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Als Nicole dem smarten Manfred Kirchner begegnet, glaubt sie, ihr großes Glück gefunden zu haben. Als das Monster die Maske fallen lässt, ist es schon zu spät. Doch ihr Weg kreuzt den eines anderen Mannes, dabei erfährt sie, dass es auch Männer gibt, die Hilfsbereitschaft und Freundschaft über ihre eigene Sehnsucht nach Liebe stellen. Doch Manfred Kirchner ist nicht der Mann, der sein Opfer aus den Klauen lässt. Das Schicksal treibt ein makabres Spiel und zwingt alle Beteiligten an die Grenze des Zumutbaren. Drei Fachfrauen des Genre meinen zum Buch: Wer noch immer dem Klischee nachhängt, Männer könnten keine wahren Gefühle ausdrücken, wird in diesem Roman von Autor H.C. Scherf eines Besseren belehrt. Sein beeindruckendes Einfühlungsvermögen, seine klaren Beschreibungen zweier völlig unterschiedlicher Beziehungen sowie detaillierte Darstellung des Seelenlebens der Figuren sind absolut ergreifend. Alles gemeinsam führt die Leser*innen auf eine Achterbahn der Gefühle und lässt sie nachdenklich, teilweise schockiert zurück. Eine spannungsgeladene Story, die sehr lange nachhallt. Alexandra Mazar – Autorin Carola Leipert – Autorin Irene Dorfner – Autorin
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H.C. Scherf
Lockruf der Nordsee
Roman
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1. Auflage / Januar 2023
Copyright © 2023 by H.C. Scherf
Ewaldstrasse 166, 45699 Herten
www.scherf-autor.de
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: VercoDesign, Unna
Bilder von:
Viktor Khymych, Valerii M, Mumemories, Alex Stemmers
alle Shutterstock
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alle adobe stock
Lektorat/Korrektorat: Heidemarie Rabe
Dieses Ebook ist geschützt und darf ohne Genehmigung des Autors nicht
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Lockruf der Nordsee
von H.C. Scherf
Zeige mir deine Narben,
damit ich sehen kann,
wo ich dich am meisten lieben muss.
Unbekannter Autor
1
Du wirst sie niemals finden. Gib sie auf. Sie hat es sich nach freiem Willem ausgesucht und gehört nun uns.
Das Meer schrie ihm diese Worte entgegen. Doch er kämpfte sich weiter durch den weichen Untergrund der Brandung, dorthin, wo er die Frau im tieferen Wasser vermutete. Schließlich tauchte er ab in die bedrohliche Schwärze der nun aufgewühlten Nordsee. Nichts. Absolut nichts war zu ertasten. Die Luft wurde knapp und zwang Tom Banett zum Auftauchen. Nach Atem ringend suchte er die Wasseroberfläche weiter nach einer Bewegung ab. Verzweifelt drehte er sich im Kreis. Sie musste doch irgendwo sein, da der Mensch doch immer versuchen wird, wieder nach oben zu gelangen! Die gierigen Arme der See gaben ihr Opfer einfach nicht mehr frei. Verzweiflung breitete sich in ihm aus. Doch ein weiteres Mal saugte er Luft in die bereits schmerzenden Lungen, tauchte und streckte seine Finger in jede Richtung aus. Lediglich Seetang schlang sich um seine Arme und Beine, als wollte es ihn hinunterziehen. Undurchdringliche, von Schmutz durchzogene Brühe umfing ihn. Er wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Um ihn herum wirbelte nur das mit Sand durchmischte Wasser. Der Druck in den Lungen wurden unerträglich und jede Orientierung fehlte. Er suchte zum Auftauchen nach seinen eigenen Luftblasen, wollte ihnen folgen, gelangte jedoch mehr durch Zufall an die Oberfläche. In dem Augenblick, als er aus dem Wasser stoßen wollte, berührten seine Fingerspitzen etwas Festes. Zugreifen! Die Lungen gierten nach Sauerstoff und Todesangst sprang ihn an. Er musste an die Oberfläche.
Licht ... endlich! Wie von Sinnen sog er die Leben spendende Luft ein und merkte erst später, dass er noch etwas fest umklammert hielt. Rein instinktiv hatte er zugefasst und nicht mehr losgelassen. Die langen Haare waren verwoben mit dem Seetang und hatten sich um seine Hand gewickelt. Mit einem Ruck zog er ihren Kopf an die Wasseroberfläche und schlang seine Arme um den Oberkörper der Frau. So schnell es sein Körper noch zuließ, stampfte er Richtung Ufer, kämpfte gegen die Wellen an, die ihn und diese Frau wieder ins tiefe Wasser ziehen wollten. Der Strand war bereits in Abenddämmerung getaucht und verschwamm vor seinen Augen. Seine Kräfte ließen allmählich nach. Der Sog der Brandung wurde immer stärker, ließ ihn schier verzweifeln. Panik beherrschte ihn plötzlich und er fragte sich, ob er sie besser loslassen sollte, um zumindest sein eigenes Leben retten zu können. Nein, keine Macht der Welt würde ihn dazu bringen. Irgendwoher mobilisierte er letzte Reserven. Tom Banett spürte nun das volle Gewicht der Leblosen, als er endlich das niedrige Uferwasser erreichte. Die Flut hatte eingesetzt, die jetzt aufgepeitschte See drohte ihm, zeigte ihre Wut über den eigenen Verlust, indem sie ihn mit schäumender Gischt überschüttete. Er hatte ihr schließlich ein sicher geglaubtes Opfer entrissen.
Am sicheren Strand ließ er den Körper kraftlos in den Sand gleiten und warf sich schwer atmend daneben. Der Schmerz in den Lungen hatte sich noch verstärkt, drohte, ihm die Besinnung zu rauben. Er schlug die Hände gegeneinander, um auch dieses verfluchte Beben der Hände loszuwerden. Das Zittern blieb. Trotzdem tastete er nach dem Hals der Frau. War da überhaupt ein Puls, eine Atmung? War die Rettungsaktion vielleicht umsonst und er hatte eine bereits Tote aus den Fluten gerettet? Nichts. Nur kaltes Fleisch, leblose Haut.
Das kann, das darf nicht umsonst gewesen sein! Wiederbelebung. Ich muss sofort mit Wiederbelebungsversuchen beginnen.
So schnell es sein Zustand zuließ, kniete er sich neben sie und legte beide Hände zwischen die Brustansätze. Rhythmisches Pumpen, ohne die richtigen Abstände wirklich zu kennen. Er wusste nur aus seinem weit zurückliegenden Erste-Hilfe-Kurs, dass der Rhythmus des Bee Gees-Erfolgssongs Stayin‘ Alive den Takt vorgab. Nach einer Weile setzte er erschöpft ab.
Muss ich nicht zwischendurch eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen? Ihre Lungen brauchten unbedingt Sauerstoff.
Seltsam ... Es war ihm peinlich, seine Lippen auf ihre zu legen. Es schien ihm, als nutzte er die Hilflosigkeit dieser Frau aus, als würde er sich an ihr vergehen. Er verwarf diesen außergewöhnlichen Gedanken wieder. Trotz schmerzender Lungen presste er Atemluft in ihren Mund. Die Nase verschloss er mit den Fingern, als er bemerkte, dass die Luft durch sie wieder entwich.
Das Herz. Ja, jetzt muss ich wieder das Herz massieren. Es schien Stunden zu dauern, obwohl seit der Rettung lediglich drei Minuten vergangen waren. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Auch die letzte Hoffnung drohte zu schwinden.
Du darfst nicht aufgeben. Du musst diese Frau zurückholen.Sie ist doch noch so jung. Atme, bitte atme doch, verdammt!
Die Gedanken gaben ihm Kraft, immer wieder den leblosen Körper zu bearbeiten. Seine Arme spürte er schon lange nicht mehr. Der Atem verließ nur noch pfeifend seinen Mund und das Atmen wurde zur Qual. Alles geschah nur noch mechanisch und vom eisernen Willen gesteuert.
Das Flattern der Augenlider bemerkte er zunächst gar nicht, als ob der Verstand sich weigerte, das Gesehene zu realisieren. Erst ein kräftiges Husten der Frau signalisierte ihm, dass die Mühen nicht umsonst gewesen waren.
Sie lebt ... Gott sei Dank ... Sie lebt. Sie ist wieder zurückgekommen.
Fassungslos vor Freude sah er auf sie hinunter und die Überraschung ließ für Sekunden den Atem stocken. Es war für ihn noch nicht real, dass er einen Menschen vor dem sicheren Tod gerettet und den Klauen des Meeres entrissen hatte.
Sie war schon tot. Ich habe sie ... oh Gott, ich kann es nicht glauben.
Die Erleichterung übermannte ihn und er streckte die Hände dankend gen Himmel. Eher mechanisch wischte er über die Augen, konnte jedoch nicht verhindern, dass Tränen der Freude über sein Gesicht rollten. Das Adrenalin sorgte dafür, dass sein gesamter Körper bebte. Erschöpft, aber zufrieden ließ er sich auf den Rücken fallen und versuchte, wieder normal zu atmen. Immer noch ungläubig vergewisserte er sich mit einem Blick zur Seite, dass sich ihr Brustkorb tatsächlich regelmäßig hob und senkte. Allerdings fühlte sie sich völlig unterkühlt an, als er nach ihr tastete. Entschlossen riss er ihr die nassen Kleider vom Körper und warf alles in den Sand, bis sie nur noch im Slip vor ihm lag. Sein nasses Oberhemd und die Jeans folgten ihren Kleidern. Er schmiegte sich kurz entschlossen eng an sie. Seine Arme umschlangen ihren zitternden Körper, sodass sich seine Wärme allmählich auf sie übertrug. Ihr noch schwacher Atem wurde übertönt vom Zischen der zornigen Brandung. Sein eigenes Zittern ließ nach und er schloss erfüllt von einem befreienden Glücksgefühl die Augen. Es war seltsam, dass er ihre Körpernähe jetzt ohne Bedenken suchte, obwohl er bei der Beatmung noch diese völlig überflüssigen Skrupel gezeigt hatte. Schließlich ging es ums pure Überleben.
»Das hättest du nicht tun dürfen ... Ich wollte sterben ... Du hast nun alles kaputt gemacht.«
Diese kaum wahrnehmbaren Worte ließen Tom Banett erstarren.
Vor Toms Augen lief noch einmal der unglaubliche Film ab. Was war überhaupt geschehen? Wieso liegt jetzt diese wunderschöne Frau fast nackt neben mir und rügt ihn, weil er sie vor dem Ertrinken gerettet hatte?
Der Schatten der Frau zeichnete sich klar gegen den Sonnenuntergang ab. Die Nordsee lag ruhig da und verlor sich mit ihrer glatten Oberfläche am Horizont in gefühlter Unendlichkeit. Die Sonne war als glutroter Ball bereits zur Hälfte eingetaucht und warf blutgleiche Strahlen durch die dünnen Wolkenfetzen. Nur das Kreischen der Möwen unterbrach die Stille, die vom schwachen Plätschern der Brandung begleitet wurde. Eine Stimmung, die Tom Banett mit Ruhe erfüllte. Diese Frau am Strand suchte vermutlich so wie er selbst Trost oder Ruhe. Ein Mensch, der die kraftspendende Stille genoss. Ja, hier war es möglich, seinen Träumen nachzuhängen, die wuselige, egoistische Welt zurückzulassen. Angenehme Temperaturen machten das Sitzen im Sand zu einem Wohlfühlerlebnis. Der Wind strich durchs Haar und trieb kleine Sandkörner in die Augen. Der noch warme Sand der Düne fühlte sich gut an unter den nackten Füßen. Auch er fühlte sich hier endlich wohl und hing seinen Gedanken nach.
Die Frau, die jetzt klar zu erkennen war, blieb einen Steinwurf entfernt stehen und blickte über das allmählich unruhiger werdende Wasser zum Horizont. Die Flut stand unmittelbar bevor und die Brandung umspülte ihre Füße. Es schien sie nicht zu stören, dass ihr bis zur Erde fallendes Kleid nass wurde. Die Hände und den Blick hatte sie zum Himmel erhoben, als wollte sie versuchen, die Wolken, das unendliche Universum zu berühren. Ein Bild, das ein Foto wert gewesen wäre. Anmutig wie eine Ballerina, immer noch die Hände erhoben, schritt sie in Richtung des sich rotfärbenden Horizontes. Das Kleid verteilte sich wie ein Kranz auf dem Wasser. Tom Banett stand auf, um die Szene besser verfolgen zu können. Unruhe erfüllte ihn plötzlich, denn sie hatte keinen festen Stand mehr und die Wellen zerrten bereits an ihr. Die Gefahr war sehr groß, dass sie fortgerissen wurde. Sorge ergriff ihn, da er keinen Sinn in dem Ganzen sah. Sie versuchte erst gar nicht zu schwimmen und über Wasser zu bleiben.
»Hallo, Sie da!«, rief er ihr zu. Zögernd verließ er die Düne und ging immer schneller werdend auf die Frau zu. Keine Reaktion. Sie setzte ihren Weg Richtung offenes Meer unbeirrt fort. Als nur noch ihre Schultern aus dem Wasser ragten, war ihm klar, was sie beabsichtigte. Er lief los. Seine Gürteltasche mit Portemonnaie und Schlüssel zerrte er von der Taille, warf alles in den Sand. Immer wieder stolperte er, rutschte auf dem sandigen Boden aus und verlor die Frau schließlich aus den Augen. Das Meer hatte sie gierig in sich aufgesogen, als hätte sie niemals existiert. Die Stelle, an der er sie noch vor wenigen Augenblicken hatte stehen sehen, war nur noch in Dunkelheit getaucht. Die Wasseroberfläche schien ihn sogar hämisch anzugrinsen.
Was willst du hier? Warum suchst du nach ihr? Sie gehört jetzt uns. Sie wollte es genauso.
Tom Banett glaubte, diese Worte aus den tosenden Wogen herauszuhören. Er stürzte sich in die nächste Welle und tauchte ab.
2
Die Szene glich fast einer Westernidylle: Zwei Menschen saßen in einer Dünensenke um ein offenes Feuer und rieben kräftig die Hände aneinander, um die Kälte zu vertreiben. Der Wind trocknete die Kleidung, die sie über dem Schilfgras abgelegt hatten. Eine Hintergrundmusik von Ennio Morricone hätte sicherlich noch die zusätzlich passende Atmosphäre hergestellt. Beide hatten es bisher vermieden, über das Geschehene zu reden. Stumm hatte sie halbwegs trockenes Treibholz gesammelt, während Tom Banett Zündhölzer und eine wärmende Decke aus dem Fahrzeug geholt hatte, die sie jetzt wohlig lächelnd am Hals zusammengezogen hatte. Er achtete vorsorglich darauf, dass er sie auf dem Weg zum in Sichtweite stehenden Auto nicht aus den Augen verlor. Ihr Outfit, bestehend aus seinem Wollpullover und ihrer Unterhose, hatte schon etwas Belustigendes. Gemeinsam hatten sie zuvor ihre Handtasche am Strand gesucht, die sie vor dem Gang ins Wasser einfach zwischen das Dünengras geworfen hatte. Das Meer hatte sich wieder beruhigt und wirkte, als wäre nichts geschehen.
»Nicole − ich heiße Nicole Kirchner«, vernahm er kaum verständlich über das Prasseln des Feuers hinweg. »Es tut mir alles so leid.«
Während sie redete, verfolgte sie scheinbar fasziniert das Spiel der Flammen. Das Weiß ihrer Augen verfärbte sich ins Orangene, wenn die Funken des Feuers explodierten. Schon zuvor hatte Tom die fast schwarz wirkende Iris unter den langen Wimpern beeindruckt. Sein Leben, sein Beruf als Berater im Außendienst hatten ihn auf viele unerwartete Situationen vorbereitet. Aber das hier war etwas völlig anderes. Ihm fiel keine Floskel ein, mit der er auf dieses Schuldbekenntnis hätte reagieren können.
»Mein Name ist Tom Banett, mit einem N und zwei T am Ende«, entfuhr es ihm lediglich, wobei er sich wegen des albernen Spruchs sofort aufs Maul hätte hauen können. Er hoffte, dass Sie die aufsteigende Röte in seinem Gesicht wegen des Feuers nicht erkennen konnte.
»Tom − ein schöner Name«, bemerkte Nicole, während sie mit einem Stock in der Glut stocherte. Ihr Blick war jetzt auf ihn gerichtet. Er nutzte die Gelegenheit, ihre Züge genauer zu betrachten. Ein schlankes Gesicht mit leicht hervorstehenden Wangenknochen, eingerahmt von langem, braunem und gelocktem Haar, das ihr weit über die Schultern fiel. Erst jetzt, als alles getrocknet war, entfaltete diese dunkle Löwenmähne ihre gesamte Pracht. Was jedoch besonders hervorstach, waren die vollen Lippen, über die hin und wieder ein leichtes Zucken lief. Er liebte es, wenn Frauen volle Lippen besaßen, da sie eine besondere Sinnlichkeit zumindest für ihn zum Ausdruck brachten. Er schätzte Nicole auf Mitte vierzig. Im weiteren Gespräch stellte sich heraus, dass sie tatsächlich schon einundfünfzig Jahre hinter sich gebracht hatte. Immerhin vierzehn Jahre jünger als er selbst. Sie besaß eine besonders samtene und glatte Haut und eine Figur, die sicherlich so manch jüngerer Frau neidische Blicke abrang.
»Ich möchte mich für alles entschuldigen, was heute passiert ist«, versuchte Nicole erneut, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Ihren Blick hatte sie wieder gesenkt, als würde sie sich schämen. »Ich meine für das, was ich vorhin zu dir sagte. Du hast schließlich für mich dein Leben riskiert.«
Sie stierte ins prasselnde Feuer, die Stimme wirkte nun jedoch etwas fester. Fröstelnd zog sie die Decke noch enger am Hals zusammen, da der Wind wieder aufgefrischt hatte. Die Brandung wurde wieder lauter und verstärkte das Gefühl bei Tom, dass das Meer ihm erneut seinen Zorn entgegen schrie. Es vergaß wohl nicht, dass er dem Wasser ein Opfer entzogen hatte, und zeigte deutlich seine Wut.
»Wir sollten uns die Sachen wieder anziehen«, lenkte er ab. »Die hatten jetzt Zeit genug zum Trocknen. Außerdem erkälten wir uns im Abendwind noch.«
Er pflückte die Kleidungsstücke aus dem Schilf und reichte sie ihr hinüber. Stumm und dankbar nickte Nicole und schlüpfte in das Kleid. Tom fehlte jegliche Vorstellung davon, wie er mit einem Menschen umgehen sollte, der noch vor zwei Stunden seinem Leben hatte ein Ende setzen wollen. Wie wirkte sich die Rettung in letzter Minute auf eine solche Person aus? Sie hatte sich in die Hände Gottes begeben wollen und er war derjenige, der sie förmlich daran gehindert hatte. Wie sah sie ihn nun?
Wird sie mich deswegen hassen und es später erneut versuchen? Schließlich habe ich sie in das Elend zurückgeholt, vor dem sie fliehen, von dem sie sich befreien wollte. Kann ich sie jetzt überhaupt allein lassen?
Fragen über Fragen, die er hoffte, später beantwortet zu bekommen. Er wusste noch nicht genau, wie es jetzt weitergehen sollte. Seine Nachfrage war mehr eine unbewusste Äußerung und führte zumindest zu einer Lockerung zwischen ihnen.
»Wohnst du hier in der Gegend?«
»Ich bin mit dem Zug aus Essen gekommen und wollte hier in Norddeich ...« Nicole stockte und wandte ihr Gesicht ab.
War das etwa Schicksal? Sie stammt aus Essen.
Erstaunt blieb Tom stehen, nachdem er sich bereits Richtung Auto bewegt hatte.
»Das kann doch nicht wahr sein! Ich bin in Essen geboren, wohne allerdings nicht mehr dort und mache hier einige Tage Urlaub. Habe mir ein Ferienhaus in Hage gemietet. Wenn du bisher nichts anderes hast, kannst du gerne ...«
Wieder befiel ihn das ungute Gefühl, dass er einen Schritt zu weit, viel zu forsch vorgegangen war und seine Frage unschicklich wirken könnte. Bevor er sich dafür entschuldigen konnte, kam ihm ihre Reaktion zuvor.
»Falle ich dir nicht zur Last? Ich meine, du wolltest dich doch hier erholen und jetzt hast du mich am Hals«, unterbrach sie Tom. Sie hatte die Arme wie schützend um ihren Oberkörper gelegt. Das Zittern war nicht zu übersehen, sodass er ihr die Decke, die er über dem Arm getragen hatte, eilig umlegte. Statt einer klaren Antwort lief er los wie nach einer stummen Absprache Richtung Auto, das er hinter den Dünen abgestellt hatte.
»Das macht doch überhaupt keine Umstände. Ich habe gerne Menschen um mich und würde mich sehr darüber freuen, wenn du mir beim Abendbrot Gesellschaft leisten könntest. Das Haus hat übrigens zwei Schlafzimmer. Kannst dir eines davon herrichten. Einen Schlafanzug werde ich dir für die Nacht auch zur Verfügung stellen können. Er wird zwar etwas schlabbern, aber immerhin besser als im Kleid schlafen zu müssen. Siehst du, es gibt überhaupt keine Probleme. Und – ich freue mich übrigens darüber, dass ich mal wieder jemanden zum Quatschen im Haus habe.«
Nicole blickte nur für einen kurzen Moment auf. Er bemerkte wieder das leichte Zucken ihrer Lippen, bevor sie zum ersten Mal sogar den Anflug eines Lächelns erkennen ließen. Sie kauerte sich auf dem Beifahrersitz zusammen wie ein Kind, zog die Knie an das Kinn und versank in Gedanken, während Tom die Heizung hochstellte und die wenigen Kilometer zurück nach Hage fuhr.
3
Nicole bezog sehr geübt das zweite Bett, während Tom sich um ein bescheidenes und schnelles Abendessen bemühte. Eigentlich war nur Tomatenschnitte mit Mozzarella, Olivenöl und Basilikum geplant gewesen. Angesichts der Umstände erfand er auf die Schnelle ein neues Menü. Er konnte es sich nicht verkneifen, seinen unerwarteten Besuch damit ein wenig beeindrucken zu wollen. Schon immer war das Kochen selbst und ein gut gestalteter Tisch eine seiner Leidenschaften. Eine Packung Lachs und ein Glas Oliven bereicherten das Angebot. Eier waren schnell gekocht, die dem Lachs beigegeben werden sollten. Na ja, etwas Wurst dazu und der Abendtisch sorgte dafür, dass Nicole anerkennend die Brauen hob. Ihre Bemerkung irritierte Tom zuerst, ging aber runter wie Öl.
»Bist du immer auf Besuch eingerichtet?«, wollte sie wissen und sah ihn mit einem gewissen Lächeln an.
»Nein, nein, ich habe immer genug zum Essen im Haus. War auch heute noch im SB-Markt am Parkeingang einkaufen. Lass es dir schmecken. Du musst nach alledem sehr hungrig sein. Ich bin es auf jeden Fall.«
Als sie seine Verlegenheitsröte bemerkte, beteuerte sie: »Das war nicht so gemeint, wie es sich anhörte. Ich wollte dir nicht unterstellen, dass du permanent auf Partnersuche und auf Damenbesuch aus bist. Bitte entschuldige. Es sieht alles einfach fantastisch aus und mir läuft das Wasser im Mund zusammen.«
»Das habe ich auch nicht so aufgefasst«, stellte Tom klar, obwohl ihn sein dunkelrotes Gesicht Lügen strafte. Beide mussten lachen. »Möchtest du Tee, Rotwein oder etwas anderes?«
»Ich trinke das Gleiche wie du. Mach dir bitte keine Umstände. Dieses grandiose Essen ist schon mehr, als ich hätte erwarten dürfen.«
Die Gläser füllte Tom zur Hälfte mit dem Rotwein, den er für seine einsamen Abende vorsorglich gekauft hatte. Immer häufiger, stellte er mit einer gewissen Sorge fest, half ihm der Alkohol über kleine Tiefs hinweg. Still nahmen beide das Abendbrot auf der Terrasse ein, wobei jeder seinen Gedanken nachhing. Unerwartet für Tom wurde das unangenehme Schweigen beendet.
»Ich glaube, dass ich ihn schon gesehen habe.«
Nicoles Worte holten Tom aus seinen Grübeleien. Er zuckte sogar ein wenig zusammen und stoppte in der Bewegung, als er das Glas zum Mund führen wollte.
»Du hast wen gesehen?«
»Ich glaube, ich war Gott, zumindest dem Jenseits, schon sehr nah.«
»Wieso glaubst du, dass es Gottes Bereich war? Es kann doch alles Mögliche sein, was dem Auge in einem solchen Augenblick vorgegaukelt wird.«
Tom konnte seine Überraschung nur schlecht verbergen, zeigte jedoch sein Interesse an der Unterhaltung deutlich. Ein solches Gespräch hatte er schon seit vielen Jahren nicht mehr geführt. Sie hatten in seiner letzten Ehe viel über sogenannte Nahtod-Erfahrungen gesprochen, da Heidi und er beide an ein Leben nach dem Tod glaubten. Selbst die Wissenschaftler waren sich nicht einig, woher sie rührten. Er selbst hatte solche Erscheinungen im Traum erlebt, jedoch nur mitleidiges Lächeln geerntet, wenn er im Bekanntenkreis davon erzählte. Irgendwann vermied er es, mit Freunden darüber zu diskutieren, da diese Thesen vom Leben nach dem Tod grundsätzlich abgelehnt und in den Bereich der Fantasie verbannt wurden. Pragmatismus und die grundsätzliche Weigerung, die Ansichten Andersdenkender anzuerkennen, stand dem entgegen.
»Gesehen habe ich ihn nicht. Verstehe mich bitte nicht falsch und halte mich auch nicht für eine Spinnerin, die sich in esoterische Irrungen verlaufen hat.«
»Um Gottes willen. Das würde ich niemals annehmen, Nicole. Aber es hört sich doch seltsam an. Das musst du zugeben. Wie hast du ihn oder sein Reich erkannt? Wie sah es dort aus?«
»Ich glaube nicht daran, dass man Gott wirklich sehen kann. Gott wird sich nicht als menschliches Wesen zeigen, er ist einfach überall, und das körperlos. Ich habe das Licht gesehen, seinen Frieden gespürt − das kann nur Gott, sein Reich der Ewigkeit gewesen sein. Es war schön und ...« Hier machte Nicole eine Pause und blickte etwas verträumt in ihr Glas, bevor sie fortfuhr. »Ich war glücklich ... endlich wirklich glücklich. Keine Last, keine Gedanken an Böses oder Vergangenes.«
Nicole sprach diese Worte mit einer Inbrunst, die Tom wirklich beeindruckte. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Beide hielten einen Moment inne. Nicoles Augen waren nun weit in die Ferne gerichtet. Sie lächelte sogar. Sie befand sich in diesem Augenblick wieder in ihrer Zwischenwelt, über die Tom gerne mehr erfahren hätte.
»Kannst du mir denn irgendwie beschreiben, was du gesehen hast?«
Er war plötzlich sehr neugierig, ob sich ihre Bilder mit seinen deckten. Viel zu selten fand er Gleichgesinnte, die seine Visionen verstanden, sogar teilten.
War es wirklich Zufall, dass ihm diese Frau begegnete? War sie ihm möglicherweise als Fügung des Schicksals geschickt worden?
Tom wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als Nicole fortfuhr. Seine Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft.
»Ich will es zumindest versuchen, Tom.« Ihre Augen lösten sich von dem, was sie zuvor betrachtet hatte, und kehrten zu ihrem Gastgeber zurück. Sie schien zu spüren, dass es ihn wirklich interessierte. »Der ganze Horizont hinter den grünen Wiesen war hell, gleißend hell. Ich konnte sogar fliegen. Du kannst dir das nicht vorstellen, ich konnte wirklich fliegen! Es war wunderschön, über diese Wiese zu gleiten. Ich musste nur die Arme ausbreiten und die Welt zog unter mir vorbei. Nie habe ich einen solchen Frieden gespürt wie heute. Eine unglaubliche Leichtigkeit, die mich trug. Und das Licht am Horizont wurde immer heller, überstrahlte alles. Ich fühlte endlich keine Angst mehr.«
Mit dem letzten Satz veränderte sich ihr Gesichtsausdruck auf eine eigentümliche Weise. Tom fiel auf, dass sie dieses endlich besonders betonte. Er wusste diesen Gesichtsausdruck nicht zu deuten. Dafür kannte er sie erst zu kurz. Musste er jetzt ein schlechtes Gefühl haben, weil er sie dieser wunderschönen Welt wieder entrissen hatte? Sie schien sich in diesem Zustand sehr gut gefühlt zu haben und er trug die Schuld daran, dass es endete. Vorsichtig tastete er sich vor.
»Es war also ein schönes Erlebnis, obwohl du dich dem ewigen Tod genähert hast?«, fragte er. »Du verabschiedest dich schließlich aus einem Leben, das dir nur einmal für kurze Zeit geschenkt wird, und das macht dich trotzdem so glücklich? Du gibst dieses Gottesgeschenk zurück, obwohl du noch so viel Lebenszeit übrig hast? Hat es mit deiner Angst zu tun? Möchtest du darüber reden?«
Nicole bedachte Tom mit einem nicht definierbaren Blick, während er ihr diese Fragen stellte, und er spürte, wie es in ihr arbeitete.
Sie kennt mich doch erst wenige Stunden. Warum sollte sie ausgerechnet mir, dem fremdem Mann, ihr Innerstes offenlegen? Welches Interesse konnte ich schon in ihren Augen daran haben?
Er gab ihr Zeit, darüber nachzudenken, und holte eine neue Flasche Rotwein aus dem Haus. Als Tom wieder auf die Terrasse trat, hatte Nicole die Füße auf einen anderen Stuhl gelegt. Ihr Hinterkopf ruhte auf der Stuhllehne und sie blickte in den sternenklaren Himmel. Noch immer schwieg sie und er wartete geduldig ab.
»Mein Leben ist die Hölle!«
Der kurze Satz bohrte sich in seinen Verstand. Sie stockte und ihr Gesicht zeigte eine ungewohnte Härte. Die Lippen waren fest aufeinandergepresst und zeigten wieder dieses auffällige Zucken.
»Es gibt nichts mehr, was mir an dieser Welt gefallen könnte. Da drüben auf der anderen Seite kann es für mich nur besser werden.«
Während Tom noch diese ungeheuerliche Aussage verdaute, stellte Nicole die Füße wieder auf den Boden und richtete sich auf. Ihr Blick schien, als wollte er sich in seine Seele fressen. Unruhig geworden wich er ihren Augen einen Moment aus. Nicole fuhr fort, ohne dass er sie auffordern musste.
»Hast du schon die Hölle erlebt, Tom? Du wirst dir nicht vorstellen können, wie es ist, als Frau ständig misshandelt zu werden. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, nur Angst davor zu haben, wieder und wieder geschlagen zu werden. Es ist auch kein Vergnügen, die Polizei im Haus zu haben, Verhöre durchzustehen, sich davor zu fürchten, dass dein Mann aus dem Gefängnis freikommt. Du bist niemals von einem solchen Tier vergewaltigt worden. Das ... glaube mir ... das ist die wahre Hölle auf Erden. Es gibt Zeiten, da hasse ich alle Männer, obwohl ich den meisten davon Unrecht tue. Aber diese Schmerzen und die Erniedrigung sind für euch wahrscheinlich unvorstellbar.«
Noch nie zuvor hatte Tom solchen Hass, derartige Verzweiflung in den Augen eines Menschen gesehen. Welche Qualen musste Nicole erlitten haben, wenn sie einen Menschen, den sie einmal geliebt haben musste, so dermaßen verabscheute! Was musste mit ihr geschehen sein, dass sie lieber sterben wollte, als weiter in dieser Hölle zu leben! Seine Stimme war rau.
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube dir jedes Wort, Nicole. Aber es fehlt mir diesbezüglich wirklich an Fantasie. Wie ist das für mich zu verstehen? Schließlich bin ich nun mal ein Mann und möchte mich hineinversetzen können.«
Er hätte es verstanden, wenn sie sich ihm gegenüber nicht hätte öffnen wollen. Schließlich war ihr Leid durch einen Mann entstanden und es handelte sich um etwas sehr Intimes. Außerdem war er sich nicht mehr so sicher, ob er die Beschreibung ihrer Qualen wirklich in allen Details hören wollte.
Habe ich mich mit meiner Bitte zu weit aus dem Fenster gelehnt? Es muss in ihr doch ein fürchterliches Dilemma anrichten, wenn sie ausgerechnet einem Kerl Rede und Antwort stehen soll.
Plötzlich verspürte Tom Angst vor der Wahrheit. Doch da musste er jetzt durch. Er hielt ihrem prüfenden Blick stand, bis sich ihre Augen wieder auf den Sternenhimmel richteten. Ihr Gesicht entspannte sich wieder. Plötzlich drehte sie sich ihm entschlossen zu. Sie zeigte sogar ein mildes Lächeln auf ihren vollen Lippen.
»Ja, ich vertraue dir, Tom. Ich kann es nicht erklären, aber ich vertraue dir wirklich.«
Es war ein unglaublich wohliges Gefühl, das ihn in diesem Augenblick durchströmte. Da saß eine gequälte Kreatur vor ihm, die ein Mann durch die Abgründe des Lebens gezerrt hatte. Diese wunderschöne Frau war der Meinung, ihm, einem Fremden, dennoch vertrauen zu können. Sie verließ sich auf die unerklärliche Intuition, die in einem Menschen ruht und Dinge tun lässt, die der Verstand oft nicht erklären kann. Seine Freude stand ihm offenbar ins Gesicht geschrieben, denn Nicole legte kurz ihre Hand auf seine und lächelte ergreifend.
»Frage mich nicht, warum ich das tue. Es ist einfach ein Gefühl. Das Leben muss sich etwas dabei gedacht haben, als es gerade dich auf die Düne setzte. Eine höhere Macht hat beschlossen, dass du mich zurück in dieses verfluchte Leben holst. Also vertraue ich dir, Tom. So einfach kann das manchmal sein.«
Ihre Hand löste sich von seiner und umfasste das halb volle Weinglas. In einem Zug leerte sie es und kauerte sich wieder auf ihrem Stuhl zusammen. Das Kinn legte sie wieder auf ein Knie und begann mit ruhiger Stimme das Unfassbare zu beschreiben.
4
»Mein Vater fuhr schon für sein Leben gerne Motorrad. Schwarze Lederklamotten, ein geiler Helm, der Dreitagebart − Papa war damals mein Held. Mit sechzehn nahm er mich sogar mit auf Bikertreffen. Das waren wirkliche Kerle, die mich sofort in ihren Kreis aufnahmen und mich als eine der ihren ansahen. Tolle Kumpel. Alles war super. Erst recht, als dieser stille Typ auftauchte. Langes Haar, geiler Body und absolut coole Kluft. Alle beäugten ihn skeptisch, weil er so anders war. Ruhig und gelassen ließ er jede Frotzelei und Anmache der anderen über sich ergehen. Klar, manchmal prügelten sie sich sogar mit ihm. Doch er stand immer wieder auf und machte weiter. Der ließ sich nichts gefallen. Er musste viele Beweise seines Mutes erbringen, bevor er innnerhalb der Gruppe wirklich anerkannt wurde. Manfred hat das alles auf sich genommen. Mit Bravour schaffte er alle Prüfungen. Du musst dir vorstellen, dass er einmal in das Vereinsheim einer anderen Motorradgang einbrechen musste. Fast hätten die ihn erwischt. Manni hat sie aber auf der Flucht abgehängt. Ein anderes Mal musste er an einer Haltestelle mit seinem Motorrad und einem Seil einen Fahrkartenautomat aus dem Boden reißen. Total idiotisch und irgendwie kindisch, weil da nur Kleingeld drin war. Aber es hat mich trotzdem beeindruckt. Ich denke, dass Papa auch so was Ähnliches machen musste. Er wollte aber nie mit mir darüber sprechen.«
Nicole füllte sich das Glas erneut zur Hälfte und nippte daran. Tom warf sich zwischendurch einen Pulli um die Schultern und bot ihr ebenfalls einen an, was sie lächelnd akzeptierte. Der Seewind hatte aufgefrischt und ließ beide frösteln. Er fragte sich erst später beim Einschlafen, ob es Zufall war, dass sie mit ihrer Hand über seine gestrichen hatte. Es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, weil sie unbeirrt fortfuhr.
»Papa fand das überhaupt nicht cool, wenn Manni, der immerhin schon neunzehn war, mich ab und zu auf dem Sozius mitnahm. Wir machten Spritztouren zum Baden oder wir hingen einfach nur ab. Papa war strikt dagegen und er hat das Manni auch deutlich zu verstehen gegeben. Wir trafen uns dann heimlich. Manni war einfach klasse. Ihm konnte ich alles erzählen. Er hat mir immer wieder Mut gemacht, wenn es mal nicht so toll lief. Stets gab es einen coolen Spruch von ihm, und meine Welt war wieder im Lot. Gut, wenn es in der Schule mal schlechte Noten gab, war bei ihm nichts zu holen. Manni hielt Bildung für total überflüssig und seine Noten waren entsprechend gewesen. Er war zwar stark, aber mit dem Lernen hatte er es nicht so. Na ja, außer einmal. Eines Tages hatten mir drei Jungs aus der Klasse über mir auf dem Weg nach Hause aufgelauert und mir meinen Walkman geklaut. Dass sie mich begrabschten, hat mir nicht so viel ausgemacht – aber das mit dem Walkman war schon der Hammer und hat mich fertig gemacht. Schließlich war es ein Geschenk von Papa. Als ich Manni abends davon erzählte, war er wütend. Ich hatte mich bereits mit dem Verlust abgefunden und es Papa gestanden. Zwei Tage später gab mir Manni meinen Walkman wieder und von anderen Schülern hörte ich, dass es in der Nachbarklasse drei Jungs erwischt haben sollte. Die lägen mit erheblichen Verletzungen in Krankenhäusern, wollten aber dazu keine Angaben bei der Polizei machen. Seitdem habe ich nie mehr Probleme mit Rowdies auf der Schule gehabt. Ganz im Gegenteil. Keiner wollte mit mir Kontakt haben und ich wurde sogar von meinen Freundinnen gemieden. Um die Diebe tat es mir nicht so richtig leid, aber ich fand dieses Ausgrenzen nicht ganz so toll.«
»Hat dir denn Manni nie erzählt, was geschehen ist?«
»Das hättest du niemals aus ihm herausbekommen. Über solche Dinge sprach er nie. ›Da wird jemand wohl ziemlich sauer auf die drei gewesen sein‹, war sein einziger Kommentar. Aus. Mehr kam da nicht rüber.«
»Der stoische Held − wow. Hab das einmal im Film gesehen mit Marlon Brando. Seine Art hat dir sicherlich imponiert?«
»Mach dich bitte nicht lustig darüber. Es hat mir damals wirklich gefallen. Wer macht denn so was heute noch für sein Mädchen? Die Jungs heute kaufen ihren Freundinnen höchstens ein neues Gerät und gut is. Da würde sich doch keiner mehr mit drei Gegnern auf einmal anlegen! Na ja, wenn ich mir das überlege, muss die Prügelei auch nicht unbedingt sein. Aber zu der Zeit war das eben so.«
Tom beschränkte sich auf ein Schulterzucken.
»Da gebe ich dir recht. Auch ich bevorzuge die gewaltfreie Methode. So ein Kampf gegen drei kann schon einmal ins Auge gehen, das sehe ich schon etwas pragmatisch. Übrigens wollte ich mich nicht lustig darüber machen. Dazu ist es viel zu ernst.«
»Siehst du, du bist ein erbärmlicher Feigling! Ich wusste es sofort.« Lachend warf sie Tom einen Kräcker an den Kopf. »Nein, bitte entschuldige«, schob sie sogleich hinterher, »du bist kein Feigling. Was du heute für mich getan hast, würden die meisten Menschen nicht tun. Ich habe wirklich nur Spaß gemacht.«
»Das habe ich auch nicht so aufgefasst. Was ist denn aus Manni geworden? Du hast dich doch bestimmt unsterblich in ihn verliebt, oder?«
Nicole verlor von einem Moment auf den anderen ihr Lächeln und betrachtete ihre Fußspitzen. Tränen stahlen sich in ihre Augen.
»Du hast ihn ... geheiratet?«, beantwortete Tom die eigene Frage.
Stumm nickte sie und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. In Tom kamen Zweifel auf, ob er weiter in dieser Wunde bohren durfte. Doch er wusste aus eigener Erfahrung, dass es hilft, wenn man über leidvolle Erlebnisse offen spricht. Sie totzuschweigen, verschlimmerte alles nur. Er stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und legte sein Kinn in die Handflächen.
»Das war bestimmt damals schön für dich, oder? Ihr habt euch doch geliebt. Selbst wenn du es jetzt bereust, war es zu diesem Zeitpunkt doch die einzig richtige Konsequenz. Das darf man nicht vergessen, wenn man über die Vergangenheit und Beziehungen spricht. Viel zu schnell wechselt man von Liebe zu Hass. Ich finde, das ist übereilt und geschieht zu häufig aus verletzter Eitelkeit heraus. Partner, die sich aus welchen Gründen auch immer trennen, wollen sich für etwas rächen, was jedoch absolut sinnlos ist. Vorbei ist vorbei. Die Trennung muss einfach akzeptiert werden.«
»Du bist so süß, Tom, wenn du so was sagst. Du wirst auch bestimmt in vielen Fällen recht haben. Aber es klingt auch reichlich naiv. Er hat mich verwöhnt und wir hatten viel Spaß, wenn wir mit seinem Bike unterwegs waren. So haben wir eine lange Zeit verbracht, in der sich Manni oft fürchterlich mit Papa gestritten hat. Schließlich war ich das Gezeter leid und bin mit Manni nach Mülheim gezogen. Hab dann kaum noch Kontakt mit Papa gehabt. Als ich einundzwanzig wurde, haben wir geheiratet und sind wieder zurück nach Essen. Das Schlimme entstand erst durch seine neuen Freunde. Von der alten Gruppe, wo Papa immer noch Mitglied war, hatte er sich schon vor Jahren getrennt. Manni hat schließlich immer mehr Zeit mit diesen Ganoven verbracht und als er seinen Job in einer Werkstatt verlor, habe ich ihn nur sehr selten zu Gesicht bekommen. Manni glaubte, dass er das wieder in den Griff bekommen würde und wir in wenigen Jahren aus dem Schneider wären. Sie hätten ein sicheres Geschäft am Laufen und Geld käme bald in Hülle und Fülle. Ich habe ihm geglaubt, bis ... ja, bis dann zwei Beamte zum ersten Mal bei uns vor der Tür standen und ihn mit zur Wache nahmen.«
Umständlich kramte Nicole ein Papiertaschentuch aus einem Päckchen und schniefte hinein. In Tom entstand der Eindruck, dass es ihr zunehmend schwerer fiel, darüber zu sprechen. Er wartete geduldig und stellte keine Fragen. Nachdem sie einen kleinen Schluck Wein getrunken hatte, straffte sie sich und setzte ihre Erzählung fort.
»Papa hatte mich, wie ich schon sagte, immer vor Manni gewarnt. Er wusste, dass es mit ihm so weit kommen würde. Aber wer hört auf seinen Vater, wenn der Himmel voller rosa Wölkchen hängt? Sie hatten ihn festgenommen wegen gewerbsmäßigem Waffenhandel und noch nicht bewiesener Drogengeschäfte. Ich wusste davon rein gar nichts. Also konnte ich bei den Vernehmungen auch keine Aussagen machen. Er kam mit einer Bewährungsstrafe von achtzehn Monaten davon. Ich dachte damals, dass er ja noch einmal Glück gehabt hatte. Das Glück hielt aber nur fünf Wochen an. Dann erwischten sie ihn wieder mit einem Kofferraum voll automatischer Waffen.