Der Tod bestraft deine Sünden - H.C. Scherf - E-Book

Der Tod bestraft deine Sünden E-Book

H.C. Scherf

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Beschreibung

Verwehre deinem Kind die Möglichkeit zur freien Entscheidung in der Liebe, und du nimmst ihm jegliche Würde. Brauchtum darf Würde niemals ersetzen. Dass es dem Entführer des Firmenchefs Martin Schaffrath nicht um Lösegeld geht, ist selbst für das erfahrene Team um Hauptkommissar Gordon Rabe eine neue Erfahrung. Die Gründe dafür bekommt nicht nur der Entführte schmerzhaft zu spüren. Sein Geheimnis, von dem jedoch jeder weiß, wird ihm zum Verhängnis. Der Suizidversuch einer jungen Frau, der anfangs keine gebührende Aufmerksamkeit erfährt, entwickelt sich besonders für Kommissarin Leonie Felten zu einem persönlichen Drama. Auch hier schockiert die traurige Wahrheit, die dieses Mädchen in die Hölle von verbotenen Ritualen führt. Gordon Rabe, der seinen Abschied aus dem Polizeidienst plant, muss bis an die Grenzen gehen.

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DER TOD BESTRAFT DEINE SÜNDEN

Gordon Rabes sechster Fall

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Thriller

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

DER TOD BESTRAFT DEINE SÜNDEN

Gordon Rabes sechster Fall

 

© 2021 H.C. Scherf

Ewaldstraße 166, 45699 Herten

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Aktives Mitglied im Selfpublisher-Verband e.V.

 

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Bilder von:

majdansky / clipdealer

dgool / clipdealer

frenzelll / adobe

EJRodriquez / adobe

Arto / adobe

 

Lektorat/Korrektorat: Heidemarie Rabe

[email protected]

 

Dieses E-Book ist geschützt und darf ohne Genehmigung des Autors nicht

vervielfältigt oder weitergegeben werden.

DER TOD

BESTRAFT DEINE

SÜNDEN

 

– Gordon Rabes sechster Fall –

 

Von H.C. Scherf

So wie der Acker verdorben wird

durch Unkraut,

wird der Mensch verdorben

durch seine Gier.

 

© Buddha

1

Da war es wieder. Es klang wie das Öffnen eines Gatters, dessen Scharniere verzweifelt nach einer Schmierung verlangten. Bis in den verschlossen Raum, in dem sich Martin Schaffrath aufhielt, war das Quietschen zu vernehmen. Noch immer fehlte ihm jegliche Kenntnis darüber, wie und warum man gerade ihn in diesen muffigen Raum gesperrt hatte, in dem nichts zu erkennen war. Tiefschwarze Nacht umgab ihn und ließ nur zu, dass er sich durch Tasten eine vage Vorstellung von den Ausmaßen und der Einrichtung machen konnte. Er hielt sich in einem Kellerraum auf, der mit einer maximalen Größe von etwa zwölf Quadratmetern kaum Bewegungsfreiheit zuließ, zumal eine Liege und ein schmaler Holzschrank Platz beanspruchten. Den Schalter für die einzelne Glühbirne, die in einer simplen Fassung von der Decke herabhing, hatte er noch nicht ertasten können. Er vermutete, dass dieser sich außerhalb des Raumes befand. Zumindest besaß das Zimmer den Luxus eines Waschbeckens und einer Toilette. Martin Schaffrath hatte versucht, seinen Durst zu stillen, indem er den Wasserhahn öffnete und einen kräftigen Schluck des kühlen Wassers zu sich nahm. Er spuckte das schale, nach Metall schmeckende Nass sofort wieder aus und ließ es über einen längeren Zeitraum fließen, bevor er es erneut versuchte. Nun war der Geschmack von Rost und Fäulnis weitestgehend verschwunden. Immer wieder hielt Schaffrath den Atem an, bemühte sich, irgendein Geräusch zu orten, das ihm zeigte, ob sich jemand im Haus befand. Nichts – nur absolute Stille, ausgenommen dieses nervtötende Quietschen des Gatters irgendwo da draußen.

Noch immer zog sich ein Schmerz vom Knie bis in die letzte Faser des Gehirns, wenn er das Bein ausstrecken wollte. Direkt über der Kniescheibe spürte er den aufgerissenen Stoff des Hosenbeins, der sich feucht anfühlte und davon zeugte, dass dort eine blutende Wunde entstanden war. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich diese Verletzung zugezogen hatte. Lediglich die Kenntnis machte ihn wütend, dass er erst vor vier Tagen eine große Summe für den Kauf dieses Designeranzugs hingeblättert hatte. Wer auch immer für diesen Schaden verantwortlich war, er würde ihn begleichen müssen. Schaffrath suchte nach der Liege und überwand den Ekel vor dieser feuchten Matratze, bevor er sich vorsichtig mit schmerzverzerrtem Gesicht darauf niederließ. Seine feinfühligen Finger, die nur die zarten Berührungen mit den Computertastaturen kannten und von regelmäßiger Maniküre verwöhnt wurden, zuckten zurück, als sie die leichte, glitschige Moosschicht berührten. Er presste die Lippen entschlossen zusammen und streckte sich mit einem Stöhnen. Sofort zog die Feuchtigkeit bis durch die Unterwäsche und legte sich kühl an seine Haut. Wieder dieses Seufzen, das sein gesamtes Widerstreben ausdrückte. Schließlich ergab er sich in sein Schicksal und ließ die Schultern herabsinken. Dafür würde jemand büßen müssen. Noch niemals in seinem Leben war er dermaßen erniedrigt worden. Seine Gedanken glitten ab und er versuchte, sich daran zu erinnern, was geschehen war, bevor ihm dieser Filmriss alles genommen hatte.

 

Sie hatten Sex noch vor dem Frühstück, was in der derzeitigen Situation, in der sich Martin befand, schon ungewöhnlich war. Doch er durfte auch nicht den leisesten Verdacht bei ihr aufkommen lassen, bevor er ihr die Liebe zu Edina gestand. Es fiel ihm nicht leicht, die Restgefühle zu mobilisieren, die nötig waren, um bei Maike eine Erektion zu erreichen. Maike war immer noch eine Schönheit, die in den letzten Jahren ihrer jetzt bereits sechzehn Jahre andauernden Ehe nicht verblasst war. Die Eltern hatten ihr bei der Geburt diesen hübschen Namen gegeben, der letztendlich eine Koseform der niederdeutsch-friesischen Form von Maria darstellte. Tausende Mal hatte er ihr diesen Namen wollüstig in die Ohren geflüstert, wenn sie sich verliebt auf dem Bett wälzten. Diese Gefühle waren mit den Jahren erkaltet, vor allem, als sie die zweite Fehlgeburt erlitt und die Hoffnung auf ein Kind endgültig zu den Akten gelegt werden musste. Plötzlich, nach vielen Jahren des Nebeneinanderherlebens war sie plötzlich da. Edina verzauberte ihn vom ersten Augenblick an und musste ihr Vorstellungsgespräch gar nicht erst bis zum Ende führen, als ihm klar wurde, dass er dieses Wesen ständig um sich haben wollte. Sie bekam den Job als Buchhaltungsleiterin, womit er allerdings Sieglinde Schock, die schon lange auf die Beförderung wartete, vor den Kopf stieß. Er musste sie sogar abmahnen, nachdem sie ihm in unziemlicher Weise den Frust entgegengeschleudert hatte. Edina konnte ihr fachlich gesehen nicht das Wasser reichen. Doch andere Befähigungen wogen dieses Defizit wieder auf.

Nach dem Duschen und einem gemeinsamen Frühstück war Martin Schaffrath noch einen Moment in der Garage stehen geblieben und kämpfte dieses Gefühl nieder, das ihn plötzlich überfiel. Welche der beiden Frauen hatte er eigentlich an diesem beschissenen Morgen wirklich betrogen? Edina hatte er versprochen, nie wieder mit seiner Frau zu schlafen. Sie könnte das nicht ertragen, sagte sie. Aber hatte er Maike nicht die ewige Treue bis zum Tod geschworen? Egal – die Kunden aus Ungarn warteten auf ihn. Es würde eine schwierige Verhandlung mit den Leuten werden, wovon jedoch ein Riesenauftrag abhing, der ihm nach Monaten des Misserfolges eine kräftige Geldspritze und Luft für die Zukunft verschaffen würde.

Der bronzefarbene Porsche verließ mit einem sonoren Brummen das Grundstück und verschwand im Dunst des Morgennebels um die Straßenecke. Martin bemerkte nicht die Bewegung hinter dem bis zum Boden fallenden Vorhang, hinter dem Maikes Blicke ihn verfolgten. Ihre rehbraunen Augen zeigten eine Traurigkeit, wogegen ihre vollen Lippen ein unerklärliches Lächeln umspielte. Entschlossen wandte sie sich um und griff nach dem Telefon.

»Er ist losgefahren. Es ist so weit.«

 

Schon bevor Martins Wagen in die Werkseinfahrt einbog, drückte er auf die Fernbedienung, die dafür sorgte, dass sich das Gitter an der Tiefgarageneinfahrt hob. Das Brummen des Sechszylinders verstärkte sich, als er zwischen den Säulen der unteren Ebene seiner reservierten Parkbox entgegenschoss. Mit einem Seitenblick erkannte er, dass sich Edinas Mini Cooper schon an der bekannten Stelle befand und er gleich ihre Nähe spüren durfte. Absolute Stille trat ein, als das Motorengeräusch mit einem letzten Aufbrummen erstarb und Martin nach seinem Diplomatenkoffer tastete. Die halbe Nacht hatte er damit zugebracht, die Präsentation zu erarbeiten, wobei er sich noch eine kleine Reserve für ein absolut letztes Angebot belassen hatte. Er nickte zufrieden, als er die Tür öffnete und sich aus dem niedrigen Sitz des Sportwagens quälte. Zu spät bemerkte er das Tuch, das sich über Mund und Nase legte und ihm Sekunden später die Sinne raubte. Das zufriedene Grinsen des Mannes über sich nahm er ebenfalls nicht wahr, bevor er zusammensank und krachend mit dem Knie gegen einen Poller stieß. Das Gefühl des aufsteigenden Schmerzes blieb ihm erspart. Das Narkotikum zeigte sofort Wirkung.

2

Ohne dass er auch nur das leiseste Geräusch verursachte, schob der Unbekannte die kleine Abdeckung beiseite, die vor dem Türgucker hing. Sein Auge suchte nach dem Gefangenen, während er das Licht in dem Kellerraum langsam hochdimmte. Deutlich konnte er den Mann gegen den dunklen Hintergrund erkennen, dem er für eine kurze Zeit seine ganze Aufmerksamkeit schenken wollte. Das gut geölte Schloss verriet ihn nicht, als er den Zahlencode eingab und das schwache Summen zeigte, dass die Tür nun geöffnet war. In aller Ruhe drückte er mit dem Rücken gegen die Tür, die sich hinter ihm mit einem sanften Klick in die Ausgangsstellung bewegte. Noch immer hatte Schaffrath ihn nicht bemerkt. Ein diabolisches Grinsen zeichnete sich auf dem Gesicht des Besuchers ab, als er sich der Liege näherte. Trotz des Hungers, der in seinen Eingeweiden tobte, war Martin Schaffrath irgendwann eingeschlafen und schrak hoch. Die flache Hand traf ihn brutal auf der Wange und warf seinen Kopf zur Seite. Seine graublauen Augen suchten nach demjenigen, der ihm das angetan hatte, während er die Arme in einem Reflex schützend hochriss. Bevor er den Unbekannten klar erkennen konnte, fiel sein Blick auf die Spitze des Skalpells, die sich kurz vor seinem Gesicht befand und langsam hin und her wanderte. Der Atem stockte, da diese Waffe plötzlich unter dem rechten Augenlid gegen das Fleisch drückte.

»Sei still. Wage es nicht zu schreien, denn dann wirst du dein Auge verlieren. Bei jedem Schrei werde ich das Spiel fortsetzen, bis du sämtliche Sinnesorgane verloren hast. Hast du mich verstanden? Dann bewege nur die Lider.«

Der Versuch, sie zu schließen, endete darin, dass Schaffrath lediglich ein Flattern zustande brachte. Die aufkeimende Todesangst lähmte jede seiner Bewegungen. Noch immer hielt er den Atem an, ohne dass er sich dessen bewusst wurde.

»Jetzt darfst du wieder Luft holen. Ich möchte mich mit dir unterhalten. Es bringt uns beiden nichts, wenn du vorher krepierst. Also atme!«

Es ähnelte mehr einem tiefen Stöhnen, als Schaffrath den lebensspendenden Sauerstoff in die Lungen sog und wieder herausstieß. Seine Glieder führten ein Eigenleben, indem sie unkontrolliert zuckten. Seine Blase entleerte sich und hinterließ einen großen Flecken im Schritt seines teuren Anzugs. Nur ganz allmählich beruhigten sich seine Nerven und gehorchten den gedanklichen Befehlen.

»Was ... was ... warum bin ich hier?«

»Ich glaube dir, dass du davon keine Ahnung hast. Aber eines nach dem anderen. Ich werde dir von nun an sagen, was du darfst und was nicht. Ich ordne sogar an, was du zu denken hast und was nicht. Ich bin dein Meister, dem du folgen wirst. Wir werden bestimmt eine gute Zeit miteinander haben, in der du lernen wirst, dich unterzuordnen. Du sollst lernen, dass es in dieser Welt Gesetze gibt, nach denen wir Menschen leben. Menschen wie du gefährden die Grundordnung und schaffen Anarchie.«

Obwohl Schaffrath jedes Wort verstand, hatte er nicht begriffen, was der Fremde ihm mitteilen wollte. Seinem Gesicht war anzumerken, dass die Worte nicht wirklich bis zum Verstand durchgedrungen waren. Seine Lippen formten Sätze, die lautlos blieben. Das gemeine Grinsen des Fremden schien zu verdeutlichen, dass er diese Situation genoss. Die scharfe Klinge des Messers hinterließ einen blutigen Streifen in Schaffraths Haut, als er sie nach unten zog und am rechten Nasenflügel verharrte. Das Gesicht näherte sich dem des Gefangenen, war jetzt nur noch wenige Zentimeter von dessen entfernt. Der Duft eines teuren Herrenparfums stieg in Schaffraths Nase und verwirrte ihn für einen Augenblick. Er blickte in die kalten Augen eines jungen Mannes, der sich an der Schwelle des Erwachsenwerdens bewegte. Trotzdem verströmten diese Augen etwas, was ihm auf unerklärliche Weise Todesangst einflößte.

»Du schweigst. Hast du Angst vor mir?« Der Fremde wartete nicht ab, bis Schaffrath diese Frage beantwortete. »Bestimmt hast du sie. Das solltest du auch, du Lump. Denn ich repräsentiere für dich all das, was du kleiner Scheißer fürchten musst. Ich bin das, was du stets zur Seite gestoßen hast ... was du mit Verachtung gestraft hast. Ich übe Vergeltung im Namen all derer, auf denen du in deinem bisherigen Leben herumgetrampelt hast. Mein ist die Rache, sprach der Herr.«

Noch immer bestand Schaffrath aus einem lebenden Fragezeichen. Er verstand einfach nicht, wohin die Reise gehen sollte. Dieser Junge faselte Dinge daher, die sich außerhalb seiner Realität, seinem Verständnis für reales Leben bewegten. Und genau das befeuerte seine Angst. Wie sollte er vernünftig mit jemandem reden können, der die Basis einer Logik längst verlassen hatte. Der Junge musste total verrückt sein. Möglicherweise stand er unter Drogen und wusste nicht, wovon er sprach. Doch im Moment befand er sich in der besseren Position. Er war im Besitz einer gefährlichen Waffe und verströmte gleichzeitig mit dem Parfüm den Duft von Unberechenbarkeit. Er wusste nur eines: Ich muss das Spiel mitspielen und auf einen passenden Moment warten, in dem ich zuschlagen kann.

»Was ist mit dir? Denkst du darüber nach, wie du mich außer Gefecht setzen und den Keller verlassen kannst? Vergiss es ... vergiss es ganz schnell, denn ich werde bestimmen, ob und wann du gehen darfst. Nur ich kenne den Code, um das Schloss zu öffnen. Sterbe ich, stirbst auch du. Hast du das begriffen? Wir werden eine gute Zeit haben.«

Erst waren es nur wieder diese erfolglosen Lippenbewegungen. Doch schließlich formte Schaffrath zusammenhängende Worte, die ein Aufblitzen in den Augen des Entführers verursachten.

»Ich kenne Sie nicht. Warum ... warum ich? Ich habe Ihnen nichts getan.«

Nur sehr langsam entfernte sich das Gesicht des Fremden wieder und er setzte sich direkt neben Schaffrath auf die Liege. Seine Stimme wirkte absolut ruhig und beherrscht, als er auf die Frage reagierte.

»Da muss ich dir recht geben. Woher solltest du mich auch kennen? Wir sind uns niemals vorgestellt worden. Es gibt zwei Gründe, warum ich gerade dich ausgesucht habe, mir Gesellschaft zu leisten. Den ersten, aber eigentlich nicht so bedeutsamen Grund musst du selbst herausfinden. Allerdings verrate ich dir, was mich an deiner Gesellschaft besonders reizt. Du bist ein Mensch, dessen Beweggründe für sein erbärmliches Leben mich ungemein reizen. Du bist kein Langweiler, kein Mitläufer. Nein, du bist jemand, der weiß, was er will. Du kletterst die Erfolgsleiter rauf, stößt dabei Widersacher oder sagen wir einmal Schwächere in den Abgrund. Dich interessiert nicht einmal, wohin sie fallen. Du bindest eine Frau an dich und nutzt ihr Vertrauen aus, indem du sie fortwährend betrügst. Du verletzt dabei mehrfach die Gebote deines Gottes. Dass du nach seinen Geboten Todsünden begehst, interessiert dich nicht. Du bist ein Narzisst erster Güte. Ein Prachtexemplar, wie ich es mir nicht besser hätte aussuchen können.«

»Woher wissen Sie ...?«

Der Fremde tat so, als hätte er diese Frage nicht gehört und sprach unbeirrt weiter. Seine Augen fixierten Schaffrath, der dem Blick spontan auswich.

»Um dir zu zeigen, dass ich dein Inneres, deine Gewohnheiten, deine Unarten kenne, solltest du mir folgen. Mach dir keine falschen Hoffnungen, denn auch die Verbindungstür nach oben ist mit einem elektronischen Schloss gesichert. Steh auf. Ich habe eine kleine Überraschung für dich. Komm schon.«

Erst jetzt konnte Schaffrath die Größe des schlanken Fremden richtig einschätzen. Er überragte ihn, der sich schon als nicht unbedingt klein bezeichnete, noch um einen halben Kopf. Vergeblich versuchte Schaffrath die Zahlenkombination zu erspähen, als das Türschloss geöffnet wurde. Beide traten in den halbdunklen Flur, der sich in absoluter Dunkelheit irgendwo verlor. Nur wenige Meter, schräg gegenüber seines Kellerraumes verharrte der Entführer und schob die kleine Platte beiseite, die auch hier den Blick in den Raum verhindern sollte.

»Sieh hindurch. Erfreue dich an dem, was du sehen wirst, denn allzu oft wird das nicht mehr möglich sein. Komm her zu mir!«

Schaffrath konnte sich nicht erklären, was ihn zögern ließ. Erst als der junge Mann ihn genervt am Jackenärmel heranzerrte, wagte er einen zögerlichen Blick in den jetzt halbwegs erleuchteten Raum. Kaum hatten seine Augen das Schreckliche erfasst und sich sein Körper versteift, wollte er zurückweichen. Eine harte Faust in seinem Nacken zwang ihn, weiter in den fast leeren Raum zu sehen. Immer wieder versuchte er, den Kopf wegzudrehen. Erst als sein Schrei durch den engen Kellergang hallte, ließ der Druck nach und er ließ sich weinend auf den Boden sinken.

»NEIN ... das darf nicht sein!«

3

»Na, das ist aber eine Überraschung.«

Leonie Felten winkte dem jungen Mann zu, der von Hauptkommissar Gordon Rabe in das Büro geschoben wurde. Jonas war dem Wunsch seines Vaters endlich nachgekommen, ihn ins Präsidium zu begleiten, um die gute Nachricht selbst zu überbringen. Leonie vermeinte sogar einen Moment, ein Lächeln in dem ansonsten immer teilnahmslos wirkenden Gesicht von Jonas erkannt zu haben. Er ließ es sich sogar gefallen, dass sie ihn an ihre Brust zog und auf das Haar küsste. Leonie wusste zu schätzen, was es bedeutete, dass ihr dieser autistische Junge eine solch intime Berührung gestattete, der ansonsten nur selten zu Regungen fähig war. Ihr entging auch nicht der Blick, den er der Zeichnung an der Wand schenkte, auf der sie selbst zu sehen war. Niemals würde sie den Augenblick vergessen, an dem er ihr dieses selbstgemalte Aquarell geschenkt hatte.

»Was verschafft uns die Ehre deines Besuches?«, versuchte sie die aufsteigende Verlegenheit bei dem Burschen zu verhindern, »Du kommst doch nicht ohne Grund zu uns. Wie du siehst, sind auch meine Kollegen gespannt darauf, das zu erfahren.« Sie wandte sich an die Anwesenden im Raum. »Mia, haben wir nicht noch etwas Kakao für unseren Freund in der Küche? Und du, mein lieber Kai, könntest ruhig einen Berliner Ballen für meinen besten Freund opfern. Dann bleiben dir immer noch vier für das Frühstück.«

Als hätten alle auf eine solche Abwechslung gewartet, kam Bewegung in die Mannschaft, was Gordon Rabe mit einem Lächeln quittierte. Er drückte Jonas auf einen Stuhl, der vor Leonies Schreibtisch stand, und stieß ihn mit der Faust an.

»Na los, Sohnemann, lass es endlich raus. Alle warten auf deine Ankündigung.«

Als Jonas keinerlei Anstalten zeigte, das Geheimnis über sein Erscheinen zu lüften, tat es Gordon für ihn.

»Um es kurz zu machen. Dieser smarte Bursche hat es geschafft, dass sich das Folkwang-Museum an uns wandte. Sie haben mehr durch Zufall eines seiner Bilder in die Hand bekommen und fanden es unglaublich, dass ein Junge in diesem Alter schon so viel Kunstverständnis und Fertigkeiten besitzt. Man hat bei mir nachgefragt, ob man in einem Seitentrakt eine kleine Ausstellung seiner bisherigen Werke ausstellen darf. Er überlegt noch. Doch ich war so frei, zuzusagen.«

Längst kaute Jonas an dem süßen Gebäck und wischte sich mit dem Handrücken die ausgetretene Marmelade von den Lippen, als Gordon mit einigen Eintrittskarten wedelte.

»Wer Zeit und Lust hat, darf gerne die Vernissage am kommenden Mittwoch besuchen. Wer möchte?«

Kaum waren die ersten Finger hochgeschnellt, erklang die bekannte Stimme von Kriminalrat Kläver vom Eingang: »Finden hier etwa illegale Wettgeschäfte statt? Da bin ich ja gerade noch rechtzeitig gekommen, um Schlimmeres zu verhindern. Sie sind alle verhaftet. Sie wissen ja selbst, dass alles, was Sie ab sofort sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden kann. Ich möchte Sie bitten, Ihre Waffen und Dienstausweise vor sich auf den Schreibtisch zu legen. Den Jungen dort nehme ich in Gewahrsam. Er wird augenblicklich dem Jugendamt zugeführt. Die Eltern sind auf der Stelle zu informieren. Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung vorzutragen?«

Nur einen kurzen Moment brauchte es, bis alle Anwesenden in schallendes Gelächter ausbrachen, Kriminalrat Kläver eingeschlossen. Einzig Jonas schien das ungewöhnliche Getöse nicht zu interessieren. Er schob sich den Rest des Gebäcks in die Backentasche und rieb den Zucker von den Lippen. Mit einem kräftigen Schluck aus der Kakaotasse beendete er das Mahl.

»Was wird bei euch gefeiert?«, wollte Dino Wohlert wissen, der mehr zufällig auf dem Flur den Lärm mitbekam und hereinschaute.

»Gut, dass du kommst, Dino. Jonas wollte dich auch zu seiner ersten Vernissage am Mittwoch einladen. Hast du Zeit?«

»Dafür immer. Wenn Freunde rufen, bin ich jederzeit zur Stelle. Wo läuft die Party denn? Zeig her, Gordon.«

Die Verwunderung in Gordons Gesicht verlor sich schnell, nachdem ihm Jonas die Ehrenkarten aus der Hand genommen hatte und sie an die begeisterten Mitglieder des Morddezernates verteilte. Entschuldigend hob er die Schultern, als er ans Telefon ging, welches um Aufmerksamkeit bettelte. Gordon wirkte leicht verärgert und kommentierte den Anruf mit ungewöhnlich harten Worten.

»Verdammt, Ihr wisst doch, wie man in solchen Fällen vorgeht. Beruhigt diese Frau erst einmal und nehmt die Daten auf. Kopie an mich. Ich habe zu tun.«

Längst hatten sich alle wieder dem besonderen Anlass zugewandt, als sich die Tür öffnete und eine Frau in eleganter Kleidung in Begleitung eines Polizeibeamten auftauchte. Hilfloses Schulterzucken begleitete die Entschuldigung von Polizeimeister Reibach, der sich nun wieder vordrängte.

»Frau Schaffrath ließ sich nicht beruhigen und verlangt, sofort angehört zu werden. Ich konnte sie leider ...«

»Ja, ja, Reibach, ist schon gut. Wir kümmern uns um die Dame. Gehen Sie wieder auf Ihren Posten.«

Leonie Felten zog die Besucherin in Richtung ihres Schreibtisches und bot ihr einen Stuhl an.

»Sie sollten sich beruhigen und mir dann erzählen, was Sie ausgerechnet ins Morddezernat führt. Gab es ein Verbrechen, das Sie uns melden möchten? Ich höre.«

»Mein Mann. Es geht um meinen Mann. Er ist heute Morgen von zu Hause weggefahren, kam aber nicht in seinem Büro an. Die Sekretärin rief an, um nachzufragen, wo er bleibt. Es warteten wichtige Kunden wegen eines Meetings.«

»Moment«, unterbrach Leonie, »darf ich Ihren Namen und Ihre Adresse haben? Weiterhin benötige ich Namen und Anschrift der Firma, in der Ihr Gatte erwartet wurde. Dann sehen wir weiter.«

Leonie schob Frau Schaffrath ein leeres Blatt Papier hin. Während diese mit zittrigen Fingern die Angaben notierte, musterte Leonie die Besucherin eingehend. Und sie kam zu dem Ergebnis, dass die Frau mit den beeindruckend dunklen Augen, dem raffiniert geschnittenen Bob und der hochwertigen Kleidung sicher zu den wohlhabenden Familien der Stadt gezählt werden durfte. Wahrlich eine Schönheit. Als sie den Zettel betrachtete und die Notizen überlas, bestätigte sich ihre Vermutung. Die Stahl- und Schlosserfirma Schaffrath & Co KG war nicht unbekannt. Sie legte den Zettel beiseite und griff nach ihrem Notizblock.

»So, Frau Schaffrath, jetzt einmal der Reihe nach. Wann verließ Ihr Mann das Haus? Fuhr er mit dem Auto und wo finden wir den Wagen? Könnte es sein, dass er vor der Fahrt in die Firma noch einen Besuch machen wollte? Irgendeine Besorgung, die ihn womöglich aufgehalten haben könnte. Haben Sie zufällig ein Foto von ihm dabei?«

»Was wird das hier? Ist das ein Verhör? Suchen Sie lieber nach Martin und vergeuden Sie keine Zeit.«

»Moment, Frau Schaffrath. Moment. Sie kommen zu uns, damit wir Ihnen helfen, Ihren Gatten zu finden. Verstehen wir uns richtig? Sie bitten um unsere Hilfe. Damit wir das können, benötigen wir Fakten. Ohne die kann keiner von uns tätig werden. Damit wir eine vernünftige Basis finden, beruhigen Sie sich und antworten Sie auf meine Fragen. Also bitte.«

Maike Schaffrath kramte wie besessen in ihrer Handtasche und zauberte schließlich ein scheinbares Urlaubsfoto hervor, auf dem neben ihr ein äußerst attraktiver Mittvierziger zu sehen war. Das Licht des Sonnenuntergangs verstärkte den Eindruck, dass es sich um ein liebendes Paar handelte, das voller Eintracht dem Abend entgegensah.

»Ist das Ihr Mann Martin? Sieht er noch immer so aus oder ist die Aufnahme schon älter.«

Es war spürbar, dass Maike Schaffrath aufbrausen wollte, doch beherrschte sie sich im letzten Moment und nickte stumm. Leonie blickte wieder in diese braunen Augen, die wohl ihrer Meinung nach jederzeit in der Lage waren, Blitze abzuschießen. Zumindest zeugten sie von großem Temperament.

»Passiert es häufiger, dass Ihr Mann ohne nähere Erklärung gegenüber Ihnen oder dem Sekretariat für unbestimmte Zeit verschwand? Hat er Feinde?«

»Nein, nein ... warum sollte er so was Dummes tun? Und Feinde hat er nicht. Er ist ein herzensguter Mann, der keiner Fliege ...«

An dieser Stelle unterbrach Leonie, da Jonas an ihrem Schreibtisch auftauchte und ihr wortlos die Hand entgegenhielt. Noch einmal drückte sie den Jungen und wünschte ihm einen guten Tag. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Frau Schaffrath, deren Fingerspitzen im wilden Stakkato auf die Schreibtischunterlage trommelten. Ohne sich ihre Wut darüber anmerken zu lassen, wandte sich Leonie wieder der Frau zu.

»Gut, also keine Feinde. Zumindest keine, von denen Sie wissen. Diesbezüglich würden wir uns jedoch noch einmal an die Mitarbeiter wenden, sofern Ihr Mann in den nächsten Stunden nicht auftaucht. Ich denke, dass in den vergangenen Tagen auch kein Drohbrief bei Ihnen aufgetaucht ist?«

»Nein, das hätte ich Ihnen doch gesagt. Ich kann es Ihnen nicht erklären, aber ich spüre, dass ihm etwas zugestoßen sein muss. Suchen Sie bitte sofort nach ihm.«

Plötzlich fiel die zuvor zur Schau gestellte Sicherheit von Frau Schaffrath ab, wurde durch eine unerklärliche Angst und Hilflosigkeit ersetzt. Lange ruhte Leonies Blick auf dieser ausnehmend schönen Frau und sie fragte sich, ob sie die folgende Frage wirklich stellen sollte. Sie rang sich durch, es auf jeden Fall zu tun.

»Ich muss Ihnen noch zwei Fragen stellen, bevor ich die Vermisstenanzeige an das LKA und das BKA rausschicke. Welches Kennzeichen hat der Wagen Ihres Mannes, wobei ich davon ausgehe, dass der ebenfalls noch nicht aufgetaucht ist. Welchen Fahrzeugtyp fährt Ihr Gatte?«

Maike Schaffraths Stift huschte über das Blatt Papier und zeigte neben dem Kennzeichen, dass Ihr Mann einen Porsche 911 Targa fuhr.

»War das jetzt alles, Frau ... wie heißen Sie eigentlich?«

»Oh, sorry. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Kommissarin Leonie Felten. Zum ersten Teil der Frage: Nein, da wäre noch etwas, was wir wissen und bei jeder Vermisstenanzeige beantwortet haben müssen. Hat Ihr Mann eine Freundin?«

Als hätte Maike Schaffrath ein Stromschlag getroffen, versteifte sich ihr Körper und die Augen schossen nun endlich die Blitze ab, die Leonie ihr schon zuvor zugesprochen hatte. Absolut gefasst ertrug sie den Anfall der Frau, der die Aufmerksamkeit aller im Raum auf sie lenkte.

»Was erlauben Sie sich eigentlich? Ich erwähnte schon zu Beginn, dass ich einen herzensguten Mann geheiratet habe. Das ist ...«

»... eine absolut normale Frage, liebe Frau Schaffrath«, schaltete sich nun Kriminalrat Kläver ein, der schon eine Weile der Unterhaltung gefolgt war. »Selbst ein herzensguter Mann kann ohne Weiteres seine Gefühle einer anderen Person schenken, ohne dass die Partnerin davon weiß. Sie sollten wissen, dass wir diese Frage in Deutschland mindestens dreihundertmal pro Tag an Menschen richten, die einen Angehörigen als vermisst melden. Regen Sie sich also bitte nicht darüber auf. Kommissarin Felten tut nur ihre Pflicht. Sie wird auch alles Notwendige einleiten, um Ihren Mann zu finden. Allerdings bitten wir da um etwas Geduld. Wenn es sonst nichts mehr gibt, hinterlegen Sie bitte Ihre Telefonnummer, unter der wir Sie jederzeit erreichen können. Und dann lassen Sie uns bitte unsere Arbeit machen.«

Kriminalrat Kläver war zur Tür gegangen, um sie der Besucherin aufzuhalten. Nachdem Frau Schaffrath noch einen wütenden Blick durch den Raum geworfen hatte, verließ sie tatsächlich ohne weiteren Kommentar das Dezernat. Erleichtert atmete Leonie durch, bemerkte aber den Blick des Kriminalrates, der sich vor dem Verlassen des Raumes noch einmal umwandte: »Das haben Sie glänzend gemacht, Frau Felten. Übernehmen Sie bitte den Fall.«

4

Der Besucher-Parkplatz vor dem Bürogebäude war nur mäßig besetzt. Leonie wartete noch einen Moment, bis Mia, die neben ihr auf dem Beifahrersitz eingenickt war, bemerkte, dass sie ihr Ziel längst erreicht hatten. Währenddessen betrachtete sie das recht große Gebäude, dessen komplett verglaste Front in der Mittagssonne schillerte. Leonie richtete ihren Blick wieder auf ihre Partnerin und stieß sie an.

»Du solltest wirklich zum HNO gehen und dich untersuchen lassen. Das mit deinem Schnarchen ist nicht normal. Ich vermute bei dir sogar eine Schlafapnoe. Hast du eigentlich bemerkt, dass ich heute Nacht auf die Couch ausgewandert bin? Das war nicht auszuhalten. Lass uns darüber heute Abend reden. Jetzt sollten wir reingehen. Frau Hagedorn wird schon auf uns warten.«

Mia Richter gähnte noch ein letztes Mal und verließ den Dienstwagen, ohne die Bemerkung der Partnerin zu kommentieren. Der Empfang bestand aus einem breiten Tresen, hinter dem eine junge Frau auf ihr Smartphone starrte. Ein leises Hüsteln lenkte endlich die Aufmerksamkeit auf die beiden Besucherinnen. Mehr gelangweilt, aber ohne hochzusehen, richtete die junge Frau die Frage an die Polizistinnen.

»Sind Sie angemeldet? Zu wem möchten Sie denn?«

Selbst als sie auf Leonies Dienstausweis blickte und der Name Hagedorn ins Spiel gebracht wurde, veränderte sich ihr Interesse nicht wesentlich. Sie griff lediglich nach dem Telefon und meldete, dass der Besuch eingetroffen wäre. Kurz darauf rauschte der gläserne Fahrstuhl in den Eingangsbereich und entließ eine Frau, deren angegrauten Haare zu einem streng gebundenen Knoten am Hinterkopf zusammengerafft waren. Den krassen Kontrast zum recht biederen Haarschopf bildete die Jeanshose, in denen zwei dünne Beine steckten, von denen sie das rechte etwas nachzog. Eine geblümte Bluse fiel locker über die Hüften. Ohne den Beamtinnen die Hand zu reichen, begrüßte sie die beiden lediglich mit einem knappen Kopfnicken und einem gemurmelten guten Tag. Schließlich überraschte Frau Hagedorn Leonie und Mia mit der Frage, ob sie ihr in die Cafeteria folgen würden. Demonstrativ bestätigten sie die Frage auch nur mit einem stummen Nicken.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee oder eine Erfrischung anbieten?«, überraschte Helen Hagedorn mit einem für ihre Verhältnisse wohl gewaltigen Wortschwall. Nachdem ihnen die Getränke gebracht worden waren, wagte Leonie den ersten Vorstoß.

»Sie wissen, warum wir hier sind. Wir nehmen an, dass Herr Schaffrath zwischenzeitlich noch nicht aufgetaucht ist und sich auch nicht gemeldet hat. Sie erwähnten bereits am Telefon, dass Ihnen sein Verhalten unerklärlich ist. Konnten Sie einen Blick in seinen Terminkalender werfen?«

Helen Hagedorn schaffte es spielerisch, nur eine Augenbraue zu heben, als sie Leonie aufklärte.

»Herr Schaffrath führt keinen eigenen Terminkalender. Das gehört unter anderem zu meinen Aufgaben. Wir gehen an jedem Feierabend die Aufgaben des Folgetages durch. Für heute stand außer dem Meeting mit den Besuchern aus Ungarn nichts Weiteres an, da nach der Präsentation ein gemeinsames Geschäftsessen geplant war. Den Tisch im Sheraton hatte ich für dreizehn Uhr bestellt. Die Herren sind bereits wieder verärgert abgereist. Es ist unverzeihlich, was der Chef da angerichtet hat.«

»Sie formulieren das als Vorwurf, Frau Hagedorn.« Mia schaltete sich ins Gespräch und beobachtete die Reaktion der Sekretärin genau. »Sind Sie davon überzeugt, dass Ihr Chef diesen Fauxpas im vollen Bewusstsein etwaiger Folgen provozierte? Passierte das häufiger, dass er einfach wichtige Termine nicht wahrnahm?«

»Nein, nein, um Gottes willen. Das habe ich so nicht gemeint. Aber gerade dieser Geschäftsabschluss war ungeheuer wichtig für die Firma und war von langer Hand vorbereitet gewesen. Das sollte uns alle aus einer leichten Schieflage befreien, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Die beiden Freundinnen gestatteten sich einen kurzen Blickkontakt, bevor Leonie auf die Bemerkung einging. Ihr war nicht entgangen, dass Frau Hagedorn die Aussage schon bedauerte, als sie diese gerade getätigt hatte. Sie fingerte an ihrer Tasse herum, rührte sogar den Kaffee um, der ihr ohne Milch und Zucker serviert worden war.

»Wenn Sie die Wichtigkeit dieses Treffens derart herausstellen, liegt doch der Verdacht sehr nahe, dass etwas Außergewöhnliches mit Herrn Schaffrath passiert sein könnte. Ich denke, dass Sie es waren, die Frau Schaffrath über das Ausbleiben ihres Mannes informierten. Wie wirkte sie auf Sie? War sie überrascht oder sogar besorgt? Schildern Sie bitte Ihren spontanen Eindruck.«

Fast entsetzt reagierte Helen Hagedorn und starrte Leonie an.

»Glauben Sie, dass Frau Schaffrath ...?«

»Beantworten Sie bitte nur die Frage. Uns interessiert jedes kleinste Detail, ohne dass wir voreilig Schlüsse ziehen. Bisher gilt nur als Tatsache, dass Ihr Chef nicht im Büro eingetroffen ist. Wir möchten alle keine Mutmaßungen anstellen, da es keine Hinweise auf ein Verbrechen gibt. Er ist lediglich als vermisst gemeldet. Wie also reagierte Frau Schaffrath?«

Das Entsetzen war aus Frau Hagedorns Augen gewichen und hatte einer gewissen Erleichterung Platz eingeräumt.

»Sie ... sie war wohl sehr überrascht. Ich meine damit, dass sie ehrlich überrascht wirkte, fast sprachlos. Sie redete davon, dass er ganz normal das Haus verlassen und alle Besprechungsunterlagen mit sich geführt hatte. Ihr war kein Zwischenaufenthalt bekannt, den er eingeplant hatte. Ich sollte sie sofort informieren, wenn er eingetroffen wäre. So sind wir verblieben. Ich muss gestehen, dass ich mir mittlerweile große Sorgen um ihn mache. Da muss etwas passiert sein.«

»In dem Punkt können wir Sie beruhigen. Uns ist kein Unfall bekannt und es wurde auch keine Person mit der Beschreibung Ihres Chefs in ein Krankenhaus eingewiesen. Wir gehen davon aus, dass er auf jeden Fall lebt.«

Mias Worte schufen in Frau Hagedorn eine sichtbare Ruhe, wobei den beiden Ermittlerinnen gar nicht wohl dabei war. Ihrem Gefühl nach deutete alles auf ein Gewaltverbrechen, zumindest eine Entführung hin. Mia hakte nach.

»Gibt es aus Ihrer Sicht Geschäftspartner, mit denen Ihr Chef auf Kriegsfuß stand?«

Nur kurz dachte Helen Hagedorn nach, beeilte sich jedoch, diesen Verdacht auszuräumen.

»Nein. Das kann ich mit einem sicheren Gefühl ausklammern. Davon ist mir nichts bekannt.«

»Wie sieht es mit Mitarbeitern aus, die glauben, dass ihnen übel mitgespielt wurde? Gab es in der letzten Zeit Entlassungen oder zumindest internen Streit?«, bohrte Mia weiter.

»Auch da kann ich mich an keinen Fall erinnern. Lediglich war vor Monaten einmal ein klärendes Gespräch notwendig, als Frau Schwaiger völlig überraschend den Posten als Buchhaltungsleiterin erhielt.

---ENDE DER LESEPROBE---