Déjà-vu - H.C. Scherf - E-Book

Déjà-vu E-Book

H.C. Scherf

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Beschreibung

Traumatische Erlebnisse kann der menschliche Geist nur schwer verarbeiten. Lebensbedrohend wird es, wenn das Schicksal droht, sich zu wiederholen. Romy Leyendecker glaubt an das perfekte Zuhause, an Familie und ein Leben unter göttlichem Schutz. Das reale Leben belehrt sie darüber, dass Träume schnell zerstört werden können. Als ein Pärchen bei Sturmwetter bei ihr und der Tochter Emma Schutz sucht und auch erhält, beginnt für alle eine Zeit des Leidens. Abgeschieden von der Außenwelt sind sie auf sich selbst gestellt. Unvorhersehbare Ereignisse ziehen alle Beteiligten in eine Hölle, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Als sich alles zum Guten zu wenden scheint, macht sich das Höllentor ein weiteres Mal auf. Doch Mutter und Tochter sind nun besser auf den Besuch des Satans vorbereitet.

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Déjà-vu

Klammern der Angst

 

Von H.C. Scherf

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

IMPRESSUM

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Déjà-vu

Klammern der Angst

 

© 2022 H.C. Scherf

Ewaldstraße 166, 45699 Herten

https://www.scherf-autor.de

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Aktives Mitglied im Selfpublisher-Verband e.V.

 

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Bilder von:

shutterstock / Viktor Khymych

shutterstock / Valerii M

shutterstock / Mumemories

shutterstock / Alex Stemmers

adobe stock / creativefamily

adobe stock / Leonart`s

adobe stock / evannovostro

adobe stock / adimas

 

Lektorat/Korrektorat: Heidemarie Rabe

[email protected]

 

Dieses E-Book ist geschützt und darf ohne Genehmigung des Autors nicht

vervielfältigt oder weitergegeben werden.

 

 

Déjà-vu

Klammern der Angst

 

Von H.C. Scherf

 

 

 

 

Die Welt wird nicht bedroht

von den Menschen, die böse sind,

sondern von denen,

die das Böse zulassen

 

© Albert Einstein

1

Mit elementarer Wucht peitschte der Schnee nahezu waagerecht gegen die Windschutzscheibe. Obwohl die Wischergummis ihr Bestes gaben, hatte Kai Mertens Mühe, die Straße vor sich deutlich zu erkennen. Immer stärker rüttelte der Sturm an dem schweren SUV und versuchte, ihn von der spiegelglatten Fahrbahn zu drängen. Automatisch verringerte Kai die Geschwindigkeit noch mehr und wischte zum gefühlt tausendsten Mal die Seitenscheibe mit dem Handrücken frei, da das Gebläse an der linken Seitenscheibe den Geist aufgegeben hatte. Still fluchte Kai vor sich hin, ohne dass seine in dicke Decken eingehüllte Beifahrerin Notiz davon nahm. Nur hin und wieder warf sie ihm einen geringschätzigen Blick zu, ohne weiter darauf einzugehen. Karin Kieling wusste, dass Kai in solchen Situationen oft unbeherrscht reagierte und ihrem Gemecker nur Aggressionen entgegensetzen würde. Also versuchte sie es erst gar nicht und ertrug seine unflätigen Flüche geduldig. Ihn jetzt weiter zu reizen, würde unweigerlich in einer Katastrophe, einem heftigen Streit zwischen ihnen enden. Nachdem sich Karin eine der vielen blonden Strähnen aus dem Gesicht gewischt hatte, drückte sie die Sendersuchtaste, da die Musik nur noch verzerrt aus den beiden Lautsprechern ertönte und mächtig an ihren Nerven zerrte. Kaum hatte sich ein anderer Sender eingestellt, der nun Western-Country-Musik präsentierte, fuhr Kais Hand zum Radio und stellte das Radio wieder auf den vorherigen Sender ein. Seine fast schwarzen Augen funkelten Karin an und sie zuckte zusammen, als seine harte Stimme das nervige Kratzen aus dem Radio übertönte.

»Lass deine verdammten Griffel von dem Gerät. Ich mag diese verfickte Musik der Amis nicht. Davon bekomme ich Pickel. Mach mir lieber eine Kippe an und sieh nach, ob wir noch was von der Kaffeebrühe haben, die wir aus der Raststätte mitgenommen haben.«

Auch jetzt hielt sich Karin zurück und schluckte den Zorn runter, der sich in ihrem Inneren unaufhaltsam aufbaute. Es war zwecklos, mit ihm streiten zu wollen, wenn er derart erregt war. Sie kannte nach den vielen Jahren, in denen sie mit ihm zusammen war, alle Zeichen, die eine Warnung ausstrahlten. Dazu gehörte auch, wenn er ständig mit der Zungenspitze über den Schnäuzer leckte und dann wieder mit der Hand versuchte, ihn trocken zu wischen. Eine Geste, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war, Karin aber mächtig auf den Keks ging.

Du arrogantes Arschloch. Kannst du dir den beschissenen Kaffee nicht selber holen? Halt endlich an und warte den Sturm ab, bevor du uns noch in den Tod fährst.

Niemals hätte sie gewagt, ihm das ins Gesicht zu sagen, da seine Reaktion für sie schmerzhaft geendet hätte. Sie kannte seine Unarten zu Genüge, ertrug sie jedoch, weil sie wusste, dass sie niemals von ihm loskommen würde. Oft genug hatte sie sich schon gefragt, warum sie diesen miesen Kerl mit all seinen schlimmen Angewohnheiten überhaupt ertrug. Sie mochte etwas an ihm, das sie sich nicht erklären konnte. War es sein markantes Gesicht, in dem dieser schwarze Dreitagebart wuchs, der seine Männlichkeit auf eine besondere Weise unterstrich? Oder war es diese Brutalität, mit der er sich gegenüber anderen Menschen stets durchsetzte. Er war ein Gewinner, der es nicht ertrug, zurückstecken zu müssen. Immer wieder schaffte er es, selbst Niederlagen wie einen Sieg aussehen zu lassen. Sein sportlicher durchtrainierter Körper verstand es, sie bei Liebesspielen in den Bann zu ziehen, sie in Ekstase zu versetzen. Ohne ihn, das wusste Karin genau, könnte sie nicht mehr leben. Er beherrschte die Kunst der Verführung in Perfektion. Was hin und wieder gegen ihn sprach, war seine Unbeherrschtheit und der Drang, seine Wirkung auf andere Frauen offen auszuleben. Sie hatte sich sogar vereinzelt dazu bereit erklärt, einen Dreier mitzugestalten. Schließlich kam er immer wieder zu ihr zurück. Und genau das genoss sie dann wie einen Sieg.

»Was ist jetzt mit dem Kaffee? Muss ich dir erst eine Zeichnung machen, wo du ihn suchen musst? Ich arbeite mir hier den Arsch ab und du schaffst es nicht einmal, dich aus deinen warmen Decken zu pellen. Beweg dich, bevor ich dich hier im Wald aussetze.«

»Bleib mal schön ruhig, Kai. Ich mach ja schon. Man wird doch wohl noch nachdenken können, oder? Schließlich muss ich überlegen, in welcher Tasche du die Kanne verstaut hast. Hättest du mich an der Tanke aussteigen und einkaufen lassen, wüsste ich, wo ich suchen muss. Also halte mal schön die Füße still und konzentriere dich wieder auf die Straße. Ich möchte heil im Hotel ankommen.«

Kaum hatte sich Karin nach hinten gebeugt, um zwischen den vielen Beuteln nach der Kanne zu suchen, landete Kais Hand klatschend auf ihrem prallen Hintern. Ein gemeines Grinsen zeigte sich in seinem Gesicht, als er ihr anschließend in den Schritt griff. Erst als Karin ihm gegen den Arm schlug, zog er die Hand zurück und griff ans Lenkrad. Keine Sekunde zu früh, da er einen Moment später das Reh erkannte, das starr in die Scheinwerfer des herannahenden Autos blickte, ohne Anstalten zu machen, dem mächtigen Fahrzeug auszuweichen. Es war ein dumpfes Geräusch, das Kai verdeutlichte, dass er soeben ein Leben ausgelöscht hatte. Diesen Aufprall konnte das zarte Reh nicht überlebt haben.

»Verfluchte Scheiße. Das musste jetzt auch noch kommen. Warum ist das verdammte Vieh ...?«

»Ganz ruhig, Kai. Uns ist ja nichts passiert. Sieh mal nach und kümmer dich um das arme Tier. Vielleicht ist das Ganze ja gar nicht so wild und es ist nur leicht verletzt. Wenn es schlimm ist, erlös es einfach und jag dem Tier eine Kugel in den Kopf.«

»Du hast sie wohl nicht mehr alle. Glaubst du ernsthaft, dass ich hier in der Nacht im Wald rumballere und die Leute aufscheuche? Wenn das jemand hört, holt der die Bullen und ich geh wegen Wilderei und unerlaubten Waffenbesitzes in die Kiste. Wie blond muss man eigentlich sein, um so einen Mist vorzuschlagen? Such du weiter nach dem Kaffee und ich kümmer mich um das Vieh.«

Kaum hatte Kai den Motor abgestellt, öffnete er das Handschuhfach und fand nach kurzer Suche das Klappmesser, das für alle Fälle immer dort zu finden war. Karin konnte ein Grinsen nicht verbergen, als er erneut wild fluchend die Tür öffnete, wo ihm die geballte Macht des Sturms entgegenschlug. Die dünne Windjacke hatte er sich schützend vor das Gesicht gehalten, was jedoch dafür sorgte, dass ihm der Schnee gegen den jetzt freien Bauch prallte. Sie glaubte, an seinen Lippen ablesen zu können, welchen Fluch er diesem Umstand gönnte.

Das hast du dir verdient, du eitler Mistkerl. Hoffentlich frierst du dir da draußen den Arsch ab. Wo ist bloß dieser verdammte Kaffee?

Während Karin nach der Thermoskanne suchte, zerrte Kai den noch zuckenden Körper des verunglückten Wildes unter dem Auto hervor. Es hatte sich unter der Vorderachse verkeilt. Wütend trat er dem blutenden Tier vor den Kopf und kramte sein Klappmesser aus der Tasche hervor. Mit einem Hieb, in dem seine gesamte Wut spürbar wurde, stieß er die Klinge in den Hals des armen Tieres und sprang mit einem knurrenden Laut zurück, als ihn der Blutstrahl am Oberschenkel traf. Wieder und wieder trat er in den nun still daliegenden Leib des Rehs, baute damit seinen gesamten Frust ab. Dass das Blut über seine Kleidung spritzte, schien ihn wenig zu stören. Erst Karins Ruf stoppte ihn in seiner grenzenlosen Wut. Schwer atmend sah er auf sein wehrloses Opfer hinab und kam allmählich wieder zu sich. Sichtlich angewidert wischte er die blutverschmierten Hände an der Hose ab, die er sowieso nicht mehr hätte länger tragen können.

»Verfluchtes Mistvieh. In der Hölle sollst du dafür schmoren. Konntest du dir nicht ein anderes Auto aussuchen? Sieh dir an, was du angerichtet hast. Die gesamte Schnauze ist jetzt kaputt. Selbst den Kühler hast du mir in den Motorblock geschoben. Damit kann doch kein Mensch mehr fahren. Wie soll ich jetzt von hier wegkommen?«

»Das dürfte ein Problem werden, Kai. Ich habe schon versucht, ein Netz zu bekommen. In der Wildnis hier funktioniert mein Telefon nicht. Wie erreichen wir jetzt den Pannendienst? Übrigens habe ich keinen Kaffee für dich. Den hast du wohl schon vorher ausgesoffen.«

Karin wich einen Schritt zurück, als Kai mit vor Wut entstelltem Gesicht auf sie zukam.

»Wo ist mein Telefon? Das wäre doch gelacht, wenn ich hier kein Netz bekommen könnte. Und wenn nicht, bewegst du eben deinen Arsch die Straße rauf und versuchst es so lange, bis du es geschafft hast. Ich räume mittlerweile das Mistvieh von der Straße, sonst haben wir noch den Förster an den Hacken.«

Als Karin ihn zweifelnd anstarrte, erfasste er ihren Arm und zog sie brutal zu sich heran. Nur wenige Zentimeter trennten die beiden Gesichter voneinander, als er Karin anzischte: »Du scheinst mich nicht verstanden zu haben. Du sollst dich bewegen und den Abschleppdienst anrufen. Weiter oben müsstest du wieder ein Netz haben. Wenn die wissen wollen, wo wir uns befinden, sagst du ihnen, dass wir uns zwischen Rauthal und Meiningen aufhalten. Ich denke, dass wir so auf halber Strecke liegen. Ich weiß aber nicht, welche Straße. Die sollen dein Telefon orten. Basta. Und jetzt hau ab, bevor wir uns den Arsch abfrieren.«

»Warum sehen wir nicht auf dem Navi nach, wo wir uns befinden?«, konterte Karin und riss sich los. »Du kaufst dir einen sauteuren Schlitten mit allem Schnickschnack und bist nicht in der Lage, das alles zu nutzen.«

Es waren nur Bruchteile von Sekunden, bis Kais flache Hand mitten in Karins Gesicht landete. Weitere Sekunden brauchte es, bis sie begriffen hatte, dass er sie wegen dieser Lappalie tatsächlich geschlagen hatte. Wieder hatte er nach ihr gegriffen und hauchte ihr seinen Atem ins Gesicht. Vergeblich versuchte Karin, sich von ihm loszureißen, was ihr erst beim dritten Anlauf gelang.

»Das machst du nur einmal mit mir, Kai. Schlägst du mich noch ein einziges Mal, bringe ich dich um. Und glaube mir, dass ich es ernst meine. Das darf niemand – selbst du nicht. Und jetzt ziehe ich mir was über und ziehe los. Du Schlauberger kannst in der Zeit hier für Ordnung sorgen.«

Karin war sich sicher, leichte Unsicherheit in Kais Gesicht erkannt zu haben. Wieder spürte sie seine Hand auf ihrem Arm, die sie zurückhielt. Nun schon wesentlich sanfter zog er sie zurück, strich mit der freien Hand über ihr langes, lockiges Haar und ließ sich zu einem ruhigeren Tonfall herab.

»Verdammt, Kleines, das war doch nicht so gemeint. Ich bin einfach nur sauer. Das wirst du doch verstehen. Die Karre ist kaputt und wir wollten uns doch heute Abend mit den anderen in Meiningen treffen. Denen müssen wir auch noch Bescheid geben. Die glauben sonst, dass wir uns mit der ganzen Kohle absetzen wollen. Komm her und gib mir einen Kuss.«

Es war wieder einer dieser Augenblicke, in denen Karin ihre Gefühle ordnen und sich zwischen aufopfernder Hingabe und Abscheu gegenüber ihrem Partner entscheiden musste. Doch schon im nächsten Moment war sie sich über das Ergebnis sicher. Sanft legten sich Kais Lippen auf ihre und gaben ihr das Gefühl zurück, ihm zu gehören, nicht ohne ihn leben zu können. Als er sie endlich freigab, kramte sie im Wagen ihre dicke Daunenjacke hervor und machte sich auf den Weg. Schon nach wenigen Metern verschluckte sie eine dichte Wand aus Schnee.

 

Wie von Sinnen zerrte Kai an dem Kühlerblech, das sich tief in den Motorraum gedrückt hatte und sich weigerte, sich wieder herausziehen zu lassen. Wild fuhr er herum, als er die Stimme hörte, die durch den pfeifenden Sturm kaum zu verstehen war. Er erkannte schließlich Karin, die hinter ihm stand und die ihre Kapuze als Schutz weit in das Gesicht gezogen hatte.

»Nichts, Kai, keine Verbindung zu kriegen. Da scheint wohl alles zusammengebrochen zu sein. Aber vielleicht haben wir doch Glück. Etwa fünfhundert Meter von hier habe ich schwach Lichter von einem Haus gesehen. Möglich, dass die ein Festnetztelefon haben, das noch funktioniert. Lass uns die nötigsten Sachen einpacken und uns auf den Weg machen. Könnte ja sogar sein, dass die einen Traktor haben, mit dem die unseren Wagen von der Straße holen können. Es wird nicht lange dauern und uns rauscht hier bei der beschissenen Sicht einer rein. Schalte die Warnlichtanlage an und stell ein Kreuz auf. Ich packe ein paar Plörren zusammen und du nimmst die Kohle.«

»Tja, was anderes wird uns wohl auch kaum übrig bleiben. Fang an zu packen. Ich hol die Knete aus dem Kofferraum und dann ab.«

2

Romy lehnte sich in ihrem bequemen Sessel zurück und legte das Buch mit einem tiefen Seufzer einen Moment zur Seite, in das sie sich seit Stunden vertieft hatte. Ein zufriedenes Lächeln verzauberte ihr ausnehmend hübsches Gesicht, als sie den leisen Klaviertönen folgte, die schwach an ihr Ohr drangen. Emma spielte wieder einmal eines ihrer Lieblingsstücke: Träumerei von Schumann. In der kommenden Woche sollte sie es bei dem großen Schulfest in der Aula des Gymnasiums einem großen Publikum vortragen. Romy wusste, dass sich für diesen Abend auch der Leiter der örtlichen Musikschule angesagt hatte. Emma erklärte ihr des Öfteren, dass sie unbedingt im Klavierspielen gefördert werden wollte. Jetzt, wo sie mit vierzehn Jahren schon über ihre berufliche Zukunft nachdenken musste, verfestigte sich bei ihr der Wunsch, eines Tages öffentlich mit ihrem Lieblingsinstrument auftreten zu dürfen. Die schnelle Auffassungsgabe und sehr gute Noten würden ihr alle Türen auch in den gefragten Berufen öffnen. Sie stellte das Klavierspielen jedoch über alles, was Mädchen in diesem Alter normalerweise taten. Nicht bei allen Mitschülerinnen kam das ausgesprochen gut an. Ab und zu kam es zu Frotzeleien, da sie bisher noch nie auf Partys war oder Beziehungen zu Jungs hatte. Doch Emma kümmerte das nicht. Romy bewunderte sie dafür, denn ihr Kind besaß all das, was ihr selbst in der Kindheit an Durchsetzungsvermögen gefehlt hatte. Allerdings musste sie sich als Entschuldigung eingestehen, dass ihre Eltern ihr diesen Eigensinn auch nicht hätten durchgehen lassen. Vater und Mutter waren ihr gegenüber immer sehr streng gewesen. Die beiden Brüder Holger und Thorsten dagegen hatten alle Freiheiten besessen. Es waren schließlich Jungen, die sich austoben mussten, meinte Mutter. Emma sollte diese Zwänge nicht ertragen müssen. Auch Michael unterstützte Emma in ihrem Bestreben, wo immer es möglich war. Romy dankte es ihm mit Fürsorge und absolutem Vertrauen. Augenblicklich bedauerte sie, dass er heute Abend nicht nach Hause kam, weil ihn ein Fortbildungsseminar in der Kreisstadt aufhielt. Oder war es ein geschäftliches Treffen mit einem Kunden? Egal – morgen Nachmittag würden sie wieder das Familienleben genießen können.

Romy klappte das Buch endgültig zu, schob zuvor das Lesezeichen ein und legte alles auf dem Couchtisch ab. Es war Zeit, sich bettfertig zu machen. Morgen stand harte Arbeit an, da der Schneesturm alles ums Haus zugeweht hatte. Schneeschippen war schon früh angesagt, schließlich musste Emma in die Schule gefahren werden. Sollte es allerdings so weiterschneien, war daran nicht zu denken. Einer der Nachteile für die Entscheidung, aufs Land zu ziehen.

»Schätzchen, denkst du daran, dass wir morgen früh aufstehen müssen? Du musst mir beim Schneeschippen helfen und wir wollten doch nach dem Gottesdienst am Nachmittag zu Tante Agnes wegen der Altkleider. Mach bitte Schluss und mach dich bettfertig.«

Nur kurz setzte Emma mit dem Klavierspielen aus, beendete jedoch ihr Übungsstück. Sekunden später legte Emma ihre Arme um Romy und schmiegte sich an ihren Rücken. Im großen Badezimmerspiegel blickten sich die beiden Frauen an und tauschten ein glückliches Lächeln aus. Romy drehte sich ihrer Tochter zu und küsste sie auf das Haar, das ähnlich wie bei ihr selbst kaum zu bändigen war. Emma hatte sich die Mähne zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und legte eine Strähne zwischen die Lippen.

»Wie fandest du das Stück, Mama? Muss ich noch viel üben?«

»Du warst großartig, mein Schatz. Die Leute werden dir zu Füßen liegen, wenn du auf der Bühne bist. Ich war hin und weg, als du die Träumerei gespielt hast. Einfach fantastisch. Aber jetzt wollen wir ...«

Der vertraute Ton der Türglocke riss Mutter und Tochter aus ihrem Gespräch. Romy hielt Emma am Arm zurück, die spontan loslaufen wollte, um zu öffnen.

»Aber es kann doch nur Papa sein, der früher nach Hause kommt«, entschuldigte Emma ihre Aktion.

»Papa hat einen Schlüssel, mein Schatz. Er muss doch nicht klingeln. Putz dir die Zähne und lass mich nachsehen. Wird einer der Nachbarn sein, der ein Problem hat. Bin sofort wieder da.«

 

Der Wind riss Romy Leyendecker fast die Tür aus der Hand und sie wäre gegen die Dielenwand geknallt, hätte der Besucher, der in Begleitung einer dickvermummten Frau vor ihr stand, nicht beherzt zugegriffen.

»Uff,  das war knapp. Das ist noch mal soeben gut gegangen.« Kai Mertens deutete eine kleine Verbeugung an und behielt die Kante der Tür fest im Griff. »Es tut uns schrecklich leid, dass wie Sie so spät noch belästigen müssen, Frau Leyendecker. Sie sind doch Frau Leyendecker? Oder? Ich meine nur wegen des Klingelschildes. Wie gesagt – es tut mir leid. Aber wir sind an der Straße nicht weit von hier mit dem Wagen liegen geblieben und wollten fragen, ob wir ...«

»Kommen Sie erst mal rein. Sie frieren doch bestimmt entsetzlich in dieser Kälte. Der Sturm ist ja fürchterlich. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mama? Mit wem sprichst du da? Ist das ein Nachbar?«

»Nein, nein, mein Liebes. Nichts von Bedeutung. Wasch dich und geh dann schon mal ins Bett. Ich komme gleich nach.«

»Oh, wir stören Sie bestimmt sehr. Aber eigentlich brauchen wir nur ein Telefon, damit man uns abschleppen kann. Dann sind wir sofort wieder weg. Könnten wir vielleicht Ihr Telefon ...?«

Entschlossen zog Romy die beiden Besucher in die Diele und bemühte sich, die Tür wieder gegen die Kraft des Windes zu schließen. Mit vereinten Kräften schafften sie es schließlich. Dass der Schnee von der Kleidung des Pärchens auf die Dielenfliesen tropfte, übersah Romy großzügig und folgte ihrer Eingebung, eine gute Gastgeberin zu sein.

»Legen Sie doch für einen Moment ab. Es wird dauern, bis der Abschleppdienst bis hierher durchgekommen ist. Wärmen Sie sich so lange auf und setzen Sie sich in die Küche. Darf ich Ihnen einen Tee oder einen Kaffee anbieten? Sie sehen aus, als könnten Sie was Warmes gut gebrauchen. Das Telefon finden Sie auf der Anrichte in der Diele.«

Während Romy dem großen Mann das Telefon zeigte, schob sie die bibbernde Frau in Richtung der Eckbank. Ohne eine Antwort auf ihre vorherige Frage abzuwarten, befüllte sie den Wasserkocher und griff nach der Dose, in der sie stets mehrere Sorten Tee aufbewahrte.

»Schwarzen Tee oder lieber Kräuter?«

Romy war komplett in die Rolle der zuvorkommenden und helfenden Gastgeberin gerutscht, dass sie gar nicht merkte, dass Emma abwartend in der Tür stand und ihr Tun stumm beobachtete. Karin Kieling jedoch war die Anwesenheit der Tochter nicht entgangen und sie streckte ihr die verfrorene Hand entgegen.

»Du bist bestimmt die Tochter des Hauses. Ich bin Karin. Und wie heißt du?«

Romy fuhr herum und übernahm die Vorstellung, bevor Emma überhaupt auf die Frage reagieren konnte.

»Ach, das ist Emma, unsere Tochter. Ich dachte, dass sie schon längst in den Federn wäre. Komm her, Emma, sag guten Abend. Die Herrschaften hatten eine Panne und wollen nur telefonieren, bevor sie wieder raus in die Kälte müssen.«

Heftig schrak Emma zusammen, als sie die große Gestalt des Mannes hinter sich spürte, der aus der Diele in die Küche kam. Sie machte einen Schritt zur Seite und sah in das Gesicht eines erstaunlich hübschen, aber auch verärgert wirkenden Mannes, der sie um fast zwei Kopflängen überragte.

»Was ist heute Nacht bloß los. Kein Mobilnetz und jetzt scheint auch das Festnetz zusammengebrochen zu sein. Nichts – nicht mal ein Freizeichen. Die Leitung ist tot. Verdammt, was tun wir jetzt nur? Könnten Sie mal ...«

Romy Leyendecker hielt mitten in der Bewegung inne und schien ebenso ratlos wie ihre Gäste. Um Gelegenheit zum Nachdenken zu erhalten, drehte sie sich wieder um und schaufelte einige Löffel Kräutertee in das Teesieb.

»Wir haben ebenfalls keinen Empfang.«

Oh Gott. Was mach ich jetzt nur mit den beiden? Ich kann sie doch nicht so einfach rausschmeißen bei dem Dreckswetter. Hierbleiben können sie aber auch nicht. Jetzt, wo Michael nicht einmal hier ist, kann ich doch keine Wildfremden im Haus einquartieren.

Schon fast zu schnell kam Romys NEIN, als die fremde Frau zögernd die Frage stellte, die Romy überhaupt nicht hören wollte.

»Könnten wir vielleicht ...?«

Erstaunt über sich selbst blickte Romy von einem zum anderen, bevor ihr Blick auf dem Gesicht von Emma hängen blieb. Ihre Augen schienen das Gleiche auszudrücken.

»Wir würden Ihnen das auch großzügig bezahlen, Frau Leyendecker«, fuhr die Besucherin unbeirrt fort und näherte sich der Hausherrin. »Mein Partner und ich brauchen auch kein Bett. Ein Sessel, ein Stuhl würden völlig ausreichen, damit wir uns ein paar Stunden aufwärmen und abwarten können. Sobald die Telefonleitung wieder steht, sind wir verschwunden und Sie sehen uns nie wieder. Geben Sie Ihrem Herz einen Stoß und sagen Sie ja – bitte.«

Karin Kieling präsentierte das freundlichste Lächeln, zu dem sie fähig war, und legte einen Arm um Romys Schulter. Romy konnte es sich nicht erklären, warum ihr diese Geste Unbehagen bereitete, schob es auf ihre Aufgeregtheit, die sie seit dem Erscheinen der beiden Fremden überfallen hatte. Etwas an den Gästen warnte vor einer unbekannten Gefahr.

»Sie mögen mich für unhöflich halten, aber ich muss das leider ablehnen. Sehen Sie, meine Tochter und ich sind allein in diesem Haus und mussten nach einem Einbruch vor zwei Jahren erkennen, dass nicht alle Menschen ehrlich sind. Verstehen Sie das bitte nicht falsch. Nicht, dass ich das auf Sie übertragen möchte, aber wir haben lernen müssen, dass ...«

»Wir verstehen das schon richtig«, mischte sich der männliche Besucher plötzlich ein und ergriff den Arm seiner Partnerin, die sich jedoch dagegen wehrte, einfach die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie befreite sich aus dem Griff und stemmte die Hände in die Hüften. Ihre Augen hatten sich in Bruchteilen von Sekunden total verändert, strahlten nun eine Eiseskälte aus.

»Was ist los mit Ihnen? Hat man Ihnen niemals beigebracht, was Gastfreundschaft und Hilfe in der Not für das Miteinander bedeuten? Nicht alle Hunde beißen, nur weil ein schlecht erzogener zwischen ihnen war. Sie scheren alle über einen Kamm. Das verstehe ich nicht, Frau Leyendecker. Wir haben Sie höflich darum gebeten, uns bei diesem Unwetter ein Dach über dem Kopf zu gewähren. Was machen Sie? Sie verweigern uns Ihre Hilfe und schicken uns zurück in die Eiseskälte.«

»Aber bitte verstehen Sie auch mich. Wir haben Angst, dass ...«

»Scheiß auf Ihre Angst«, unterbrach sie die fremde Frau und trat noch einen Schritt näher an Romy heran. Doch bevor sie weiterreden konnte, erklang Emmas Stimme.

»Lassen Sie meine Mutter in Ruhe und verschwinden Sie bitte wieder. Sie können nicht wissen, was meine Mutter damals mitmachen musste, als die Einbrecher sie im Haus überraschten. Das wünschen wir niemandem.«

»Ach, das klingt interessant, kleines Fräulein. Erzähl mir mehr davon. Das wäre doch eine sehr unterhaltsame Geschichte, während wir warten und den Tee genießen. Eine tolle Gute-Nacht-Geschichte. Findest du nicht auch, Kai?«

Während sie sich umgedreht hatte und auf Emma zuging, war ihr Blick auf den großen, kräftigen Mann gerichtet, der jetzt ebenfalls grinste. Er entledigte sich seiner Jacke und hängte sie über die Stuhllehne. Mit weit von sich gestreckten Füßen machte er es sich auf dem nächstbesten Stuhl bequem. Von einem Moment zum anderen hatte sich eine Spannung im Raum ausgebreitet, die sowohl Romy als auch Emma Angst bereitete. Mit den beiden Besuchern war eine Bedrohung in das Haus eingefallen. Das bestätigte sich noch, als Karin Kieling die Katze aus dem Sack ließ.

»Du hast recht, Kai. Oft genug haben wir uns darüber gestritten, wie die Menschen gestrickt sind. Der größte Teil besteht aus undankbaren, egoistischen Scheißern und Speichelleckern, die nur sich selbst sehen und ihre Vorteile. Man muss sich von denen nehmen, was man braucht.«

Außer einem zustimmenden Knurren war von Kai nichts zu hören. Er fuhr lediglich mit einer Hand durch sein tiefschwarzes Haar und zeigte weiter sein breites Grinsen. Ihm schien zu gefallen, wie sich alles entwickelte. Er sah nicht einmal auf, als Emma selbstbewusst dazwischenging und ihre Mutter verteidigte.

»Das ist gemein. Meine Mutter ist so freundlich und macht Ihnen noch warmen Tee. Und was machen Sie? Sie beleidigen uns, obwohl wir nett zu Ihnen sind. Sie sind es doch, die schlechte Manieren haben – nicht wir. Hätten Sie das durchgemacht wie wir damals, würden Sie ebenso handeln. Bitte gehen Sie jetzt, bevor wir die Polizei holen.«

»Emma, bitte sei still. Die beiden wollen ...«

Romy Leyendecker konnte diesen Satz nicht zu Ende sprechen, da sich die Hand von Karin Kieling ungewöhnlich schnell auf ihren Mund legte. Die beiden Besucher tauschten einen Blick aus, der verriet, dass sie beide das Gleiche dachten. Nach einem kurzen Auflachen klärte Karin ihre Gastgeberin auf.

»Psst, gute Frau, Ihre Tochter hat so was von recht. Wir sind gemein zu Ihnen. Das ist unsere Natur, obwohl das nicht geplant war. Eigentlich wollten wir schnell wieder verschwinden. Aber jetzt hat sich die Lage geändert. Es klingt so verlockend, Ihre Tochter bei dem Zauberkunststück zu beobachten, ohne funktionierende Telefonverbindung die Bullen zu holen. Unsere Neugierde ist geweckt. Und da ist noch etwas.« Karin Kieling schlenderte nun sichtlich gelassen auf Kai zu und setzte sich auf seinen Schoss. »Wir möchten nun wissen, was damals geschah. Solche Geschichten machen uns richtig geil. Ist es nicht so, Kai? Was ist nun mit dem Tee?«

3

»Nehmen Sie bitte die Füße von der Couch. Das ist Nappaleder und sehr empfindlich.«

Kai riss Romy brutal zurück, als sie nach seinen schmutzigen Schuhen greifen wollte. Ganz nah zog er sie zu sich heran und betrachtete eingehend ihr Gesicht. Unverhohlen blickte er auch in den Ausschnitt ihres Kleides, um gleichzeitig mit der Zunge zu schnalzen.

»Weiß dein Kerl eigentlich, welchen Schatz er da geheiratet hat? Ihr seid doch verheiratet, oder? Dich würde ich niemals heiraten. Und weißt du auch warum?«

Vergeblich wartete Kai auf eine Antwort, weil Romy ihn nur teilnahmslos ansah. Er gab sie sich selber und bemerkte sofort die Verunsicherung und das Zucken in Romys Augen.

»Ein solches Püppchen würde ich in den teuersten Puff der Stadt stecken. Du wärst eine Goldmine in diesem Gewerbe. Drei oder vier von deiner Sorte, und ich müsste mir keine Sorgen mehr machen um meine Zukunft.«

Kais schmutziges Lachen war bis in die Küche zu hören, wo sich Karin Kieling über das Omelett hermachte, das ihr Romy zuvor zubereiten musste. Sie kannte diese Fantasien ihres Partners, irgendwann einmal ein Freudenhaus eröffnen zu können, um von da an niemals mehr das Risiko eines Überfalls tragen zu müssen. Halbwegs legal und vom Gesetz abgesichert wollte er sich schon früh zur Ruhe setzen. Die besten Voraussetzungen waren derzeit mit dem Geld aus dem Banküberfall gegeben. Allerdings stand das Aufteilen unter den Komplizen noch an.

»Träum weiter, Kai«, rief sie laut genug, sodass auch Emma das oben in ihrem Zimmer mitbekam und das Kissen fester auf die Ohren presste. »Ihr Kerle solltet ab und zu auch an etwas anderes denken. Mich würdest du niemals in eines der Zimmer bekommen. Vorher würde ich dir die Eier abschneiden. Nicht mit mir – hörst du?«

Unwirsch schubste Kai seine Gefangene weg und lachte laut.

»Das musst du auch nicht. Jemand muss sich fürsorglich um die Damen kümmern. Ich kann schließlich nicht alles allein machen. Du wirst sehen, meine Liebe, das macht irre Spaß.«

Romy hatte Mühe, einen Sturz über den Couchtisch zu verhindern und ruderte mit den Armen, bis sie endlich das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Ihr Gesicht war wutverzerrt und es schien, als wollte sie sich auf den Mann stürzen, der ihr das angetan hatte. Im letzten Moment beherrschte sie sich und stürmte die Treppe hinauf. Emma lag in typischer Embriohaltung auf dem Bett, was sie immer tat, wenn sie sich fürchtete oder außergewöhnlich wütend war. Erst als sie die Nähe ihrer Mutter spürte, sprang sie auf und umarmte sie. Ihre Schultern zuckten, als sich die angesammelte Spannung löste und die Tränen aus ihren Augen strömten.

»Was passiert mit uns, Mama? Ist es wieder wie damals?«

»Nein, mein Kind, das wird sicher nicht wieder geschehen. Das lasse ich nie wieder zu. Du wirst sehen, dass die beiden bald wieder verschwinden, und alles wird so sein wie vorher. Sie sind nur ungehobelt und bei Weitem nicht so gefährlich wie die Männer damals. Spätestens morgen früh sind sie weg und wir vergessen das einfach wieder. Hörst du, mein Schatz? Wir sprechen einfach nicht mehr darüber – auch nicht zu Papa. Er wird uns sonst nie mehr alleine hier lassen.«

Lange blickte Emma in die Augen ihrer Mutter und sah darin die tiefe Entschlossenheit, die sicherlich vorhanden war. Doch wie wollten sie, die den beiden Eindringlingen hoffnungslos unterlegen waren, das verhindern. Emma konnte das Zittern nicht verbergen, das nun auch ihre Mutter spürte. Fest zog sie ihre Tochter an sich und strich ihr über das Haar, das sich nun komplett gelöst hatte und als wallende Mähne über ihr Gesicht fiel. Romy blickte erst auf, als sie das frivole Kichern von unten hörte, das Rückschlüsse auf das zuließ, was die beiden dort unten miteinander trieben. Es war eine intuitiv gesteuerte Geste, als sie Emma beide Hände über die Ohren legte. Ihre Gedanken gingen weit zurück und holten die Ereignisse vom damaligen Überfall ins Gedächtnis. Nun konnte auch sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.

 

Die Zimmertür schlug hart gegen die Wand, ließ Mutter und Tochter, die eng umschlungen eingeschlafen waren, hochschrecken. Vor ihnen tauchte das jetzt aufgedunsene und vom Alkohol gezeichnete Gesicht Karins auf. Die Schminke hatte sich unkontrolliert in ihrem Gesicht verteilt und eine Maske geschaffen, vor der man sich fürchten konnte. Ihre Stimme war ins Lallen abgeglitten und zeigte nun eine Frau, die sich enorm von der unterschied, der sie an der Haustür zum ersten Mal begegnet waren. Karin hatte Not, sich auf den Beinen zu halten, gab sich nicht einmal Mühe, ihre Blößen zu verbergen. Sie trug nichts weiter als das Oberhemd von Kai. Romy war sofort hellwach und deckte Emma mit ihrem Körper ab.

»Was wollen Sie von uns? Haben Sie sich wenigstens gut amüsiert, während Sie unseren Alkoholvorrat geplündert haben? Mehr ist nicht da, wenn es das ist, was Sie wissen wollen.«

»Du bist eine renitente, freche Zicke. Das muss ich dir mal sagen. Du solltest deine lose Zunge mehr im Zaum halten, sonst bringe ich dir Manieren bei. Ich lasse dich und deine Brut weiterschlafen, wenn du mir verrätst, wo du das beschissene Klopapier versteckt hast. Ich wollte mir den Arsch abputzen und siehe da – nichts mehr auf der Rolle. Also, was ist jetzt damit? Und wenn du einmal unterwegs bist, kannst du mir sofort mit ein paar Tampons aushelfen. Habe meine im Wagen vergessen.«

Obwohl Romy von Ekel erfüllt war, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Wenn dies das einzige Problem heute Nacht blieb, konnte sie froh sein. Sie stand auf und wollte sich an Karin vorbeischieben, als diese sie an der Jacke zerrend zurückhielt.

»Hast du ... ich meine damit ... kannst du mir einen von deinen Schlüpfern geben. Meiner ist ... sagen wir einmal ... er ist etwas unansehnlich geworden. Wenn du den später in die Waschmaschine packst ... war ein teures Teilchen.«

Bevor Romy antworten konnte, drang ein Poltern nach oben, dem wilde Flüche folgten. Einen Moment lenkte das Lachen von Karin ab, die dem Ganzen sogar etwas Belustigendes abgewinnen konnte. Sie folgte der Gastgeberin zum Kleiderschrank.

»Bedienen Sie sich. Ich kann allerdings nicht mit Ihrer Designerwäsche mithalten. Was macht der Mann da unten?«

»Oh, nichts weiter. Dem wird erst jetzt aufgefallen sein, dass ich ihm die leeren Flaschen in den Arm gelegt habe. Der wird bestimmt damit geworfen haben. Möglich, dass er dabei etwas getroffen hat. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Wir werden alles ersetzen. Alles, verstehen Sie? Geld haben wir genug. Er wird Sie reich entlohnen. Das ist ein großartiger Wesenszug an ihm, denn er ist sehr großzügig. Jeden Wunsch liest er mir von den Lippen ab.«

Um das zu verdeutlichen, zeigte Karin immer wieder leicht schwankend auf ihre vollen Lippen. Dann griff sie in den Stapel der sorgfältig aufgetürmten Schlüpfer. Alle, bis auf einen, fielen auf den Boden.

»Oh, sorry. Lass nur liegen. Die hebe ich später auf. Wir wollen ja schließlich keine Unordnung bei unseren Gastgebern hinterlassen. Jetzt muss ich aber wieder nach unten und den Rest erledigen. Du weißt schon.«

»Ich gehe mit und zeige Ihnen, wo Sie das Toilettenpapier und ... ich meine ... die Tampons finden. Dann kann ich gleich nach dem Rechten sehen.«

Romy stützte die betrunkene Frau, die sich jetzt scheinbar willenlos zur Tür hinausführen ließ. Der besorgte Blick Emmas begleitete sie, die jetzt sitzend das Geschehen verfolgte. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, sprang sie auf und zog die Schublade der Konsole auf. Da war es. Ihr Smartphone, das ihr Papa zum Weihnachtsfest geschenkt hatte, schien wie ein Tor zur Freiheit aufzuleuchten.

---ENDE DER LESEPROBE---