevoll überreichte. Das Glück dieser beiden Menschen basierte auf einer ganz einfachen Regel. Sie liebten sich ohne jede Einschränkung. Keiner versuchte, den Partner zu verbiegen. Einer war für den anderen da - IMMER.

 

3

Anfängliche kleine Erfolge durch Kurzgeschichten, die in den örtlichen Zeitungen und Kirchenblättern gegen ein winziges Honorar Veröffentlichung fanden, wurden durch eine länger andauernde Schaffenskrise abgelöst. Nur die unglaubliche Geduld dieser so friedfertigen Menschen, die Patrick ein Zuhause boten, schaffte es, dass er diesen einen so erfolgreichen Roman veröffentlichen konnte. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass Kriminalromane diese Menschen mehr interessieren könnten als Sachbücher und Liebesgeschichten. Es brachte scheinbar eine neue Art von Abwechslung in deren Leben, das oft recht eintönig dahinfloss. Eine fremde Welt, die keiner so kannte, offenbarte Patrick mit seinen Geschichten um den Kampf Gut gegen das Böse. Einige Kinderbücher sollten folgen, da er immer diesen Traum gehegt hatte, einmal ein großer Erfolgsautor für Kinderliteratur zu werden. Damit war aber nicht das große Geld zu erwirtschaften.

Der tiefe Frieden innerhalb der kleinen Familie wurde jäh unterbrochen. Es war diese erschreckende Wahrheit, die Mutter Colmann nicht weiter nur für sich behalten wollte. Sie hatte ihnen schon viele Jahre verschwiegen, dass ein faustgroßes Karzinom im Oberbauch unaufhaltsam wuchs und sie nun nur noch wenige Wochen zu leben hatte. Der Aufenthalt im Krankenhaus war nun unvermeidlich, wollte man Mutter die grässlichen Schmerzen nehmen. Vater blieb sehr lange im Sprechzimmer des Oberarztes und ging anschließend mit versteinertem Gesicht, Patrick dabei kaum beachtend, zum Ausgang des Hospitals. Roboterhaft stieg er in den Landrover, öffnete ihm von innen völlig mechanisch die Beifahrertür und fuhr schweigend die dreißig Meilen zum Haus. Patrick hielt eine innere Stimme davon ab, ihn in diesem Augenblick zu fragen, was denn so Schlimmes auf alle zukam. Lauren war im gesamten Haus nicht aufzufinden, als sie eintrafen. Erst am nächsten Tag nach einer schlaflosen Nacht setzte Vater sich auf die Treppenstufen vor die Hütte und rief Patrick zu sich. Als er ihm seinen kräftigen Arm um die Schultern legte, erschien auch, wie durch einen stummen Befehl gerufen, Lauren an ihrer Seite und legte sich still vor die Füße. Seine Augen waren auf Vaters Gesicht gerichtet, als wenn auch er endlich wissen wollte, warum Mutter nicht in der Küche hantierte.

Die Tränen in Vaters Augen erstickten fast seine Stimme, als er versuchte, zu einer Erklärung anzusetzen. Beim dritten Anlauf schaffte er es, die unfassbare Wahrheit über seine so geliebte Mary mitzuteilen. Patricks Magen glaubte, ein Eigenleben führen zu müssen, und verkrampfte sich schmerzhaft, sodass er sich verkrümmt auf die Stufen legte. Wie eine Statue saß Vater immer noch an gleicher Stelle und sah mit stoischem Blick in die fernen Wälder. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass der Junge weinte. Bei Lauren glaubte Patrick, ein leises Winseln gehört zu haben, bevor er mit müden Schritten ums Haus lief. Man hat ihn von diesem Tag an nie mehr gesehen. Es wurde ihnen später erzählt, dass er tagelang unter dem Fenster gesehen worden war, hinter dem Mutter die letzten Stunden verbracht hatte. Danach verschwand er für immer.

An der Trauerfeier nahm, so wie es üblich war, die gesamte Nachbarschaft teil, und man unterstützte die Männer auch aktiv bei der Zubereitung der Speisen für die Feierlichkeiten. Nie hätte Patrick vorher geglaubt, wie rücksichtsvoll und mitfühlend diese doch so hart arbeitenden Menschen sein konnten, die tagtäglich dieser so wilden Natur Essbares abtrotzen mussten. Noch Wochen danach kam immer mal jemand aus der Nachbarschaft vorbei, um Hilfe anzubieten und Trost zu spenden. Stets brachte man wortlos eine Kleinigkeit an Speisen mit und plauschte mit ihnen über Neuigkeiten.

Mittlerweile war Patrick sechsundzwanzig Jahre alt und half Vater viel bei seiner harten Arbeit, worunter seine schriftstellerische Tätigkeit natürlich litt. Vater Colmann hatte sich verändert. Seine offene Art war zwar geblieben, doch litt er weiter unter dem Verlust des wichtigsten Menschen in seinem Leben. Niemals sprach er darüber, verbrachte jedoch viel Zeit an Mutters Grab und betend vor ihrem Bild. Eigentlich wollte er nicht, dass Patrick ihm und seiner Arbeit so viel Zeit opferte, und ermahnte ihn stets, doch an seine eigene Zukunft zu denken. Zusehends fiel es ihm jedoch schwerer, die täglichen Arbeiten zu erledigen und die oft weiten Wege zur Jagd zu bewältigen. Patrick spürte es schon, wie sehr ihn seine Hilfe sogar belastete und er nach Möglichkeiten suchte, ihm eine eigene Zukunft zu schaffen. Es war für Patrick lange unklar, ob das der eigentliche Grund für seine Entscheidung war. Sie fanden Vater Colmann nach dreitägiger Suche am Grunde einer Felswand, in seiner Hemdtasche eine Notiz, dass man die Familienkassette unter Mutter Marys Bett öffnen sollte. Die letzten Zeilen von ihm hatten zum Inhalt, dass er seiner geliebten Mary nun gefolgt wäre und er das Haus und das Land bereits zum Jahresende verkauft hatte. Das Geld wurde Patrick komplett als einzigem Erben vermacht, sodass er eine eigene Zukunft gestalten konnte. Sein Wunsch war nur, dass man ihn direkt neben Mary auf dem Hügel unter dem Riesenahorn bestatten sollte.

Der schwere Augenblick des Abschieds von diesen liebenswerten Menschen war vielleicht mit ausschlaggebend dafür, dass sich Patricks Leben doch etwas anders gestaltete, als es sich die beiden so gewünscht hatten. Es zerriss dem Heranwachsenden fast das Herz, als er allein vor den Grabkreuzen stand und den Schmerz so laut herausschrie, wie es seine Lungen zuließen ...

4

Sein Kopf fiel unsanft ins Leere, als die Autotür mit einem Ruck aufgerissen wurde. Ein ‘tschuldigung war der einzige Ton, der diese Aktion des grobschlächtigen Menschen begleitete, der urplötzlich neben dem Wagen aufgetaucht war. Die Erscheinung war furchteinflößend. Seine Hand löste sich aus der Seitentasche seines dunkelgrauen groben Wollmantels, der auch schon bessere Zeiten vor Ausbruch des letzten Weltkrieges gesehen haben mochte, und tauchte wieder auf mit einem Dienstausweis. Der sollte Patrick zeigen, dass er es mit einem Franz Kalkove, Hauptkommissar des LKA, zu tun bekam. So schnell, wie der Ausweis vor seinen Augen auftauchte, war er auch wieder in den unendlichen Weiten des Mantels verschwunden.

»Sie haben die Leiche gefunden, sagte man mir. Kann ich Sie schon befragen, oder brauchen Sie noch etwas Zeit, um sich den Schlaf aus den Augen zu reiben?«

Mit so viel Feinfühligkeit hatte Patrick nach der vorherigen Aktion nicht mehr gerechnet. Dennoch kam es über diese wulstigen Lippen, die sich beim Sprechen kaum öffneten. Zwar passten die dicke rotgeäderte Nase und die buschigen Brauen zum Gesamtbild dieses Teddys, doch die lachenden Augen und die sanfte Stimme ließen es zu, dass man vielleicht so etwas wie Sympathie und Zutrauen für ihn empfinden konnte.

»Kalkove ... Franz Kalkove, vom LKA Düsseldorf. Ich war gerade eher privat in der Gegend und wurde kurzfristig mit den Ermittlungen beauftragt. Kann ich mich zu Ihnen ins Fahrzeug setzen? Draußen ist es ungemütlich kühl ... und viel zu hektisch.«

Nur durch blitzschnelle Verlagerung seiner jetzigen Position an die gegenüberliegende Tür entging Patrick dem quälenden Tod durch Quetschungen. Seine gefühlten einhundertfünfzig Kilo fielen, ohne erst eine Antwort von Patrick abzuwarten, begleitet von einem tiefen Ächzen, genau an die Stelle, an der dieser kurz zuvor noch seinen trüben Gedanken nachhing.

»Das passt mir gar nicht«, fuhr er fort. »Ich hatte eigentlich einen privaten Besuch geplant gehabt ... na Sie wissen schon!« Er grinste dabei etwas hintergründig. »Man hat ja schließlich auch ein Privatleben! Nun, dann fangen wir mal ganz von vorne an. Wie heißen Sie? Woher kommen Sie? Warum sind Sie um diese Zeit allein im Wald? Was haben Sie wann gesehen?«

Das Wort allein zog er, aus welchem Grund auch immer, etwas in die Länge. Es schien ungewöhnlich, dass man ohne Begleitung in einem deutschen Waldgebiet spazieren ging.

»Doch eines nach dem anderen. Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Patrick Schreiber, ich wohne ...«

»Eins nach dem anderen!«, unterbrach ihn der menschliche Felsen und schrieb mit einem Stift, der zwischen seinen Pranken zu verschwinden schien, fleißig das wenige, das Patrick bisher von sich preisgeben konnte, in einen etwas fleckigen Notizblock.

»Wo wohnen Sie?«, folgte nun die zweite präzise Frage, wobei er Patrick mit seinen hinter dicken Lidern befindenden Augen fixierte. Der kam sich vor, als säße er vor einem lebenden Lügendetektor, der gewaltig ausschlagen würde, falls er die Unwahrheit sagte.

»Eigentlich wohne ich in Köln, Frankfurter Str. 112. Bin hier in der Gegend nur zur Inspiration für ein neues Buch, das ich schreiben möchte. Wohne jedoch im Augenblick in der Nähe von Winterberg in der Pension Zum Hirschen. Habe gestern etwas heftig gefeiert. Eigentlich sollte nur der Kopf wieder frei werden. Und jetzt das hier.«

Ungläubig stellte er fest, dass Kalkove diesen Monolog zuließ, ohne ihn wieder zu unterbrechen. Er schaute konzentriert auf seinen Zettel und kritzelte Notizen, die wohl nur er wieder ins Deutsche übersetzen konnte. In diesem Augenblick klopfte es laut an der Seitenscheibe, und das gerötete Gesicht eines etwa sechzigjährigen, elegant gekleideten Mannes erschien. Er wirkte wild entschlossen, sich dem vorsichtigen Rückhalteversuch Ralf Piepers, also der örtlichen Polizeiautorität, zu erwehren. Erschreckend langsam drehte der mit dem Verhör beschäftigte Teddybär das Fenster herunter und fragte leise, mit wem er es zu tun habe. Stattdessen überschüttete der Mann ihn mit eigenen Fragen.

»Was treiben Sie hier, das ist Aufgabe der örtlichen Polizeibehörde? Wer sind Sie überhaupt?«

Patrick wurde das Gefühl nicht los, plötzlich neben einer bevorstehenden vulkanischen Eruption zu sitzen. Zumindest ließ diesen Schluss das Gesicht Kalkoves zu. Umso mehr überraschte ihn die nochmalige und absolut ruhig gestellte Gegenfrage: »Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Falls es überhaupt noch möglich war, so schaffte es die Gestalt vor dem Fenster, das Gesicht noch dunkler zu färben als sein Gegenüber, bevor er es heraussprudeln ließ.

»Mein Name ist Rainer Holzberg. Ich bin hier der Bürgermeister und erwarte eine Erklärung von Ihnen. Für die Ermittlungen ist Polizeiobermeister Pieper zuständig. Wer hat Sie denn aufgefordert, Zeugen zu vernehmen?«

Da Patrick ein Fan der Situationskomik war, hatte er erhebliche Mühe, nicht laut loszuprusten, als Kalkove in aller Ruhe das Fenster hochkurbelte, um sich wieder der Beantwortung seiner an ihn gerichteten Fragen zu widmen. In Erwartung einer Explosion neben dem Fahrzeug zögerte Patrick erst einmal, Weiteres auszuführen. Man konnte nur erkennen, dass Polizeiobermeister Pieper es nun doch geschafft hatte, Holzberg einige Meter vom Wagen wegzuzerren. An den rudernden Bewegungen der Arme konnte man jedoch unschwer erkennen, dass sich diese Maßnahme nicht unbedingt mit dem eigentlichen Vorhaben seines Bürgermeisters deckte.

»Sie sagten, Sie schreiben an einem Buch? So, so, also Schriftsteller. Was kommt denn dabei raus? Liebeskram, Fantasiegeschichten oder Krimis? Lässt sich damit wirklich Geld verdienen?«

Noch völlig irritiert von der vorherigen Posse verstand der Angesprochene diese Frage nicht gleich und legte eine längere Pause ein, bevor er antwortete.

»Schreibe schon ungefähr dreißig Jahre und muss zugeben, übermäßig viel Geld lässt sich damit tatsächlich nicht machen. Hatte einmal vor Jahren einen Erfolgsroman, danach nur noch unbedeutende Ergebnisse. Hoffe, dass ich mit dem nächsten Buch meinen Verleger wieder besänftigen kann. Der möchte gerne seine Honorarvorschüsse wieder reinholen.«

»Was haben Sie gesehen? Können Sie mir das genau schildern?«

Dieser abrupte Themenwechsel irritierte Patrick etwas. Er schaffte es jedoch relativ schnell, sich wieder zu sammeln und das Geschehene so genau wie möglich darzustellen. Als er bei seiner kuriosen Festnahme ankam, war das Schmunzeln im Gesicht Kalkoves kaum zu übersehen.

»Für den Augenblick habe ich das Wesentliche von Ihnen, möchte Sie jedoch bitten, sich in den nächsten Tagen für die Beantwortung weiterer Fragen zur Verfügung zu halten. Kann ich Ihre Mobilnummer haben? Rufe Sie dann an. Ich lasse Sie jetzt ins Hotel bringen, ist das für Sie in Ordnung?«

Nachdem er es ohne fremde Hilfe geschafft hatte, seinen imposanten Body von der Rückbank des Passats nach draußen zu wuchten, steuerte er gezielt auf die uniformierte Männergruppe zu, die sich ringförmig um den Bürgermeister Holzberg versammelt hatte. Schon auf Grund seiner imposanten Körpergröße von etwa eins fünfundneunzig und seiner sonstigen horizontalen Ausmaße, war es ihm nicht möglich, sich unauffällig dieser Versammlung zu nähern. Ehrfürchtig teilte sich die Menge, um ihm den Blick auf Holzberg freizugeben, der dort wie ein Sekten-Guru die Huldigungen seiner Jünger entgegenzunehmen schien. Es wurde jetzt wohl eine lautstarke Auseinandersetzung erwartet, die dann später im Gasthof die Grundlage für die lokalen Tagesthemen bilden konnte.

---ENDE DER LESEPROBE---