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Selig ist der Mensch, der mit sich im Frieden lebt. Es gibt auf Erden kein größeres Glück. Jeder innerhalb der speziell für ihn gegründeten SoKo kennt ihn als Gabriel. Seine unmenschlichen Taten weichen jedoch sehr stark von dem ab, was von einem Erzengel zu erwarten wäre. Junge Mädchen im Teenageralter gehören zu seinen Opfern, die er wirkungsvoll der Öffentlichkeit präsentiert. Jedes seiner Verbrechen kündigt er dem leitenden Hauptkommissar Lutz Schöner per Telefon großspurig an und preist sie als Kunstwerk. Die Beziehung der beiden zueinander kann sich niemand logisch erklären. Spuren seiner Taten weiß der Wahnsinnige geschickt zu vermeiden. Sämtliche Ermittlungen verlaufen im Sande. Aber als sein erster Fehler offenbar wird, kommt es zur Begegnung der beiden Todfeinde und führt zu einem beeindruckenden Psychoduell.
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H.C. Scherf
In mir der Tod
Kriminalroman / Psychothriller
Impressum
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1. Auflage / April 2023
Copyright © 2023 by H.C. Scherf
Ewaldstrasse 166, 45699 Herten
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Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: VercoDesign, Unna
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In mir der Tod
von H.C. Scherf
Selig ist der Mensch, der mit sich im Frieden lebt.
Es gibt auf Erden kein größeres Glück.
Spruch aus der Lehre des Buddhismus
1
Der deutliche Verwesungsgeruch durchzog das Unterholz und wies zumindest dem Spürhund der Polizei den Weg. Seine Unruhe bewies dem Führer, dass Harro die lang gesuchte Fährte scheinbar sicher aufgenommen hatte. Wild stürmte er durch das Gestrüpp ohne Rücksicht darauf, dass sich sein Herrchen mit der freien Hand die dornigen Zweige aus dem Gesicht halten musste. Längst hatte der Polizeioberkommissar den möglichen Fund an seine mitlaufenden Kameradinnen und Kameraden weitergegeben, die ihm nun geschlossen folgten. Von allen Seiten waren leise Flüche zu hören, denn niemand wollte allzu gerne bei diesem Nieselregen und der einbrechenden Dunkelheit das unübersichtliche Waldstück durchkämmen. Doch die Nachricht, die der anonyme Anrufer hinterlassen hatte, ließ sich nicht ignorieren. Nicht zum ersten Mal hatte er ihnen telefonisch den Fundort seines neuesten Opfers mitgeteilt. Jedoch keiner von ihnen war besonders erpicht darauf, den Fund als Erster in Augenschein zu nehmen. Zu schrecklich waren nach Augenzeugenberichten die letzten Opfer zugerichtet und auffällig drapiert worden. Einige der Suchenden hatten bisher nur davon gehört, aber die Schilderungen der Kameraden reichten aus, um das Grauen in ihnen schon vorher zu wecken. Als Harro sich hechelnd vor einen Holzstapel setzte und seinen Führer erwartungsvoll anstarrte, wusste dieser, dass sie nun bald das Werk eines Teufels vorfinden würden. Er war schon beim letzten Fund dabei gewesen und dachte an die Nächte, in denen ihn das Bild des Opfers selbst in den Träumen verfolgt hatte. Seine Familie litt unter seinen nächtlichen Schreien, wenn er aufsprang und sogar um sich schlug. Man hatte ihm eine psychologische Betreuung angeraten, die er jedoch ablehnte. Niemand sollte ihn später einen Psychokrüppel nennen, wie es leider oft vorkam. Es bestand sogar die Gefahr, dass man ihn für lange Zeit von normalen Außeneinsätzen abzog. Das wollte er als Hundestaffelführer keinesfalls riskieren.
»Was ist los mit euch, Jungs? Will denn keiner nachsehen? Das Opfer liegt sicher unter der versifften Plane. Ich muss Harro festhalten und kann das nicht auch noch für euch machen.«
»Wir müssen nichts wegräumen«, meinte ein Beamter einwenden zu müssen. »Sie ist hier. Ich nehme an, es ist eine Sie, denn bisher waren es immer Frauen. Ich will mich aber nicht festlegen. Wir rufen nach Vorschrift die Spurensicherung und sperren die Umgebung ab. Aber bitte vorsichtig zurücktreten, damit wir keine Spuren zertrampeln.«
»Jetzt mach mal halblang, Jochen. Manchmal bist du ein echtes Weichei. Wie bist du überhaupt zur Polizei gekommen?«
Polizeioberkommissar Schade trat vor, schob seinen Kollegen etwas rüde zur Seite und riss entschlossen die Plane weg. Sekunden später presste er die Hand vor den Mund und wirbelte herum. Das halb verdaute Mittagessen lief ihm durch die Finger und schließlich über den Ärmel seiner Uniform. Der angesprochene Jochen konnte sich trotz der ernsten Situation ein Grinsen nicht verkneifen, als er dem davonstürmenden Kollegen nachrief: »Wie war das noch mal mit dem Weichei? Komm zurück. Du hast da was verloren.«
Hauptkommissar Lutz Schöner stoppte seinen Passat auf einer Anhöhe, stellte den Motor ab und blickte auf die vielen Einsatzfahrzeuge, die auf dem schmalen Waldweg unterhalb des Hanges abgestellt worden waren. Er war sich ziemlich sicher, dass er wieder einmal zu einer Leiche geführt worden war, die die Bestie für ihn kunstvoll aufbereitet hatte. Es war ein heftiger Kampf zwischen ihm und diesem bestialischen Mörder geworden. Im Präsidium sprach man inzwischen von einer Privatfehde, was irgendwie sogar der Wahrheit entsprach. Tief in seinem Inneren nötigte ihm Gabriel, wie sich der Killer selbst nannte, sogar einen gewissen Respekt ab, ohne dies als Bewunderung misszuverstehen. Dessen Gerissenheit war unglaublich ausgeprägt, was sicherlich der Hauptgrund dafür war, dass sie ihm bisher nicht habhaft werden konnten. Jedes Mal, wenn sie glaubten, einen Fehler bei ihm gefunden zu haben, stellte sich heraus, dass es sich um eine seiner außergewöhnlichen Finten handelte, die sie alle auf eine falsche Fährte locken sollte. Es gab Stimmen im Haus, dass es sich zumindest um einen ehemaligen Polizisten handeln könnte, denn Gabriel kannte alle ihre Tricks und standardisierten Vorgehensweisen. Er wusste sie für seine Zwecke zu nutzen. Doch Schöner wollte das nicht wahrhaben. Für ihn war diese Bestie eine Ausgeburt der Hölle, die sie niemals in ihre Kreise aufgenommen hätten. Das konnte einfach kein Mensch sein, der irgendwann einmal für Gerechtigkeit eingetreten war. Der Anruf auf seinem privaten Smartphone heute Morgen hatte wieder zu diesem Großeinsatz geführt. Noch war ihm jedes der Worte präsent.
»Hast du gut gefrühstückt, mein Freund? Gabriel möchte dir den Tag versüßen, denn er wird aufregend. Selbst die Sonne meint es gut mit uns.«
»Was soll diese unerträgliche Einleitung? Aus Ihrem Mund hört sich alles anders an, als wenn sich ein normaler Mensch mitteilt. Kommen Sie endlich zur Sache.«
Schöner glaubte, ein verhaltenes Kichern vernommen zu haben, bevor Gabriel wieder ernst wurde.
»Oh, oh – der Herr scheint sich in schlechter Stimmung zu befinden. Dann bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt fortfahren sollte. Ich dachte, wir sind Freunde – zumindest Partner. Ist das nicht mehr so?«
»Ich denke, dass wir beide komplett unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was den Begriff Freundschaft ausmacht. Kommen Sie zur Sache, bevor ich die Geduld verliere und das Gespräch beende. Sie wollten mich doch sicher mit den neuesten Perversitäten versorgen, die Ihnen scheinbar locker von der Hand gegangen sind. Wen haben Sie diesmal ...?«
»Ich spüre ein schlechtes Karma bei dir, Hauptkommissar Schöner. Damit nimmst du mir tatsächlich einen Teil Freude an der Sache. Du hast mich noch immer nicht verstanden, ziehst das, was ich tue, einfach in den Schmutz. Statt den Umstand zu würdigen, dass ich genau dich ausgesucht habe, ziehst du meine momentane Sympathie für dich in den Schmutz. Alles im Leben erfüllt einen tiefen Sinn. Das solltest du endlich verinnerlichen. Und mein Geduldsfaden könnte irgendwann reißen.«
»Dem will ich auch gar nicht widersprechen, Gabriel. Und ich sehe den Sinn in meinem Tun, Ihnen das Handwerk zu legen. Alles andere ist nur unbedeutender Beifang. Ja, darauf können Sie sogar irgendwie stolz ein. Sie stehen ganz oben auf meiner Liste. Ich lebe etwas von der Vorfreude, wenn ich irgendwann mitansehen darf, wenn man Sie nach der Gerichtsverhandlung aus dem Saal führt und in eine Einzelzelle sperrt, aus der Sie als Tattergreis mit den Füßen voran herausgetragen werden. Doch wahrscheinlicher ist, dass man Sie in eine forensische Psychiatrie einweist, wo Sie Ihr Leben im Maßregelvollzug bis zu Ihrem Ableben fristen werden. Diesen Tag werde ich gebührend feiern. Und jetzt lassen Sie bitte raus, was Sie die ganze Zeit schon loswerden wollen. Ich höre Ihnen zu.«
Wieder war es verhalten zu hören, dieses sehr leise Kichern. Schöner ärgerte sich sogar innerlich darüber, dass er sich überhaupt auf eine Diskussion mit dem Teufel eingelassen hatte. Doch ohne Grund rief ihn diese Bestie niemals an.
»Träum weiter, Schöner. Lebend wird man mich niemals bekommen. Und sollte es doch geschehen, habe ich es selbst so gewollt. Verstehst du? Nur wenn ich es möchte, werdet ihr meiner habhaft. Aber das wird noch dauern. Mein Werk ist noch nicht beendet. Doch warum erzähle ich dir das überhaupt?« Gabriel stieß wieder dieses abstoßende Lachen aus, bevor er fortfuhr. »Hier ein weiteres Geschenk an dich, Schöner. Ein hübsches Geschenk. Pass genau auf, denn ich nenne dir die Koordinaten nur einmal. Allerdings bekommst du lediglich ein Planquadrat von mir genannt. Etwas suchen sollt ihr faulen Hunde schon. Ihr werdet sie jedoch schnell finden. Setzt alles, was ihr finden werdet, zusammen und ihr habt eine Person weniger auf eurer Vermisstenliste. Also schreibe bitte mit.«
Lutz Schöner notierte die Koordinaten auf seinem Handrücken und schob das Telefon zurück in die Tasche, als urplötzlich das Freizeichen zu vernehmen war. Auf der Karte im Präsidium hatte man sehr schnell das Waldstück ausgemacht, auf das die Daten zutrafen. Jetzt war das mittlerweile siebte Opfer gefunden worden. Schöner war sich sicher, dass es sich um die gesuchte Andrea Walter handelte, die kurz vor der letzten Vollmondnacht spurlos verschwunden war. Der Zeitpunkt und das äußere Erscheinungsbild des Mädchens sprachen eindeutig für diese Annahme. Die Opfer waren alle etwa gleich alt, hatten das ähnliche Aussehen und starben auf grausame Weise in einer Vollmondnacht. Allerdings ließ sich Gabriel immer wieder etwas Neues einfallen, zumindest was die Todesart betraf. Eines war jedoch immer gleich: Es musste unvorstellbar grausam sein. Für einen Moment schloss Schöner die Augen und suchte nach dem Bild, das er beim letzten Fund vorgefunden hatte. Obwohl er immer mit dem Schlimmsten rechnete, überraschte ihn Gabriel stets wieder mit seinen abartigen Vorstellungen vom Tod. Er zelebrierte den Übergang vom Leben in die Ewigkeit auf eine besondere Weise, die sich dem normalen bürgerlichen Verständnis entzog. Selbst der Gerichtsmediziner schüttelte immer wieder angewidert den Kopf, wenn er das Ergebnis auf dem Tisch hatte. Erst vor wenigen Tagen hatte die Soko Gabriel getagt, und zwei Profiler hatten versucht, ein Bild des Mannes zu zeichnen, der zu solchen Gewalttaten fähig sein könnte. Es glich dem des leibhaftigen Satans. Sicher war nur, dass dieser Mann, wenn man ihn wirklich so bezeichnen wollte, in seiner Vergangenheit etwas Schreckliches erlebt haben musste, das ihn zu solchen Racheakten veranlasste. Deshalb suchten die beteiligten Beamten intensiv nach weiter zurückliegenden Verbrechen, die ähnliche Merkmale aufwiesen. Dann wollten sie das Umfeld der jeweiligen Opfer durchleuchten, um herauszufinden, ob ein Verwandter sich möglicherweise für erlittenes Unrecht rächen wollte. Erschwerend kam hinzu, dass Gabriels Taten so unterschiedlich waren. In dem Zusammenhang lieferte er kein brauchbares Muster. Nur eines verband sie alle. Es war das unumstößliche Ergebnis - der sichere Tod. Immer wieder stellte der Mörder die bisherigen Ermittlungsergebnisse infrage. Jeder von ihnen hoffte auf den berühmten Zufall, auf den Fehler, den die Täter alle irgendwann einmal machten. Doch immer wieder überraschte er sie mit seiner Wandlungsfähigkeit. Gabriel wurde für sie zum Phantom, das immer einen Schritt vor ihnen lief und durch alle Schlupflöcher glitt.
Ohne sofort die Augen zu öffnen, startete Schöner den Motor und fuhr mit einem Seufzer los. Da man seinen Wagen kannte, ließ man ihn ohne weitere Kontrolle passieren. Die Polizisten wichen zurück, als der immer noch gut durchtrainiert wirkende Mittfünfziger und erfahrene Kripomann sich dem Fundort näherte. Zuvor hatte er sich Schutzfolien über die Schuhe und Handschuhe über die Finger gezogen. Schließlich sollten keine Spuren verfälscht werden. Noch bevor Hauptkommissar Schöner das Opfer zu Gesicht bekam, erreichte ihn die Bemerkung von Dr. Hellwig, gerichtet an die Männer von der Spurensicherung.
»Hier zumindest ist sie nicht ermordet worden. Das ist mit Sicherheit nicht der Tatort. Die Totenstarre ist noch nicht vollständig ausgeprägt. Also würde ich den Todeszeitpunkt bei etwas unter vier Stunden post mortem zurückverlegen.«
Erst als er sich aus seiner knienden Position erhob, bemerkte Dr. Hellwig, dass der Leiter der Soko hinter ihm stand.
»Ach, du bist auch schon wach, Lutz? Eigentlich habe ich dich schon erwartet, als ich hier ankam. Ich habe gehört, dass unser gemeinsamer Freund dich wieder als Ersten informiert hat. Was hat dich aufgehalten?«
»Eigentlich wollte ich nicht am frühen Morgen so blöd angequatscht werden. Ich war mir sicher, dass du wieder hinzugezogen wirst. Aber jetzt bist du tatsächlich hier und ich mache das Beste daraus.«
Lächelnd umarmten sich die beiden Freunde und betrachteten, was einmal eine hübsche junge Frau gewesen sein musste. Jetzt bestand sie nur noch aus einem Klumpen Fleisch, Haut und Knochen. Sofort stieg ein Gefühl des Hasses in Lutz Schöner auf und nahm Besitz von ihm. Eigentlich hatte er immer versucht, einen kühlen Kopf zu bewahren, ein Profi zu sein. Aber das hier und alles, was Gabriel vorher abgeliefert hatte, machte es ihm schwer, ruhig zu bleiben. Gabriels Taten verlangten dem Hauptkommissar ein hohes Maß an Selbstbeherrschung ab.
»Nicht der Tatort, sagst du? Ich sehe schon, was dich darauf gebracht hat. Keine Blutlachen und wie immer sauber und werbewirksam platziert. Die Livores, also die Totenflecke, haben sich verschoben. Teilweise sind sie noch an der Vorderseite sichtbar. Jetzt finden wir sie auch auf dem Rücken. Sie wurde also auf dem Bauch liegend getötet. Das sagt uns aber auch, dass dieses Mädchen vor mehr als sechs Stunden umgebettet worden sein muss. Mich würde interessieren, warum er das immer so besonders zelebriert.«
»Der ist ein Pedant. Für mich steht fest«, antwortete Hellwig, »dass diese Bestie eine eigene Werkstatt, ein Labor oder einen Keller hat, in dem er seine perversen Spiele mit den Opfern ausgiebig genießt. Als Nächstes ist es ihm wichtig, dass die Welt von seinen Taten erfährt. Dieses kranke, narzisstische Arschloch will bewundert werden. Dass er den Tod seiner Opfer immer wieder variiert, kann meiner Meinung nach verschiedene Gründe haben. Es wird schwieriger für euch sein, ein Schema zu erkennen. Zugleich vermute ich, dass jede Hinrichtung ein wichtiges Zeichen setzt. Ich glaube, darin liegt sein Geheimnis, denn irgendwo darin verbirgt sich meines Erachtens das Motiv. Suche die Variablen und du wirst den Grund für seine Taten finden.«
Völlig gedankenverloren glitt Schöners Blick über den zersägten, aber dennoch scheinbar vollständigen Körper des Mädchens. Sofort fielen ihm die zahlreichen Schnittwunden auf, die sich fast über den gesamten, größtenteils verhüllten Körper verteilten. Sie waren jedoch gesäubert worden, bevor man das Opfer hier abgelegt hatte. Es war kein Blut ausgetreten, was die These des Gerichtsmediziners eindeutig bestätigte. Was wiederum deutlich wurde und ein wichtiger Ansatzpunkt für die Ermittler war: Es handelte sich klar um Schnitt- und nicht um Stichwunden. Das Gesicht war wieder ausgespart worden, was die Vermutung nahelegte, dass der Täter die Schönheit des Opfers nicht antasten wollte. Es sollte im Kopfbereich nicht entstellt werden. Auffallend war, dass sich die Mädchen nicht nur im Aussehen, sondern auch im Alter und in der Statur ähnelten. Sie durchsuchten seit längerer Zeit schon weit zurückliegende Fälle, in denen es Opfer mit ähnlicher Optik gab. Bisher ohne Erfolg.
»Hast du ...?«
»Ja«, unterbrach Schöner seinen Freund, »sie sieht aus wie die anderen Opfer. Nicht mal ein blauer Fleck oder ein Kratzer im Gesicht. Das ist für ihn absolut tabu. Aber warum schminkt er sie noch, nachdem er sie bestialisch gequält hat? Der Kopf sieht aus wie der einer Madonna, der Körper dagegen ist völlig entstellt. Er verunstaltet nur den Körper und scheint alles oberhalb des Halses verschonen zu wollen. Das erinnert mich irgendwie an Verhaltensregeln, wie ich sie in Indonesien und Thailand vorgefunden habe. Kindern über die Haare zu streichen, gilt als schlimmer Fauxpas, wird aber von gutwilligen Touristen sehr oft gemacht. In buddhistischen Ländern gilt der Kopf als heilig und beherbergt die Seele des Menschen. Eine Entschuldigung ist dann angebracht. Wenn es dich interessiert, solltest du auch niemandem die offene Fußsohle zeigen oder berühren, da der Fuß als unrein gilt. Es mag ein Zufall sein, aber es könnte etwas mit dem Glauben des Mörders zu tun haben.«
»Das ist aber sehr weit hergeholt, Lutz. Glaubst du tatsächlich, dass die Morde etwas mit religiösen Riten zu tun haben könnten?«
»Nun, wir können im Moment nichts ausschließen. Ich versuche, mich in den Kopf des Täters hineinzuversetzen. Aber ich bin noch nicht sehr weit gekommen. Irgendwie sind wir Normalos da gehemmt, weil unsere Vorstellungskraft selten ausreicht, um solche Wege gedanklich mitzugehen. Herkömmliche Erziehung und logische Denkmuster stehen uns oft im Weg, um uns in das kranke Hirn eines notorischen Killers einzuklinken. Zumal fehlt mir das narzisstische Verhalten solcher Menschen. Wobei ich zugeben muss, dass es Gabriel nicht an Logik zu mangeln scheint, denn er hat jeden seiner Schritte ganz intensiv durchdacht. Es ist schon bezeichnend, dass er nie auch nur die kleinste Spur hinterlässt. Selbst hier im Wald taucht er wie ein Geist auf, legt das Mädchen ab und verschwindet wieder spurlos. Ich wette jetzt schon, dass er keinen einzigen Hinweis auf seine Person oder irgendwo DNA hinterlassen hat. Das ist einfach nicht normal, aber irgendwie bewundernswert.«
»Du bewunderst diese Bestie?«
»Nein, Klaus, das darfst du nicht falsch verstehen. Er ringt mir jedoch eine gewisse Portion Anerkennung ab. Wer ist schon in der Lage, derartige Verbrechen in solcher Perfektion vorauszuplanen? Bedenke bitte, wie viele erfahrene Leute sich mittlerweile mit dem Kerl beschäftigen. Ich habe immer öfter das Gefühl, dass er sich über uns lustig macht. Und das bringt mich zur Weißglut.«
Dr. Hellwig konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er stocherte währenddessen fast gelangweilt mit einem Kugelschreiber im neben der Leiche liegenden Laub und legte mehr durch Zufall eine kleine Kette frei, die er vorsichtig hervorzog. Am unteren Ende baumelte ein goldenes Medaillon, das er Lutz Schöner vor das Gesicht hielt.
»Das hat die KTU sicher übersehen. Gehört wohl dem Mädel. Wer ist das überhaupt? Du weißt das doch immer schon im Voraus.«
»Das klingt aus deinem Mund wie ein Vorwurf, Klaus. Ich habe mir diese Funktion als Kontaktperson für Gabriel nicht ausgesucht. Ich meine, dass ich dir das schon vorhin mitgeteilt habe. Aber für langsam denkende Akademiker hier noch mal. Bei der Toten handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um die vermisst gemeldete Andrea Walter. Ich denke, dass uns das bald bestätigt wird. Ich denke schon mit Schaudern an den Besuch bei den Eltern. Aber nun erhalten sie wenigstens Gewissheit. Ich mag es mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn du als Eltern immer wieder darauf hoffst, dass dein Kind noch lebt. Dann dürfte es fast wie eine Erlösung sein, wenn dich sogar eine solch schreckliche Nachricht erreicht.«
»Ich beneide dich nicht um den Job, Lutz. Gerade stelle ich mir vor, wenn du vor meiner Haustür stündest und mir sagst, dass ...«
»Wie geht es übrigens Sabrina?«, unterbrach Schöner seinen Freund. »Stand nicht schon vor Wochen das Abitur für die Kleine an?«
»Die Kleine, sagst du? Sabrina überragt den Papa mittlerweile um einige Zentimeter und ich leide wie ein Tier.«
»Wieso solltest du einen Grund haben zu leiden? Das Mädel ist doch intelligent und gut erzogen. Oder kommt sie plötzlich doch mehr nach dem Vater?«
»Mach dich ruhig lustig darüber, du arroganter Bulle. Du weißt nicht, was es heißt, wenn Horden von jungen Kerlen in deinem Haus ein und aus gehen. Sie zieht die an wie das Licht die Motten.«
»Oh Gott, der Kerl, der während unserer Studienzeit hinter jedem Rock hergelaufen ist, zeigt nun Eifersucht bei der eigenen Tochter. Ich lach mich krank.«
Lutz Schöner wartete erst gar nicht die Reaktion des Mediziners ab und ließ grinsend die Kette mit dem Medaillon in einen Plastikbeutel gleiten. Gedanklich beschäftigte er sich schon mit dem mittäglichen Meeting, während er sich auf den Weg zu den Männern der Spurensicherung machte. Dr. Hellwig schloss sich ihm an.
2
»Wo kann ich das Paket abstellen, Frau Collins? Es ist nicht ganz leicht?«
Der Bote korrigierte noch einmal den Sitz der Sendung auf seinem Arm und schaute Sabine Collins fast flehend an.
»Das konnte ich ja nicht wissen. Mein Mann hat mir nicht gesagt, dass er einen Kleinwagen bestellt hat. Also stellen Sie alles in Gottes Namen dort neben die Tür - wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht.«
Friedel Klothe unterdrückte eine passende Erwiderung auf diese Spitzfindigkeit der Kundin und legte das Paket an dem angewiesenen Platz ab. Etwas unsanft traf es auf den Laminatboden und ließ Sabine Collins zusammenzucken.
»Entschuldigung, das wollte ich nicht. Aber es ist wohl alles heil geblieben. Würden Sie mir bitte den Empfang hier unten quittieren?«
Nach einem missbilligenden Blick auf den Lieferanten kritzelte sie ihre Unterschrift auf das vorgelegte Formular und trat neben die Haustür. Fast wäre ihm die schwere Tür in die Hacken geknallt, als die Kundin sie hinter ihm zuschlug.
»Blöde Kuh«, entfuhr es ihm, als er in den nun fast leeren Lieferwagen stieg. Wenige Minuten später hatte er diese Begegnung schon wieder vergessen. Leider gehörten auch solche Kunden zum Standard in dieser Welt, die nur noch von Egomanen bevölkert zu sein schien.
Es war schon dunkel, als Dietmar Collins die große BMW-Limousine in die Garage lenkte. Fast lautlos schloss sich das Tor, und doch hörte Sabine das Geräusch und bereitete sich darauf vor, ihm eine Standpauke zu halten. Schließlich hatte sie die Hackbällchen nach Jägerart mit einem gewissen Aufwand zubereitet, die nun völlig abgekühlt lange auf dem Esstisch gestanden hatten. Es war nicht das erste Mal, dass Dietmar sie so lange warten ließ, sodass ihr die Lust am Kochen längst vergangen war. Mit einer fahrigen in reine Gewohnheit übergegangenen Bewegung richtete sie ihren Haarknoten, der ihr das Aussehen einer englischen Hausdame verlieh, sie streng wirken ließ, was sie schließlich auch war. Längst hatte sie sich des Kleides entledigt, das sie gewohnheitsgemäß zum Abendessen trug. Eine Marotte, die ihr ins Blut übergegangen war. Um ihre Empörung zu unterstreichen, hatte sie sich jetzt in einen bequemen Morgenmantel gehüllt und sich demonstrativ abgeschminkt. Dietmar sollte spüren, wie sehr diese ungeheuerliche Ignoranz gegenüber ihrer Hausordnung Folgen nach sich zogen. Sie versuchte, heute besonders erbost zu wirken, und setzte sich kerzengerade auf. Ihr Blick war auf den Türbogen gerichtet, durch den Dietmar jeden Moment erscheinen musste. Sein Gedeck hatte sie nun endgültig abgeräumt und das Essen in den Müll entsorgt. Voller Ungeduld trommelten ihre Finger ein Stakkato auf die Tischplatte, auf der sie ihren Abendtee abgestellt hatte. Lediglich ein leises Poltern aus dem Nebenzimmer machte deutlich, dass Dietmar sich bereits im Haus aufhielt und mit etwas beschäftigt war. Ihr Zorn wuchs ins Unendliche, da sie seine ständige Ignoranz nicht ausstehen konnte. Bilder schossen ihr durch den Kopf, in denen sie ihn sah, wie er ihr damals charmant und zuvorkommend den Hof machte und alles dafür tat, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Schon sehr früh erhielt er innerhalb ihrer Familie die Bezeichnung des Rosenkavaliers. Mittlerweile beschränkten sich diese Geschenke nur noch auf besondere Anlässe wie Hochzeitstag und Geburtstag. Sabine tröstete sich mit dem Gedanken, dass es anderen Frauen in ihrem Umfeld oft nicht anders erging. Es war eben der Lauf der Zeit, in der einfach vieles auf der Strecke blieb. Genervt erhob sie sich und suchte entschlossen den Raum auf, in dem sie Dietmar vermutete. Ihr Blick erfasste noch, dass er die Schranktür abschloss und sich ihr erstaunt zuwandte.
»Sorry, Schatz, ich wäre gleich zu dir gekommen. Musste nur noch etwas aufräumen.«
Als er die drei Schritte auf sie zuging und ihr einen Kuss auf die Wange geben wollte, drehte Sabine den Kopf zur Seite und wehrte ihn sogar mit den Händen ab.
»Bist du böse?« Sofort korrigierte er sich. »Natürlich bist du das. Und du hast auch allen Grund dazu. Ich habe das Abendessen versäumt und möchte mich dafür entschuldigen. Du weißt doch, wie das läuft. Man kommt ins Reden und schon ...«
»Nichts weiß ich, weil du mich ja nicht mitnimmst zu deinen Treffen. War es wieder einer deiner Studenten, mit denen du ins Quatschen gekommen bist? Wenn die schon nichts für die Nachhilfe bezahlen müssen, sollten sie dich zumindest nicht über Gebühr aufhalten. Wenn du dein Abendessen suchst, findest du es im Abfall. Ich sehe nicht ein, dass ich wie das fünfte Rad am Wagen behandelt werde. Bestell dir etwas aus der Pizzeria. Ich bin nicht deine Angestellte und ...«
»Beruhige dich bitte, Schatz.«
»Lass das bitte mit dem Schatz. Das wirkt derart affig, dass es mich aufregt. Ich mag es nicht, wenn man Zuneigung nur heuchelt. Wie du mich wirklich siehst, zeigst du sehr deutlich. Also lassen wir dieses Gesülze und sehen die Beziehung, die ja eigentlich keine mehr ist, ganz pragmatisch. Es ist eine Beziehung auf dem Papier und ansonsten gibt es nichts, das an eine Ehe erinnern könnte. Kannst du dich daran erinnern, wann du das letzte Mal ...?«
Das Gesicht des Angesprochenen verfärbte sich ins Dunkelrot und zeigte deutlich, wie verärgert er nun war.
»Verdammt, Sabine. Muss das wirklich heute Abend zwischen Tür und Angel besprochen werden? Ich bin müde und habe keine Lust, mit dir das ewige Thema wieder aufzuwärmen. Lass uns morgen darüber reden. Es ist doch müßig, das immer wieder aufzutischen, wenn ich mal später nach Hause komme. Ich bin es leid.«
»Ach schau an. Der Herr ist es leid, über sein Eheleben zu diskutieren, das ja gar nicht mehr existiert. Du erwartest doch wohl nicht, dass ich mich jetzt wie ein devotes Mäuschen zurückziehe und dem Herrn weitere Wünsche von den Lippen ablese? Irgendwann wirst du mir sagen müssen, ob es mit uns noch Sinn macht, uns nach außen als ein funktionierendes Ehepaar zu verkaufen. Jeder unserer Freunde sieht doch, was mit uns los ist – was mit dir los ist.«
Dietmar Collins war anzumerken, dass ihm dieses Gespräch mehr als unangenehm war und nervte. Seine Hände öffneten und schlossen sich ständig, während Sabine weiter auf ihm herumhackte. Schon tausendmal hatten sie diese Diskussion geführt, wobei er wusste, dass sie wie immer ohne Konsequenzen bleiben würde – wenn man von der Nervenbelastung einmal absah. Sabine würde sich niemals von ihm trennen, da sie das bequeme Leben an seiner Seite nicht missen wollte. Er selbst wusste, dass eine Scheidung nicht nur seinem Ansehen schaden würde, sondern auch sehr viel Geld kosten würde. Folglich blieb diese Verbindung mit all ihren hässlichen Facetten bestehen. Abwartend stand er vor ihr und ertrug das Gezeter geduldig. In einer Pause, in der Sabine Luft holte, wagte er einen Einwand.
»Wars das für heute? Kann ich mich jetzt setzen und mich vom Tag erholen?«
Hätten Blicke töten können, wäre Dietmars Leben nicht einen Pfifferling mehr Wert gewesen. Sabine Collins legte noch ein letztes Mal nach.
»War er wenigstens hübsch oder sagen wir mal besser befriedigend?«
»Verrenne dich nicht wieder in deine Eifersucht, die du wie eine schwere Last mit dir herumträgst. Wirst du nie begreifen, dass es zu meinen Pflichten als Uniprofessor gehört, den Studenten Hilfe anzubieten. Ich möchte eine niedrige Durchfallquote bei meinen Studenten.«
»Es scheint, dass du diese Verantwortung nur gegenüber dem männlichen Teil spürst. Der weibliche Teil scheint hochintelligent oder dir sogar egal zu sein. Aber was erzähle ich da? Das kann ich mir sparen. Diese Fürsorge hättest du besser gegenüber deiner Tochter zeigen sollen, bevor sie ...«
Nun hatte Sabine ihren Ehemann genau dahin getrieben, wo es ihn schmerzte und er häufig überreagierte. Entsprechend war seine Reaktion und er sprang vor. Fest legte sich seine Hand um den Hals seiner Frau, während er mit der anderen drohend vor ihren Augen herumfuchtelte.
»Lass Claudia aus dem Spiel. Nimm ihren Namen nie wieder in den Mund. Vergiss niemals, wer sie in den Tod getrieben hat. Erinnere mich bloß nicht an die Tage, in denen du ihr das Leben zur Hölle gemacht hast. Es war dein ständiges Drängen auf Erfolg, das ihr zusetzte. Ein Wort von dir, ein einziges Telefonat an mich und ich hätte sie von ihrem Suizid abgebracht. Aber nein – du konntest dir nicht vorstellen, dass sie das wirklich durchzieht. Ich darf es mir nicht vorstellen, dass ein Mädchen ihrer Mutter ihren Tod ankündigt, und sie tut nichts, um sie davon abzuhalten. Ich verfluche dich deswegen, Sabine. Ja, das tue ich, bis ich selber sterbe.«
Im gleichen Moment lockerte sich sein Griff um ihren Hals und Sabine wich mit bleichem Gesicht zur Seite. Seine Augen, die sie zu durchbohren schienen, waren zu Schlitzen zusammengezogen und funkelten gefährlich. Er warf ihr noch einige Worte hinterher, als sie panisch schreiend aus dem Raum flüchten wollte.
»Geh mir aus den Augen. In deiner Nähe habe ich das Gefühl, als würdest du mir die Luft zum Atmen nehmen. Du bist nicht mehr die Frau, die ich einst sogar liebte. Aus dir wurde mit den Jahren ein Monster, das zu menschlichen Gefühlen nicht fähig ist. Wärst du doch nur an ihrer statt ...«
Entsetzt blieb sie stehen, als wäre sie vor eine unsichtbare Wand geprallt.
»Den Gefallen werde ich dir aber nicht tun. Und meine Bemerkung bezüglich der ehelichen Pflichten ist mir nur so rausgerutscht. Die halbe Welt weiß mittlerweile, dass du schwul bist und mich deshalb nicht mehr anrührst. Man zerreißt sich das Maul über uns. Tu uns nur den Gefallen und zeige deine Verhältnisse zu deinen Studenten nicht so öffentlich. So viel Ehrgefühl und Respekt darf ich doch wohl noch erwarten.« Sabine Collins wollte den Raum schon verlassen, als sie sich noch einmal umdrehte. Ein gemeines Lächeln umspielte ihren Mund, was sie noch kälter, sogar abstoßend wirken ließ. »Ich will nicht hoffen, dass die Medikamente, die du vor mir im Schrank versteckst, eine mögliche HIV-Infektion bekämpfen sollen. Ein Verschweigen dieser Krankheit würde ich dir niemals verzeihen.«
Als Dietmar Collins sich mit hochrotem Kopf auf sie zubewegte, verließ Sabine fluchtartig den Raum und schloss sich in ihrem Zimmer ein.
3
Die gesamte Gruppe der Soko starrte auf das Bild, das sich ihnen auf der Leinwand bot: eine junge, schöne Frau, die in viele Teile zerstückelt auf dem Waldboden lag. Jeder von ihnen hätte vermuten können, dass ihr Gesicht von den Schmerzen, die sie mit Sicherheit erlitten haben musste, verzerrt sein müsste. Aber nichts dergleichen war zu sehen. Sie strahlte vor Schönheit, ja sogar vor Glück. Lutz Schöner ließ alles auf sein Team wirken, bevor er sich erklärte.
»Ich weiß, was ihr alle denkt. Ich konnte mich dieses Gefühls auch nicht erwehren, bis mir Dr. Hellwig sagte, dass dieses bedauernswerte Wesen, vollgepumpt mit einem Drogencocktail, von all dem nichts mitbekommen haben muss. Als dieses perverse Schwein das Mädchen misshandelte, war sie schon weggetreten und spürte so gut wie nichts mehr. Seien wir also dankbar und betrachten wir es als einen unerklärlichen Gnadenakt dieser Bestie. Für mich passt das allerdings nicht zusammen. Ich schneide der Frau gefühlte Tausendmal ins Fleisch, als wolle ich sie langsam ausbluten lassen, durchtrenne mit einer Flex ihre Glieder und verhindere gleichzeitig, dass sie Schmerzen erleidet. Zwei Vorgänge, die im Kontext unlogisch erscheinen.«
Erst nach einigen Sekunden kam der vorsichtige Einwand aus den Reihen der Soko.
»Was ist, wenn es zwei unabhängige Taten waren? Könnte es nicht sein, dass wir es mit zwei Tätern zu tun haben? Was sagt denn Dr. Hellwig dazu?«
Im selben Moment öffnete sich die Tür. Der Arzt betrat den Raum und setzte sich auf den einzigen freien Stuhl. Erstaunt blickte er sich um, bis Schöner ihn über die auf ihn gerichteten Blicke aufklärte.
»Wir sprachen gerade von dir, Klaus. Ich nehme an, du hast uns die Obduktionsergebnisse mitgebracht. Der Kollege Spranger hat die These aufgestellt, dass wir es möglicherweise mit zwei Tätern zu tun haben. Uns fiel der Gesichtsausdruck des Mädchens auf.«
Dr. Hellwigs Miene hellte sich auf, als er den angesprochenen Kollegen ansah.
»Sehr gut beobachtet und kombiniert, Herr Spranger. Diesen Verdacht wollte ich auch äußern. Mir ist die relativ große Menge an Restblut im Körper der Toten aufgefallen. Wenn man die vielen Schnitte und die massiven Wunden an den Gliedmaßen bedenkt, müsste eigentlich ein Großteil des Blutes ausgetreten sein. Natürlich verliert ein Opfer nie alles, da das Herz irgendwann aufhört zu arbeiten und nichts mehr durch den Körper gepumpt wird. Meine Vermutung ist, dass das Opfer schon tot war, bevor sich jemand die Mühe gemacht hat, es zu zerstückeln oder so zu zerschneiden. Aus den Wunden floss dann kein oder kaum noch Blut. Das mit den unterschiedlichen Tätern müssen andere beurteilen. Ich bin da raus. Das ergibt für mich als Mediziner keinen Sinn, außer dass hier jemand seine perversen sexuellen Gelüste an einer bereits Toten ausgelebt hat. Das war übrigens der Fall, obwohl ich kein Sperma gefunden habe. Aber diverse Wunden im Genital- und Analbereich beweisen dies eindeutig. Verhütung in Perfektion, möchte ich sagen. Eine Vorstellung, in die ich mich gar nicht erst hineinversetzen möchte. Jetzt seid ihr dran.« Sofort bat er ein weiteres Mal um Aufmerksamkeit. »Ach, bevor ich es vergesse. Möglich wäre es, dass dem Opfer der Kopf vom Rumpf getrennt wurde, bevor man sich mit dem Körper beschäftigte. Das könnte die Mimik erklären.