Der Tod hinter der Lüge - H.C. Scherf - E-Book

Der Tod hinter der Lüge E-Book

H.C. Scherf

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Beschreibung

„Sie gibt sich einem anderen hin!“ Die Nachricht am Telefon pflanzt den Stachel der Eifersucht in die Gedanken der Männer, die an die ewige Liebe und Treue glauben. Eine perfide Vorgehensweise eines brutalen Killers setzt eine Gewaltspirale in Gang, die vielen Frauen im Ruhrgebiet den grausamen Tod bringt. Lange bleibt das Motiv des Mörders im Nebel, während das Team um Hauptkommissar Gordon Rabe versucht, eine erste Spur zu finden. Noch nie begegnete er einem derart brutal und raffiniert agierenden Mörder. Dessen Spur verliert sich immer wieder, ohne dass die Ermittler weitere Morde verhindern können. Erst eine schreckliche Entdeckung lockt den Serientäter aus seinem Versteck. Die Stunde der Abrechnung scheint gekommen.

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DER TOD HINTER DER LÜGE

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Der Tod hinter der Lüge

 

© 2020 H.C. Scherf

Ewaldstraße 166 – 45699 Herten

http://www.haraldschmidt-ebooks.de

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Aktives Mitglied im Selfpublisher-Verband e.V.

 

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Bilder von: photobyphotoboy und TheWashingLine alle shutterstock/

majdansky und dgool alle www.clipdealer.com

 

Lektorat/Korrektorat: Heidemarie Rabe

[email protected]

 

Dieses E-Book ist geschützt und darf ohne Genehmigung des Autors nicht

vervielfältigt oder weitergegeben werden.

 

DER TOD

HINTER DER LÜGE

 

Von H.C. Scherf

 

 

 

 

 

Die Eifersucht nährt sich von Zweifeln und sie wird zur Wut.

Oder sie endet,

sobald sie von Zweifeln zur

Gewissheit gelangt

 

François de La Rochefoucauld (1613 - 1680), François VI. de La Rochefoucauld, franz. Offizier, Diplomat und Schriftsteller

 

1

Träge wabernde Nebelschwaden umhüllten den Platz, der häufig als wilde Müllabladestelle genutzt wurde. Rainer Fielmann wusste, dass er dort häufig fündig wurde, wenn er auf der Suche nach Pfandflaschen und Dosen war. Vor Tagen hatte ihn der Fund einer abgelegten Luftmatratze überrascht, die er nun als Nachtlager nutzen konnte. Seine Kumpel, die teilweise auf Zeitungspapier liegen mussten, versuchten schon mehrfach, ihm die Unterlage zu stehlen. Wenn man Platte schieben musste, stellte eine solche Schlafhilfe in den kalten Nächten einen besonderen Komfort dar. Rainer hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen und hoffte darauf, auch ein paar Essensreste vorzufinden, nachdem ihn der Marktleiter eines SB-Marktes vor einer halben Stunde wie einen Hund mit den Worten davongejagt hatte: »Geh arbeiten, du faules Schwein. Verdien dir dein Essen erst.«

Rainer kannte diese Beschimpfungen zu Genüge und reagierte mittlerweile gar nicht mehr darauf, winkte nur ab und verzog sich ohne weitere Erwiderung. Diese arroganten Ärsche wussten alle nicht, was ihn vor Jahren auf die Straße getrieben hatte und dass das Schicksal sie schnell selber in dieses Elend führen konnte. Ohne große Erwartung näherte er sich dem übel riechenden Dreckhaufen, der sich mittlerweile hoch auftürmte und dessen Konturen sich gegen das Licht der Laterne abzeichneten. Während er sich mit einer Hand die wenigen Haarsträhnen, die ihm noch geblieben waren, unter die Wollmütze steckte, suchte die andere nach brauchbaren Gegenständen. Heute war der eklige Geruch besonders intensiv, was sicherlich an dem feuchtkalten Wetter liegen durfte. Seine Stiefel schützten ihn weitestgehend vor dem Schlamm, in dem Rainer immer wieder fast katzengroße Ratten davonhuschen sah. Sie waren nur Konkurrenten bei der Suche nach Nahrung. Immer wieder zog er Abfallbeutel zur Seite, riss Säcke auf, in denen er Brauchbares vermutete und zuckte plötzlich zusammen, als er eine schwache Stimme vernahm. In dem diffusen Licht konnte er lediglich die Richtung ausmachen, aus der sie zu kommen schien. Als er alles schon als Hirngespinst abtun wollte, war sie wieder da – diese Stimme, die aus einem Jutesack zu kommen schien. Rainer wich einen Schritt zurück, fiel fast über einen Eimer, der mit Abfällen aus einer Wohnungsrenovierung gefüllt war. Im letzten Moment fand er sein Gleichgewicht und festen Halt wieder und starrte auf den Sack, der ihm einen Riesenschrecken eingejagt hatte.

Das ist nicht möglich, Rainer. Jetzt ist es endlich so weit – du spinnst komplett.

Seine Augen suchten die nähere Umgebung ab, um den Übeltäter zu finden, der ihn hier zum Narren halten wollte. Lediglich die umherirrenden Ratten und die Nebelschwaden waren in Bewegung und täuschten ihm Leben vor. Er schrak heftig zusammen, als er nun klar und deutlich die Worte vernehmen konnte: »Ist da jemand? Bitte, helft mir doch. Es tut so schrecklich weh.«

Nur sehr schwach war die Bewegung erkennbar, die Rainer anzeigte, dass sich etwas Lebendiges in dem Sack befinden musste. Er konnte seine Unsicherheit, seine Angst nicht vollends verbergen, als er sich dem Behältnis näherte, nach einem Verschluss suchte. Als er endlich die Schnur gefunden sah, die jemand um die Öffnung gebunden hatte, zitterten seine Finger dermaßen stark, dass er sie erst unter die Achselhöhlen presste, bevor er ein weiteres Mal versuchte, den Knoten zu lösen. Immer wieder dieses Wimmern, das ihm zeigte, wie schwer es der Person in dem Sack fallen musste, überhaupt einen Ton von sich zu geben. Verzweifelt riss er an dem Knoten, wobei er genau das Gegenteil erreichte. Er zog sich immer enger zusammen.

Das Taschenmesser. Ja, das wird helfen. Wo habe ich es denn ...?

Mit Erleichterung ertasteten seine Finger das Messer, das er sich vor Monaten zur Selbstverteidigung angeschafft hatte, in der Gesäßtasche. Es war nur noch ein Schnitt, der ihm allerdings den Atem raubte. Er musste wegsehen, als er in das Gesicht der Frau blicken musste, deren Augen nur noch aus leeren Höhlen bestanden.

»Hilf mir bitte. Ich halte das nicht mehr aus.«

2

Der Blick in den Badezimmerspiegel verdarb Hauptkommissar Gordon Rabe den verbliebenen Rest der guten Laune. Was er sah, konnte seiner Meinung nach nur eine Mutter wirklich lieben. Was war aus dem smarten Burschen geworden, der er einmal war? Sein einst schwarzer Bart, der sich um Mund und Wangen legte, war von breiten, weißen Strähnen durchzogen, die sich mittlerweile auch in seinem schulterlangen Kopfhaar fanden. Die Tränensäcke konnten auch die Teebeutel nicht mehr kaschieren, die er sich häufig auf die Augen legte. Obwohl er sich dessen bewusst war, dass man mit sechsundvierzig nicht mehr das jugendliche Aussehen eines Teenagers besitzen konnte, trieb ihn die Eitelkeit zu so manchen Hausmittelchen. Aber er tat es nicht, um der Damenwelt zu imponieren. Es war reine Gewohnheit, war die Ausrede, mit der er sich selbst belog. Mit dem Finger fuhr er zärtlich über das Foto, das er in die Ecke des beschlagenen Spiegels gesteckt hatte. Die Verzweiflung in seinen Augen wich einem Leuchten, das jedoch Sekunden später wieder der Hoffnungslosigkeit Platz einräumte.

Wie inhaltsreich und sinnvoll war dieses Leben gewesen, bevor Denise ihm Jonas nahm und das Haus verließ. Dass ihre Ehe nach seinen Saufeskapaden den Bach runterging, kam nicht überraschend, obwohl er Denise immer noch liebte. Er hatte nicht bemerkt, vielleicht auch nicht bemerken wollen, dass sie sich mit den Jahren auseinandergelebt hatten. Sein Beruf war zumeist der Grund dafür, dass eine Beziehung nicht auf Dauer hielt. Schon weit vorher schlossen die Kollegen Wetten darauf ab, wie lange es bei ihm noch dauern würde, bis sie seine Trennung besaufen könnten. Er hasste sie manchmal dafür.

Wie geht es dir, Kleiner? Mama wird bestimmt gut für dich sorgen.

Gordons Lippen bewegten sich, während er diese Gedanken formulierte. Er sah die Bilder des letzten gemeinsamen Urlaubs vor seinem geistigen Auge vorüberziehen, in dem sich Denise schon mit ihm bezüglich seiner Trunksucht gestritten hatte. Jonas zuliebe verzichteten sie auf allzu offene Debatten, da sie glaubten, dass er unter diesem Zustand doch leiden könnte. Wenn auch sein angeborener Autismus nur Eingeweihten gestattete, seine Verhaltensänderung zu erkennen, so war es bezeichnend, dass er sich noch weiter in sich zurückzog. Immer wieder hatte Gordon versucht, ihn bei Strandspaziergängen aufzumuntern. Sie spielten ihm sogar das funktionierende, intakte Eheleben vor mit dem Ergebnis, dass er sie beide nur verständnislos und schweigend anstarrte. Obwohl es schwierig war, seine wenigen Reaktionen, so es sie überhaupt gab, einzuordnen, schien er in ihre Seelen blicken zu können. Dann verabschiedete er sich in seine Welt und paukte eine neue Fremdsprache. Es fiel ihm unendlich leicht, nun schon neben Englisch, Französisch und Spanisch auch Russisch zu lernen. Eine Gabe, die er unmöglich von seinen Eltern haben konnte. Man erlebte sie immer wieder besonders bei Autisten, die das Asperger-Syndrom aufwiesen. Das war auch bei Jonas der Fall.

Gordon zuckte zusammen, als das Smartphone auf der Ablage tanzte und der Gefangenchor aus Nabucco durch das Bad dröhnte. Fluchend griff er nach dem Störenfried und meldete sich mit mürrischer Stimme. Lange hörte er zu, bevor er die erste Frage stellte.

»Wo ist diese verfluchte Müllhalde denn nun genau. An der Heißener Straße reicht mir da nicht. Ich möchte das schon genau wissen.«

Wieder lauschte er und drehte den Wasserhahn auf.

»Moment, bin sofort wieder da.«

Mit beiden Händen fing er das Wasser auf und warf es sich ins Gesicht. Erst als er die erfrischende Wirkung spürte und sich wieder trocken gewischt hatte, nahm er das Telefon wieder auf.

»So, da bin ich wieder. Habt ihr der Spurensicherung schon die Adresse gegeben? Ich möchte sie und euch beiden vor Ort haben. Bin in zwanzig Minuten da.«

Hauptkommissar Rabe stützte beide Hände auf das Waschbecken und blickte an sich herunter. Das, was er zu sehen bekam, ließ den Entschluss in ihm reifen, bald wieder mit dem Fitnesstraining zu beginnen. Entschlossen eilte er ins Schlafzimmer und schlüpfte in den Jeansanzug, der zu seinem Markenzeichen im gesamten Präsidium geworden war. In der Szene hatte man ihm seit längerer Zeit den Beinamen »The Boss« gegeben, angelehnt an das äußere Erscheinungsbild eines Bruce Springsteen.

 

Große Scheinwerfer, die rund um die Fundstelle aufgestellt worden waren, wiesen Gordon Rabe den direkten Weg. Es war ein Bild, das ihm für einen kurzen Moment ein Grinsen auf die Lippen zauberte, bevor er sich dem Ernst der Lage bewusst wurde. Es wirkte zumindest auf ihn belustigend, dass Heerscharen von in weißen Schutzanzügen gekleideten Menschen durch einen Berg von Müll wuselten und dabei ständig die Blitze der Fotokameras die Szene für Momente aufhellten. Er wusste, wie mühselig es war, in diesem Dreck eine verwertbare Spur zu finden. Nachdem man ihm den Fundort nannte, war er sich bereits sicher, dass dies niemals der Tatort sein konnte. Man hatte wohl ein Opfer entsorgt, von dem man höchstwahrscheinlich überzeugt war, dass es tot war. Ansonsten ergab die Aktion für ihn keinen Sinn. Ein Polizeibeamter stellte sich ihm in den Weg, der jedoch den Finger an die Mütze legte, als er Gordons Dienstausweis sah. Mitten im Gewühl entdeckte er die imposante Figur von Kommissar Wiesner, der ausgiebig mit Kommissarin Felten diskutierte. Gordon Rabe näherte sich von der Seite und unterbrach das Gespräch.

»Ich störe ja ungern eure Unterhaltung, aber es hört sich danach an, als wärt ihr unterschiedlicher Meinung. Worum geht es dabei?«

Leonie Felten reagierte bereits, bevor Kai Wiesner den ersten Ton von sich geben konnte.

»Es hat zehn Minuten gebraucht, bevor ich den Preisboxer hier aus den Federn geklingelt hatte. Kai wollte sogar noch duschen. Fast hätte ich den Sturkopf mit Waffengewalt ins Auto gezwungen. Und jetzt haben wir den Salat.«

»Moment mal, Leonie – du machst es dir ziemlich einfach. Ich trage keine Schuld daran, dass ...«

»Ruhe jetzt!«, fuhr Hauptkommissar Rabe dazwischen. »Kann mir mal jemand erklären, was das Theater soll? Ich verstehe nur Bahnhof.«

Wieder war es Leonie, die schneller reagierte als der etwas behäbig wirkende Kollege.

»Wäre der liebe Kollege etwas entscheidungsfreudiger und schneller gewesen, hätten wir das Opfer eventuell noch befragen können. Jetzt hat sie den Löffel abgegeben. Dr. Lieken ist der Meinung, dass der Tod erst vor weniger als zwanzig Minuten eingetreten sein muss. Das bestätigt auch die Aussage des Zeugen, der die Frau gefunden hat. Er behauptet nämlich, dass sie noch um Hilfe gebettelt hat.«

»Wo finde ich Dr. Lieken?«, wollte Rabe wissen und blickte sich um. Es war nicht schwer, diesen besonderen Mann aus den vielen weißen Gestalten herauszufiltern. Obwohl er die gerade einmal hundertsechzig Zentimeter nur knapp überschritt, war sein schulterlanges Haar ein klares Erkennungsmerkmal. Nur selten trugen Männer, die das Alter von fünfundsechzig erreicht hatten und einen akademischen Titel ihr Eigen nannten, diese Frisur der ehemaligen Blumenkinder. Der Mann jedoch machte sich wenig aus den abschätzenden Blicken anderer. Da stand dieser perfekt ausgebildete Rechtsmediziner drüber, zumal er sich durch die Einheirat in eine stinkreiche Familie eine gewisse Gelassenheit angeeignet hatte, die unterschiedlich ausgelegt wurde. Was viele für pure Arroganz hielten, war jedoch nur ein Schutzmantel für ihn. Gordon Rabe wusste durch eine lange Zusammenarbeit mit ihm, wie sensibel und innerlich zerrissen Lieken in Wirklichkeit war. Gordon kämpfte sich durch den Unrat und sah die Erleichterung in Liekens Augen, als der ihn erkannte.

»Zu spät.«

Resigniert hob der Mediziner die Schultern, bevor er seine Aussage erläuterte.

»Es wundert mich ehrlich gesagt, dass diese junge Frau überhaupt noch einen Hilferuf von sich geben konnte. Guck dir mal diese Wunden an. Das ist nicht mehr menschlich, was man ihr angetan hat. Einige von den Verletzungen sind für sich allein schon tödlich. In der Summe grenzt es wirklich an ein Wunder, dass sie noch atmete.«

Dr. Lieken zog das Tuch vom Körper der Frau, die quasi in ihrem eigenen Blut badete. Gordon hatte in seinen langen Jahren bei der Mordkommission schon viele Opfer gesehen – das hier überstieg jedoch eine rote Linie. Er musste den Blick abwenden, um die Übelkeit zu unterdrücken.

»Wie hat diese Frau das denn geschafft? Das kann doch kein Mensch aushalten. Wo ist der Rest von der Frau? Gibt es noch weitere Funde hier?«

Die Lippen des Mediziners waren fest aufeinandergepresst, als er den Kopf schüttelte. Er griff nach einem Kugelschreiber und wies auf das Gesicht der Frau.

»Da muss eine gehörige Portion Hass beim Täter vorhanden gewesen sein, als er ihr die Augen herausriss. Ich kann keine eindeutigen Verletzungen, also Scharten an den Knochen erkennen, die darauf hinweisen, dass er dafür einen Gegenstand benutzt hat. Das Schwein muss ihr die Augäpfel mit bloßen Fingern herausgegraben haben. Wir könnten es wieder einmal mit einem Trophäensammler zu tun haben. Doch das ist nicht alles, Gordon. Siehst du das hier?«

Der Hauptkommissar zwang sich dazu, der Richtung zu folgen, die ihm der Kugelschreiber des Arztes vorgab. Die Gänsehaut konnte er nicht vermeiden, die sich augenblicklich bildete, als er die rechte Hand betrachtete, an der der Ringfinger fehlte. Weiter leitete ihn Dr. Lieken zum Unterleib der geschändeten Frau. Erst jetzt bemerkte Gordon, worauf der Freund hinauswollte. Der abgetrennte Ringfinger steckte noch sichtbar in der Vagina des Opfers. Gordon Rabe fehlten die Worte. Die Frage kam im gleichen Augenblick aus dem Mund von Leonie Felten, die sich unbemerkt von Gordon neben ihn gestellt hatte.

»Hat das eine Bedeutung, Dr. Lieken? Warum nimmt der Satan die Augen mit und lässt den Finger in der Scheide zurück? Das muss doch einen Grund haben.«

Der Arzt kam aus seiner Hockstellung hoch und verstaute seinen Schreiber wieder umständlich in der Jackeninnentasche. Während er den Kopf gesenkt hielt, kamen die Worte stockend über seine Lippen.

»Ich bin da nicht der richtige Ansprechpartner, liebe Kollegin Felten. Das wird Ihnen ein Psychologe besser erklären können. Aber wenn Sie mich schon einmal fragen«, hier machte Lieken eine bedeutungsvolle Pause. »Ich sehe in dem Ringfinger einen Hinweis. Warum gerade der und nicht der Daumen? Ich möchte wetten, dass wir daran auch einen Ehering finden werden. Den Beweis werde ich Ihnen später vielleicht nachreichen können, wenn ich die Dame auf dem Tisch hatte. Ich weiß, dass es weit hergeholt scheint, aber ich vermute, dass die Frau in den Augen des Täters untreu war und er es damit symbolisieren will. Der Ring ist das Versprechen zur Treue – die Vagina die Wurzel allen Übels.«

»Was soll denn der Unsinn, Herr Doktor? Sie können doch nicht behaupten, dass ...«

Leonie Felten stemmte ihre Fäuste in die Hüften und betrachtete den Mediziner missbilligend. Gordon hielt sie zurück, bevor sie einen ihrer berüchtigten Wutanfälle bekam.

»Ruhig, Felten. Da hast du was in den falschen Hals bekommen. Ich denke, dass Dr. Lieken es ganz anders meinte, als du es aufgefasst hast. Er sieht in den Genitalien und dem Sexualtrieb beider Geschlechter einen gewichtigen Grund, warum Menschen ihr Versprechen zur Treue brechen und sich einem anderen möglicherweise aus reiner Wollust hingeben. Es wäre doch gut möglich, dass wir es mit einem betrogenen Ehemann zu tun haben, der an verknöcherten Treueschwüren festhält und so Rache geübt hat. Ist das denn so weit weg für dich? Komm mal wieder runter. Selbst du als überzeugte Single solltest dir das vorstellen können.«

Leonie schenkte dem Doktor noch einen letzten giftigen Blick, bevor sie sich wieder entspannte. Die gemurmelte Bemerkung konnte sie sich jedoch nicht verkneifen.

»Wenn das jetzt Mode macht, haben wir eine weitere Gottesplage auf Erden. Das dürfte allerdings kaum einer überleben und zur endgültigen Ausrottung der menschlichen Rasse führen. Halleluja. Und das mit dem überzeugten Single solltest du einmal etwas differenzierter sehen. Ich habe auch Beziehungen, lehne aber die feste Bindung ab. Bemerkst du den feinen Unterschied darin?«

Einige der Männer, die um sie herumstanden und der Diskussion gefolgt waren, konnten sich trotz der bedrückenden Situation ein Grinsen nicht verkneifen. Dr. Lieken nutzte die Pause, um noch eine Bemerkung loszuwerden.

»Ich möchte Sie alle noch auf eine Kleinigkeit hinweisen, die allerdings von besonderer Bedeutung sein dürfte. Der Täter hat uns eine Nachricht hinterlassen.«

Demonstrativ hob er die Decke nun vollständig und drehte den Leichnam auf die Seite, sodass jeder die Wunden auf dem Rücken erkennen konnte. Jemand hatte der Frau die Worte in die Haut geschnitten:

Ich habe Gottes Gebot missachtet

»Wer das getan hat, Herrschaften, wollte ein Exempel statuieren. Wenn ihr mich nach der Bedeutung fragt, würde ich auf Untreue tippen. Das würde zu der anderen Verletzung passen. Ich hätte die Dame gerne zeitnah auf dem Tisch. Könntest du das veranlassen, Gordon?«

Der Mediziner wartete die Antwort des Freundes nicht ab und stapfte durch den Müll in Richtung seines Autos. Der Citroën 2CV tuckerte gefährlich schaukelnd davon und ließ vorerst ratlose Polizisten am Fundort der Leiche zurück.

3

»Nun noch einmal von vorne, Herr Fielmann. Jede Kleinigkeit kann für uns sehr wichtig sein. Sie suchten also nach etwas Essbarem und begaben sich zu dieser wilden Abladestelle. Ist Ihnen dabei wirklich niemand aufgefallen, der sich vielleicht vom Fundort des Opfers entfernte? Der Ort wird ja relativ gut von einer Straßenlaterne beleuchtet.«

Leonie Felten beugte sich über den Tisch und schob dem sichtlich nervösen Obdachlosen die Tasse mit dem heißen Kakao näher hin, die er bisher nicht angefasst hatte. Fast ängstlich um sich blickend legte der nun die schmutzigen Hände um die Tasse und nippte an dem Getränk.

»Da war wirklich keiner – glauben Sie mir. Das hätte ich bemerkt. Ich bin in dem Punkt sehr vorsichtig, da man mir früher mal aufgelauert und mir die Jacke angezündet hat. Da waren nur ein paar Ratten und dann diese Frau. Die hat sich noch bewegt und um Hilfe gerufen.«

»Hat sie laut gerufen oder nur so ganz leise? Was genau hat sie Ihnen gesagt?«

Kommissarin Felten versuchte, ihrer ansonsten festen, sogar rauen Stimme einen sanften Klang zu geben. Jeder, der dieser Frau zum ersten Mal begegnete, war beeindruckt von der etwas maskulinen Erscheinung im stets strengen Hosenanzug. Obwohl sie sich bemühte, sie unsichtbar zu halten, fiel die Oberlippenbehaarung immer wieder auf. Im krassen Gegensatz dazu stand der betörende, sehr feminine Duft von Chanel No 5, den sie sich hin und wieder zu stark auflegte.

Rainer Fielmann schien nun alle Scheu abzulegen. Er trank einen großen Schluck des wärmenden Kakaos und rieb sich mit dem Ärmel über den Bart, um letzte Tropfen zu beseitigen. Er überlegte nur Sekunden, bevor er seine Erstaussage wiederholte.

»Sie sagte, so glaube ich – nein, ich bin mir da sicher: Ist da jemand? Bitte helft mir doch. Es tut so schrecklich weh. Als ich den Sack aufgeschnitten hatte, kam dann noch: Hilf mir bitte. Ich halte das nicht mehr aus. Mehr kann ich nicht sagen, weil ich dann losgelaufen bin. Den Rest kennen Sie ja. Verdammt, wer macht so was nur? Derjenige muss total krank sein.«

Leonie Felten ließ die abschließende Aussage unkommentiert, zumal ihr in dem Augenblick der Kollege Wiesner ein Zeichen gab, dass er sie sprechen wollte.

»Für Ihre Aussage und dafür, dass Sie so umsichtig gehandelt haben, danken wir Ihnen. Wenn Sie bitte noch einen kleinen Moment draußen warten würden, bis die Kollegen die Aussage protokolliert haben. Sobald Sie unterschrieben haben, können Sie natürlich gehen. Hinterlassen Sie bitte noch eine Adresse, wo wir Sie erreichen können.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Leonie, um nach dem Grund der Störung zu fragen. Sie bekam die Bemerkung des Zeugen nicht mehr mit, der sich draußen auf die Bank setzte.

»Meine Adresse? Hat die Frau was geraucht? Ich wollte, ich hätte endlich eine.«

Er verfolgte noch einen Moment die Geschehnisse im Nebenraum, wo sich die Kommissarin mit einem riesigen Kerl unterhielt, der ihr Fotos zeigte. Dann schlief er auf der Bank im Flur ein. Nach kurzer Zeit klopfte ihm ein Beamter auf die Schulter und bat darum, ein Schriftstück zu unterzeichnen. Missmutig verließ Fielmann das Präsidium und machte sich auf den Weg zu seiner normalen Schlafstelle in der Kanalisation.

 

Leonie Felten besah sich die Fotos, die ihnen Dr. Lieken aus der Rechtsmedizin auf den Rechner geschickt hatte. Sie konnte immer noch nicht begreifen, warum man so was einem anderen Menschen antat.

»Jetzt, wo der Körper gewaschen wurde, kann man auch die vielen Prellungen und Blutergüsse erkennen. Da muss sich jemand im Zustand rasender Wut über die Frau hergemacht haben. Haben wir schon Hinweise auf die Identität? Das Gott sei Dank geschönte Bild vom Gesicht der Toten war doch in der Presse. Dann müssen wir nur noch zwei und zwei zusammenzählen. Es dürfte nicht schwer sein, herauszufinden, wo sich der Ehemann derzeit aufhält. Findest du nicht auch, dass dieses Gemetzel auf ihn hindeutet?«

Kai Wiesner, der seine Kollegin um mehr als einen Kopf überragte, legte den Kopf schräg und zog die Stirn in Falten.

»Auf den ersten Blick würde ich mit dir darin dacor gehen. Aber es besteht ja immer noch die Möglichkeit, dass es sich um einen Freund der Frau oder sogar um ein Zufallsopfer handelt. Die Kollegen suchen nach vermissten Personen und Fällen, die Ähnlichkeiten aufweisen. Dr. Lieken schreibt hier, dass er Spuren von Erde und Fremdblut unter den Fingernägeln der Frau gefunden und an das Labor geschickt hat. Die versuchen nun in der Datenbank die DNA abzugleichen. Vielleicht haben wir ja Glück und es handelt sich um einen alten Bekannten.«

Das Telefon auf Rabes Schreibtisch meldete sich. Leonie warf einen Blick auf das Display und zuckte im letzten Moment zurück, als sie den Anrufer anhand der Nummer ausmachen konnte.

»Warum gehst du nicht dran?«

Keiner von beiden hatte bemerkt, dass der Chef gerade in diesem Augenblick das Büro betreten hatte und fragend auf seine Kollegin blickte.

»Es war Denise. Ich wollte nicht ...«, stotterte Leonie und trat zur Seite.

»Was ist los mit dir? Du bist es nicht, die mit ihr in Scheidung lebt, sondern ich. Denise hätte dich schon nicht gefressen. Dafür bin ich da. Jetzt kann ich sie zurückrufen, verdammt. Gibt es was Neues über den gestrigen Fund? Gebt mir fünf Minuten, dann habe ich Zeit für euch. Jetzt werde ich zuerst das größere Problem angehen.«

Gordon Rabe ließ sich mit einem ergebenen Seufzer in seinen Drehstuhl fallen und griff nach dem Telefonhörer. Kaum hatte er die erste Ziffer gewählt, erklang wieder der Gefangenenchor in seiner Innentasche. Ergeben legte er wieder auf und griff nach seinem Smartphone.

»Na, noch nicht im Büro angekommen? Hat dich dein Kater wieder einmal aufgehalten? Nun ja, soll meine Sorge nicht mehr sein. Schmeiß dir eine Tablette rein und hör mir zu. Ich wollte etwas mit dir besprechen, was Jonas betrifft. Wann hat der Herr Hauptkommissar Zeit für wichtige familiäre Angelegenheiten? Noch muss ich mich ja mit dir abstimmen. Also, wann können wir uns sehen?«

Gordon verdrehte die Augen, als er schon zur Begrüßung mit dieser Boshaftigkeit überschüttet wurde. Er atmete zweimal kräftig durch, um sachlich antworten zu können.

»Geht es dir jetzt besser, nachdem du dein Gift versprüht hast? Komm zur Sache. Vielleicht erübrigt sich ja dann das ominöse Treffen. Ich denke, dass du sowieso nicht so scharf darauf bist. Was ist mit Jonas?«

Im Hintergrund konnte Gordon ein leises Tuscheln vernehmen, was ihm deutlich zeigte, dass Denise nicht alleine am Telefon war.

»Ist das Jonas, mit dem du sprichst? Gib ihn mir mal. Vielleicht kann er mir selbst mitteilen, was seine Mutter nur Auge in Auge klären kann.«

»Es ist nicht Jonas, du Feigling. Hast du nicht einmal mehr genug Arsch in der Hose, mir persönlich gegenüberzutreten? Was ist aus diesem Superbullen geworden, der du doch immer sein wolltest? Ich komm heute Abend mit unserem Sohn bei dir vorbei. Basta. Ich hoffe, dass du um zwanzig Uhr in der Wohnung bist – und nüchtern.«

Hauptkommissar Rabe blieb keine Gelegenheit, darauf zu antworten. Kopfschüttelnd starrte er auf sein Smartphone und steckte es schließlich zurück in die Jackentasche. Zwei Augenpaare richteten sich fragend auf ihn, als er sich zum Besprechungstisch bewegte.

»Ich will jetzt nichts darüber hören, Leonie!« Drohend wies sein Zeigefinger auf seine Mitarbeiterin, die gerade zu einer Frage ansetzen wollte.

»Ich wollte ja nur ...«, war alles, was sie noch herausbekam. »Aber über den Fall dürfen wir doch wohl reden, oder? Du wolltest wissen, was es an Neuigkeiten gibt. Nichts. Hilft dir das irgendwie weiter?«

Fast hätten die beiden losgelacht, als sie in das überraschte Gesicht ihres Chefs blickten. Im letzten Moment verkniffen sie sich das, da sie einschätzen konnten, dass der für Scherze derzeit nicht empfänglich sein durfte. Kai Wiesner beeilte sich deshalb, dem Vorgesetzten die Ausdrucke aus der Rechtsmedizin vorzulegen. Sie gaben Gordon Zeit, die Fakten zu registrieren. Schließlich gab auch er den ersten Kommentar zur Sache ab.

»Ich habe vorhin noch mit Dr. Lieken telefoniert. Er hat diverse Haare an der Leiche gefunden, die eindeutig nicht ihr selbst zuzuordnen sind. Die gleichen wir jetzt schnellstmöglich mit der DNA von unserem Zeugen Fielmann ab. Könnte ja sein, dass der die Frau angefasst oder sich über sie gebeugt hat. So ganz dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass er sogar der Täter sein könnte und uns nur ein Theater vorspielt. Das klingt doch gut, wenn man die Geschichte mit dem Hilferuf auftischt. Kommt die Polizei, ist sie soeben verstorben. Er ist dann fein raus. Also werden wir Rainer Fielmann im Kreis der Verdächtigen belassen. Ich hoffe nur, dass wir bald den Namen der Toten haben. Das dürfte doch wohl nicht so schwer sein.«

»Mit Augen wäre es sicherlich einfacher«, konnte sich Kai Wiesner nicht verkneifen zu erwähnen.

4

Sie ist immer noch eine Schönheit, fuhr es ihm durch den Kopf, als Gordon an der Haustür zur Seite trat, um Denise und Jonas in die Wohnung eintreten zu lassen. Keiner der beiden gönnte dem Mann einen Gruß, der jeden Monat einen großen Teil seines Gehaltes an sie überwies. Bei Denise hatte er es auch nicht erwartet, aber der teilnahmslose, leere Blick seines Sohnes Jonas bereitete ihm Sorgen. Während Jonas sofort damit begann, das Bücherregal des Vaters zu inspizieren, setzte sich Denise an den Esstisch und entfaltete wortlos ein Schreiben auf dem Tisch. Gordon ließ sich dadurch nicht davon abhalten, sich seinem Sohn zu nähern, der scheinbar interessiert in dem Kompendium der Kriminalistik blätterte, das der diplomierte Kriminalist Dr. Lukaschewski als Nachschlagewerk für Kollegen und angehende Mediziner herausgebracht hatte. Er reagierte kaum, als sich die Hand seines Vaters auf seine Schulter legte.

»Möchtest du nach der Schule bei uns einsteigen? Wir können immer guten Nachwuchs brauchen. Du darfst dir das Buch gerne ausleihen.«

Als hätte Gordon gegen eine Wand gesprochen, stellte Jonas das Buch wieder in das Regal und setzte sich wortlos neben seine Mutter. Er begann damit, etwas in ein Notizbuch zu schreiben, das weder Denise noch Gordon einsehen durften. Schließlich steckte der Zwölfjährige das Büchlein zurück in die Tasche und sah weiterhin stumm auf einen imaginären Punkt an der Wand.

»Würdest du dir jetzt endlich das Schreiben ansehen und deine Unterschrift drunter setzen?«, giftete Denise los und tippte mit ihren dunkelrot lackierten Nägeln auf das amtliche Schreiben. »Ich muss das bis morgen zurückgeschickt haben.«

Nun endlich überlas Gordon, was er unterschreiben sollte. Adressiert war das Schreiben an die Schule, die Jonas bisher besucht hatte. Sie erwartete die Bestätigung beider Elternteile, dass Jonas zum Ende des Schuljahres die Schule verlassen würde, um auf eine andere zu wechseln, die ihm das Erreichen des Abiturs eher ermöglichen könnte. Man bescheinigte ihm ein überdurchschnittliches Wissen und Talent, wobei aber auch auf die Problematik seines angeborenen Autismus hingewiesen wurde. Die Lehrer empfahlen daher die besondere Förderung, die man ihm auf Grund fehlender Inklusionsmöglichkeiten derzeit auf der bisherigen Schule nicht garantieren konnte. Man empfahl eine gleichwertige Schule, die über mehr Lehrkörper verfügte, die entsprechend geschult waren. Inklusion war ein großes Wort, das durch die Schulen geisterte, wobei die Umsetzung in den wenigsten Fällen klappte.

»Ich verstehe das nicht. Jonas könnte doch sein Abitur auch dort machen. Das hat man uns doch zugesagt. Was sagt denn Jonas zum Wechsel?«

»Frag ihn doch selbst – dein Sohn sitzt doch direkt vor dir.«

Als hätte er nichts von der Diskussion mitbekommen, war der Blick von Jonas nun auf die Tischdecke gerichtet, auf der er mit einem Finger das abstrakte Muster nachzeichnete. Gordons Hand legte sich über die von Jonas, was lediglich dazu führte, dass er aufhörte, die Linien nachzuzeichnen, jedoch weiter auf eine Stelle starrte. Selbst als er die Worte des Vaters vernahm, reagierte er nur, indem er Denise fragend ansah.

»Jonas – bitte antworte mir«, drängte ihn Gordon nun energischer, »Ich möchte doch nur wissen, ob du das auch möchtest. Du hast doch bestimmt viele Freunde in der Schule, die du dann nicht mehr sehen würdest. Hast du dir das gut überlegt? Hat dich deine Mutter überhaupt gefragt?«

»Das ist doch wohl die Höhe. Was erlaubst du dir überhaupt uns gegenüber? Du säufst dir den Verstand weg und meinst jetzt, uns belehren zu müssen? Ich trage derzeit die Verantwortung für unseren Sohn – ich ganz allein. Verstehst du das? Unterschreibe und lass mich das erledigen, was für den Jungen das Beste ist.«

Sie riss Gordon das Schreiben aus der Hand und tippte wieder auf die Stelle, an der Gordon unterschreiben sollte. Ihr Gesicht hatte neben der Freundlichkeit auch die Züge verloren, die ihre natürliche Schönheit ausmachten. Gordon war erfahren genug, um jetzt nicht die Ruhe zu verlieren. Allerdings trieb genau diese abgeklärte Ruhe Denise immer wieder zur Weißglut. Sie hasste es, wenn sie durch ihre Aggressivität bei ihm keine Wirkung erzielen konnte.

»Komm mal wieder runter von deinem hohen Ross. Mein Verstand funktioniert noch recht gut. Und die Entziehung habe ich hinter mich gebracht. Ich habe mein Wort gehalten. Du warst es, die trotz falscher Versprechungen, dass danach wieder alles gut wird, die Scheidung eingereicht hat. Wenn es nach mir gegangen wäre, könnte ich mich immer noch um den Jungen kümmern. Mach jetzt mal halblang.«

Ohne dass er es beeinflussen konnte, hatte Gordon ungewollt die Stimme erhoben. Denise hatte es durch ihre Art, schnell ausfallend zu werden, geschafft, dass auch er überreagierte. Beide stockten in ihren Reaktionen, als sie die Stimme von Jonas unterbrach.

»Mama, ich will gehen. Bitte.«

»Siehst du, du Wahnsinniger? Jetzt hast du erreicht, was du wolltest. Dein Sohn hat Angst vor dir. Unterschreib nun endlich den Wisch, sonst tue ich es selbst. Du kannst mich ja anschließend verklagen wegen Urkundenfälschung. Mach es jetzt endlich. Der Junge muss hier raus, bevor er wieder einen Anfall bekommt.«

Jonas wich dem bittenden Blick seines Vaters aus und konzentrierte sich wieder auf die Tischdecke.

Bitte, mein Junge, hör mir doch zu. Ich liebe dich und möchte doch nur, dass du glücklich bist.

Gordon versuchte, seine Gedanken auf seinen Sohn auszurichten, stellte aber verzweifelt fest, dass es ein wirkungsloser Versuch war, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er nahm schließlich zögernd den Kugelschreiber aus der Hand von Denise, die ihm den schon eine Weile entgegenhielt.

---ENDE DER LESEPROBE---