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Als Holger vorzeitig zum Weihnachtsbesuch erscheint, ahnt niemand in der friedliebenden Familie Olsson, dass sie unweigerlich in einen Krieg der Kulturen hineingerissen werden. Die Drogensucht des Sohnes führt ihn in die Fänge der brutal agierenden Clans. Als seine Freundin Viola entführt und als Druckmittel gegen ihn benutzt wird, fällt er eine bedeutsame und folgenschwere Entscheidung. Das Bemühen seiner Familie, ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren, scheint ins Leere zu laufen, denn diese Clans besitzen eine Macht, denen selbst erfahrene Freunde aus Schweden hilflos gegenüberstehen. Hilfe scheint unmöglich, da niemand aus den Clan-Familien das Schweigegelübde bricht und Korruption die behördliche Aufklärung blockiert. Eine fiktive Story, die sich hart neben der Realität bewegt und uns sprachlos zurücklässt.
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DER RUF DES GHUL
Von H.C. Scherf
Psychothriller
IMPRESSUM
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DER RUF DES GHUL
© 2022 H.C. Scherf
Ewaldstraße 166, 45699 Herten
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DER RUF DES GHUL
Von H.C. Scherf
Die Liebe der Eltern
zu ihren Kindern ist das einzige vollkommen selbstlose Gefühl.
© William Somerset Maugham
1
»Kann man das wirklich mit gutem Gewissen schreiben, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, Papa?«
Miriam trommelte mit ihren Fingerspitzen einem Stakkato gleich auf die Tischplatte, als sie keine Antwort erhielt. Sie hob deshalb die Lautstärke an.
»Papa! Ich habe dich etwas gefragt. Es gibt noch andere wichtige Dinge im Leben, als den Baum einzustielen. Ich will meinen Aufsatz fertigbekommen, bevor der ganze Weihnachtstrubel losgeht und die Schule wieder beginnt. Was ist also?«
»Was genau hast du wissen wollen, Schätzchen? Ich habe dich nicht verstanden? Mach schnell, sonst lässt Mama den Baum los und er kippt ins Wohnzimmer.«
Lars Olssons Kopf tauchte neben der Türzarge auf. Sichtlich gestresst strich er eine seiner blonden Strähnen zurück, die sich beim Binden seines Pferdeschwanzes aus dem Gummiband gelöst haben musste.
»Ich hatte gehofft, dass ihr damit schon fertig seid. Schließlich hast du diese krumme Tanne schon vor zwei Stunden aus dem Auto geholt. Außerdem hat das wohl noch Zeit. Ihr tut, als wäre morgen schon Bescherung.«
»Miriam«, schallte es aus dem Nebenzimmer und die Tochter musste grinsen, da sie das Veto erwartet hatte. »Der Baum, den Papa besorgt hat, ist wunderschön gewachsen und wird fantastisch aussehen. Beeilt euch, sonst lass ich den tatsächlich fallen. Er ist ganz schön sperrig.«
»Hörst du, Schätzchen, ich habe nicht übertrieben. Kann ich das nicht später beantworten? Deine Schulsachen benötigst du doch sowieso erst nach den Ferien. Hilf uns lieber beim Aufbauen, bevor Mama das wahr macht, was sie gerade angedroht hat.«
»Das ist wieder typisch für Eltern.« Gespielt genervt klappte Miriam die Kladde zu und erhob sich bewusst stöhnend. »Ihr verwechselt stets eure Kinder mit Sklaven. Es scheint nicht in eurer Absicht zu liegen, der Menschheit den Fortbestand zu garantieren, sondern einzig und allein den Zweck zu verfolgen, billige Arbeitskräfte zu erschaffen. Ich beuge mich wieder einmal dieser Tatsache und unterstütze euch in dem Bemühen, ein halbwegs unterhaltsames Weihnachtsfest zu garantieren. Was soll ich genau tun?«
Statt Lars antwortete ihr Mutter Sigrid.
»Als Erstes solltest du diese Klugscheißerei beenden, mit der du uns schon seit Wochen nervst. Ich finde, dass dir die neuen Klassenkameradinnen auf der Schule nicht guttun, die dir seltsame Flöhe ins Ohr setzen. Komm wieder runter und werde normal. Das intellektuelle Gequatsche passt nicht zu dir. Ich will meine Tochter zurück, die einst das normale Leben in einer Familie akzeptierte. Das, was du da von dir gibst, wirkt einfach nur affektiert und ist nervig.«
Sigrid Olsson stieg eine Stufe höher auf der Leiter, weil es den Anschein hatte, dass ihr der Baum tatsächlich aus den Händen zu gleiten drohte.
»Das hätte ich nicht besser sagen können, Miriam. Höre auf deine Mutter, denn sie muss es als Psychologin schließlich wissen. Komm her, ich muss den Stamm noch fest in den Ständer einspannen.«
Zum Erstaunen der Eltern folgte Miriam der Bitte des Vaters, jedoch nicht ohne etwas Unverständliches vor sich hinzumurmeln. Schließlich griff sie an den Stamm und beobachtete die beiden bei dem Bemühen, den Baum in der Senkrechten zu fixieren.
»War´s das? Kann ich mich nun zurückziehen, oder habt ihr noch andere Schwerstarbeit für mich vorgesehen?«
Fast wäre Sigrid auf der obersten Stufe ausgeglitten, als sie zur Verwunderung aller einen Lachanfall bekam. Lars konnte nicht verhindern, dass sich auch sein Gesicht zu einem Grinsen verzog. Sichtlich verärgert über diese Reaktion warf Miriam den Kopf nach hinten und versuchte, die Beleidigte zu spielen. Mit wenigen Schritten hatte sie den Raum verlassen. Nur kurz darauf erreichten die immer noch lachenden Eltern erste Töne, die Miriam gerne als Musik bezeichnete. Der deutsche Rapper Sido hatte es ihr mit seinen Titeln angetan. Sie besaß die Fähigkeit, sich bei diesen Geräuschen zu entspannen.
»Du solltest deine Tochter wieder auf den Boden zurückholen, Lars. Du und Iris habt irgendwas verkehrt gemacht, als ihr diesem süßen Mädchen vergessen habt beizubringen, was es heißt, bodenständig zu bleiben. Ich denke, dass ich da noch viel nachzuarbeiten habe.«
Die erste Reaktion von Lars war, sich gegen diesen Vorwurf aufzulehnen. Doch er musste zugeben, dass Iris ihre Tochter damals tatsächlich außergewöhnlich stark verwöhnt hatte. Noch bevor sie bei diesem tragischen Unfall ums Leben kam, hatte er sie oft genug darauf hingewiesen und lediglich ein mildes Lächeln dafür erhalten. Jetzt musste Sigrid mit Miriams Allüren zurechtkommen, was ihr allerdings in bewundernswerter Art und Weise gelang. Oft beobachtete er die beiden, wenn sie zusammensaßen und sich von Frau zu Frau unterhielten. Sehr viel hatte sie schon bei Miriam erreicht, aber noch immer war zu spüren, wie sorglos das Mädchen zuvor ihr Leben genießen durfte.
»Du hast recht, Sigrid. Doch auf mich hört sie sowieso nicht. Männer sind in ihren Augen absolut ungeeignet, sich mit typischen Frauenfragen zu beschäftigen. Wir sind einfach nur doof. Das hat sie mir schon knallhart gesagt. Ich vertraue dir da voll und ganz, das Mädel einnorden zu können.«
»Machst du es dir nicht etwas zu einfach, mein Lieber? Eine starke Vaterfigur ist es in den meisten Fällen, die ein Mädchen in dieser schwierigen Lebensphase braucht. Sie möchten zu ihren Vätern aufsehen können. Ihr seid erstaunlicherweise die großen Vorbilder in der schwierigen Zeit der Selbstfindung. Jeder von uns hat seine Aufgabe in der Erziehung zugeteilt bekommen. Das, mein lieber Daddy, ist das Leben live.«
»Und? Kann sie das etwa nicht – wobei ich das Aufschauen meine? Ich habe alles, was einen guten Vater ausmacht. Ich kann kochen, das Auto waschen, Holzhacken. Und was ich besonders gut kann: Ich kann ihr bei den Schulaufgaben helfen. Ich bin sozusagen perfekt.«
Wieder schallte Sigrids helles Lachen durch die Räume und sorgte dafür, dass sie endgültig den Halt auf den Stufen der Leiter verlor und nach einer rettenden Stütze suchte. Immer noch lachend fiel sie in die Arme von Lars, der die Gelegenheit ausnutzte und ihr einen satten Kuss auf die Lippen drückte. Kopfschüttelnd eilte Miriam durch die Diele, als sie auf das Klingeln an der Tür reagierte. Verständnislos warf sie den beiden einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Oh, dich haben wir aber noch nicht so früh erwartet. Heiligabend und Geschenke abräumen ist doch erst in einigen Tagen. Was verschafft uns die Ehre deines so frühen Besuchs? Brauchst du wieder Geld? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man hier im Haus in Begeisterungsstürme ausbrechen wird. Ich wenigstens hätte mich noch gedulden können, bevor du hier auftauchst.«
»Kannst du nicht wenigstens zu Weihnachten deine beschissenen Sprüche weglassen, Miriam? Ich komme in Frieden und will keinen Streit lostreten. Also – kann ich jetzt endlich reinkommen und meine schwere Tasche absetzen?«
Es wirkte schon etwas herablassend, als Miriam grinste und einen Schritt zur Seite trat. Ihre Stimme hatte Lars und Sigrid in ihrer Zweisamkeit stoppen und neugierig in die Diele kommen lassen.
»Na das ist ja mal eine Überraschung, Holger. Wir haben dein Zimmer noch gar nicht hergerichtet, da du geschrieben hast, dass du erst Übermorgen kommen würdest. Egal«, meinte Sigrid, »jetzt bist du hier und natürlich willkommen. Übrigens auch bei deiner Schwester, wenn sie auch immer so tut, als möge sie dich nicht.«
Während sie auf ihren Sohn aus erster Ehe zusteuerte und ihn umarmte, wechselten Lars Olsson und Miriam einen vielsagenden Blick. Sie wussten, dass die kommenden Tage einige Problemchen mit sich bringen würden, denn diese zog Holger an wie ein Magnet. Ohne Holger diese Befürchtungen zu zeigen, umarmte auch Lars seinen Stiefsohn, der spätestens zu Geburtstagen oder zum Weihnachtsfest bei ihnen auftauchte. Noch schlimmer waren die Besuche dazwischen. Dann hörten sie nur von ihm, wenn er sie um eine gewisse Summe Geld bat. Er selbst nannte das schlicht Lebenshilfe, obwohl alle wussten, dass er damit Spielschulden ablöste oder seinen Drogenkonsum finanzierte. Lars hob die Tasche hoch und schob Holger ins Haus.
»Setz dich und erzähl. Du wirkst, als würde dich etwas quälen.«
2
»... und was sagt die Polizei dazu, Holger?«, wollte Sigrid wissen, die sich die Geschichte gemeinsam mit Lars und Miriam angehört hatte. »Das kann wohl nicht sein, dass dich die Händler so dermaßen unter Druck setzen. Hast du keine Angst, dass sie sich jetzt an deine Freundin ranmachen und über sie versuchen, dich zu erpressen? Wie hieß sie noch mal? Katrin glaube ich. Ja, sie heißt Katrin. Da bin ich mir sicher.«
»Viola, Mama, sie heißt Viola. Katrin ist vor Monaten ausgezogen und schwirrt irgendwo in Spanien herum. Ich glaube in Madrid.«
Miriam konnte sich nicht länger zurückhalten und platzte mit ihrer Frage heraus, bevor Lars sie davon abhalten konnte.
»Und? Ist die Neue auch auf Droge? Ein normales Mädchen wird doch wohl kaum bei dir einziehen. Was zieht die sich denn rein? Kokain, Heroin oder Ecstasy?«
»Miriam! Bitte! Du kannst doch nicht dem Mädchen so was unterstellen, ohne sie zu kennen«, ermahnte Sigrid und wirkte tatsächlich verärgert. Bevor hier eine unfruchtbare Diskussion losgetreten wurde, mischte sich Holger ein.
»Ich vergaß zu sagen, dass sie jeden Augenblick hier eintreffen wird. Ich habe ihr gesagt, dass ihr bestimmt nichts dagegen haben würdet, wenn sie, das heißt wir, ein paar Tage hier wohnen. Platz genug ist doch vorhanden, nachdem ich ausgezogen bin. Sie kann in meinem Zimmer ... ich meine, dass es euch doch nichts ausmacht, wenn ...«
»Oh doch, mein liebes Brüderchen«, glaubte Miriam, die Entscheidung der Eltern vorwegnehmen zu müssen. »Da sprechen Gründe dagegen, denn das Zimmer habe ich mir als Hobbyraum eingerichtet. Da übe ich Gitarre und treffe mich mit meinen Freundinnen. Das ist für dich jetzt absolut tabu. Du hast dich an deinem achtzehnten Geburtstag dazu entschieden, dein seltsames Dasein außerhalb dieses Hauses zu leben und die Großstadtluft zu atmen. Der Zug mit dem Kinderzimmer ist abgefahren für dich. Im Keller kannst du das Flaschenregal zur Seite rücken und dort einen Schlafsack ausrollen. Dann sieht auch keiner, wenn du dir deinen Koks reinpfeifst.«
Mit offenem Mund starrten sich Lars und Sigrid an. Lars war es, der seine Tochter zur Ordnung rief.
»Was ist das für ein Ton, Miriam. So haben wir dich noch nie gehört. Holger ist dein Bruder. Vergiss das bitte nicht.«
»Stiefbruder, Papa. Er ist mein Stiefbruder. Und er hat sich sein Leben selbst ausgesucht. Ich dagegen habe mich dazu entschieden, weiter etwas für meine Bildung zu tun und zur Schule zu gehen.«
»... und deinen Eltern dabei auf der Tasche zu liegen. Du zockst doch auch nur deinen Vater ab, du falsche Schlange. Und es ist deine Stiefmutter, meine Mutter, die dir das Essen kocht und deine Wäsche bügelt. Du möchtest dich heiligsprechen lassen und auf mich herabsehen? Kannst du nicht, denn du bist nicht besser als ich. Hörst du? Du bist eine falsche Schlange, die sich an der Brust ihrer Eltern nährt.«
»Es reicht jetzt mit euch«, spreizte Sigrid dazwischen und sprang auf. »Ich will solche Diskussionen nicht in diesem Haus hören. Es ist bald Weihnachten. Könnt ihr euch nicht wenigstens in dieser Zeit wie normale Menschen, wie Geschwister benehmen und eure Feindseligkeiten unterdrücken? Was soll das überhaupt heißen – Stiefschwester und Stiefbruder? Für uns seid ihr beide gleich und werdet behandelt, als wärt ihr von uns gemeinsam gezeugt. Es darf keinen Unterschied zwischen euch geben.«
Lars nickte bestätigend und ergriff spontan Sigrids Hand. Beide sahen traurig Miriam hinterher, die ihr Entsetzen über die Entwicklung dieser Unterhaltung nicht zurückhalten konnte. Tränen schossen in ihre Augen und sie eilte zur Treppe.
»Miriam, bitte bleib!«, rief Lars und wollte sie zurückhalten, wurde jedoch von Sigrid zurückgehalten.
»Lass sie, Lars. Ich rede später mit ihr. Nun müssen wir uns erst einmal um eine Lösung bemühen. Ich meine, bevor Viola eintrifft. Sie ahnt doch bestimmt nicht, was sie hier erwartet.«
»Doch, Mama, das weiß sie. Ich habe sie vorgewarnt, da ich Miriams Einstellung kenne. Aber ich hätte das nicht vorgeschlagen, wenn die Situation nicht so ernst wäre.«
»Das musst du uns erklären, Holger«, wandte Lars ein und setzte sich dem Jungen gegenüber. »Was in Teufels Namen ist so ernst, dass du samt deiner Freundin die Flucht ergreifst? Es ist doch eine Flucht, oder irre ich in diesem Punkt?«
Das Zögern zeigte Lars und Sigrid, dass es dem Jungen schwerfiel, die Angelegenheit darzustellen. Ihnen schwante Böses, was sich kurz darauf auch bestätigte.
»Ich will Viola keinerlei Schuld geben an dem, was geschehen ist. Doch eigentlich begann alles damit, dass sie sich etwas Stoff besorgte, ohne das nötige Kleingeld dafür zu besitzen. Sie behauptete einfach, dass ich das später erledigen würde. Ich habe bei meinem Lieferanten einen guten Namen, und das glaubte sie, für ihre Zwecke ausnutzen zu können.«
»Du willst uns erzählen, dass sie sich Drogen besorgte, indem sie behauptete, dass du ...?«
Ohne Sigrid ausreden zu lassen, nickte Holger und hob die Hand, was wiederum Lars nicht davon abhielt, ihn weiter auszufragen.
»Deine Mutter hat dich etwas gefragt und erwartet eine ehrliche Antwort. Hat deine Freundin nun auf deine Kosten Schulden gemacht oder nicht? War das so schwer zu verstehen?«
»Ich wollte nur feststellen, dass sie das nicht zum ersten Mal tat. Früher wusste ich allerdings davon. Nur hatte sie es diesmal übertrieben und zusätzlich behauptet, dass der Stoff für uns beide wäre. Niemals hätte ihr Malik sonst so viel von dem Zeug gegeben.«
»Das, nehme ich an, ist der Name deines Dealers?«, unterbrach Lars.
»Ja. Aber der bekommt seine Ware wiederum von einem gewissen Junis. Irgendwann muss Malik seine Lieferungen bezahlen. Und genau hier beginnt der Ärger. Viola schuldet Malik das Geld. Malik muss an Junis bezahlen. Der duldet aber keinen Aufschub und will die Kohle sofort. Versteht ihr?«
»Nur zum Teil, mein Junge«, mischte sich Sigrid wieder ein. »Wenn ich das richtig verstanden habe, wartet nun dieser Malik auf dein Geld, was du natürlich nicht hast. Was in Gottes Namen denkt ihr euch dabei, wenn ihr für dieses Teufelszeug Schulden macht. Ich vermute, dass euch nun Malik unter Druck setzt und euch gedroht hat.«
Wieder überdachte Holger angestrengt, wie er die Situation seiner Mutter erklären konnte, denn alles war komplizierter, als er es bisher geschildert hatte. Schließlich versuchte er es doch.
»Nun ja. Mit Malik wäre ich mir schon irgendwie einig geworden, doch der hat mich diesmal nicht erreichen können und somit nicht über den neuen Deal mit Junis informiert. Er hat Junis meine Schulden überschrieben. Jetzt schulde ich dem Verbrecher eine Riesenstange Geld, weil der Wahnsinnszinsen draufschlägt. Das Geld kann ich niemals aufbringen, selbst wenn ich dafür monatelang arbeiten gehe.«
»Nur damit ich das richtig verstehe«, unterbrach ihn Lars. »Malik hast du vom Hals und dafür bedrängt dich der Haupthändler. Über wie viel sprechen wir eigentlich?«
Als Holger herumdruckste, wiederholte Lars die Frage und sah mit strengem Blick in dessen Augen.
»Achtzehn.«
»Was soll das heißen – achtzehn?«
»Achtzehntausend Euro. Du musst wissen, dass wir schon vorher ...«
»Moment, mein Sohn. Du willst deinem Vater und mir weismachen, dass ihr zwei euch für achtzehntausend Euro Stoff besorgt habt und bisher noch nicht bezahlt habt? Das glaube ich einfach nicht.«
»Vierzehntausend plus Zinsen, Mama. Das Schwein verlangt für jeden Tag, den wir verstreichen lassen, fünf Prozent Zinsen. Das kann ich niemals bezahlen.«
»Und jetzt glaubst du, dass wir das Geld mal eben so für euch abdrücken und du so weiterleben kannst wie vorher? In welcher Welt lebt ihr zwei eigentlich? Einen Dreck werde ich tun, Holger.«
Sigrid legte eine Hand auf Lars´ Arm und drückte ihn wieder zurück auf den Stuhl.
»Bleib ruhig, Lars. Lass uns das in aller Ruhe überlegen. Wir sollten die Polizei benachrichtigen. Ich vermute, dass Junis mit Konsequenzen gedroht hat, falls Holger nicht bezahlt. Oder? Ist es nicht so, Holger?«
Obwohl Holger den Kopf tief gesenkt hielt, war sein Nicken deutlich zu erkennen. Seine Worte waren kaum zu verstehen, als er zu erklären versuchte.
»Er hat damit gedroht, mir sämtliche Knochen brechen zu lassen, und hat mir eine Frist bis zum Ende des Monats gesetzt. Ich weiß, dass das bei ihm keine leeren Worte sind. Das hat er schon mit vielen gemacht, die bei ihm Schulden hatten. Mama, ich habe Angst, dass etwas Schlimmes passiert.«
Statt einer Antwort von seiner Mutter reagierte er auf das Klingeln seines Telefons. Zögernd drückte er auf die grüne Taste und erstarrte. Sekunden später legte er das Telefon auf den Tisch und stellte fast tonlos fest: »Sie haben Viola.«
3
»Jetzt bleiben wir mal ganz ruhig«, versuchte Lars, den ersten Schock über diese Nachricht abzuschwächen. Das gelang ihm allerdings nicht bei Holger, dessen Gesicht eine ungesunde Blässe angenommen hatte. Immer wieder fuhr er sich fahrig durch das lange fettige Haar, dem eine Wäsche wieder einmal guttun würde. Sein Blick irrte durch den Raum, schien nach einem festen Halt zu suchen. Sigrid rückte näher heran und legte einen Arm um seine Schulter. Es konnte der Eindruck entstehen, dass er der Welt komplett entrückt war. Sigrids Stimme drückte die Sorge aus, die sie in diesem Augenblick befallen hatte, obwohl sie das Mädchen nicht kannte. Doch schien die Tatsache, dass sie entführt worden war, ihren Sohn sehr zu berühren. Grund genug, sich um ihn zu kümmern.
»Holger, verstehst du mich? Du musst uns erklären, was gerade passiert ist. Wer war das am Telefon und was genau wollte derjenige von dir?«
Als der Junge noch immer keine Anstalten machte, den Mund zu öffnen, versuchte es Lars auf die etwas härtere Tour.
»Verdammt, Holger, deine Mutter hat dich etwas gefragt. Sie erwartet eine Antwort. Und ich verlange das ebenfalls von dir. Du kannst nicht einfach hier auftauchen, Hilfe erbitten und dann einfach abschalten, als wären wir gar nicht da. Sprich endlich mit uns. Was ist mit Viola?«
Nur langsam normalisierte sich der Blick von Holger und Lars hatte berechtigte Hoffnung, dass sie nun etwas über den Verbleib der Freundin erfahren würden. Mit Sorge bemerkte er jetzt die Tränen, die Holgers Augen füllten.
»Sie haben Viola.«
»Nun, mein Junge, das haben wir mittlerweile auch begriffen. Du sagtest es bereits.«, erwiderte Lars und verdrehte die Augen. »Geht das auch etwas genauer? Wo ist sie und von wem sprichst du, wenn du von den Entführern sprichst? Meinst du damit diesen Junis?«
»Ich kann dir das nicht sagen. Der Kerl am Telefon hat seinen Namen nicht genannt. Er meinte nur, dass ich ab jetzt noch achtundvierzig Stunden Zeit hätte, um sie wieder freizubekommen. Sonst würde man sie in den Osten bringen und an einen Zuhälter verkaufen. Das kann doch nur einer aus der Clique von Junis gewesen sein. Die Nummer war unterdrückt. Ich will Viola zurück.«
Immer wieder fuhren Sigrids Hände über Holgers Haar. Mit ruhiger Stimme sprach sie ihm Trost zu, während Lars fieberhaft nach einer Lösung suchte.
»Wir müssen die Polizei einschalten. Die werden deine Freundin schon finden. Es kann doch nicht sein, dass mitten in Deutschland jemand einen Menschen kidnappt und so versucht, Schulden einzutreiben. Das sind Methoden wie im Wilden Westen. Ich werde die jetzt anrufen und den Fall schildern.«
Schon als Lars sich erheben wollte, schrie Holger auf und zerrte an seinem Ärmel.
»Keine Bullen. Auf keinen Fall dürft ihr die Polizei reinziehen. Die bringen Viola sonst um. Ihr wisst nicht, mit wem ihr es zu tun habt. Die haben keine Skrupel, jemandem den Kopf abzuschneiden, wenn man nicht tut, was sie wollen. In der Szene weiß man das. Wer bei denen Schulden hat, zahlt besser.«
»Aber wie stellst du dir das vor, Holger«, redete nun Sigrid auf ihn ein. »Wir haben das Geld nicht, wenn du glaubst, dass wir dir helfen könnten. Wir mussten für das Dach im letzten Monat eine neue Hypothek aufnehmen. Wir haben gerade noch so viel, dass wir überleben können. Ich kann nicht einmal Miriam den Tanzkursus bezahlen. Womit willst du deine Freundin also auslösen?«
»Ich weiß es nicht, Mama, ich weiß es einfach nicht. Ich muss zu ihm und verhandeln. Vielleicht kann ich die Schulden abstottern.«
Lange hatte Lars zugehört und seinen Ärger zurückgehalten. Jetzt platzte ihm der Kragen.
»Wie blind bist du eigentlich? Hat dir das verdammte Koksen den Verstand geraubt? Dazu muss ich kein Mathegenie sein, um mir ausrechnen zu können, dass du nicht einmal deine Zinsen dadurch abtragen kannst, wenn du das abstotterst. Mit jeder Stunde, die du wartest, erhöhen sich unaufhaltsam deine Schulden. Wenn du nichts verdienst und keine Rücklagen besitzt, hast du keine Chance, dich jemals aus dieser Misere zu befreien. Der hat dich in der Hand.«
»Ich werde dann wohl für ihn arbeiten müssen. Das ist meine einzige Chance, Viola zu befreien. Er hat mir das vor Monaten angeboten.«
»Moment, Holger. Habe ich mich gerade vielleicht verhört?«, mischte sich Sigrid wieder ein und rüttelte an Holgers Arm. »Du willst für dieses Schwein, das deine Freundin entführt hat, auch noch arbeiten? Hast du jetzt völlig den Verstand verloren? Das lasse ich nicht zu. Das wirst du auf keinen Fall tun. Du verkaufst keine Drogen an Kinder und treibst dich nicht an Schulen herum.«
»Da gebe ich deiner Mutter recht, Holger. Das wäre wohl das Letzte, was passieren dürfte. Dann besuchen wir dich eines Tages im Gefängnis. Es muss einen Weg geben, das zu regeln. Lass mich nachdenken.«
»Papa, es gibt keinen anderen Weg, wenn ihr kein Geld habt. Ich kenne auch sonst niemanden, der mir helfen könnte. Ich werde Junis anrufen und ihm sagen, dass ich ...«
Alle Augen richteten sich auf Miriam, die im Eingang zum Wohnzimmer erschienen war und ungläubig dem letzten Teil der Unterhaltung gefolgt war.
»Habe ich das richtig verstanden, dass dieser Hirni, der sich als mein Bruder bezeichnet, zukünftig Drogen verhökern will? Ist das so? Dann garantiere ich ihm, dass ich ihn bei der Polizei anzeigen werde. Ich will mit solchen Typen nicht in einen Topf geworfen werden. Das ist dann nicht mehr mein Bruder.«
»Miriam, um Gottes willen. So was darfst du nie mehr sagen. Du versündigst dich. Wir sind eine Familie und halten in jeder Situation zusammen. Das betrifft vor allem Holger, der jetzt unsere Hilfe braucht.« Miriam blickte ihren Vater erstaunt an, der aus seinem Vorwurf ihr gegenüber keinen Hehl machte. »Es geht auch um Viola, die kaum älter sein dürfte als du. Dass die beiden einen Riesenfehler gemacht haben, will keiner hier wegdiskutieren. Doch nun müssen wir uns der Situation stellen, in die sie sich hineinmanövriert haben.«
»Siehst du, Papa, genau das meine ich«, bemerkte Miriam trotzig, »sie haben sich selbst dahin gebracht. Und jetzt sollen wir plötzlich helfen. Immer wenn es dem lieben Bruder gerade in den Kram passt oder er in der Scheiße sitzt, muss die Familie helfen. Das sehe ich einfach nicht ein. Glaubt ihr vielleicht, dass ich das in den letzten Jahren nicht mitbekommen habe, wie ihr dem Loser ständig Geld in den Hintern geschoben habt? Ich musste dafür auf manchen Wunsch verzichten. Denkt nur mal an die Klassenfahrt nach Südfrankreich, wo ich nicht mitfahren konnte, da angeblich kein Geld da war. Kurz vorher war dieser Junkie bei uns und hat gebettelt. Das finde ich richtig beschissen.«
Alle fuhren erschrocken zusammen, als Holger aufsprang und zur Tür stürzen wollte. Seine Mutter hielt ihn an der Jacke zurück.
»Du setzt dich verdammt noch mal sofort wieder hin. Dass es irgendwann einmal auf den Tisch kommt, war doch zu erwarten. Miriam hat sogar recht mit dem, was sie sagt. Es ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass wir Viola da wieder rausholen müssen. Frage mich allerdings nicht, wie wir das anstellen sollen. Das Geld wächst schließlich nicht im Garten.«
»Ich will euer beschissenes Geld aber nicht mehr«, schrie Holger seiner Mutter ins Gesicht und wollte sich losreißen. Die Ohrfeige, die er dafür von Lars erhielt, wirkte wie eine Explosion und ließ alle im Raum erstarren. Sofort stellte sich bei Lars Reue ein, da er die Fassung verloren hatte. Eine für ihn ungewohnte Lage, da er stets auf absolute Kontrolle aus war und solche Entgleisungen nicht tolerierte. Auch sein plötzliches Stottern zeigte, wie ihn das berührte.
»Es ... es tut mir leid. Das wollte ... ich meine, dass es mir wirklich leidtut. Aber etwas Dankbarkeit hätte ich von dir schon erwartet. Schließlich haben wir das viele Geld, was dein Drogenkonsum verschlungen hat, nicht einfach aus den Ärmeln geschüttelt. Das wurde vom Mund abgespart. Spiel deshalb nicht den Beleidigten und verstehe deine Schwester.«
Es trat augenblicklich eine Stille ein, die diese Spannung wiedergab, die im Raum vorherrschte. Selbst Miriam, die nur schlecht ihren Mund halten konnte, wirkte noch immer geschockt von der ungewohnten Emotion ihres Vaters. Holgers Hand lag noch immer auf der Wange, an der ihn der heftige Schlag des Stiefvaters getroffen hatte. Wie in Zeitlupe setzte er sich wieder, den Blick vorwurfsvoll auf Lars gerichtet.
»Das hat dein Vater nicht so gemeint. Er hat sich entschuldigt und wird immer zu dir halten, mein Kind.«
»Er ist nicht mein Vater. Das werde ich ihm niemals vergessen. Es wird der Tag kommen, an dem ich ihn daran erinnern werde und ...«
»... was willst du dann tun, du elender Versager«, konterte Miriam, der anzumerken war, wie sehr der Zorn in ihr hochkochte. Statt ihrem Vater dankbar zu sein für alles, was er bisher für Holger getan hatte, schwor er Rache für eine läppische Ohrfeige. »Man hätte dich in der Gosse liegen lassen sollen, in der du dein Leben fristest. Anständige Jungen erlernen einen Beruf und sorgen dafür, dass sie später eine Familie ernähren können. Du schmieriger Penner ziehst dir Koks in den hohlen Kopf und erwartest, dass ein Mann, der für deine Geburt keine Schuld trägt, das alles bezahlt. Mit alles meine ich dein Lotterleben, Essen, Trinken, Koksen und Vögeln. Zu mehr bist du doch nicht fähig. Du bist Sklave deiner animalischen Lust. Du kotzt mich an. Krieche zurück in das Loch, aus dem du hierher gefunden hast, und lass uns weiter in Frieden leben.«
Absolut verärgert zog Lars Olsson seine Tochter zu sich auf die Couch und legte ihr seine mächtige Hand auf den Mund, bevor sie in ihrer Schimpfkanonade warmlaufen konnte.
»Das war nicht nötig, Miriam. Du entschuldigst dich sofort bei deinem Bruder. Er hat das vorher bestimmt nicht so gemeint.«
Mit einer wilden Bewegung befreite sich Miriam von der Hand des Vaters und beugte ihren hochroten Kopf vor.
»Niemals werde ich mich bei diesem undankbaren Scheißkerl entschuldigen, der dich nicht einmal als Vater anerkennt. Er beschimpft den Mann sogar, der diesen zugedröhnten Junkie vor Jahren adoptiert hat. Du bist nicht sein Vater, hat er gesagt. Dann beweise ihm, dass er recht damit hat. Jage ihn aus dem Haus und werfe ihn diesem Lumpenpack zum Fraß vor. Sollen sie doch mit ihm machen, was sie wollen – mich juckt das nicht. Für mich gibt es den Bruder, wie ihr es nennt, nicht mehr. Kann ich jetzt bitte auf mein Zimmer gehen, Papa?«
Augenblicke, bevor Miriam das Zimmer verließ, drehte sie sich noch ein letztes Mal um und schrie Holger an.
»Hoffentlich verkaufen sie deine grandiose Viola an die Zuhälter. Und anschließend sollen sie dich, Holger Preuter, mit in ihre Hölle nehmen, in der du dich scheinbar wohler fühlst als hier, wo früher mal deine Familie lebte. Ich habe keinen Bruder mehr.«
Kaum war das Zuschlagen der Kinderzimmertür verhallt, als Sigrid aus ihrer Starre erwachte und sich an Lars wandte.
»Sie hat ihren Bruder mit Holger Preuter bezeichnet. Indem sie ihm den Geburtsnamen statt Olsson zuordnete, hat deine Tochter sehr deutlich gezeigt, was sie von ihm und damit auch von mir hält. Das war sehr hässlich und tut weh. Ich habe ihr alle Liebe gegeben, zu der ich fähig bin. Und jetzt das? Womit habe ich das verdient. Das schwelt wohl schon lange in ihr – nun ist es endlich ausgesprochen.«
»Sind hier nun alle durchgeknallt, Sigrid. Du schließt völlig verkehrte Rückschlüsse aus dem, was sie zu Holger gesagt hat. Sie liebt dich und hat dich schon lange als ihre Mutter anerkannt. Du verkennst die Lage. Das, was sie da zugegeben etwas überzogen abgelassen hat, betrifft einzig Holger. Und der hat nun einmal fleißig daran mitgearbeitet, dass sie sich zu solchen Äußerungen hinreißen ließ. Wenn du in einer Stunde mit ihr darüber sprichst, wird sie sich für dieses Missverständnis entschuldigen. Das war heute alles etwas viel für eine Sechzehnjährige.«
Entschlossen fasste Sigrid ihren Sohn am Ärmel und zog ihn mit sich. Beide verschwanden in der Küche. Als auch hier die Tür lautstark ins Schloss geworfen wurde, blieb Lars Olsson kopfschüttelnd zurück.
4
Mit zitternden Fingern übernahm Holger das Telefon, das ihm Sigrid reichte. Als sie nickte, wollte sie ihm Mut zusprechen, da sie sein Zögern bemerkte. Es war schon das vierte Klingeln, als sie sich entschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Holger machte keinerlei Anstalten, das Gespräch entgegenzunehmen, hielt nur das Smartphone weit von sich, als hätte er Angst vor dem, was ihn möglicherweise erwartete. Die Nummer war unterdrückt, und doch wusste sie, warum man den Kontakt suchte.
»Was wollen Sie von meinem Sohn, Sie Unmensch? Er wird Ihnen das Geld schon besorgen. Aber so, wie Sie sich das wünschen, wird es nicht gehen. Was haben Sie mit Viola vor? Hallo ... sind Sie noch da?«
Sigrid glaubte, ein unterdrücktes Lachen gehört zu haben. Erst nach einer Weile meldete sich der Anrufer in gebrochenem Deutsch.
»Bist du fertig? Was hat dir der Scheißkerl erzählt? Sag mir, was hat er dir an Lügengeschichten aufgetischt? Und was soll das mit Viola? Der Mistkerl soll einfach seine Schulden bezahlen und sich zukünftig seinen Stoff woanders holen. Hörst du, Frau? Dein Sohn ist ein elender Pisser ohne Ehre im Leib. Gib ihm Telefon. Sofort!«
»Er will nicht mit Ihnen sprechen. Und bezeichnen Sie ihn nie wieder als Pisser. Das tue ich Ihnen gegenüber auch nicht. Sie haben ihn mit Ihren Drohungen völlig aus der Fassung gebracht. Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass Sie seine Freundin an einen Zuhälter verkaufen wollen. Was sind Sie bloß für ein Mensch?«
Wieder vernahm Sigrid dieses Kichern und Geflüster im Hintergrund. Sie glaubte, in der Stimme des Anrufers plötzlich sogar Ironie ausmachen zu können.
»Was erzählst Du mir da? Du irrst Dich gewaltig, Frau Olsson. So heißt Du doch, oder? Ich will die Freundin Deines missratenen Sohnes nicht verkaufen.« Hier machte der Anrufer eine Pause. »Das habe ich bereits getan. Wusste gar nicht, dass sie Viola hieß. Es geht ihr gut ... sagte man mir zumindest. Sie hat es gut, wo sie ist, und hat eine ordentliche Stange Geld gebracht. Doch das bedeutet nicht, dass damit die Schulden Deines Sprösslings getilgt sind. Die haben sich mittlerweile fast verdoppelt. Und wenn der nicht langsam seinen Arsch hierher bewegt, wird sich das Ganze noch weiter verteuern. Gibst Du ihn mir jetzt, oder muss ich ihn abholen lassen?«
Sigrid Olsson verdeckte das Telefon mit einer Hand, versuchte so, das Gehörte vor ihrem Sohn zu verbergen, der beide Hände gegen die Ohren gedrückt hielt. Sie war sich nicht sicher, ob er die vorherige Drohung des Anrufers überhaupt mitbekommen hatte. Selbst musste sie das Unfassbare verarbeiten, versuchen einzuordnen, ob sie dem Kerl Glauben schenken sollte. Es konnte einfach nicht sein, dass es Menschen gab, die so was fertigbrachten. Krampfhaft überlegte sie, wie sie damit umgehen sollte. Die Entscheidung wurde dadurch aufgeschoben, dass sich die Küchentür öffnete und der Kopf von Lars erschien. Trotz ihrer vorherigen Enttäuschung winkte sie ihn heran und fasste flüsternd in wenigen Worten zusammen, was bisher geschehen war. Ungläubig nahm Lars das Telefon entgegen, das ihm Sigrid reichte. Schon bevor er es ans Ohr hielt, konnte er nur noch das Besetztzeichen vernehmen.
»Wer war denn der Kerl, der sich gemeldet hat?«
»Das weiß ich doch nicht, Lars. Er hat seinen Namen nicht genannt und klang wie ein ... wie ein Araber. Ich frage mich jetzt, warum dieser Mann überhaupt angerufen hat. Er hat eigentlich nur das bestätigt, was wir schon wussten. Sollen wir nicht doch besser die Polizei einbeziehen?«
Sigrid Olsson glaubte, in den Augen von Holger Tränen zu sehen, die er sich schnell mit dem Ärmel seiner Jacke wegwischte und sich an seine Mutter wandte.
»Mama, was hat Junis gesagt? Er war es bestimmt oder zumindest einer seiner Handlanger. Wann sehe ich Viola wieder? Was ist mit ihr?«
Nun war sich Sigrid sicher, dass Holger noch nichts von dem Gespräch und der schrecklichen Nachricht mitbekommen hatte. Hilfesuchend richtete sie den Blick auf Lars, der kaum merklich den Kopf schüttelte.
»Hör zu«, fuhr er an Holger gerichtet fort und wollte seine Hand auf dessen Schulter legen, woraufhin der sich zurückzog und näher an Sigrid heranrückte. »Ich weiß immer noch nicht, was ich in der Sache für dich tun kann. Doch es scheint Viola noch gut zu gehen. Du kennst den Kerl besser als wir. Glaubst du wirklich, dass er ihr was antut, wenn du nicht sofort zahlst?«
»Er wird sie notfalls sogar töten. Und dann bin ich dran. Das ist in der Szene nicht selten, dass Kunden, die nicht zahlen können oder wollen, exemplarisch hingerichtet werden – nur so zur Abschreckung. Damit setzen sie ein Zeichen, dass so was nicht ungestraft bleibt. Ich habe Angst, Mama. Ihr müsst uns helfen.«
Die Worte, die stockend über seine Lippen kamen, schockierten die weitestgehend ahnungslosen Eltern und ließen sie erstarren. Bisher hatten sie sich mit dieser Materie nicht beschäftigen müssen und sahen die Handlungen in amerikanischen Actionfilmen als erfunden, zumindest stark überzogen und als Effekthascherei an.
Hatte Holger ihnen diese Welt plötzlich ins Haus geholt. Eine Welt, die ihren familiären Frieden zu bedrohen schien?
Sigrid erhob sich und stellte sich ans Fenster, sah hinaus in den Garten, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Immer wieder schloss sie die Augen und fuhr sich mit den Händen durch das dichte braune Haar, das ihr immer wieder vor die Augen fiel. Sie bewegte sich kaum, als sie die Arme von Lars spürte, die sich um ihren Körper schlangen.
»Wir werden das durchstehen. Das verspreche ich dir. Ich habe da eine Idee.«
»Ich befürchte, dass es dafür keine brauchbare Lösung gibt, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Das sind keine normalen Menschen, Lars. Du darfst sie nicht vergleichen mit deinen Kunden, die du besuchst. Denen bedeutet scheinbar ein Leben nichts. Wir werden die Polizei einschalten müssen, auch schon, um meinen Sohn zu schützen.«
»Unseren Sohn«, korrigierte Lars und küsste Sigrid aufs Haar. »Ich werde da niemals einen Unterschied machen können, zumal wir uns das vor Jahren geschworen haben. Du solltest mit Miriam sprechen. Oder soll ich das tun, Schatz?«
»Nein, bitte lass mich das regeln, sonst nimmt sie es nicht ernst. Sie muss deutlich spüren, dass ich gerne eine Freundin und für sie da bin. Aber du sprachst gerade von einer Idee. Was meintest du damit?