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H.C. Scherf

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Beschreibung

„Wer nach Rache strebt, hält seine eigenen Wunden offen.“ (Sir Francis Bacon, *1561) Als Ellen Fontana die Quälereien der eigenen Mutter und später die Attacken der Mitschüler ertragen musste, war es prägend für ihr gesamtes weiteres Leben. Die emotionalen Schäden schienen irreparabel. Erst die selbstlose Fürsorge eines Mannes, der sich ihrer annahm, ließ zumindest die Hoffnung auf Heilung der Seele aufkeimen. Jemand in Ellens Umfeld glaubt, erlittenes Unrecht aufarbeiten zu müssen. Dazu bedient sich der Täter absolut unkonventioneller Methoden. Der Rachefeldzug erscheint unerbittlich, da Mobbing-Attacken einer Mädchenclique sich auch gegen ein weiteres Opfer richteten und fatale Folgen hervorriefen. Schuldbewältigung und Rache beherrschen das Geschehen und werfen die Frage auf, wie weit Sühnegedanken gehen dürfen.

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In medias res

Schuld ist nicht verhandelbar

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

In medias res

Schuld ist nicht verhandelbar

 

© 2021 H.C. Scherf

Ewaldstraße 166, 45699 Herten

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Aktives Mitglied im Selfpublisher-Verband e.V.

 

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Bilder von Shutterstock:

Studio London / ilolab / Dundanim

amber_85 / gualtiero boffi

 

Lektorat/Korrektorat: Heidemarie Rabe

[email protected]

 

Dieses E-Book ist geschützt und darf ohne Genehmigung des Autors nicht

vervielfältigt oder weitergegeben werden.

 

 

In medias res

Schuld ist nicht verhandelbar

 

Von H.C. Scherf

 

 

Verdammt ist jede Tat

schon vor der Schuld

 

© William Shakespeare

1

»So geht das nicht, Frau Fontana. Ich brauche eine Unterschrift von Ihnen. Ich nehme das Paket wieder mit, wenn Sie weiterhin die Tür verschlossen halten. Ich weiß doch gar nicht, ob Sie das auch wirklich sind. Kommen Sie bitte – ich habe noch viel zu tun.«

Geduldig abwartend verharrte der Paketbote auf dem Flur und blickte nach oben, wo sich der Kopf von Herrn Plücker über dem Handlauf des Treppengeländers zeigte.

»Geben Sie mir das Paket. Frau Fontana wird Ihnen nicht aufmachen. Ich quittiere den Empfang und stelle ihr das Paket vor die Tür. Wenn Sie weg sind, wird sie ganz sicher öffnen.«

»Das ist nett von Ihnen, aber ich kenne das schon von ihr. Jeden Moment wird Sie öffnen, das machen wir immer so. Sie vertraut mir mittlerweile. Es dauert nur noch wenige Sekunden.«

Der Bote beobachtete die Tür aufmerksam und reagierte sofort, als er Geräusche dahinter vernahm. Nur kurz winkte er hoch zum Nachbarn und hielt sein digitales Lesegerät nebst Stift vor den Türspalt.

»Sehen Sie? Das klappt immer so. Aber trotzdem noch mal Danke für Ihr Entgegenkommen.«

Im Halbschatten der Diele erkannte der Bote das Gesicht Ellen Fontanas, die nun einen Arm durch den Schlitz steckte und quittierte. Nun endlich konnte er das Paket vor der Tür stehen lassen und sich mit einem freundlichen Gruß verabschieden. Kaum waren seine Schritte verhallt, wurden sie ersetzt durch das Geräusch einer zur Seite geschobenen Kette. Erich Plücker zog sich so weit zurück, dass er unbemerkt von Ellen Fontana das weitere Geschehen beobachten konnte. Immer wieder erfüllte es ihn mit tiefer Traurigkeit, wenn er diese attraktive Frau dabei beobachtete, wie sie ihr selbstgewähltes Gefängnis für sekundenlange Momente verließ. Kurz nachdem sie das Paket in die Diele gezogen hatte, war das Vorlegen der Sicherheitskette wieder zu vernehmen. Die Nachbarin zog sich wieder zurück in ihre trügerische Sicherheit.

»Warum kümmerst du dich überhaupt darum, Erich? Sie hat es sich selbst ausgesucht und wird damit leben müssen. Die Fontana hat nicht einmal mir aufgemacht, als ich ihr vor Tagen zwei Stücke Kirschkuchen bringen wollte. Meine Mutter sagte mir immer: Es gibt kein schlimmer Leid als das, was sich der Mensch selbst zufügt. Soll sie in der Wohnung glücklich werden. Ich jedenfalls brauche die Sonne und die Luft draußen.«

Erich Plücker wusste um die Hilfsbereitschaft von Käthe. Sie hatte aufgegeben, diese einsame Frau aus ihrer Wohnung herauszulocken und in die Hausgemeinschaft zu integrieren. Dennoch war er nicht bereit, es ihr gleichzutun und aufzugeben. Es musste eine Möglichkeit geben, Hilfe anzubieten. Das Wie war ihm jedoch noch schleierhaft.

»Ich weiß, Käthe. Doch ihre Angst muss doch in irgendwas begründet sein. Niemand begibt sich freiwillig in ein solches Exil. Ich finde, dass wir irgendwas unternehmen müssen. Was hältst du davon, wenn wir Pfarrer Hömann informieren? Der kennt sich bestimmt damit aus und wird sie besuchen wollen. Frau Fontana ist schließlich ein Geschöpf Gottes.«

»Tolle Idee, Erich. Hast du damals mitbekommen, was er mit der Flüchtlingsfamilie angestellt hat, die sich in seine Kirche retten wollte? Hättest du ihm zugetraut, dass ein Mann Gottes die rausschmeißt und sogar die Ausländerbehörde informiert. Nee, vergiss das. Man könnte mal mit der Seelsorge telefonieren. Die haben doch eine zentrale Nummer. Aber das musst du machen. Ich habe noch die Bügelwäsche von gestern.«

Erich nickte stumm, als er seine Jogginghose hochzog und nach der Bierflasche griff, die er kurz zuvor aus dem Kühlfach genommen hatte. Er stellte den Ton lauter, als er die Schalker Mannschaft auflaufen sah, deren erstes Ligaspiel in der laufenden Saison gegen den Hamburger SV bevorstand.

2

Zwanzig Jahre zuvor

... Der Lärm schwoll an, als sich die Schüler und Schülerinnen allmählich auf dem Schulhof einfanden. Die letzten sich entfernenden Elternfahrzeuge lösten einen Stau auf, der von ständigem Hupen nervtötend begleitet wurde. Als die Schulglocke erklang, drängten die ersten Kinder zum Eingang und stupsten sich gegenseitig an, während sie die Stufen zum breiten Durchgang hinaufrannten. Ein Mädchen hielt sich auffallend zurück und umklammerte krampfhaft die Riemen auf der Brust, die ihren Rucksack hielten. Ihr Blick irrte unsicher und unruhig über die Menge an Mitschülern, die lärmend in den Flur des Schulgebäudes stürmten. Hausmeister Klammer ließ auch sie vorbei, bevor er das große Tor schloss und sich an der laut krakelenden Menge vorbei die Treppe hinaufbewegte.

»Lasst mich mal durch. Auf mich wartet wieder eine tolle Aufgabe. Möchte gerne wissen, wer von euch den Klodeckel im ersten Stock der Mädchentoilette zertrümmert hat. Warum immer die Mädchentoilette? Hat man euch nicht beigebracht, wie man mit fremdem Eigentum umgeht?«

Die einzige Reaktion bestand aus lautem Gekicher und unschuldig wirkenden Gesichtern. Die Stimme von Emilia Krafzik hörte er trotzdem raus, da fast immer sie es war, die sich als Wortführerin ihrer Clique sah und patzige Bemerkungen abließ.

»Wir sorgen doch nur dafür, dass Sie Ihren Job behalten können. Wenn nichts kaputt geht, benötigt man Sie doch gar nicht an der Schule.«

Bevor Kurt Klammer reagieren konnte, war die Rädelsführerin bereits auf dem Flur verschwunden. Einige ihrer Vasallinnen zeigten ihm den Stinkefinger und liefen feixend hinterher.

Der Teufel soll euch holen. Euch verdammten, verwöhnten Biestern hat man versäumt, Anstand und Respekt vor anderen beizubringen. Die Eltern gehören verprügelt.

Mit geballten Fäusten und hochrotem Kopf blieb er einen Moment vor dem Geräteraum stehen. Nur langsam beruhigte er sich. Schon lange wusste er, dass genau diese Mädchengruppe für den Großteil an Beschädigungen und Terrorismus, wie er es nannte, verantwortlich war. Selbst die Jungen in der Klasse hatten es aufgegeben, sich gegen die Bande aufzulehnen. Sie begnügten sich damit, nicht selbst auf deren Liste zu stehen, und sahen über ihre Schandtaten hinweg. Wütend riss er die Tür auf und griff nach Eimer, Putzlappen, Zange und Ersatzdeckel. Er wusste, dass er auch gleichzeitig wieder verschmierte Fäkalien beseitigen musste.

So was hätten wir zu meiner Schulzeit nicht geduldet. Denen hätten wir Jungs sofort Manieren beigebracht.

 

Kurt Klammer drückte das Wasser aus dem Aufnehmer und stützte die Hände gegen die Seitenwand der Kabine, um sich aufzurichten. Die Kniearthrose bereitete ihm schon seit Monaten große Probleme und erschwerte das Arbeiten in kniender Position. Schon vor wenigen Minuten hatte er die Schulglocke gehört, die das Ende der Schulstunde anzeigte. Er musste die Mädchentoilette verlassen, da sich jeden Augenblick die Schülerinnen dorthin begeben würden. Während er sich stöhnend aufrichtete, vernahm er in seinem Rücken, wo sich die Tür befand, ein Geräusch, das von verhaltenem Kichern begleitet wurde. Es nahm ihm fast den Atem, als er den entblößten Hintern eines Mädchens in der geöffneten Tür entdeckte. Bevor er die Person oder zumindest Einzelheiten der Bekleidung erkennen konnte, wurde die Jeans wieder hochgezogen und das Mädchen knallte die Tür mit voller Wucht ins Schloss. Lautes Lachen und sich entfernende Schritte zeigten Klammer, dass es sich um eine größere Gruppe gehandelt haben musste.

Verfluchte Bande. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Den Arsch sollte man euch versohlen!

Endlich hatte er sich zur vollen Größe aufgerichtet und versuchte, zur normalen Atmung zurückzukehren. Wütend trat er gegen den Eimer, was lediglich dazu führte, dass Schmutzwasser sich wieder über den Boden verteilte. Immer noch erregt öffnete er die Tür und suchte den Vorraum ab. Als er das junge Mädchen an dem Waschbecken entdeckte, eilte er sofort auf sie zu. Sie wich mit weit aufgerissenen Augen zurück und versuchte, ihre feuchten Hände an der Stoffhose abzuwischen. Sie starrte in die zu Schlitzen verkleinerten Augen des Hausmeisters und drückte den Rücken gegen die Wand.

»Hast du dieses Mädchen gesehen, das gerade eben ... du weißt schon? Wer war das? Du musst sie gesehen haben. Sag es mir.«

Ellen Makard schüttelte stumm den Kopf und bewegte die Lippen, ohne dass auch nur eine Silbe den Mund verließ. Kurt Klammer trat näher an sie heran und fasste sie an der Schulter. Erst als er sie schüttelte, erreichte ihn ein leises Stöhnen, woraufhin er sich zur Ruhe zwang. Geräusche hinter ihm ließen ihn herumschnellen. Hastig nahm er die Hände von den Schultern des Mädchens, als er Martina Haase, eine der Lehrerinnen, in der Tür stehen sah, die mit weit geöffnetem Mund die Szene beobachtete.

»Was in Teufels Namen machen Sie mit der Schülerin, Herr Klammer? Was treiben Sie überhaupt in der Mädchentoilette? Dann haben die Schülerinnen doch recht, als sie mir mitteilten, dass Sie sich in den Waschräumen herumtreiben. Ich fordere Sie auf, sofort den Raum zu verlassen, und Sie beide folgen mir bitte ins Rektorat. Auf der Stelle!«

»Aber, Frau Haase, was denken Sie ...?«

»Was ich im Moment denke, Herr Klammer, wollen Sie bestimmt nicht wissen. Entweder kommen Sie meiner Aufforderung nach oder ich hole sofort die Polizei. Wie entscheiden Sie sich nun? Und die junge Dame darf sich schon einmal Richtung Rektorat begeben.«

Als sich Ellen Makard an ihr vorbeibewegen wollte, hielt Frau Haase sie am Arm zurück.

»Bist du nicht die Neue, die heute erst in die 8 c gekommen ist? Wir sprechen uns noch später. Jetzt aber ab zur Rektorin.«

Ohne eine Antwort verließ Ellen lediglich mit einem angedeuteten Nicken die Toilettenräume. Frau Haase wandte sich wieder an Klammer.

»Ich kann einfach nicht glauben, was ich soeben sah, Herr Klammer. Wir kennen uns jetzt schon mindestens zwölf Jahre und ich hatte eine tadellose Meinung von Ihnen. Mensch, Sie sind doch ein verheirateter Mann und erzählten mit Stolz von Ihrem vierzehnjährigen Sohn Joel. Was hat Sie bloß geritten, als Sie das taten?«

Kurt Klammer umfasste die Kante des Waschbeckens und suchte krampfhaft nach Worten. Nach einigen gestammelten Silben vernahm Frau Haase den ersten zusammenhängenden Satz von ihm.

»Was ... was soll ich getan haben, Frau Haase? Ich wollte doch nur ...«

»Erklären Sie das bitte Frau Röchel. Die Rektorin wird ebenso entsetzt reagieren wie ich. Später werden wir noch die Aussagen der geschädigten Mädchen einholen. Ich befürchte, dass das ein Fall für die Polizei sein wird. Das lässt sich nicht intern regeln. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, was passieren wird, wenn die Eltern und dann auch die Öffentlichkeit von den Vorfällen erfahren werden. Los jetzt, Herr Klammer. Lassen Sie Ihr Werkzeug einfach liegen. Das können Sie später einsammeln.«

 

»Setzen Sie sich, Herr Klammer.«

Viola Röchel gab sich gar nicht erst die Mühe, ihren Ärger zu verbergen. Ihre Lippen waren zusammengepresst und verstärkten damit nur noch ihren strengen Blick. Jeder an der Schule wusste, wie unnachgiebig sie sein konnte, wenn man sich gegen die Schulordnung versündigte. Mit der großen schlanken Hand strich sie ein vermeintlich abstehendes Haar glatt, das am Hinterkopf in einem strengen Knoten zusammengebunden war. Noch niemals hatte man sie mit offenem Haar gesehen, das neben der braunen Grundtönung auch blonde Strähnen zeigte. Ihre einhundertsiebenundachtzig Zentimeter an Körpergröße versuchte sie stets durch eine leicht gebeugte Haltung zu reduzieren, was sich selbst jetzt fortsetzte, als sie hinter dem mächtigen Schreibtisch saß. Als würde sie bewusst einen Spannungsbogen aufbauen wollen, schrieb sie in aller Ruhe eine Eintragung zu Ende und legte erst dann den Kugelschreiber zur Seite. Ihre dunkelbraunen Augen richteten sich auf den wartenden Hausmeister und schienen in seinem Gesicht lesen zu wollen. Niemand im Raum wagte eine Bemerkung zu machen. Erst als Viola Röchel den Drehstuhl nach hinten drückte und die Fingerspitzen gegeneinander legte, schien sie endlich bereit dafür zu sein, sich der Sache anzunehmen, die jetzt das gesamte Haus beschäftigte. Wie ein Lauffeuer hatte es sich herumgesprochen, dass etwas besonders Schlimmes auf der Mädchentoilette geschehen war.

»Erklären Sie mir Ihr Verhalten, Herr Klammer. Ich und das gesamte Kollegium möchten verstehen, warum es bei Ihnen zu dieser nicht zu entschuldigenden Entgleisung kam. Wir sprechen nicht über eine Beleidigung oder einen kleinen Diebstahl. Nein, hier wird sich anschließend die Polizei einschalten müssen. Doch bevor es so weit kommt, möchte ich Klarheit haben. Also? Was ist geschehen? Welcher Teufel hat Sie plötzlich geritten?«

Kurt Klammer beugte sich vor und versuchte, in den Gesichtern der Direktorin und Frau Haase zu lesen. Absolut ausdruckslos erwiderten die Lehrerinnen seinen Blick und warteten ab. Noch immer suchte er nach dem Sinn dieser unsäglichen Tragödie. Endlich raffte er all seinen Mut zusammen und äußerte sich, indem er eine Gegenfrage stellte.

»Kann mir jemand verraten, was sich hier gerade abspielt? Ich werde vorgeführt, als hätte ich ein Gewaltverbrechen begangen. Bisher wurde mir von keiner Seite erklärt, um was es hier geht. Eigentlich müsste ich Klage führen gegen eines dieser Biester, die die gesamte Schule terrorisieren. Geht es etwa darum, dass ich die neue Schülerin auf der Mädchentoilette befragt habe?«

Nachdem Frau Röchel einen Blick mit Frau Haase gewechselt hatte, übernahm wieder die Rektorin.

»So wie es aussieht, konnte Frau Haase wohl durch ihr unverhofftes Erscheinen eine zweite Tat verhindern. Befragt sagen Sie? Es wirkte anders, Herr Klammer. Wir möchten jedoch der Reihe nach vorgehen. Was geschah zuvor mit dem Mädchen, das Sie belästigt haben? Ich will es einmal weniger drastisch ausdrücken. Die Polizei wird es sicherlich anders benennen.«

»Ich verstehe immer wieder Polizei, Frau Röchel. Was hat meine Befragung des Mädchens mit der Polizei zu tun? Ich wollte sie doch lediglich darum bitten, mir einen Namen zu verraten. Sie muss alles gesehen haben.«

Entsetzen zeichnete sich in den Augen der Direktorin ab, als sie die Hände senkte und sich vorbeugte.

»Sie wollen uns doch wohl nicht damit sagen, dass unsere neue Schülerin alles beobachtet hat, was Sie mit der anderen Schülerin ...? Ich glaube das nicht. Sagen Sie mir, dass es nicht wahr ist.«

»Beschwören kann ich es natürlich nicht, Frau Röchel. Ich wurde durch Frau Haase unterbrochen, bevor sie sich dazu äußern konnte. Holen wir das Mädchen doch einfach rein und lassen sie ...«

Rektorin Röchel wirkte für einen kurzen Augenblick verunsichert und suchte den Blick von Frau Haase, die zustimmend nickte.

»Gut, wenn Sie es möchten, Herr Klammer. Doch schon jetzt sage ich Ihnen, dass nur ich die Fragen stelle. Sie halten sich auf jeden Fall zurück. Bitte, Kollegin Haase, holen Sie Ellen Makard herein.«

Immer noch völlig eingeschüchtert betrat Ellen von Frau Haase begleitet das Büro und rieb wieder die Hände über die Hosenbeine, die immer noch die feuchten Stellen aus dem Waschraum zeigten.

»Du musst dich nicht fürchten, Ellen. Ich weiß, dass es für dich eine unangenehme Situation darstellt, aber wir müssen unbedingt wissen, was da unten im Waschraum geschah. Du darfst freiheraus sprechen. Herr Klammer wird dir nichts mehr tun. Das versprechen wir dir.«

»Aber, Frau Röchel, warum sagen Sie so was? Ich habe das Mädchen ...«

»Sagte ich nicht, dass Sie ruhig sein sollen, Herr Klammer? Die Fragen stelle ich.«

Klammer verstummte sofort, als ihn der strenge Blick der Rektorin traf, die sich sofort wieder mit einem gekünstelten Lächeln an die Schülerin wandte. Ellen wirkte nun zusätzlich verunsichert, da sie diese Debatte nicht einschätzen konnte und noch immer rätselte, warum sie überhaupt hierher zitiert worden war.

»Bitte entschuldige das Durcheinander, liebe Ellen – so ist doch dein Name? – Wir können jetzt fortfahren. Erzähle uns mit deinen Worten, was du in der Toilette gesehen hast, als sich Herr Klammer dort aufhielt.«

Immer wieder wechselte Ellens Blick verzweifelt zwischen den anwesenden Personen, bevor sie endlich die ersten Worte fand.

»Ich war in meiner Kabine, als ich ... also, als ich dieses Kichern hörte. Da waren ein paar Mädchen im Vorraum, die miteinander flüsterten.«

»Konntest du verstehen, was sie sagten?«, unterbrach Frau Röchel.

»Nein, konnte ich nicht. Aber plötzlich war alles ruhig und ich konnte nur noch hören, wie die Mädchen lachend rausliefen und die Tür zuschlugen. Ich habe mich nicht gewagt, rauszukommen. Erst als ich den Krach hörte, wollte ich meine Hände waschen und schnell verschwinden. Da hat jemand vor einen Eimer getreten. Ich glaube, das war ...«

Zögernd wies Ellen auf den Hausmeister, dem die Erleichterung anzusehen war. Er hatte zu seiner Selbstsicherheit zurückgefunden und sah zufrieden auf die Rektorin.

»Sehen Sie, Frau Röchel? Ich wollte das ...«

»Schweigen Sie, Herr Klammer. Ich bin noch nicht fertig.« Sie wandte sich wieder an Ellen Makard. »Als du deine Kabine verlassen hast, was geschah dann? Deine Lehrerin berichtete darüber, dass dich Herr Klammer bedrängt habe. Was wollte der Mann von dir?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Er wollte zuerst von mir wissen, was ich gesehen habe. Ich konnte aber gar nichts gesehen haben, weil ich ja noch ...«

Frau Haase legte fürsorglich ihren Arm um die Schülerin, die sich kurz vor einem Weinkrampf befand. Sie beugte sich zu ihr hinunter.

»Hat dich der Mann irgendwo berührt ... ich meine damit, an einer Stelle, die dir unangenehm war?«

Als hätte jemand ein Ventil geöffnet, schoss es aus Klammer heraus.

»Was ... was wird hier eigentlich gespielt? Unterstellen Sie mir etwa, dass ich mich an dem Mädchen vergehen wollte? Ist es das, worum es hier geht? Sie sind wahnsinnig. Ich arbeite seit tausend Jahren an dieser Schule, ohne dass mir auch nur die kleinste Verfehlung nachgewiesen werden konnte. Und jetzt kommen zwei hysterische Frauen auf die Idee, mir versuchte Unzucht mit Kindern nachweisen zu müssen. Das ist unglaublich.«

»Seien Sie still, Herr Klammer und halten Sie sich bitte zurück. Sie reden sich um Kopf und Kragen. Die beiden hysterischen Frauen, wie Sie uns unverschämterweise betiteln, sind es nicht, die Sie beschuldigen. Es sind die Schülerinnen selbst, die diese Behauptung aufstellen. Ihre Entschuldigung wegen der unqualifizierten Äußerung können Sie später bei uns loswerden. Nun geht es erst einmal um die Anschuldigungen. Bitte, Frau Haase führen Sie die Schülerin hinaus, da von ihr keine weitere Hilfe in der Sache zu erwarten ist.«

Erst als Ellen Makard den Raum verlassen hatte, trat Klammer näher an den Schreibtisch heran und stützte seine verschwitzten Hände auf die Kante. Gefährlich leise richtete er seine Frage an die Rektorin.

»Kürzen wir das Prozedere doch einfach ab, verehrte Frau Rektorin. Was wird mir unterstellt? Und vor allem – von wem? Sagen Sie endlich frei heraus, an welchen Schülerinnen ich mich vergangen haben soll, bevor hier die Polizei anrückt. Ich bin bereit, mir das Ungeheuerliche anzuhören. Und dann sollen diejenigen, die das behaupten, es in der Gegenwart aller wiederholen.«

Nachdem Frau Röchel zuerst erschrocken zurückgewichen war, erhielt sie nun ihre Selbstsicherheit zurück und sah Klammer direkt an.

»Das, Herr Klammer, wird nicht geschehen. Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich die Mädchen noch ein weiteres Mal Ihrer Gegenwart aussetze. Sollte sich diese Anschuldigung bestätigen, haben diese armen Kinder schon genug unter dem Trauma gelitten. Die Herrschaften von der Kripo werden die Wahrheit herausfinden, ohne dass die Kinder unnötig hineingezogen werden. Bitte warten Sie jetzt draußen, bis man Sie abholt.«

Wenn Viola Röchel glaubte, dass Klammer jetzt eingeschüchtert wirkte, sah sie sich getäuscht. Seine Hand schoss vor und umklammerte Röchels Finger.

»Es ist typisch für euch studierten Weiber, dass ihr den Lügengeschichten verzogener Kinder eher glaubt als den Beteuerungen von Männern, die sowieso von Natur aus notgeile Vergewaltiger sind. Ihr allein seid die gepeinigte Kreatur auf dieser Erde, die es zu beschützen gilt. Ich bin ja schon froh, dass mir keine Vergewaltigung des gesamten weiblichen Lehrerkollegiums unterstellt wird. Geht es Ihnen jetzt besser, nachdem Sie auf dem besten Weg sind, ein Leben und meinen Ruf zu zerstören?«

»Herr Klammer, bitte beherrschen Sie sich und ...«, versuchte Martina Haase den Hausmeister zu stoppen. Dessen Augen waren weiterhin fest auf die Rektorin gerichtet, die zum ersten Mal so was wie Angst zeigte. Klammer winkte nur ab, was Frau Haase zum Schweigen brachte.

»Eines sollte Ihnen klar sein. Es ist völlig egal, ob sich später meine Unschuld herausstellt. Sie sorgen gerade dafür, dass ich niemals mehr in meinem Leben einen vernünftigen Job bekommen werde. Meine Familie wird mit Zweifeln an meiner Charakterfestigkeit konfrontiert. Ist es das, was Sie wollen? Ja, ich sehe es in Ihren Augen, dass Sie genau das möchten. Wenn ich auf den Flur trete, stehen dann schon die Reporter bereit? Haben Sie wenigstens die Presse informiert, damit die Leser mich schon im Vorfeld als Bestie vorverurteilen können? Sie tun mir so leid, Frau Röchel. Nach Schulschluss können Sie sich wieder in Ihre Wohnung zurückziehen und sich die letzte Ausgabe der EMMA reinziehen. So viel wie ich weiß, gibt es in Ihrem Leben keinen Mann, in dessen Arme Sie sich nach Feierabend legen könnten.«

»Sind Sie jetzt fertig Herr Klammer?«, fuhr ihm Viola Röchel in die Parade. »Glauben Sie nur nicht, dass mich Ihr unerträglicher Vortrag auch nur im Geringsten beeindruckt. Das sind Stammtischparolen, gegen die wir uns zur Wehr setzen müssen. Es beweist nur, wie sehr Ihr Leben von Vorurteilen gegenüber der alleinlebenden Frau, aber auch im Allgemeinen geprägt ist. Ihre Familie tut mir leid, die einen solchen machtbesessenen Patriarchen erdulden muss. Gehen Sie mir bitte aus den Augen. Frau Haase, bitte benachrichtigen Sie die Polizei.«

3

Längst hatte es sich unter den Schülern herumgesprochen, dass der langjährig hier beschäftigte Hausmeister von der Polizei abgeholt worden war. Die Gerüchteküche kochte schon seit Stunden, was die Clique um Emilia Krafzik dazu veranlasste, eine Zusammenkunft am Nachmittag im nahegelegenen Treffpunkt am Sportplatz zu verabreden. Die vier Mädels saßen mit schwingenden Beinen auf dem Geländer, das den Rasenplatz von der Laufbahn trennte. Nur Emilia Krafzik stand vor ihnen und fauchte die Freundinnen an, endlich zuzuhören.

»Verdammt, haltet endlich die Klappen. Das hättet ihr euch vorher überlegen sollen. Wir waren uns alle einig darüber, dass wir dem Arschloch einen fetten Streich spielen. Der hat es verdient, nachdem er Ina bei der Haase wegen der Zigarette angeschwärzt hat. Der hätte die beschissene Kippe einfach übersehen und die Schnauze halten können.«

»Das hätte er vielleicht auch getan, Emilia. Ich fand das auch doof, dass Ina ihn sofort einen Wichser genannt hat. Wer lässt sich so was denn gefallen?«

»Ach nee. So ist das also«, schaltete sich Ina Hollstein ein und funkelte Lea Pape böse an, die nicht zum ersten Mal Aktionen der Mädchengruppe kritisierte. »Hast du wieder mal was an uns auszusetzen? Ich frage mich, warum du überhaupt mitmachst, wenn dir das, was wir tun, nicht passt. Verpiss dich doch einfach. Der Klammer ist ja auch ein Wichser. Davon bringst du mich nicht ab. Der hat einen kräftigen Tritt in den Arsch verdient.«

»Wo wir gerade beim Thema Arsch sind«, überging Lea das Gemecker von Ina. »Ich fand die Aktion mit dem nackten Hintern von Anfang an nicht besonders lustig. Was sollte das auch bringen? Der hätte sich doch nur darüber gefreut, mal wieder einen knackigen Arsch sehen zu können. Musste das denn unbedingt sein, dass man ihn wegen sexueller Belästigung bei der Schulleitung anschwärzt? Wer ist denn überhaupt auf diese bescheuerte Idee gekommen?«

Lea schrak zusammen, als sie Sekunden später die Spitze eines kleinen Taschenmessers an ihrem Ohr spürte. Sie schob sich unter ihren Ohrring und blieb auch da, bis Emilia gefährlich leise für Aufklärung sorgte.

»Das war ich, du kleines Arschloch. Hast du sonst noch was zu kritisieren? Dann raus damit. Allerdings könnte es dazu führen, dass ich sehr, sehr wütend werde und meine Hand dann nicht mehr unter Kontrolle habe. Was gefällt dir an der Idee nicht? Spuck es endlich aus.«

Obwohl Lea sich redlich bemühte, verwehrte ihr die Stimme jeglichen Dienst. Erst als Emilia das Messer ein Stück zurückzog, fand sie die ersten Worte.

»Ich ... ich meinte ja nur ...«

»Wieso kommt aus deinem Maul nur Müll? Bist du sauer, weil es nicht deine Idee und nicht dein Arsch war? Das liegt daran, dass dein breiter Hintern nicht durch die Tür gepasst hätte.«

Beifall heischend sah sich Emilia um und genoss das Kichern der anderen Schülerinnen. Nun wusste sie, dass ihr die Unterstützung der beiden anderen Mitglieder weiterhin gewiss war, was sie zusätzlich anfeuerte.

»Bist du dir eigentlich der Ehre jemals bewusst geworden, dass wir dich in unsere Clique aufgenommen haben? Hättest du deinen fetten Body damals nicht zwischen mir und die Horde Jungs gestellt, hätte ich dir das niemals gestattet. Jemand, der sitzen geblieben ist, hat bei uns eigentlich nichts zu suchen. Und sieh dich doch mal an. Kannst du dir nicht irgendwann einmal eine vernünftige Frisur zulegen? Diesen Stoppelhaarschnitt tragen doch nur Jungs. Aber die Frisur passt auch zu deiner uncoolen Kleidung. Du siehst einfach nur beschissen aus, Lea. Aber darüber hat jede von uns bisher hinweggesehen. Allerdings geht uns allen dein ewiges Gemecker mächtig auf den Keks.«

Lea schluckte und blickte auf Emilias Hand, die noch immer das Messer gegen Hals und Ohr drückte. Es waren nur Wortfragmente, die sie deshalb von sich gab.

»Ich meinte ... es ist gemein, wenn wir ...«

»Soso, gemein sind wir also«, unterbrach Emilia sie. »Der Pisser hat uns doch ständig auf den Arsch geguckt. Jetzt hat er wenigstens mal einen in echt gesehen. Dann muss er nicht durch ein Loch in der Dusche glotzen. Die werden ihm ordentlich auf die Pfoten hauen. Der kann froh sein, wenn er den Job behalten darf. Übrigens fand ich das gut, dass wenigstens Miriam den Mut besaß, zu ihm in die Toilette zu gehen. Sie hat zwar nicht den schönsten Arsch von uns, aber zumindest hat sie ihn aus der Hose gelassen. Du hättest dich doch vor lauter Angst in die Buchse gemacht.«

Die angesprochene Miriam richtete ihren gedrungenen Körper zur vollen Größe auf und strich mit einem zufriedenen Grinsen über ihre dunkelblonden Zöpfe. Ein Lob ihrer angebeteten Anführerin tat ihr gut. Dankbar erfassten ihre leicht schielenden Augen Emilia, die genau wusste, auf welche Art sie ihre Vasallen streicheln musste. In Miriam fand sie die dankbarste Untergebene. Lea ließ jedoch trotz ihrer prekären Lage nicht locker.

»Du hast uns noch immer nicht genau gesagt, was du der Röchel erzählt hast. Wir wissen bisher nur, dass du behauptet hast, dass er Miriam an den Hintern gefasst hat. Was müssen wir sagen, wenn man uns verhört?«

»Ach nee, höre ich da wieder einmal die Angst heraus, man könnte die liebe Lea bei einer Lüge erwischen? Für alle hier stelle ich die Fakten noch einmal klar, damit wir das Gleiche erzählen können.«

Augenblicklich entstand Ruhe, sodass nur ab und zu die schrille Trillerpfeife eines Trainers am anderen Ende des Sportplatzes zu hören war. Emilia warf sich in die Brust, die bei ihr schon gut entwickelt war, was die Blicke der männlichen Schüler immer öfter auf sie lenkte. Allerdings verstand sie es hervorragend, ihr extrem gutes Aussehen und ihr wohlhabendes Zuhause in den Vordergrund zu spielen. Ihr allmorgendliches Ritual, sich darzustellen, wenn sie den Porsche ihrer Mutter verließ, war mittlerweile legendär und wurde von fast allen Schülern verfolgt, aber gleichzeitig auch gehasst.

»Also stellt mal für einen Moment eure Löffel hoch. Wir waren gestern alle in der Toilette – damit das klar ist. Miriam war die Letzte, die noch pinkeln wollte. Wir waren noch beim Händewaschen und hielten uns im Vorraum auf, als sie die Kabine fünf benutzen wollte. Als Miriam die Tür öffnete, bemerkte sie erst den beschissenen Hausmeister, der da mit geöffneter Hose stand. Er hat ihr an den Arsch gefasst und wollte wohl noch mehr. Gott sei Dank waren wir in der Nähe und haben sofort reagiert. Im letzten Moment konnten wir Miriam da rausholen und mit ihr auf den Schulhof laufen. Ihr alle habt gesehen, wie die Haase anschließend da reinging und den Klammer in flagranti erwischte.«

Aufmerksam waren die Mädchen dem Vortrag ihrer Anführerin gefolgt und versuchten, sich das Geschehen vorzustellen. Wieder war es die kritische Lea, die einen Einwand wagte.

»So richtig klar wird mir das noch nicht, Emilia. Warum haben wir dann nicht die Haase sofort informiert?«

»Weil wir Angst hatten, du Irre. Das Gefühl müsstest du doch ganz gut kennen. Wir standen unter Schock. Und außerdem hat die Haase den Kerl sowieso zur Rektorin mitgenommen.«

»Verstehe ich nicht, Emilia. Wie konnte denn die Rektorin dann schon von dem Angriff auf Miriam wissen?«

Jedes der Mädchen richtete nun den Blick auf Emilia, die in diesem Augenblick ein triumphierendes Grinsen zeigte.

»Ja, Leute, dazu muss man ziemlich clever sein.«

Das Grinsen verstärkte sich noch, als Emilia ihr Smartphone hochhielt. Ina Hollstein, deren dürre Gestalt ihr die Anmache der Jungs ersparte, stand da mit offenem Mund und sprach aus, was jede dachte.

»Du hast ohne unser Wissen ... du hast die Röchel angerufen? Die wusste von dir, was der Pisser mit Miriam angestellt haben soll?«

»Nicht angestellt haben soll, sondern angestellt hat, du blöde Kuh. Jede von uns wird das beschwören können. Damit das klar ist. Weicht eine davon ab, wird sie meinen kleinen Freund hier kennenlernen.«

Alle wussten, dass sie die Drohung ihrer Anführerin, die jetzt auch das Messer hochhielt, ernst nehmen mussten. Zaghaft versuchte Lea einen weiteren Einwand.

»Irre ich mich, oder befand sich nicht die Neue im Schlepptau der Haase? Wenn die auch da drin war, wird sie doch alles mitbekommen haben und uns in die Pfanne hauen. Wir müssten die Schlampe doch bemerkt haben. Was machen wir mit unseren Behauptungen, wenn die schon bei der Röchel ausgepackt hat?«

Nur einen Moment wirkte selbst Emilia überrascht und überlegte. Das gewohnte Lächeln kam jedoch schnell wieder zurück, als sie den Einwand vom Tisch fegte.

»Hört zu, ihr Angsthasen. Hätte diese Tussi uns verpfiffen, wäre Klammer nicht von den Bullen abgeholt worden. Dann hätte man uns längst ins Rektorat geholt. Entweder hat die blöde Kuh nichts mitbekommen oder die hat einfach nur die Schnauze gehalten. Was haltet ihr davon, wenn wir sie uns mal vorknöpfen? Ich werde schon rauskriegen, wo die wohnt und was sie am Abend treibt. Ich kümmere mich darum und dann packen wir sie uns. Einverstanden? Wer ist dafür und wer dagegen?«

Emilia wartete noch die einstimmige Bestätigung ihrer Truppe ab, bevor sie sich mit schwingenden Hüften auf Martin Häffner zubewegte. Er wurde in der Schule von allen Mädchen als begehrenswertester Begleiter angesehen. Sein Verschleiß an Freundinnen war bereits legendär. Trotzdem liefen sie ihm alle hinterher – selbst Emilia.

4

Der Imbiss, in dem Ellen Makard sich ihr Abendessen besorgen wollte, war nur fünf Minuten Fußweg entfernt. Es passierte des Öfteren, dass sie sich Essen außerhalb besorgte, da ihre Mutter das Kochen schlichtweg vergessen hatte. In diesen Fällen lag stets ein Geldbetrag auf der Anrichte und Susanne Makard auf der Couch. Seit Vater sich mit der neuen Partnerin auf den Weg nach Südostasien aufgemacht hatte, war der Alkohol das bestimmende Element in Mutters Leben geworden. Da sie ihr Herzproblem mit Medikamenten in den Griff bekommen musste, sorgte die Kombination dafür, dass ihr Tag bereits um die Mittagszeit auf der Couch oder im Bett endete. Ellen schlug die Kapuze ihrer Joggingjacke hoch und zog die Schultern fröstelnd zusammen. Leichter Nieselregen blies ihr der auffrischende Wind ins Gesicht. Darin lag auch der Grund, warum sie die plötzlich vor sich auftauchende Person erst spät entdeckte und fast auflief.

»Na, das ist aber eine Überraschung. So spät noch auf der Straße? Hast du deine Schulaufgaben schon erledigt?«

Erst jetzt erkannte Ellen die Mitschülerin, die in ihrer Klasse in der vorletzten Reihe saß und sich kaum am Unterricht beteiligte. Aufgefallen war sie ihr allerdings schon am frühen Morgen, als sie mit erhobenem Haupt aus einem aufgemotzten Porsche stieg, der dann mit lautem Getöse davonfuhr. Sie glaubte, sich sogar an den Vornamen Emilia zu erinnern. Warum ihr dieses sehr gutaussehende Mädchen vom ersten Augenblick an unsympathisch war, konnte sie sich nicht erklären. Es war einfach so. Ellen Makard trat einen Schritt zurück und spürte sofort, dass eine weitere Person direkt hinter ihr auftauchte. Ein Gefühl von Gefahr baute sich auf.

»Wo willst du hin? Wir wollten dich einmal näher kennenlernen, Ellen. Ich meine damit, so ganz privat. Hast du einen Moment Zeit für uns? Wir wissen immer gerne, mit wem wir es zu tun haben und ob wir uns auf Mitschüler verlassen können. Lass uns ein paar Schritte gehen. Komm.«

Ohne Ellens Antwort abzuwarten, zog Emilia Krafzik die neue Schülerin zur Seite, wobei Ellen feststellen musste, dass sich die Anzahl der Mädchen nun um weitere zwei Personen vermehrt hatte. Allmählich stieg in ihr ein ungutes Gefühl auf, das dazu führte, dass sie versuchte, sich aus dem festen Griff der Anführerin zu befreien. Chancenlos wurde sie vorwärtsgestoßen und bemerkte mit Erschrecken, dass es Richtung eines im Dunkeln liegenden Spielplatzes ging. Als man sie auf die erstbeste Bank gedrückt hatte, verstärkte sich das Gefühl aufsteigender Angst noch. Vor ihr standen nun vier Schülerinnen aus ihrer Klasse, die sie wortlos anstarrten. Unruhig rutschte Ellen zur Seite und hielt nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau. Keine Chance. Man würde sie nach wenigen Metern eingeholt haben, zumal sie selbst zu den unsportlichen Menschen zählte.

»Ich denke, dass du weißt, wer wir sind. Aber ich werde dir meine Freundinnen trotzdem noch einmal vorstellen. Die Dicke hier ist Lea. Meine dürre Freundin hier hört auf den Namen Ina. Dann hätten wir noch unsere tapfere Miriam. Mich kannst du Emilia nennen. Du wirst dich sicherlich fragen, warum wir so nett sind und unsere Freizeit für dich opfern? Du könntest uns einen Gefallen tun, Ellen Makard. Du wirst uns erzählen, was man heute im Rektorat von dir wollte. Es ist sehr wichtig, dass du nichts weglässt. Du solltest dich an jedes Wort erinnern. Tust du das nicht, wären wir alle hier sehr enttäuscht von dir. Also – wir hören.«

Ellen konnte nicht einschätzen, ob sie erleichtert sein sollte über das, was man von ihr erwartete. Die Sorge fiel wie ein Felsbrocken von ihr ab, dass man sie quälen wollte, wie sie es oft schon in amerikanischen Serien gesehen hatte und wie sie es von zu Hause gewohnt war. Tief atmete sie durch, bevor sie sich die Unterhaltung vom Vormittag in Erinnerung holte.

»Eigentlich fand ich das Ganze sehr komisch. Ich weiß bis jetzt nicht einmal, was da überhaupt geschehen war.

---ENDE DER LESEPROBE---