Der Flug der Libellen - H.C. Scherf - E-Book

Der Flug der Libellen E-Book

H.C. Scherf

4,8

Beschreibung

Seit Jahren verschwinden Prostituierte im Ruhrgebiet. Keine Leichen. Keine Spuren. Nichts kann den Killer aufhalten. Die erst 10jährige Andrea Lesbe und ihr gleichaltriger Freund leiden schon in der Schule unter Mobbing. Die Mitschüler machen ihnen das Leben zur Hölle. Was die Kinder zu diesem Zeitpunkt nicht wissen können: Ein Hurenmörder beginnt gleichzeitig sein perfides Werk. Unaufhaltsam verbindet sich ihr Schicksal mit dem des irren Killers. Als Andrea als Erwachsene wieder in ihre Heimatstadt Essen zieht, trifft sie nicht nur auf den einstigen treuen Freund. Sie begegnet auch einem geheimnisvollen Fremden, der sie magisch anzieht. Hauptkommissar Schlicht ermittelt mit seiner Soko seit 16 Jahren erfolglos im Fall eines vermissten Kindes und der beängstigenden Mordserie. Erst als der Killer die Abstände seiner grausamen Taten verkürzt, finden sich erste Spuren. Damit das Geheimnis um den Serienkiller gelüftet werden kann, müssen die Beteiligten in den Vorhof zur Hölle hinabsteigen. Erst dort begegnen sie der grausamen Wahrheit. »Ein Thriller, der die schmale Kluft zwischen Normalität und dem menschlichen Wahnsinn spannend beschreibt.«

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Freundschaft ist weit tragischer als Liebe.

Sie dauert länger.

Oscar Wilde

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Prolog

Da war es wieder, dieses Geräusch. Als würde jemand in einem Nebenraum mit schweren Ketten hantieren, sie sortieren oder verschieben. Die Dunkelheit ließ es nicht zu, dass ich auch nur das Geringste wahrnehmen konnte. Doch hatte sich in den letzten Tagen mein Gehör enorm geschärft. Ich wusste genau, wo sich die schwere Holztür befand, die der Kerl nach jedem Besuch wieder sorgfältig verriegelte. Ich glaubte sogar, den Lichtschalter erkennen zu können, der direkt neben dem Eingang aus dem bröckeligen Putz an einem Kabel hängend herausragte. Immer wenn er an diesem Porzellanschalter drehte, erleuchtete eine elend schwache Glühbirne diesen schrecklichen Raum. Dann konnte ich meine achtbeinigen Mitbewohner schemenhaft erkennen, die sich schon vor langer Zeit ihr Zuhause in dichten Netzen in den Zimmerecken geschaffen hatten.

Den Ekel hatte ich längst überwunden, den der feuchte Modergeruch in meinen Eingeweiden hervorgerufen hatte. Das sorgte sogar dafür, dass ich dieses Etwas, das er mir einmal am Tag als Essen in einer Metallschale servierte, durch die Kehle bekam und im Magen behielt. Das war nicht immer so, was die große Menge an Erbrochenem um mich herum eindrucksvoll bewies. Das hatte sich mittlerweile mit den Exkrementen vermischt, die ich notgedrungen, ohne weiter darüber nachzudenken, unter mich ließ. Der Urin und der Kot brannten auf meiner Haut und hatten zu Entzündungen geführt. Niemals wollte ich wissen, was sich tatsächlich in diesem Napf befand, aus dem er mich wie ein Kind fütterte. Mit wenigen Schlucken des erstaunlich sauberen Wassers schaffte ich es mittlerweile, den gröbsten Hunger und Durst zu stillen. Ich hatte mir geschworen, nicht aufzugeben, dieses Martyrium zu ertragen ... durchzuhalten bis zum bitteren Ende. Man würde mich suchen und finden, da war ich mir sicher, denn es war die letzte Hoffnung, die mich am Leben erhielt.

Die Kälte in den Gliedern spürte ich schon seit längerer Zeit nicht mehr, dafür waren die eng angelegten Kabelbinder verantwortlich, die Hände und Füße zusammenschnürten. Das ausgetretene Blut machte sich nun schmerzhaft bei jeder Bewegung bemerkbar, nachdem es sich pulverisiert unter die Fesseln geschoben hatte. Das ließ sich nicht verhindern, da ich versuchen musste, den Blutkreislauf in Gang zu halten. Meine Position veränderte ich ebenfalls laufend, da die Glieder erste Taubheitsgefühle zeigten. Ich näherte mich unaufhaltsam dem Punkt, an dem ich mir wünschte, dass dieser Wahnsinnige endlich sein perfides Werk beendete und mir die Gnade des Sterbens erwies. Längst war mein Verstand sich darüber im Klaren, dass ich diese Kammer niemals wieder lebend verlassen würde. Dafür wusste ich bereits zu viel über dieses bemitleidenswerte Wesen.

Während aus einem der umliegenden Räume weiter leises Gewimmer zu hören war, lief dieser verdammte Film vor meinen Augen ab, der mich an den weit zurückliegenden Punkt in meiner Kindheit führte, an dem eigentlich alles begann ...

Kapitel 1

Zwei Tischreihen trennten mich von diesem Miststück.

Martina Klaas ertrug ich mittlerweile schon über drei Monate. Besser gesagt, ich verachtete sie schon seit dem Tag, als sie meine ausgestreckte Hand mit einem müden Lächeln auf dem Schulhof ignorierte. Für mich war es völlig normal, sich den neuen Klassenkameradinnen vorzustellen, mit denen ich ja schließlich mindestens ein Jahr gemeinsam den Unterrichtsraum teilte. Ich war einfach nicht da für diese Gruppe, die sich um dieses Weibsbild gescharrt hatte. Die Jungs hingen fiebernd an ihren schon jetzt grellrot geschminkten Lippen, warteten sehnsüchtig darauf, dass dieser Mund erneut eine gehässige Bemerkung hervorbrachte, die sie dann frenetisch beklatschen durften. Sie war die Göttin inmitten von testosterongesteuerten Vollidioten. Dass ich häufig für einen Augenblick die volle Aufmerksamkeit genoss, spürte ich daran, dass sich alle Jungs vor lauter Vergnügen auf die Schenkel klopften und zu mir herübersahen. Wie ein wildwuchernder Tumor fraß sich die tiefe Abneigung gegen dieses Weibsbild in mein Hirn, wuchs von Tag zu Tag. Sie wusste das, weil sie es genau darauf anlegte. Sie war die typische Führerin von geist- und willenlosen Mitschülern.

Diese Mädel existierten für mich bisher nur in Serien wie Gossip Girl. Sie trieben ihr Unwesen bisher nur an diesen amerikanischen Highschools. Das war aber doch nur konstruiertes TV, oder? Hatten diese Bad-Girls es etwa über den großen Teich geschafft? Waren sie jetzt in die städtische Realschule für Jungen und Mädchen nach Essen eingefallen? Die kommenden Monate würden es zeigen ... ich hatte noch keine Ahnung. Mein Drehbuch hatte diese Martina längst geschrieben. Das hätte mir spätestens auffallen müssen, als mich ihr herablassender Blick durch den Ring der jubelnden Jungen traf. Ihre Pläne reiften schon damals unter dem schwarzen Bubikopf.

Beim Abendbrot, nachdem Papa endlich nach den obligatorischen Überstunden, den Mantel an die Garderobe gehängt hatte, kam sie, die Frage aller Fragen. Genau nach Mamas zweiten Riesenlöffel Kartoffelsalat, den ich vergeblich versuchte abzuwehren, nuschelte er.

»Wie war´s heute in der Schule? Alles paletti?«

Solange ich denken konnte, glaubte Mama immer, sogar Fragen beantworten zu müssen, die nicht an sie gerichtet waren. Papa wunderte sich deshalb auch nicht, als mir das Wort abgeschnitten wurde, bevor auch nur eine Silbe den Mund verlassen konnte.

»Das Kind wurde gemobbt ... richtig gemobbt. Stell dir das mal vor. Direkt am ersten Tag. Erzähl doch selbst, Mäuschen ... lass dir doch nicht ständig die Worte aus der Nase ziehen.«

Ich war mir nicht sicher, ob Papa die Einleitung überhaupt mitbekommen hatte. Hektisch bearbeitete er das viel zu zähe Fleischstück, das Mama großspurig als Hüftsteak angepriesen hatte. Selbst wenn es eines war, so hatte der Händler wohl nie etwas davon gehört, dass dieses Fleisch abgehangen sein musste ... nun ja, das arme Tier, von dem unser Fleisch stammte, hatte den gestrigen Sonnenaufgang noch bewusst erleben dürfen. Schließlich gab Papa auf, zumindest gönnte er sich eine Pause und sah mich an.

»Ich habe dich etwas gefragt, Andrea. Wie war der erste Tag?«

»Die haben sie ge ...«

»Jetzt lass das Kind doch bitte selbst antworten. Du musst nicht immer ...«

Mama hob abwehrend die Hände und stupste mich auffordernd gegen die Schulter.

»Andrea. Papa hat dich was gefragt. Antworte ihm bitte.«

Die andere Hand landete am Hinterkopf meines kleineren Bruders Leon, der es sich erlaubte, den bisherigen Dialog mit einem frechen Grinsen zu quittieren. Das Fleischstück, das er mühsam, mit Kartoffelsalat vermischt, zerkaut hatte, spuckte er prompt zurück auf den Teller. Damit handelte er sich den zweiten Schlag ein.

Papa warf das Besteck, jetzt allmählich wütend werdend, neben den Teller.

»Was soll das ganze Theater am Tisch? Kann man nicht einmal zuhause Ruhe bekommen? Was hat dir der Junge getan, dass du ihn ohrfeigst?«

»Du hast das unverschämte Grinsen natürlich übersehen. Ich bin schließlich seine Mutter. Da kann ich Respekt erwarten ... oder etwa nicht?«

Ihr Blick glitt beifallsuchend in die Runde. Alle Augenpaare waren auf die Teller gerichtet ... absolute Ruhe. Schließlich griff Papa zum Messer und klopfte auf meinen Tellerrand.

»Jetzt erzähl mal, Kleines. Was war denn da los?«

Bevor ich loslegte, suchte mein Blick vorsichtshalber den von Mama, die aber nur ungeduldig auf Papa wies.

»Nun los, mach schon.«

»Es wäre bestimmt besser gewesen, wenn ich bereits am ersten Einschulungstag schon mit allen anderen Mitschülern hätte zusammen sein können. Diese beschissene Grippe ...«

»Andrea ... bitte!«

Mamas Augen sprühten Feuer. Fäkaliensprache in ihrer Gegenwart – das ging gar nicht. Das ließ ihre streng-katholische Erziehung einfach nicht zu. Die Gossensprache, wie sie es nannte, gehörte nur zur Ausdrucksweise des Proletariats, zu dem sie ihre Familie natürlich nicht zählte. Immerhin war Opa Kleber zeitlebens als angesehener Postzusteller tätig, dem als Beamter solche sprachlichen Entgleisungen niemals über die Lippen gekommen wären. Mamas strenger Blick mahnte mich zur Vorsicht bei der Wortwahl.

»Jetzt lass das Kind doch endlich erzählen!«

»Also, die haben in den Tagen, an denen ich fehlte, schon Gruppen gebildet. Ich war für alle eine neue Schülerin. Also wurde ich in der ersten Stunde, ganz allein vor der Tafel stehend, der Meute vorgestellt. Unser Deutschlehrer Henning hat das auch ganz nett gemacht, aber als der meinen Nachnamen nannte ... da war sofort der Teufel los.«

Mama verdrehte die Augen und legte beruhigend ihre Hand auf meinen Arm.

»Mir gefiel es damals auch nicht, dass ich plötzlich Lesbe heißen sollte. Doch die anfänglichen Sticheleien auf der Arbeit wurden irgendwann weniger. Das wird auch bei dir so sein. Kinder sind nun einmal grausam. Da musst du einfach weghören.«

»Einfach weghören, sagst du? Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir schon in der ersten Pause anhören musste. Am liebsten wäre ich vom Schulhof gelaufen. Das war einfach nur peinlich.«

»Andrea, Mama hat recht. Irgendwann gehen denen die Witze aus. Dann normalisiert sich das Ganze. Ich kenne das von der Arbeit. Außerdem wissen diese Kinder doch noch gar nicht, wovon sie reden.«

»Ja Papa, du kennst das ... du bist aber auch keine Frau. Bei Männern dürfte es schwieriger sein, aus diesem Namen Witze zu zimmern. Glaube übrigens nicht daran, dass wir mit zehn Jahren noch hinter dem Mond leben, wir haben schließlich Sexualkundeunterricht. An diese Story mit dem Klapperstorch habt ihr vielleicht in dem Alter noch geglaubt. Ich werde dem Nächstbesten, der lästert, eine runterhauen und ...«

»Nichts wirst du tun, mein Kind. Du darfst dich auf deren Niveau nicht herablassen. Genau das bezwecken diese Blödmänner doch nur. Sie wollen dich zu diesen Reaktionen herausfordern. Am Ende stehst du immer als der Aggressor da. Hast du denn überhaupt keinen Stolz?«

»Ob ich Stolz habe? Soll ich vielleicht noch stolz sein auf diesen Namen? Lesbe ... wie kann man einem Menschen nur einen solchen Namen verpassen?«

»Jetzt gehst du zu weit, Andrea. Mir hat der Name bisher nicht geschadet.«

Jetzt sah Papa beifallsuchend in die Runde. In Mama arbeitete es gewaltig. Ich spürte, dass sie sich eine Bemerkung nicht verkneifen konnte, während sie mit gesenktem Kopf das Blutwasser ihres sogenannten Hüftsteaks mit den Kartoffeln verrührte.

»Na ja, genutzt hat er dir aber auch nicht. Auf deine längst fällige Beförderung wartest du schon über acht Jahre. Da wurden dir sogar deine ehemaligen Lehrlinge vorgezogen. Die sagen dir heute, was du zu tun hast. Und erinnere dich bitte an die erbärmlichen Zettel, die man dir noch vor Monaten an den Bildschirm klebte.«

Der Abend war gelaufen. Papas Gesicht nahm die Farbe des Fleischsaftes an, der sich in hässlichen Pfützen zwischen der Mayonnaise verteilt hatte. Mit Getöse knallte die Haustür hinter ihm ins Schloss. Franz Breiter, der Wirt aus der Drehscheibe, zählte am Tresen einen frustrierten Gast mehr.

Kapitel 2

Das Fenster zur Straße stand weit offen. Der Lärm der anderen Schüler, die endlich das ehrwürdige Schulgebäude über die breiten Steintreppen in das verdiente Wochenende verlassen durften, hallte noch bis ins Klassenzimmer. Martinas Grinsen entging mir nicht, als sie sich auf die Rückbank der Mercedes-Limousine fallen ließ, die wieder einmal verbotswidrig vor dem Schulgebäude auf sie wartete. Selbst hinter der abgedunkelten Scheibe erkannte ich die Silhouette ihres Kopfes. Ihr Blick ruhte auf meinem Klassenraumfenster. Ihre bösen Gedanken glaubte ich, lesen zu können, ihren Hass, den ich tagtäglich zu spüren bekam.

Ich war fest davon überzeugt, dass nicht sie selbst es war, die den Kleber auf meinen Stuhl gestrichen hatte ... nein, dafür hatte sie ihre Helfershelfer, die eine Schleimspur zurücklassend, ständig um sie herumwuselten. Sie wusste genau, in welch peinlicher Situation sie mich zurückließ. Der Rock war eine unlösbare Verbindung mit dem Holzsitz eingegangen, als wollten sie für die Ewigkeit verbunden bleiben. Als die lospreschende Limousine auf der Straße wendete, entging mir nicht die winkende Hand, die mich, über das Wagendach reichend, noch verhöhnen sollte. Mein Groll gegen dieses Mädchen wuchs ins Unermessliche, ließ meinen Körper beben. Verzweifelt suchte ich nach einer Möglichkeit, das Schulgebäude verlassen zu können, ohne zum Gespött der Allgemeinheit zu werden. Mit den Lehrern war es wie mit der Polizei – brauchst du sie, sind sie nicht da.

Umständlich stieg ich aus meinem Rock, der sich um keinen Preis der Welt von der Sitzfläche lösen wollte. Mir fiel keine andere Lösung ein, als den Stoff den gierigen Fingern der Firma Pattex zu übergeben und den verbleibenden Rest mit einem festen Ruck loszureißen. Der zerfetzte Rock, den Mama erst vor wenigen Tagen bei eBay günstig ersteigert hatte, hing trostlos in meiner Hand. Tränen der Wut liefen mir über die Wangen und versickerten auf dem jetzt samtigen Stuhlsitz. Trotz tränenfeuchter Augen bemerkte ich im Fenster das Spiegelbild einer Person, die in der Klassentür stumm lauerte und fasziniert mein teilweise entblößtes Hinterteil begutachtete. Es war eine filmreife, fließende Bewegung, mit einer Einhundertachtzig-Grad-Wendung, gleichzeitigem Hochreißen des Reststoffes vor den Unterleib und Veränderung der Gesichtsfarbe ins Tomatenrote.

Von diesem Kunststück völlig unbeeindruckt, starrte mich Holger Mastrich wortlos an. Sein ausgemergelter Körper wehrte sich krampfhaft gegen den Riesentornister, der ständig versuchte, ihn nach hinten zu ziehen. Seine blassblauen Augen musterten mich, erinnerten an einen Karpfen, der ungläubig den Angler betrachtete, der ihm ans Leben wollte.

»Wa ... was machst du da, A ... Andrea? K ... kann ich dir ... he ... helfen?«

Niemand im Haus wollte diesen Jungen zum Freund haben. Das war selbst mir bekannt. Einen der Gründe stotterte er mir in diesem Augenblick vor. Trotz meiner mehr als peinlichen Situation dachte ich, warum auch immer gerade jetzt darüber nach, dass es Unrecht war. Ich konnte schließlich ein Lied davon singen, was es hieß, den Stempel der Außenseiterin, einer Geächteten tragen zu müssen. Schon mehrfach war mir Holger aufgefallen, weil er meist allein in den Pausen abseits saß und sein Butterbrot aß, das er grundsätzlich in einer hellblauen Frischhaltedose aufbewahrte. Unerklärlich, dass ich mich an die Farbe seiner Brotdose erinnerte, aber nicht wusste, dass er stotterte.

»Es ist alles gut, du kannst mir nicht helfen ... du siehst ja, was los ist.«

Von meiner Bemerkung völlig unbeeindruckt, näherte sich Holger dem Ort der Peinlichkeit. Er wuchtete den Riesentornister mit einer erstaunlichen Leichtigkeit von der Schulter und stellte ihn neben sich ab.

»Ach du Schei ... Scheiße, die haben d ... dir K ... Kleber auf den Stuhl gestr ... strichen, die Pi ... Pisser. Warte.«

Holgers dürre Arme wühlten in seinem Schultornister, zogen irgendwann einen Turnbeutel hervor, den er auf dem Boden ausleerte. Mit dem erleichterten Lächeln eines Dreijährigen, der den letzten passenden Legostein für sein erstes Bauwerk gefunden hatte, präsentierte er mir seine schwarze Sporthose. Sie baumelte direkt vor meinen Augen an seinem ausgestreckten Arm. Der größte Teil der Jugendlichen hätte diese Hose, deren Seiten jeweils nur zwei weiße Streifen zierten, niemals auch nur eines Blickes gewürdigt. Für mich stellte dieses No-Name-Produkt den Himmel auf Erden dar. Das war die ersehnte Rettung in Form eines völlig unbeachteten Jungen aus der Nebenklasse.

»Das kann ich doch nicht ...«

Holger ließ mich nicht zu Ende reden, sondern drückte mir seine Hose in die Hand. Wortlos drehte er sich um und wartete wie ein Gentleman mit eingezogen Schultern darauf, dass ich sie überzog.

»Passt. Du kannst dich wieder umdrehen. Ich weiß nicht, wie ich dir dafür danken kann. Du hast mir das Leben gerettet. Wie heißt du eigentlich?«

»Holger ... Holger Ma ... Mastrich. Bin in der 5b. Und du bist d ... die Andrea, oder?«

»Woher kennst du meinen Namen? Wir haben doch noch nie miteinander gesprochen?«

»Du bist doch auch im ... immer alleine auf dem Schulhof. Da habe ich einfach jemanden aus deiner Klasse gefragt ... Ich mag dich.«

Holgers Geständnis brachte damals meine gesamte Weltanschauung in Unordnung. Wer, außer meiner engsten Familie, sollte mich schon mögen? Selbst Oma Rita strafte mich mit Missachtung, wenn sie zweimal pro Jahr zu Besuch kam. Für sie war ich die graue Maus in der Familie, die Gefahr lief, bereits mit zarten zehn Jahren den Zug der Zeit zu versäumen. Ständig nörgelte sie an meiner Kleidung herum. Mama ließ die Kritik emotionslos an sich abprallen, kaufte weiterhin meine Designerklamotten bei kik.

»Hast du heute noch Sport? Dann brauchst du doch die Hose noch für den Unterricht.«

Holger winkte cool ab.

»Eigentlich m ... müsste ich gleich zum Judo-Training. Aber aus w ... wichtigen Gründen werde ich das heute mal ausfallen lassen.«

Ungläubig sah ich zur Seite, auf den neuen Freund, der so trocken klugscheißernd die augenblickliche Lage auf den Punkt brachte. Sekundenlang trafen sich unsere Blicke, bevor wir fast gleichzeitig losprusteten. Zwischenzeitlich hatten wir uns auf den Boden, direkt vors Lehrerpult gesetzt und klopften uns vor Vergnügen auf die Schenkel. Die Stimme, die uns wieder in die Realität holte, gehörte Mathelehrer Kolkar. Wir beide hatten nicht bemerkt, dass er das Klassenzimmer betreten hatte.

»Den Begriff Nachsitzen habt ihr zwei sehr wörtlich, aber völlig falsch ausgelegt. Damit war eigentlich das Sitzen am Pult gemeint, wobei euch doch sicherlich eine Aufgabe gestellt worden war, oder nicht?«

In Sekundenschnelle erhoben wir uns in die Senkrechte. Der Schreck ließ uns erstarren. Mit Sorge beobachtete ich, dass Holgers Gesichtsfarbe wieder ansatzlos den Grundton seiner Haare annahm. Ich schämte mich im gleichen Augenblick dafür, dass mir spontan das Wort Karotte in den Sinn kam. Man macht sich einfach nicht lustig über einen Menschen, der dir noch kurz zuvor das Leben gerettet hatte. Mit Sorge verfolgte ich den Blick des Lehrers, der zwischen dem Stofffetzen neben mir und meiner Turnhose hin und her irrte. Ein Vermögen hätte ich zu dieser Zeit für die Gedanken gegeben, die Kolkar durch den Kopf gingen. Ein schmalbrüstiger Junge, der neben einem Mädchen saß, dessen Rock auf dem Boden ... Mensch, wir waren doch erst zehn Jahre alt.

»Die haben mir den Sitz mit Kleber beschmiert«, unterbrach ich seine Gedanken und zeigte auf den Stuhl in der vierten Reihe. Er folgte mir zögernd, als ich zum Stuhl ging.

»Holger hat mir seine Sporthose ...«

»Ja, ja, ich verstehe schon. Wer hat das denn veranstaltet? Das ist ja ungeheuerlich. Hast du Namen? Wie heißt du eigentlich? Das werde ich morgen sofort in der Lehrerkonferenz ...«

»Aber nein, Herr Kolkar, das ist nicht so schlimm. Ich habe auch keine Namen. Ich heiße übrigens Andrea, Andrea Lesbe.«

Auch mir entging nicht das kurze Zucken, als ich meinen Nachnamen nannte. Den Notizblock, den er bereits aus der Tasche seines Sakkos gezogen hatte, steckte er mit einem traurigen Blick auf mich, schulterzuckend wieder ein.

»Du bist also das Mädchen, das schon so oft unter dem etwas unglücklichen Familiennamen leiden musste. Aber warum tust du dir das an und verschweigst ständig, wer dahinter steckt? Wir haben einen Verdacht, aber wir können von Seiten der Schule nichts unternehmen, wenn du weiter schweigst.«

Holger rang nach Atem. Ihm war die Anspannung anzumerken, unter der er in diesem Augenblick litt.

»Ich weiß, wer das alles ...«

»Halt die Klappe, Holger. Du weißt gar nichts. Noch ein Wort, dann ...«

Es tat mir in der Seele weh, als ich diesem wundervollen Jungen über den Mund fahren musste. Aber er drohte Dinge auszusprechen, die ich seit Monaten geheim hielt. Für mich war völlig klar, dass ich erst recht die Hölle erleben würde, sollte der Name Martina Klaas auch nur ansatzweise mit meinem Mobbing in Verbindung gebracht werden.

Lehrer Kolkar beugte sich zu mir herunter, sah mir in die Augen. Sein Gesicht strahlte etwas aus, das mir die Angst nahm. Verdammt, wenn ich so zurückdenke ... war es sogar hübsch zu nennen mit diesem Drei-Tage-Bart und dem mitfühlenden Lächeln.

»Andrea, ich bin mir nicht sicher, wie ich mich an deiner Stelle, in deinem Alter benommen hätte. Wirklich nicht. Doch aus heutiger Sicht weiß ich eines. Ewiges Totschweigen des Mobbings, es klaglos ertragen, bringt nichts. Es hält die Täter nicht davon ab, weiterzumachen. Es bewirkt sogar das Gegenteil; sie fühlen sich bestärkt, da sie sehen, dass ihr Opfer leidet. Du verstärkst unbewusst ihre Motivation. Das hältst du nicht lange durch. Du wirst verlieren – das steht fest.«

»Aber Her Kolkar, ich kann ...«

»Entschuldige, wenn ich dich unterbreche, aber du kannst dir nicht vorstellen, wohin ein solches Mobbing die Opfer führen kann. Ich habe die Eintragungen im Klassenbuch gesehen, wir Lehrer haben auch schon über Gegenmaßnahmen diskutiert. Aber wir wissen auch, dass wir damit einen Rechtsstreit lostreten, wenn wir die Schülerin der Schule verweisen würden, ohne ...«

»Ich habe niemals den Namen Klaas genannt, ich habe überhaupt keinen ...«

»Siehst du, da lagen wir ja gar nicht so falsch. Aber ohne Beweise sind uns die Hände gebunden. Bitte unterhalte dich darüber mit Fräulein Spieker, das ist die Psychologin im Hause, eure Vertrauenslehrerin. Sie kennt sich mit dem Thema blendend aus und wird dir helfen. Versprichst du mir das?«

Als wäre die Frage an ihn gerichtet, nickte Holger, der mittlerweile wieder zur normalen Gesichtsfarbe zurückgefunden hatte. Ich konnte nicht anders, machte es ihm nach.

»Ich werde mir dieses verzogene Weibsbild vorknöpfen. Den Rock wird sie mir bezahlen müssen, darauf werde ich bestehen.«

Mama war außer sich vor Wut. Dermaßen aufgebracht hatte ich sie noch nie gesehen, wenn ich einmal von dem Tag absah, als Papa seine Meinung zu ihrer neuen Frisur äußerte. Eigentlich hatte er ja völlig recht, als er konstatierte, dass sie für diese lilagefärbten Strähnen einige Jahre zu reif war. Den Fehler machte er kein weiteres Mal. Papa benötigte damals drei Anstriche, um die Flecken auf der Tapete zu übertünchen, die der Topf mit Spaghetti Bolognese hinterlassen hatte.

»Reg dich doch bitte nicht so auf, Mama. Wir können ihr das doch nicht beweisen. Das wird einer der Mitschüler gewesen sein, der sich vor ihr profilieren wollte. Außerdem will ich abwarten, was Fräulein Spieker mir morgen zu sagen hat. Du kannst ja gerne mitkommen und dir anhören, zu welchen Maßnahmen sie rät.«

Verärgert warf sie den Stoffrest auf den Tisch und starrte auf ihre Hände, mit denen sie sich an der Küchenarbeitsplatte abstützte. Eine Position, in der sie erfahrungsgemäß die schlimmsten Rachefeldzüge ausklügelte. Wir alle konnten ein Lied davon singen. Das war ein undankbares Erbe, das ihr Oma Lisbeth hinterlassen hatte, die ebenfalls zu unkontrollierten Wutausbrüchen neigte. Opa Joseph, zeitlebens ein gutherziger Mann, war wirklich nicht zu beneiden, bevor sein in Demut ertragenes Leiden durch einen Autounfall in den Tiefen des Erzgebirges frühzeitig ein Ende fand.

»Mama? Hast du mir überhaupt zugehört? Willst du mitgehen oder hast du Dienst?«

»Das klappt morgen nicht, ich habe mit Frau Scheuer die Schicht getauscht, und Doktor Walser braucht morgen beim Implantatsetzen eine erfahrene Hand. Aber ich werde mir etwas einfallen lassen. So einfach kommt mir diese verzogene Göre nicht davon.«

Genau davor fürchtete ich mich. Unser Herrgott hatte sich damals für das ägyptische Volk schon einige fiese Plagen ausgedacht, doch wäre Mama früher geboren worden, hätte er sie sicherlich schon zu dieser Zeit als letztes Mittel zur Rettung des Volkes Israel eingesetzt. Sie vergaß nie ... niemals eine Schmach. Jedes Wort, jede Tat, die nicht ihren Vorstellungen von Gut und Böse entsprach, speicherte sie unwiderruflich auf ihrer Festplatte. Es würde der Tag kommen, und der kam immer, da rief sie diese Daten bei passender Gelegenheit ab und schlug sie der überraschten Person gnadenlos um die Ohren.

»Du solltest bei allem, was du dir überlegst, berücksichtigen, dass der Vater von Martina Klaas ein Anwalt ist, der sich gegen jede falsche Behauptung wehren wird. Außerdem sitzt dieser Typ als Vorsitzender im Elternrat der Schule. Ich würde es mir gut überlegen, bevor du ...«

»Ich weiß, ich weiß ... bin ja schließlich nicht blöd.«

»Mama? Darf ich Holger mal zu mir einladen, der hat mir so lieb geholfen? Der ist total süß.«

Im entsetzten Gesicht meiner Mutter konnte ich unschwer erkennen, dass sie die letzte Bemerkung in den völlig falschen Hals bekommen hatte. Bevor sie eine diesbezügliche Bemerkung machen konnte, stellte ich die Aussage auf stabilere Beine.

»Ich meine, dass er ein anständiger Junge ist.«

Sie schloss den Mund wieder, der vermutlich etwas ausgespuckt hätte, was ich nicht hören wollte. Mein Bruder Leon befreite mich mit seinem ungestümen Auftritt aus dieser Situation. Mama zuckte zusammen, als sie hörte, wie sein Tornister in der Diele gegen die Kommode knallte und schließlich in irgendeiner Ecke zum Liegen kam.

»Was gibt es heute zu essen, Mama? Ich habe einen Bärenhunger ... die Schnitte reicht nicht ...«

Mitten in der Rede stoppte er und betrachtete entgeistert mein Outfit.

»Wie sieht die denn aus. Wieso trägt Andrea eine Sporthose, Mama?«

Seinen gleichzeitigen Griff zum Kochtopfdeckel verhinderte Mama, indem sie geschickt seinen Arm abfing. Sie zog den protestierenden Leon in die Diele ... ihr Blick ruhte auf dem Tornister, der mitten im Gang seinen endgültigen Platz gefunden hatte. Auch ohne Worte verstand mein kleiner Bruder die stumme Botschaft und schleppte seine Schultonne in sein Zimmer. Als er wieder in der Küche erschien, hatte Mama bereits Suppenteller auf den Tisch gestellt. Ich musste in keinen Topf blicken ... heute war schließlich Mittwoch. An diesem Tag gab es immer einen Eintopf. Welche Variante sie heute zubereitet hatte, offenbarte sich unseren entsetzten Augen kurz darauf. Oma nannte sie immer Kälberzahnsuppe ... Mama gab diesem Gericht den gemäß Duden richtigen Namen Graupensuppe. Beides fanden wir falsch. Für uns Kinder war das eine eklige, schleimige Scheißsuppe, was natürlich nie offen ausgesprochen werden durfte. Selbst Papa verdrehte seine Augen, wenn Mama seinen Teller bis zum Rand mit dem überaus schmackhaften Gericht auffüllte. Bis zum heutigen Tag verfolgt mich ein unangenehmes Körperjucken, wenn auch nur das Wort Gr...suppe irgendwo erwähnt wird.

Kapitel 3

»Komm doch herein, Andrea, ich beiße nicht.«

Die Tür öffnete sich auf mein Klopfen. Vor mir tauchte diese große, schlanke Frau auf. Auf den ersten Blick schien Fräulein Spieker ganz in Ordnung zu sein. Ich gab Holger ein Zeichen, dass er sich auf die Bank neben dem Sprechzimmer setzen und auf mich warten sollte. Er sah irgendwie niedlich aus mit seiner altmodischen Jeans-Kombi, die heute kein Mensch mehr trug, und dem glatt nach hinten gezogenen Haar, in das er ein hammerhartes Gel eingearbeitet hatte. Sein roter Haarschopf funkelte dadurch wie eine Leuchtstoffröhre in einem Bordell. Ich fand es irre toll, dass er sich angeboten hatte, mich bei dem schweren Gang zu begleiten.

»Dein Bruder? Willst du, dass er mit reinkommt? Das ist kein Problem, wenn du es möchtest.«

»Nein, nein ... das ist ein ... Holger ist ein guter Freund von mir. Er hilft mir sehr.«

Während Fräulein Spieker dafür ein das finde ich aber toll von Holger fand, verließ sie für einen Moment den Raum, um ihm die Hand zu reichen. Wieder einmal schaffte er es in wenigen Sekunden, seine Gesichtsfarbe dem Haarschopf anzupassen. Den Diener quittierte die Psychologin mit einem anerkennenden Lächeln.

»Ein netter Bursche, dieser Holger. Freunde kann man immer gebrauchen. Setz dich doch einfach irgendwo hin. Sollen wir die Sessel nehmen, die sind irre bequem? Ne Limo oder lieber einen Kakao für dich? Beides kein Problem? Du kannst dir aus dem Schrank da hinten nehmen, was du willst. Nur Cola, die wirst du bei mir nicht finden, da habe ich meine Prinzipien.«

Ich wollte das Ganze schnell hinter mich bringen, schüttelte den Kopf, korrigierte jedoch aus unerklärlichen Gründen meine vorherige Entscheidung.

»Doch, vielleicht eine Sprite ... wenn ich darf.«

Eigentlich wollte ich nur Zeit schinden, um mich ein wenig im Zimmer umsehen zu können. Die verrückten Bilder, die Marylin Monroe, John Lennon und Prince zeigten, erweckten meine Aufmerksamkeit, was Fräulein Spieker nicht entging.

»Gefallen dir die Bilder? Die Personen kennst du doch wohl alle, oder?«

»Ja, zumindest diese drei, den Vierten kenne ich nicht.«

»Das, meine Liebe, ist der Künstler selbst. Andy Warhol hat sich auch selbst in einem Bild verewigt. Wenn du möchtest, kann ich dir bei anderer Gelegenheit mehr über diesen Ausnahmekünstler erzählen. Aber heute haben wir ja einen aktuellen Anlass für unser Treffen. Übrigens finde ich deine Frisur sehr gelungen. Den Pferdeschwanz mal nicht in der Mitte, so wie alle. Deine schönen Haare kommen dadurch viel besser zur Geltung.

Herr Kolkar hat mir von deinem Problem erzählt, das du mit deinen Mitschülern hast ... oder sie mit dir, je nach Sichtweise. Dazu möchte ich mehr erfahren. Es wäre gut, wenn du mir das mit deinen Worten schildern würdest. Geht das?«

Damals war ich mir überhaupt nicht sicher, ob sie mir das Kompliment mit den Haaren aus Überzeugung machte oder nur mein Ego aufbauen wollte. Ich nahm es mal positiv. Abwartend saß mir diese überaus hübsche Frau gegenüber, die ihre Hände in den Schoß gelegt hatte. Ich stellte mir insgeheim die Frage, wie sie es wohl schaffte, mit diesem engen Rock drei Schritte unfallfrei zu bewerkstelligen. Ihre Augen ruhten unablässig auf meinem Gesicht. Mit keinem Wort, mit keiner Geste drängelte sie mich. Mein Blick hatte sich an John Lennon festgesaugt, als ich begann.

Fräulein Spieker erfuhr in den nächsten Minuten von Missachtungen, Hänseleien, Schikanen, Drohungen und Bloßstellungen. Als ich ihr davon berichtete, dass mir sogar Hausaufgabenhefte gestohlen oder beschädigt wurden, zog sie für einen Augenblick die Brauen zusammen. Ich glaubte sogar, eine gewisse Traurigkeit in ihrem Blick erkannt zu haben, als ich davon berichtete, dass mir sogar Zettel zugesteckt wurden, in denen mir Gewalt angedroht wurde, sollte ich mich jemals den Lehrern anvertrauen.

»Ich denke, du weißt selber, womit wir es deiner Beschreibung nach zu tun haben. Mobbing ist eine weit verbreitete, üble Methode, scheinbar schwächere Personen fertig zu machen. Du hast richtig verstanden, Andrea, ich sprach von scheinbarer Schwäche. In vielen Fällen fallen Mitschüler über andere her, weil sie glauben, dass der- oder diejenige einfach zu beeinflussen, zu bedrängen ist. Doch dazu kommen wir später, denn ich kann bei dir im Augenblick noch keine Schwäche erkennen. Was sagen deine Eltern dazu? Sprecht ihr zuhause über die Sache?«

Sie hatte sich mittlerweile nach vorne gebeugt und sah mich fragend aus ihren grünen Augen an. Ich fand keine Erklärung dafür, warum ich mir genau in diesem Augenblick wünschte, später einmal diese Ausstrahlung, dieses Selbstbewusstsein zu besitzen. Sie verkörperte genau diese Selbstsicherheit, die ich an mir so sehr vermisste. Sie besaß mir gegenüber jedoch einen Riesenvorsprung, der nicht nur in Lebensjahren und Erfahrung zu finden war ... sie hieß Spieker und nicht Lesbe.

»Andrea, hast du meine Frage verstanden? Was meinen die Eltern dazu?«

Die Wiederholung der Frage riss mich aus den Gedanken, ich fuhr hoch.

»Ich habe bis gestern nichts davon erzählt. Nun konnte ich es nicht länger verheimlichen, mein Rock war schließlich hinüber durch den verdammten Kleber. Dieses Miststück wird das bezahlen müssen. Ich werde ...«

»Ruhig, Andrea, ganz ruhig. Lass uns das in aller Ruhe besprechen. So, wie du es mir erzählt hast, vermutest du lediglich, dass diese ... wie hieß sie nochmal ... ja, diese Martina Klaas dahintersteckt. Beweisen können wir es ihr aber nicht. Ich kenne das zur Genüge. Solche Typen, man nennt sie auch Egomanen, brauchen immer eine Schar von Vasallen, die die Drecksarbeit verrichten. Oft sind sie selber viel zu feige dazu. Ja, du hast richtig gehört. Diese Mobber sind eigentlich bedauernswerte Menschen, denn ihnen fehlt es an Selbstwertgefühl. Sie versuchen, sich in einer Clique zu brüsten, brauchen diese Mitläufer, um von eigenen Schwächen abzulenken. Sie halten sich für etwas Besonderes.«

»Aber diese Martina ist ja auch was Besseres, so wie Sie es sehen. Ihr Vater ist ein bekannter Anwalt, die haben massig Geld und dumm ist Martina auch nicht. Die hat verdammt gute Noten und spielt irre gut Tennis. Außerdem ist sie viel hübscher als ich.«