Geraubte Seelen 2 - H.C. Scherf - E-Book

Geraubte Seelen 2 E-Book

H.C. Scherf

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Beschreibung

Sie stehlen das junge Leben einfach von der Straße. Dabei zerstören sie Familien und Existenzen. Menschenhandel war bereits ein Thema in Band 1. Doch das Verbrechen erfindet sich immer wieder neu und beweist dem Ermittlerteam, dass es stets noch schlimmer kommen kann. Gleichzeitig gesellt sich eine Mordserie hinzu, die alle an die Grenzen des Erträglichen zwingt. Doch wenn es um Kinder und Serienmord geht, wächst das Essener Team über sich hinaus. Eine Soko muss entscheiden, ob es sich um einen oder getrennte Fälle handelt. Sie müssen versuchen, der Mafia des Menschenhandels ein Bein zu stellen, denn es geht um Milliardenumsätze.

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GERAUBTE SEELEN

Band 2

 

 

Von H.C. Scherf

 

 

Kriminalroman

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Geraubte Seelen, Band 2

 

 

© 2025 H.C. Scherf

Ewaldstraße 166, 45699 Herten

[email protected]

https://www.scherf-autor.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Aktives Mitglied im Selfpublisher-Verband e.V.

 

Covergestaltung: VercoDesign, Unna

Bilder von:

Alle von Shutterstock / Yiahnisscheidt / Ruli Photograph / Marcin Perkowski

/ pashabo / PeopleImages.com - Yuri A / Zinetro N / Ihor M

 

Lektorat/Korrektorat: Viviane Grosbusch

 

Titel und Text sind geschützt und dürfen ohne Genehmigung des Autors nicht

vervielfältigt oder weitergegeben werden.

 

 

GERAUBTE SEELEN

Band 2

 

Von H.C. Scherf

 

 

 

 

Im Rausch der Rache wird auch ein guter Mensch zur Bestie.

 

© von den mexikanischen Indios

1

Ein Tag wie schon hunderte zuvor zeigte sich von der besten und sonnigen Seite, als wüsste er nichts von dem, was das Schicksal plante. Viviane rührte gedankenverloren in der kleinen Schüssel, worin der Dip allmählich die gewünschte Konsistenz annahm. Ihre Augen waren auf den Vorgarten gerichtet, wo die kleine Cleo mit Dackel Rudi um die Wette lief. Ihr Kreischen war bis in die Küche vernehmbar, wo Vivi, wie sie von Rainer liebevoll genannt wurde, das späte Mittagessen vorbereitete. Heute gab es ein leichtes Essen, das sie den Umständen anpassen konnte. Darunter verstand Vivi das zeitlich nicht festzulegende Erscheinen von Rainer. Kam es bei dem Fußballspiel zum Unentschieden, war eine Verlängerung möglich und er kam später. Doch sie kannte diese Verzögerungen zu Genüge, weil die Sportkameraden häufig noch nach dem Spiel lange Diskussionen führten. Bei einem Gewinn war auch schonmal ein Bierchen drin. Sie gönnte ihm das Vergnügen von Herzen, da sie wusste, dass er danach wieder seine gesamte Zeit der Familie widmete. Sein Job als stellvertretender Abteilungsleiter in einem Zeitungsbetrieb war hart genug. Beim Sport fand er endlich die verdiente Ablenkung und Entspannung. Lange hatte er darauf verzichten müssen, da eine mittelschwere Meniskusverletzung ihn in eine Auszeit zwang.

Ein Lächeln umspielte Vivis Mund, als sie erneut die Stimme der kleinen Cleo vernahm, die nun Dackel Rudi genau gegenüber saß und dem aufmerksam zuhörenden Hund etwas zu erklären schien. Der Name Cleo schien ihr mittlerweile sehr passend für Ihren Sonnenschein, da er übersetzt sowas bedeutete wie die Berühmte oder die Schöne. Eigentlich handelte es sich schlicht um die Kurzform von Kleopatra. Rainer schlug den Namen noch vor, bevor er mit ihr ins Krankenhaus zur Entbindung fuhr und ließ sich nicht mehr davon abbringen. Sie selbst gab irgendwann nach, obwohl ihr immer Irene als Mädchenname vorschwebte. Schließlich war es der Name der längst verstorbenen Oma. Heute war sie froh darüber, sich nicht durchgesetzt zu haben, denn Cleo war so treffend für dieses quicklebendige Kind, welches die Schönheit der ägyptischen Pharaonin übernommen zu haben schien. Es gab kein schöneres Kind auf dieser Welt.

Sie zuckte heftig zusammen, als sie ohne Ankündigung feuchte Lippen auf ihrem Hals spürte, dem schlicht die Worte zwei zu drei gewonnen folgten. Rainers starke Arme legten sich um ihre Taille und drehten sie zu sich. Sie kannte diesen Geruch mittlerweile sehr gut, den er nach dem Sport selbst nach dem Duschen verströmte und absolut nichts von dem besaß, was sie an anderen Menschen stets abstieß. Dieser Duft, wie sie es nannte, war so dermaßen maskulin und anregend, dass sie ihn genoss, sogar ungemein erotisch fand. Und doch stieß sie ihn mit einem Lachen zurück.

»Du stinkst wie ein Fuchs im Frühling. Hast du heute nicht geduscht? Schön, dass ihr diesmal verloren habt, oder wie soll ich das Ergebnis sonst verstehen? Was soll es auch? Die Meisterschaft hättet ihr sowieso nicht erreichen können. Und mir bleibt der Biergeruch erspart. Ab mit dir. Ich rufe Cleo rein.«

Während Rainer den beleidigten Ehemann spielte und lachend verschwand, drehte sich Vivi zum Fenster und beobachtete eine Weile den am Gartenzaun wartenden Rudi, der ständig in eine Richtung blickte und mit dem Schwanz wedelte. Vivi konnte sich die sie plötzlich überfallende Unruhe nicht erklären und legte den Kochlöffel beiseite. Sie verließ die Küche und riss die Haustür heftiger auf, als sie es gewohnt war. Etwas stimmt hier nicht! Der Gedanke verfestigte sich, bevor sie den Rasen betrat.

»Cleo – was soll das? Ich finde dich sowieso, auch wenn du dich noch so gut versteckt hast. Wir wollen essen und Papa ist schon gleich mit dem Duschen fertig. Komm jetzt bitte. Du kannst später weiterspielen. Und bring mir bitte Rudi mit rein, der am Zaun auf dich wartet.«

Nur zögernd wandte sie sich wieder um, ließ die Haustür einen Spalt offenstehen. Ablenkung entstand für Vivi, als sie die Stimme von Rainer aus dem Bad wahrnahm, der absolut unmelodiös Sound of Silence trällerte, dabei aber fast jeden Ton versemmelte. Wieder überzog ein Lächeln Vivis schöngeschnittenes Gesicht und sie vergaß für einen kurzen Moment ihr Problem mit Cleo. Erst als Rainer mit umgebundenem Badetuch und sich die Haare trockenrubbelnd in die Diele trat, erinnerte sie sich an dieses seltsame Gefühl tief im Inneren.

»Wo bleibt mein kleiner Spatz? Hast du sie nicht zum Essen gerufen? Soll ich ...?«

»Nein, nein, föhne dir die Haare trocken, ich kümmere mich in der Zeit um diesen kleinen Racker.«

Mit den Worten wandte sich Vivi wieder der Haustür zu.

»Jetzt reicht es aber, Cleo. Papa ist da und möchte, dass du mit uns isst. Das ist jetzt nicht mehr lustig und ich werde langsam böse, mein Schatz.«

Noch immer saß Rudi vor dem Zaun und starrte unentwegt in die gleiche Richtung. Selbst als sich Vivi näherte und ihm über den Kopf strich, änderte sich daran nichts. Vivi folgte seinem Blick, fand jedoch nichts, was sehenswert gewesen wäre außer dem Eingang zur abzweigenden Nebenstraße.

»Was in Gottes Namen siehst du da hinten. Da ist doch niemand. Suche Cleo und bringe sie mit ins Haus.«

Erst als Rudi den Namen der Spielkameradin vernahm, sah er kurz auf, blickte dann jedoch weiterhin zur Hausecke.

»Spinnt jetzt sogar der Hund? Was ist denn heute hier los?« Ihre Stimme klang jetzt energischer und um einiges lauter, als sie aus der Hocke hochkam. »Verdammt, Cleo, jetzt hört der Spaß aber mal auf. Wir wollen essen und meine Geduld ist am Ende. Heute Abend gehst du sofort in dein Zimmer. Das Vorlesen ist gestrichen.«

Vivi strich mit einer energischen Geste eine immer wieder einfallende Locke aus ihrer Stirn, die nun genau die Falten aufwies, die einen Wutanfall ankündigten. Das bemerkte auch Rainer, der in der Haustür auftauchte und die aufziehende Gefahr mit Sorge erkannte. Vivi war eine reizende Frau voller Liebe – doch nur so lange, bis man sie zu lange reizte. Das schien die kleine Maus, die sie beide über alles liebten, nun doch geschafft zu haben. Nur um Schlimmeres zu vermeiden, näherte sich Rainer schnell und nahm Vivi in den Arm.

»Sie hat dich sicher nicht gehört, Liebes. Geh ruhig rein und überlass die Suche des kleinen Ungeheuers einem geschulten Pfadfinder. Ich bring Rudi sofort mit.«

Rainer wartete noch ab, bis Vivi im Haus verschwunden war und duckte sich spielerisch ab, um sich auf die Suche zu machen. Er hatte eine Ahnung, wo sich die kleine versteckt haben könnte. Nur kurz hob er grüßend die Hand, als ihn der Blick des grinsenden Nachbarn verfolgte.

»Hier hinter dem Haus habe ich Cleo aber nicht bemerkt, Rainer. Ich war die ganze Zeit schon mit der Hecke beschäftigt und hätte sie bemerkt. Der kleine Racker hat sich bestimmt was Neues einfallen lassen. Viel Glück beim Suchen, Papa Rainer.«

Der Angesprochene erhob sich enttäuscht und bedankte sich mit einem höflichen Handgruß. Auch er konnte sich plötzlich nicht mehr eines seltsamen Gefühls erwehren. Sein Blick traf den von Rudi, der jedoch sofort wieder zur Hausecke starrte. Rainers zweiter Blick fiel auf das Gartentor, das normalerweise immer durch einen vorgeschobenen Riegel gesichert wurde, den die Kleine alleine nicht hätte öffnen können. Nun war dieser jedoch verschoben worden, sodass Cleo hätte auf die Straße gelangen können.

Verdammt, warum hat Vivi nur die Sicherung nicht vorgelegt. Jetzt muss ich das arme Kind in der Nachbarschaft suchen.

»Wo hast du meinen Schatz, Rainer? Hast du sie nicht gefunden in ihrem Versteck oder hast du dich mit ihr verbrüdert und ihr zwei wollt mich weiter ärgern?«

»Gieße bitte nicht noch Wasser auf die Mühle. Ich bin stinksauer, dass du den Riegel nicht vor das Tor geschoben hast. Jetzt kann ich mir das Essen erstmal abschminken und das Kind in der Nachbarschaft suchen.«

»Aber ich habe den Riegel nicht ...«

»Lass es gut sein, Vivi. Wer sonst soll von dem Riegel wissen und das Tor öffnen? Ich frage jetzt in den Nachbarhäusern nach, ob Cleo gesehen wurde oder sich sogar dort aufhält. Wir reden später darüber.« Als er bemerkte, dass sich Viviane den Mantel überwerfen wollte, hielt er sie mit einem härteren Griff als beabsichtigt am Arm zurück. »Das mache ich allein. Schließlich muss einer im Haus sein, wenn sie zurückkommt. Das ist sowas von ...«

Den Rest des Satzes schenkte er sich und verschwand mit hochrotem Kopf nach draußen.

»Rudi, komm mit, wir suchen deine Freundin. Mir ist der Appetit ordentlich vergangen für heute.«

2

Der Spielplatz an der Hobergstraße war wie immer gut besucht, leerte sich jedoch zusehends, als sich erste dunkle Wolken am Himmel zeigten. Die meisten Eltern riefen vorsorglich die Kinder zu den Bänken, an denen sie sich bisher über die Wundertaten und die Genialitäten ihrer Nachkommen ausgetauscht hatten. Verpackungen und leere Flaschen wanderten entweder in die Papierkörbe oder zurück in die Tiefen der mitgebrachten Proviantbeutel. Nachdem den Zöglingen der letzte Sand aus den Schuhen gekippt worden war, wurde es ein letztes Mal unruhig, da sich die Kinder von Freunden lauthals verabschiedeten. Stille kehrte dort ein, wo noch kurz zuvor enormes Gekreische an den Nerven derer gezehrt hatte, die eigentlich etwas Ruhe vom Alltag gesucht hatten. Solche Oasen waren hier im Stadtteil nur selten zu finden, da es die dichte Bebauung einfach nicht zuließ. Eine letzte Mutter, die sich an der zur Straße hingewandten Bank bisher dem Stricken gewidmet hatte, legte die Nadeln zur Seite und legte ihrem spielenden Sprössling die Hand auf die Schulter. Mit Zeichensprache machte sie dem Mädchen verständlich, dass sie jetzt wieder zurück nach Hause wollte. Mit einem Lächeln erwiderte das etwa sechsjährige Mädchen erstaunlich geübt die Handbewegung der Mutter. Nur noch der Junge mit der etwas ausgefransten Stoffhose stocherte weiter mit der Plastikschaufel in einem Sandhaufen, der kurze Zeit später doch wieder in sich zusammenfiel. Das hielt den etwa Achtjährigen mit dem kurzgeschnittenen Haar nicht davon ab, es erneut zu versuchen. Dass er dabei intensiv beobachtet wurde, bemerkte er nicht. Erst als ihn die leise Stimme direkt neben seinem Ohr erreichte, schrak er auf.

»Das machst du gut, Michael. Ich finde es gut, dass du nicht aufgibst. Du wirst bestimmt mal ein ganz tapferer Mann – ein Ingenieur, nein Held wirst du sein. Ich würde sagen ... ja, du wirst mal Feuerwehrmann. Wäre das was für dich? Oder möchtest du lieber Pilot oder Zugführer werden.«

Nach einem kurzen, prüfenden Blick antwortete der Junge spontan.

»Ich heiße nicht Michael. Mein Name ist Leon. Wie kommen Sie auf Michael?«

»Oh, ich dummer alter Mann, habe dich mit jemanden aus meiner Nachbarschaft verwechselt. Du musst mir das verzeihen. Aber Leon ist auch ein viel schönerer Name. Du bist also ein mutiger Löwe.«

»Wieso bin ich ein Löwe. Ich bin doch kein Tier.«

»Klug bist du auch noch. Ich habe dich unterschätzt. Aber Leon bedeutet nur so viel wie Löwe. Und ich muss zugeben, dass der Name ganz toll zu dir passt.« Der Fremde stellte befriedigt fest, wie das Lob bei dem Kleinen Wirkung zeigte. »Aber du hast mir noch nicht geantwortet. Was möchtest du einmal werden, wenn du noch größer geworden bist?«

Leon drückte die Schaufel noch einmal tief in den Sandberg und drehte sie mehrfach, während er über die Frage nachzudenken schien. Sein Blick war weiterhin auf seine Sandkuhle gerichtet, sodass er gar nicht bemerkte, dass sich der Fremde ebenfalls in den Sand gesetzt hatte und nun in Augenhöhe mit ihm sprach. Auch er hatte sich eine Harke gegriffen und zog sie wie beiläufig durch den Sand. Leon schien das zu gefallen, was er dadurch andeutete, indem er immer wieder neuen Sand dem erwachsenen Spielgefährten zuschaufelte. Erst als der Mann ihn fragend ansah, erinnerte sich Leon daran, dass er ihm eine Antwort schuldig war.

»Mein Papa war Polizist. Das will ich auch einmal werden. Der hatte eine Uniform und eine Pistole, wenn er im Dienst war.«

Der Stolz auf seinen Vater war spürbar, als Leon über ihn sprach. Das bemerkte der Fremde sofort, der stets bemüht war, die dicke Hornbrille wieder auf dem Nasenrücken zu richten. Mit der dann freiwerdenden Hand zog er den Kragen seines grauen Flanellmantels zusammen und es schien, als würde er frieren.

»Polizist, so so. Das ist ein wunderbarer Beruf. Aber warum sagst du, dass dein Vater Polizist war? Ist er das heute nicht mehr?«

»Papa ist gestorben. Das ist aber schon lange her. Da war ich noch klein. Aber die Mama hat das ganz schön traurig gemacht. Sie weint jede Nacht und sieht immer ganz müde aus, wenn sie morgens aufsteht und mich zur Schule begleitet. Dann geht sie arbeiten.«

»Das hört sich sehr traurig an, mein Freund. Oh Verzeihung. Ich habe dich gar nicht gefragt, ob ich das zu dir sagen darf. Bist du ... ich meine, sind wir Freunde? Ich habe nämlich auch meinen Papa verloren, als ich Kind war. Mein Papa war Soldat und kam aus dem Krieg nicht zurück.«

Völlig unvorbereitet hielt Leon dem Fremden die flache Hand entgegen, in die er zuvor hineingespuckt hatte. Schnell begriff der Fremde, dass er es ihm gleichtun musste, und spuckte ebenfalls in die Hand.

»Frank ... ich meine, ich heiße Frank und ich bin stolz darauf, einen so klugen neuen Freund wie dich zu haben. Alleine sein ist richtig doof.« Frank schlug ein und nahm hin, dass sich die Spucke in ihren Händen vermischte. Als sie sich lösten, wischte er die Hände, von Leon unbemerkt, an seinem Mantel ab. »Ich überlege gerade, wie wir unsere neue Freundschaft gebührend besiegeln und feiern könnten. Und bännng – mir ist dazu schon etwas eingefallen. Du sagtest, dass dein Papa eine Waffe im Dienst hatte. Hast du die jemals gesehen oder sogar in der Hand gehabt?«

»Natürlich nicht«, schoss es aus Leon förmlich heraus, »die durfte er nicht mit nach Hause mitbringen. Die muss vorher eingeschlossen werden. Weißt du sowas nicht, Frank? Das weiß doch jeder.«

Der Fremde, der sich Frank nannte, schlug mit der Hand vor die Stirn und ließ sich etwas nach hinten fallen. Leon lachte.

»Ich Riesenochse habe daran überhaupt nicht gedacht. Natürlich hast du recht. Siehst du, wie wertvoll es ist, einen klugen Freund zu haben? Aber dafür habe ich etwas für dich, was dir möglicherweise gefallen wird. Möchtest du ... ich meine, hättest du gerne mal so eine echte Waffe angefasst?«

Nun war der Augenblick gekommen, auf den Frank gewartet hatte. Das Leuchten in Leons Augen signalisierte ihm, dass das Thema gefiel und Leon sich dabei sogar wohlfühlte. Es waren zwei kurze Bewegungen, mit denen Frank näher an seinen neuen Freund heran rutschte und die Stimme auf ein Mindestmaß senkte.

»Du musst mir dein Indianerehrenwort geben, dass du niemandem – ich wiederhole – niemandem von unserem Geheimnis jemals erzählst. Es gibt einen bösen Geist auf dieser Welt, der alle diejenigen schlimm bestraft, die ihr Ehrenwort brechen. Nur wenn du es mir gibst, werde ich dir die Pistole zeigen. Und wenn du die einige Male in der Hand gehalten hast, darfst du vielleicht sogar damit auf eine Scheibe schießen. Aber auch nur dann. Hast du mich verstanden und versprichst mir das hoch und heilig?«

Bevor sich Frank versah, tauchte die kleine Hand des Jungen mit drei hochgestreckten Fingern vor seinem Gesicht auf.

»Ich schwöre, Frank. Großes Indianerehrenwort. Wann kann ich ...?«

»Langsam, mein Freund. Dazu müssen wir uns einen anderen Tag aussuchen. Wir treffen uns übermorgen an der Kreuzung zur Hillerstraße. Sagen wir um fünf Uhr am Nachmittag. Und ich wiederhole es nochmal: Niemand darf davon wissen. Auch deine Mama nicht. Es ist und bleibt unser Geheimnis.«

Mittlerweile hatte Leons Gesicht durch die Erregung eine leichtrote Färbung angenommen, was Frank sichtlich genoss, bevor er sich verabschiedete. Vorsorglich sah er sich nach Personen um, die ihn möglicherweise mit dem Kleinen gesehen haben könnten. Mit einem angeschmuddelten Taschentuch wischte er über die Brillengläser, was die Durchsicht lediglich verschlimmbesserte. Seine wenigen, teils lichten und fettigen Haare strich er mit der anderen Hand zurück und schob sich die Hornbrille zurecht. Die Augen wirkten plötzlich unnatürlich vergrößert, was natürlich auf den hohen Dioptrienwert seiner Gläser zurückzuführen war. Das Lächeln, das seine leicht wulstigen Lippen umspielte, ließ ihn trotzdem irgendwie sympathisch erscheinen. Der graue Flanellmantel, der scheinbar mindestens eine Konfektionsgröße zu groß ausfiel, wehte leicht im aufkommenden Wind, sodass er ihn eilig zuknöpfte. Als ob er fröre, zog er die Schultern zusammen und verschwand wie ein Schatten auf dem angrenzenden Weg. Das Netz war nun ausgelegt, der Fisch würde ihm nicht mehr entkommen. Er war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden.

3

Kommissar Wohlert steckte den Kopf durch die Tür und sah als Erste die Kollegin Mia Richter, die verzweifelt versuchte, das gestaute Papier aus dem Schacht des Kopierers zu entfernen. Jemand vor ihr hatte diese Misere verursacht und sich schleunigst davongemacht.

»Du wirkst etwas ungehalten, Kollegin. Frauen sollten ...«

»Sprich nicht aus, was du auf der Zunge hast, denn du stehst vor jemandem, der zu jeder Gewalttat bereit ist. Das konntest du früher tun, als du noch in der Drogenfahndung gearbeitet hast. Hier bei der Mordkommission droht dir akute Gefahr. Statt dumme Machosprüche abzulassen, solltest du mir lieber zur Hand gehen. Siehst du den kleinen Zipfel am rechten Rand der Walze? Wenn wir gleichzeitig am Papier ziehen, könnten wir es ...«

»Kein Problem, Mia«, unterbrach Dino Wohlert die Kollegin und griff zu. Mit dem gleichzeitig nahm er es nicht so genau, was dazu führte, dass er den Papierschnipsel bereits abgerissen hatte, bevor Mia das Kommando gegeben hatte. Der geplante Erfolg blieb aus, hatte jedoch ein gefährliches Aufstöhnen der Kollegin zur Folge. Dino wich geschickt, aber verlegen lachend zurück, bevor Mia nach ihm schlagen konnte.

»Ihr verdammten Kerle mit dem Talent, nicht zuzuhören und alles zu vermasseln. Mach dich vom Acker, du Nichtsnutz!« Kurz bevor sich Dino aus der Tür stehlen konnte, hielt ihn Mia zurück. »Weshalb bist du überhaupt gekommen? Das war doch nicht nur ein Zufall, dass du deinen Schlafplatz verlassen hast und rübergekommen bist.«

»Genau!« Dino schlug sich gespielt überrascht vor den Kopf, grinste dabei jedoch spitzbübisch. »Ich wollte dir, das heißt auch allen anderen, mitteilen, dass unten jemand steht, der sich nicht abwimmeln lässt. Der Mann gibt sich nicht damit zufrieden, dass man die Vermisstenmeldung bzgl. seines Kindes lediglich als Protokoll aufnimmt. Er besteht darauf, mit einer zuständigen Person in dem Haus zu sprechen. Und das seid nun einmal ihr, da ich momentan zwei wichtige Fälle in Bearbeitung habe.«

»Und du glaubst, dass wir uns währenddessen an den ...? Egal. Hast du den Mann denn wenigstens darüber aufgeklärt, wie die zeitlichen Abläufe bei Vermisstenanzeigen sind?«

»Selbstverständlich. Aber er lässt sich nicht abwimmeln.«

»Wie alt ist das Kind?«

»Er stammelt etwas von 5 Jahre. Ich kann mich aber auch irren.«

»Fünf, sagtest du? Bist du jetzt völlig verrückt. Da müssen wir sofort tätig werden. In diesem Alter verlässt kein Kind frustriert das Elternhaus. Im günstigsten Fall hat es sich verlaufen. Du hast doch selber Kinder, oder nicht? Was wäre bei dir los, wenn man dich bei der Polizei so abfertigen würde? Wo finde ich den Vater, du Banause?«

 

Rainer Traumer war leicht zwischen den drei Personen im Vorraum des Präsidiums herauszufinden. Er war der Mann mit dem hochroten Kopf, den er zwischen den Fäusten abgestützt hielt. Er sprang hoch, als Mia ihn vorsichtig ansprach.

»Sind Sie zuständig für meine ...?«

»Langsam, langsam. Kommen Sie erst einmal mit, damit wir uns in aller Ruhe unterhalten werden. Mein Name ist Kommissarin Mia Richter. Ich bringe Sie zu meiner Kollegin, Kommissarin Felten. Wir gemeinsam werden Ihre Tochter schon finden. Bleiben Sie ganz ruhig und kommen Sie mit ins Kommissariat.«

Leonie Felten hätte fast den Kaffee neben die Tasse geschüttet, als Mia ohne anzuklopfen, die Tür aufstieß und den großen, sportlich wirkenden Mann in den Raum schob. Die mittlerweile erfahrene Kommissarin spürte sofort, dass ihr ein größeres Problem serviert werden sollte. Mia klärte ihre Partnerin grob über die Sachlage auf und drückte währenddessen den Besucher in den Stuhl vor Leonies Schreibtisch. Als sie längst den Raum verlassen hatte, bemerkte Leonie deutlich das Zittern der Hände dieses doch so stattlichen Mannes.

»Auch einen Kaffee?«, begann sie vorsichtig die erste Annäherung. Ein schwaches Kopfschütteln ersetzte eine klare Antwort. Der Besucher wirkte fast abwesend und stierte fortwährend auf den Boden. Nun versuchte sie es mit Sachlichkeit und zog einen Schreibblock heran.

»Fangen wir mal mit den Formalitäten an. Wie ist Ihr Name, die Adresse und dann erzählen Sie mir mal alles – von Anfang an.«

Als hätte er nichts verstanden, fehlte erst einmal jegliche Reaktion, bis Leonie die leise gesprochenen Worte vernahm.

»Rainer Traumer. Wir wohnen in der Kapellstraße 4.«

»Wer ist wir, Herr Traumer?«

»Meine Frau Viviane und ...« Hier zögerte der Besucher einen Moment, bevor er es schließlich doch aussprach. »... meine Tochter Cleo. Die Kleine ... darum geht es ... sie ist verschwunden.«

Leonie wartete noch einen Augenblick, da sie glaubte, dass noch etwas von ihm kommen würde. Doch der Mann blieb still und griff in die Hosentasche. Mit einem bereits durchfeuchteten Taschentuch wischte er kraftlos über das Gesicht, das von Tränen benetzt war. Seine Schultern zuckten, als er sich wieder vorbeugte und stöhnte.

»Sie ist so ein gutes Kind. Ich verstehe es nicht, warum sie einfach verschwand. Man hat mir mein Kind genommen – das Beste auf dieser Welt. Sie wird nicht zurückkommen, das spüre ich. Man hat sie mir einfach so genommen. Was ist das für eine schreckliche Welt?«

Die Hand von Leonie legte sich auf die Schulter des Mannes, nachdem sie sich aus dem Stuhl erhoben und sich ihm genähert hatte. Ihr waren diese Reaktionen sehr vertraut, da schon häufiger Menschen vor ihr saßen, deren Kinder allerdings sehr oft wieder auftauchten. Leider ging es nicht immer so glimpflich aus und sie mussten nach langem Suchen hier und da den Eltern schlechte Nachrichten überbringen. Unfalltode waren in wenigen Fällen die Ursache, aber ebenso auch grausame Funde.

»Möchten Sie nicht doch einen Kaffee? Den habe ich erst gerade frisch aufgebrüht. Dann geht es Ihnen bestimmt wieder besser und wir können uns besser unterhalten.«

Nun stellte Leonie zufrieden fest, dass Rainer Traumer sogar zu ihr aufsah und nickte. Er nippte lediglich an dem Getränk und fuhr ohne weitere Aufforderung fort. Leonie unterbrach ihn vorerst nicht.

»... habe ich meine Frau Viviane angeschrien, weil sie den Riegel nicht vorgelegt hat. Das tut mir leid, denn das hat sie nicht vergessen. Ich habe ihr Unrecht getan. Das weiß ich nun, besser, ich bin davon überzeugt. Ich war nur so aufgewühlt und hatte Angst um mein Kind.«

»Gehen wir einmal davon aus, dass Ihre Frau das tatsächlich nicht vergessen hat und die Kleine das selbst nicht schaffen konnte. Welchen Schluss ziehen Sie daraus? Doch bevor Sie mir antworten, Herr Traumer, möchte ich wissen, ob es vorher einen Streit zwischen Cleo und Ihrer Frau gab. Könnte es sein, dass ihr eine Strafe angedroht wurde?«

Das Entsetzen in den Augen des Mannes, ließ Leonie daran zweifeln, ob sie die richtigen Worte gewählt hatte.

»Halten Sie uns für Monster, die ihr Kind unter Druck setzen und mit Bestrafung drohen? Das würde Vivi – ich nenne sie immer Vivi – niemals tun. Wir lieben unser Kind und versuchen, sie mit Fürsorge und Respekt zu erziehen. Dazu gehört keine Androhung von Gewalt.«

»Das habe ich damit auch nicht ausdrücken wollen«, beeilte sich Leonie, zu beschwichtigen. »Strafe kann viele verschiedene Gesichter haben und wird unterschiedlich bei den Betroffenen bewertet. Ich denke noch immer daran, wie sehr mir das in die Knochen fuhr, wenn meine Mutter mir damit drohte, dass ich Stubenarrest bekam. Ich weiß, dass man damit heute kaum ein Kind noch schocken könnte. Ganz im Gegenteil.«

Traumer schien beschwichtigt und gab die Verkrampfung seines Körpers auf. Doch die Sorge zeichnete sich deutlich in seinem Gesicht, besonders in den müden Augen ab.

»Ich habe die Zeiten notiert, wann Sie das Verschwinden bemerkt haben. Ich gehe davon aus, da Sie noch keine Nachricht seitens Ihrer Frau erhielten, dass Cleo bisher noch nicht wieder aufgetaucht ist. Daher werde ich jetzt die Suche einleiten. Schließlich sprechen wir hier über ein kleines Mädchen, das wir nicht hilflos da draußen belassen können. Außerdem wird es langsam dunkel, was die Suche noch eiliger macht. Ich werde ...«

Bevor Leonie diesen Satz zu Ende bringen konnte, öffnete sich die Tür und das Gesicht eines Mannes tauchte auf. Obwohl er einen Besucher bemerkte, kam er ganz herein und näherte sich. Sofort sprang Leonie Felten auf und kam ihrem Vorgesetzten entgegen. Nur einen Moment tuschelten die beiden, bevor sie auf Traumer zugingen.

»Ich möchte Ihnen meinen Chef, den Hauptkommissar Wiesner vorstellen. Ich habe ihn zumindest grob über das Geschehen informiert und er hat zugesagt, dass wir gemeinsam die Suche nach Cleo einleiten werden. Sie zeigen uns bitte auf der Karte ihr Haus, damit wir die Einsätze koordinieren können. Haben Sie zufällig ein Foto des Kindes dabei?«

Der angesprochene Vater griff zweimal daneben, bevor er endlich ein gefaltetes Foto aus der Tasche zog, das er liebevoll glattstrich und mit den Lippen berührte. Eine Träne, die auf das Bild tropfte, rieb er mit dem Ärmel seines Sakkos ab. Leicht ergriffen nahm ihm Leonie das Foto aus den Fingern und zeigte es Kai Wiesner, der kurz darauf verschwand. Verwundert blickte Traumer hinterher.

»Das bekommen Sie natürlich wieder, Herr Traumer. Wir scannen das ein und senden es an alle Stellen, die wir mit der Suche betrauen.«

Der Vater wirkte erleichtert und sank wieder zurück auf seinen Stuhl, als wollten ihn seine Beine nicht mehr tragen.

»Unten in der Wache sagte man mir, dass man sich etwas Zeit mit der Suche lassen würde, weil das vorgeschrieben ist. Es könnte sein, dass das Kind von selbst wieder auftauchen würde.«

»Haben Sie zu diesem Zeitpunkt schon das Alter der Kleinen erwähnt gehabt? Ich vermute, dass Sie da etwas falsch verstanden haben.«

»Nein. Dazu kam ich erst gar nicht. Ich war auch sehr wütend.«

»Sehen Sie, Herr Traumer. Der Kollege hat eigentlich richtig gehandelt, da es tatsächlich eine Wartezeit gibt. Bei Erwachsenen ist da schon eine gewisse Zeit von maximal vierundzwanzig Stunden bis zur Vermisstenmeldung angeraten, da eine Rückkehr in vielen Fällen stattfindet. Ausnahme besteht, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, wie zum Beispiel bei einer möglichen Entführung oder bei Suizidverdacht.«

»Aber Cleo ist ...«

»Darauf wollte ich jetzt zu sprechen kommen. Bei Minderjährigen unter achtzehn Jahren gehen wir sofort von den genannten Gefahren aus und leiten die Fahndung ein. Zuständig ist die örtliche Dienststelle. Sofort werden die Daten von vermissten Personen in das Informationssystem der Polizei, ich meine damit INPOL eingegeben, sodass die Daten und das Foto jeder Polizeidienststelle vorliegen. Sollte das Ausland als möglichen Verbleib ins Spiel kommen, wird ein Ersuchen um Mitfahndung über das BKA an die Interpol, beziehungsweise Sirene-Dienststellen gerichtet. Das nur zu Ihrer Information. In Ihrem Fall wird jetzt durch uns eine Suche mit den Hundertschaften gestartet. Wir gehen davon aus, dass Sie bereits alle Freunde und bekannte Adressen abgefragt haben. Ist es so?«

Sein Nicken ersetzte eine Antwort. Auf Leonie wirkte der Mann vor ihr mit der Verarbeitung der gerade gelieferten Infos komplett überfordert. Sie war sich nicht einmal klar darüber, ob das Ganze bei ihm angekommen war. Mit Sorge verfolgte sie dessen Bemühen, seinen Parka über das Sakko zu ziehen. Prompt folgte seine Bemerkung.

»Wann starten wir? Ich bin fertig.«

Wieder lag Leonies Hand beruhigend auf der Schulter des Vaters.

»Hören Sie mir jetzt gut zu, Herr Traumer. Ab hier übernehmen wir die Suche. Sie fahren wieder zurück zu Ihrer Frau, die sich sicher ebenfalls Sorgen macht und Sie warten gemeinsam auf unsere Nachrichten. Ihre Frau braucht Sie jetzt. Außerdem könnte Cleo jederzeit wieder auftauchen. Sie unterrichten uns dann sofort darüber. Jemand muss im Haus sein, wenn Ihr Schatz zurückkommt.«

»Aber ich muss ...«

»Nichts müssen Sie, Herr Traumer. Lassen Sie die Profis ran. Wir wissen, was wir tun und wie wir die Suche gestalten. Wenn Ihre Tochter sich in der Nähe des Hauses befindet, finden wir sie bestimmt.«

Fast hätte Sie die Floskel benutzt, dass sie ihm das versprechen würde, was allerdings strengstens untersagt war. Falsche Hoffnung schüren oder sogar Versprechen abzugeben, hatte nur zur Folge, dass die Enttäuschung noch viel größer sein würde, falls der Fall der Fälle eintreten würde.

4

Die Hillerstraße war umsäumt von alten, teilweise verlassenen Fabrikgebäuden, in denen kaum noch produziert wurde. Zumeist waren dort Warenlager eingerichtet worden, während die restlichen Gebäude allmählich verfielen. Folglich war dort kaum ein Mensch vorzufinden. Die untergehende Sonne ließ sich hinter einer tiefhängenden Wolkendecke nur noch erahnen, wobei leichter Sprühregen die Straße in ein noch trüberes Licht tauchte. Die viel zu dünne Jacke schützte Leon kaum gegen die einsetzende Kälte und hinderte die Feuchtigkeit nur wenig daran, bis zur Haut des Jungen durchzudringen. Ungeduldig glitt sein Blick immer wieder in Richtung des Gehweges, von wo er seinen neuen Freund Frank vermutete. Heftig schrak er zusammen, als sich plötzlich ein Schatten neben ihm aufbaute, ihn sogar ansprach.

»Du hast dich viel zu dünn angezogen, mein Freund. Du wirst dich noch erkälten. Eine dickere Jacke wäre sicherlich angebrachter gewesen. Oh mein Gott, du zitterst ja sogar.«

Einen halben Schritt wich Leon zurück, als Frank eine Hälfte seines Mantels um den Jungen legte. Er spürte sofort eine wohlige Wärme, gleichzeitig zog aber auch der Geruch eines billigen Aftershave in seine Nase. Frank strich über Leons Gesicht und zeigte sein bestes Lächeln.

»Heute bin ich einmal Sankt Martin und teile mit dir meinen Mantel. Das macht man so unter Freunden.«

Franks Augen suchten die nähere Umgebung ab und überzeugten ihn davon, dass bisher niemand von ihnen Notiz genommen hat. Er wusste, dass sich nur sehr selten Menschen in diese trostlose Ecke der Stadt verirrten.

»Lass uns hier abhauen und zu meinem Versteck gehen. Doch vorher muss ich noch von dir wissen, ob du irgendjemandem von uns erzählt hast – auch nicht deiner Mutter?«

Statt einer Antwort hielt Leon wie zum Schwur seine zarte Hand hoch. Fast vorwurfsvoll sah er zu Frank hoch.

»Ist ja gut ... ist ja gut«, spielte Frank ihm den reuigen Partner vor, »war nur eine Frage, um uns beide zu schützen. Wir können gehen. Es ist schon da drüben.«

Mit einer Hand wies Frank auf eine dunkle Einfahrt, die schon zur Hälfte mit Distelbüschen zugewachsen war. Ein klares Indiz dafür, dass dort schon lange kein Fahrzeug mehr eingefahren war. Tief gebückt marschierte dieses ungleiche Pärchen in diese Richtung. Immer wieder strich sich Leon die nassen Strähnen aus dem Gesicht und suchte unter dem Mantel des neuen Freundes Schutz. Frank überragte Leon nur um maximal dreißig Zentimeter, da die Natur bei ihm in der Pubertätsphase plötzlich das Wachsen blockierte. Immer hatte er darunter zu leiden, was in der Schule massiv in Mobbing ausartete. Er begann Mitschüler und später sogar Mitmenschen dafür zu hassen. Doch das konnte er gekonnt überspielen, indem er den hilfsbereiten, immer ansprechbaren Nachbarn vorspielte. Als Schwimmlehrer verehrten ihn die Schüler und sogar die Eltern überhäuften ihn mit Lob. Sein Leben hatte sich seit der Jugendzeit gravierend verändert und er war recht zufrieden damit.

»Ist es noch weit? Mir ist fürchterlich kalt.«, stöhnte Leon, dessen Zittern sich nun doch verstärkt hatte.

»Siehst du den kleinen Busch dort hinten? Einmal rechts ab und du wirst aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Ich habe es uns beiden extra gemütlich gemacht, du wirst sehen.«

Kaum hatten sie den besagten Busch erreicht, blieb Leon irritiert stehen und musste von Frank mit leichter Gewalt weitergeschoben werden. Es war die Matratze, die ihn in diesem kleinen Raum störte, wo nur noch das halbe Dach sie vor dem nun stärker werdenden Regen schützte. Das Plätschern des herabfallenden Wassers war das einzige Geräusch, das Leon noch bewusst wahrnahm. Sein Zittern verstärkte sich, was er selbst nicht bewusst erklären konnte. Er fand keinen logischen Grund, warum sich plötzlich Angst in ihm auszubreiten versuchte. Sie flog ihn an wie ein böses Monster, das ihn verschlingen wollte. Seine mageren Arme pressten sich gegen den Körper seines neuen Freundes, der ihn jedoch mit sicherem Griff festhielt.

»Ich will ... Frank, lass mich bitte los ... ich will wieder nach Hause. Die Pistole ... ich will deine Pistole nicht sehen. Bring mich bitte wieder zurück.«

Frank nahm den schmächtigen Jungen fest in seine Arme und drückte ihn an seinen Leib.

»Psssst, mein tapferer Freund. Was ist geschehen? Dir hat doch niemand wehgetan. Ich beschütze dich vor allem, was dir Angst macht.«

Immer wieder fuhr seine Hand über das nasse Haar des jetzt weinenden Jungen. Leon konnte den starken Armen des Freundes nichts entgegenhalten. Er wurde unerbittlich gegen den Bauch des Mannes gepresst und hatte Mühe, ausreichend Sauerstoff einzuatmen. Als seine Kraft nachließ, gab er seinen Widerstand zum Schein auf und hoffte darauf, eine Gelegenheit zur Flucht zu finden, sobald ihn der Mann, der zuvor noch sein Freund war, loslassen würde. Tatsächlich verringerte Frank den Druck und schob Leon Richtung Matratze.

»Du hast keinen Grund, dich zu fürchten. Ich lasse nicht zu, dass dir ein Leid geschieht. Setz dich, damit ich die Pistole holen kann. Die habe ich gut versteckt, weil es verboten ist, eine Waffe zu besitzen. Aber was erzähle ich dir da. Du weißt das ja viel besser als ich, weil dein Papa ja ein Polizist war. Bleibe einen Moment dort sitzen. Hinter dem losen Stein dort habe ich sie versteckt.«

Die Stimme des Jungen wurde nun nicht nur von der Kälte, sondern zusätzlich von seiner Angst gelähmt. Seine Glieder wollten einfach nicht mehr gehorchen, sodass er befürchtete, sein Vorhaben der Flucht nicht durchführen zu können. Frank schien seine Gedanken lesen zu können, was sein unergründliches Lächeln ausdrücken könnte. Während er sich einer halbzerstörten Ziegelwand näherte, ließ er Leon nicht einen Moment aus den Augen. Diese besaßen nun nicht mehr die gewohnte Freundlichkeit, sondern strahlten eine angsteinflößende Härte aus. Seine Bewegungen besaßen nun etwas Katzenhaftes und Bedrohliches, was die Angst in Leon noch verstärkte. Mit weitaufgerissenen Augen verfolgte der Junge, was hinter dem vorstehenden Stein zum Vorschein kommen würde. Zentimeter für Zentimeter lockerte sich dieser Stein, der für Leon, ohne dass er es sich erklären konnte, ein Höllentor öffnen würde. Franks Hand griff tief in diese dunkle Öffnung, während die glänzenden Augen voller Vorfreude auf den zusammengekauert dasitzenden Jungen gerichtet waren. Als würde es ihm eine diebische Freude bereiten, zog er die Hand wieder zurück. Leon konnte, bedingt durch seinen immer dichter werdenden Tränenfilm, nicht erkennen, was Frank nun hinter seinem Rücken versteckt hielt. Die Furcht vor dem, was er bald sehen würde, schnürte ihm die Kehle zu. Schritt für Schritt näherte sich Frank wie ein bedrohendes Ungeheuer, das sich jeden Moment auf sein Opfer stürzen wollte. Es durchfuhr Leon wie ein Blitz, als der Freund ihm eine Pistole vor das Gesicht hielt. Wie ein unsichtbarer Mantel fiel die überwältigende Angst von ihm ab und machte einem erlösenden Stöhnen Platz.

»Siehst du, mein Freund? Ich halte, was ich verspreche.«

»Du hast mir ganz viel Angst eingejagt. Mach das bitte nicht nochmal. Ich glaube, ich habe mir vor Angst in die Hosen gemacht. Wenn ich zurück bin, wird Mama ganz bestimmt schimpfen und ich bekomme Stubenarrest.«

»Das macht sie bestimmt nicht, Leon. Du hast sicher eine liebe Mama. Zieh die Hose doch einfach einen Moment aus und lege sie auf die Matratze zum Trocknen. Wir sind hier unter Männern und niemand wird das stören. Wenn wir fertig sind, ist dein Höschen bestimmt wieder fast trocken. Dann können wir ja gleich anfangen mit dem Schießunterricht.«

»Nein, das mache ich nicht. Ich schäme mich.« Leon streckte die Hand aus und überging den Vorschlag des Freundes. »Kann ich die Pistole auch mal halten?«

»Stell dich nicht an wie ein Baby, Leon. Dir wird niemand etwas weggucken. Mach schon. Vorher bekommst du die Pistole nicht. Außerdem riecht deine Pipi schon etwas. Wir könnten die Hosen auswaschen, damit deine Mama nichts merkt.«

»Nein, nein, nein ... ich will jetzt wieder nach Hause. Die doofe Pistole kannst du behalten. Die schießt ja sowieso nicht richtig und ist bestimmt nicht echt. Und wenn du mich nicht gehen lässt, sage ich meiner Mama, dass du mir Angst gemacht hast. So.«

Stolz erhob sich Leon, da er glaubte, es dem falschen Freund mal so richtig gezeigt zu haben. Noch immer stand er auf wackligen Beinen und versuchte, Halt und Sicherheit zurückzuerlangen. Ihn hätte die Veränderung in Franks Gesicht warnen sollen, dessen Ausdruck nun eine beängstigende Wandlung durchmachte. Zum ersten Mal bemerkte Leon, wie gelb diese Zahnreihen wirklich waren, da Frank sie nun offen zeigte. Die Zunge glitt wie der einer züngelnden Schlange darüber hin und her, was ihm etwas Dämonisches verlieh. Unwillkürlich machte Leon einen Schritt nach hinten und stolperte prompt über die Matratze. Rücklings fiel er auf den feuchten Stoff und spürte Sekunden später die weichen Hände des nun fremden Mannes an seinem Körper.

5

»Na, das ist ja mal eine Überraschung. Dass das meine alten Augen noch erleben dürfen.

---ENDE DER LESEPROBE---