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Hauptkommissar Johannes Thom, wegen seiner Vorliebe für Cowboystiefel von allen nur Johnny genannt, versieht seinen Dienst bei der Kripo im Präsidium in Gelsenkirchen-Buer der 1980er Jahre. Nun bringt ihn der Fall des alten Taubenvatters Theo Kampinski an die Stätte seiner Jugend zurück. Denn Theo ist für Johnny kein Unbekannter! Seit frühester Jugend kannte er den Mann, als Nachbarn in der Auguststraße. Und nun liegt dieser mit einem Messer in der Brust auf dem Boden des Taubenschlages vor ihm. Aber warum bringt jemand den alten Theo um? Und was hat es mit dem arroganten Kollegen aus Düsselsdorf auf sich?
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Seitenzahl: 266
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Rainer W. Grimm‘s wurde 1964 in Gelsenkirchen / Nordrhein -Westfalen, als zweiter Sohn, in eine Bergmannsfamilie geboren und lebt auch heute noch mit seiner Familie und seinen beiden Katzen im längst wieder ergrünten Ruhrgebiet. Mit fünfunddreißig Jahren entdeckte der gelernte Handwerker seine Liebe zur Schriftstellerei. Als unabhängiger Autor veröffentlicht er seitdem seine historischen Geschichten und Romane, die meist von den Wikingern erzählen, sowie auch Science-Fiction Romane und die Krimis von Hauptkommissar Johnny Thom.
DER TOTE IM TAUBENSCHLAG
1. Nette Überraschung
2. Die Leiche in der Taubenkacke
3. Das Mädchen mit dem grünen Haar
4. Neuigkeiten von Früher
5. Ein neuer Verdächtiger
6. Manchmal kommt es anders…
HEIßE STUDENTIN
1. Der Brand
2. Zufälle gibt’s
3. Das Bermudadreieck
4. Ein neuer Zeuge
5. Der falsche Manni
BELLA NAPOLI
1. Kaltenbergs Geheimnis
2. Ein Transit nach dem anderen
3. Von einer Bringschuld
4. Die Drohung
5. Guiseppes Vergeltung
Ein heller, markdurchdringender Summton zerschnitt plötzlich die Stille des Raumes und drang über die Ohren, bis in die letzte Gehirnwindung vor.
Sonnenstrahlen zwängten sich durch die Schlitze der tiefroten Fenstervorhänge und tauchten den Raum in ein rötliches Licht. Langsam schälte sich eine Hand unter der geblümten Bettdecke hervor, und suchte nach dem Ausschaltknopf dieses nervtötenden Gerätes. Doch statt der erhofften Ruhe, plärrten nun die Bangles „Just another Manic Monday“ aus dem Radiowecker. „Boah, halt die Schnauze Susanna!“, raunzte es unter dem Federbett hervor.
„Ich hab doch gar nix gesacht“, kam die genuschelte Antwort einer hellen Stimme. Der Schläfer öffnete erschrocken seine Augen, warf die Decke zurück und richtete sich auf. Er sah auf den nackten Körper, der an seiner Seite in dem Bett lag, und fuhr sich dann mit der Hand über das stoppelige Kinn. Ohne Zweifel gehörten die üppigen Rundungen zu einer jungen Frau. Doch die Haarfarbe und auch die Ausmaße der Brüste, erweckten größte Zweifel daran, dass diese Frau seine Dauerverlobte Anja war. Also, wenn diese sich die dunklen Haare nicht ohne sein Wissen am gestrigen Tag blond gefärbt hatte, und wenn ihre Möpse nicht durch ein Wunder auf das doppelte Volumen angewachsen waren, was er wohl eher für unwahrscheinlich hielt, dann konnte die Anwesenheit dieser jungen Frau in seinem Bett nur auf eine große Dummheit hindeuten. Mit den Fingern fuhr er sich durch das zerzauste schulterlange Haar und stupste die Frau neben sich vorsichtig an.
„Nich schon wieder! Lass mich endlich schlafen.“ Die Hand der jungen Frau griff nach der Bettdecke und zog diese über den Körper, bis nur noch ein Büschel Haare hervor lugte.
„Nee, nix mehr schlafen!“ Johnny zog die Bettdecke zurück.
Er besah sich die junge Frau noch einmal ganz genau, und zog seine Augenbrauen hoch. Was er sah, war nicht zu verachten. „Sach ma, wer bist du eigentlich?“ Nun wandte sich die Verschlafene doch dem Fragenden zu. „Du bis mir ja ein Kavalier? Erst vögelste mir fast datt Hirn raus und kannst die ganze Nacht den Hals nich voll kriegen. Und jetzt frachse mich, wer ich bin! Watt bin ich für dich? Ne Nutte?“
Die junge Frau war sichtlich empört. Langsam kam nun bei Johnny die Erinnerung zurück, allerdings nur die delikaten Details. Das wie und auch das warum, blieben im Dunkel seines Tully-Ginger-Rausches verborgen. Man hätte durchaus denken können, dass Johnny ein Jack Daniels Typ wäre, doch das war er mitnichten. Johnny mochte weder Bier besonders gerne, noch war er ein Bourbon Fan. Er war ein Cocktailtyp, was man ihm aber überhaupt nicht ansah.
Sein bevorzugtes Getränk war der Tully-Ginger! Dies war nämlich Johnnys Lieblingsdrink. Tullamore Dew, ein irischer Whiskey, mit Eis, Limonenstücken und Ginger Ale.
Immer noch lagen seine Augen auf dem schönen, nackten Körper, und seine Gedanken wühlten sich durch die Windungen seines Hirns, in der Hoffnung den Namen der Gespielin wiederzufinden.
„Susie?“, versuchte er einen Probeschuss, denn so sehr er sich auch anstrengte, er hatte nicht die geringste Ahnung wer das Mädchen war. Und Susanne war ein geläufiger Name und kam sehr oft vor. In einem Rudel von zehn Mädchen, war immer mindestens eine Susi dabei. Die Chance auf einen Treffer hielt Johnny also für ziemlich hoch.
Das große Fussballturnier seines Kreisliga-Vereins am Wochenende hatte es in sich gehabt. Dafür hatte Johnny extra frei genommen. Besonders die Feier danach, war nichts für Weicheier! Den zweiten Platz hatten sie gemacht, und es dann ordentlich Krachen lassen. Schon auf dem Platz hatte Johnny einige Bierchen gekippt, denn er spielte ja nicht mit. Diese Zeiten waren vorbei!
Und am Abend ging dann der große Bierstiefel rum. Ein zwei Liter Glas in Form eines Stiefels, aus dem das Trinken, gar nicht so leicht war ohne zu gluckern. Und wer dann gluckerte, zahlte den nächsten Stiefel. So war es Gesetz!
Natürlich fand noch so manch anderes Getränk an diesem Tag den Weg durch Johnnys Kehle. Was sich nun als Fehler herausstellte. Denn dieses Mädchen war ohne Frage ein Mitbringsel des gestrigen Abends in der Vereinskneipe.
Jetzt sprang die Bettbekanntschaft verärgert aus den Federn.
„Blödmann! Bine! Sa-bine, heiß ich“, sagte sie, und ging mit wippenden Brüsten aus dem Zimmer, um im Bad zu verschwinden. Und es gab reichlich zum wippen, wie Johnny zugeben musste. „Echt nette Titten“, grunzte er, und sah ihr mit leerem Blick nach. Dann schüttelte er seinen Kopf. „Mann, bisse Panne?“, grunzte er leise, und hätte sich am liebsten geohrfeigt.
„Mist! Ich hab einen totalen Black out“, rief er Sabine nach.
Die Spülung der Toilette rauschte, und die Tür öffnete sich.
„Du wars auch ganz schön voll, ey!“ Mit einem Satz war sie wieder im Bett, und wollte sich an ihn schmiegen. „Ich hatte ganz schön zu asten, um dich nach Hause zu kriegen. Mann, bis ich ersma raus hatte, wo du wohns, datt hat gedauert.“
Ihren Ärger hatte sie scheinbar mit im Klo abgespült, denn sie schien gegen Morgensex nichts einzuwenden zu haben.
„Eigentlich müsste ich ja sauer sein, aber was soll’s?
Komm, mein Süßer! Geht doch nix übern anständigen Morgenfick!“
Da schoss Johnny hoch, sah auf den Wecker und verließ eilig das Bett. „Bisse noch ganz frisch? Heut ist Montach und ich hätte schon vor einer Stunde im Präsidium sein müssen!“
„Wie Präsidium? Sach bloß du biss‘n Bulle?“
„Ja! Abba wie et scheint kein besonders disziplinierter.“
„Echt jetz? Ein richtiger Bulle?“ Bine konnte es kaum glauben.
„ Und?“
„Krass! Bist der erste Bulle den ich kennen lerne, der so säuft“, antwortete Bine. „Und ich lande auch gleich mit ihm inner Pofe!“ Sie schüttelte vergnügt den Kopf.
„Ja, passiert“, grunzte Johnny unfreundlich, und war jetzt über seine Eroberung nur noch mäßig begeistert. „Und jetzt mach hinne, ich muss echt los!“
Er griff nach seiner Unterhose und der Jeans, wandte sich Bine zu, und sagte dann recht unfreundlich: „Wenn ich aus dem Bad komme, bisse wech!“ Dann verschwand er in besagtem gekachelten Nebenraum und schloss die Tür hinter sich.
„Bulle oder nich! Du biss echt ein Arsch!“, rief Bine ihm nach, sammelte dann eilig ihre Klamotten zusammen, zog T-Shirt und Mini an, griff nach ihren Pumps, und stürmte aus der Zweizimmerwohnung in den kalten Hausflur.
Umständlich hatte Bine ihre Schuhe angezogen und wäre dabei fast lang hingeschlagen. Lauthals fluchte sie: „Das ist der beste Fick nicht wert! Echt ey!“ Dann machte sie sich schnellen Schrittes auf den Weg nach unten, denn von diesem Ort wollte sie so schnell wie möglich weg. Sie lief über den breiten Gang zum Treppenhaus, und erkannte, dass der Fahrstuhl nicht funktionierte. Ihr entfuhr ein kurzer Wutschrei, und dann lief sie eilig die Treppen hinunter.
Als sie den zweiten Stock des Hochhauses erreichte, Johnnys Wohnung war im vierten, kam ihr eine junge Frau entgegen mit der sie fast zusammenstieß. „Hey, langsam“, rief die Dunkelhaarige, die etwa gleichen Alters wie Bine war. „Pass doch auf wo du hintrittst!“
„Sorry“, mumelte Bine ohne anzuhalten, und hastete die Treppen hinunter. „Billiges Parfüm!“, murmelte die Dunkelhaarige, und schüttelte ihren Kopf.
Johnny hatte sich rasiert und gewaschen. Jetzt saß er auf der Kante seines Bettes und schlüpfte gerade in seine braunen Cowboystiefel, als jemand einen Schlüssel in die Wohnungstür steckte, und diese sich einen Augenblick später öffnete. Die junge Frau aus dem Hausflur trat in die Wohnung. Johnny horchte auf.
Da trat die junge Frau auch schon in das Wohnzimmer, von wo aus man in das Schlafzimmer blicken konnte. „Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht, als sie Johnny auf der Kante des zerwühlten Bettes sitzen sah. „Ich wohn hier“, brummte der unfreundlich. „Solltest du eigentlich wissen. Und watt wills du hier, Anni?“
„Ich dachte ich überrasch dich ma, und räum deine Bude auf!“ Plötzlich sah sie Johnny streng an, schnupperte wie ein Karnickel in den Raum, und rümpfte die Nase. „Sach ma, hattest du Damenbesuch? Das is ja ein scheußliches Parfüm!
Stinkt wie so’n billiges Nuttendiesel!“
Plötzlich schrillte das orangefarbene Telefon, ein Überbleibsel aus den Siebzigern, vom Vormieter in der Wohnung zurückgelassen, das auf dem Tischchen neben dem Bett stand. Johnny nahm den Hörer ab und war eigentlich ganz froh über diese Rettung in letzter Minute, die ihm erstmal eine Antwort ersparte.
„Wo zum Teufel stecken sie?“, dröhnte es aus dem Hörer.
„Es wäre nett, wenn auch sie sich mal im Büro blicken lassen würden!“ Johnny erschrak ein wenig, und nahm den Hörer vom Ohr. Er wartete einen Moment, und sprach dann in die Muschel.
„Hab verpennt!“
Während er telefonierte, begann Anja sich nun umzusehen, wühlte mit immer zorniger werdendem Blick durch das Bettzeug, und wurde dummerweise auch fündig. Mit zwei Fingern zog sie einen schwarzen Spitzen-BH unter dem Kopfkissen hervor. „Sach ma, spinnst du?“ Wenn Blicke hätten töten können, wäre Johnny genau in diesem Moment, wie einst Christopher Lee als Dracula, zu Staub zerfallen.
Doch er war immer noch mit dem Telefongespräch beschäftigt, und fuchtelte nur abwehrend mit dem Arm.
„Sie haben in der letzten Woche schon zweimal verschlafen, aber das ist ja allein ihr Problem“, plärrte der neue Kollege aus dem Hörer, so dass Anja problemlos jedes Wort mithören konnte. Eigentlich war Johnny gar nicht der Typ, der sich von irgendjemand zur Schnecke machen ließ. Aber der heutige Tag bildete mal eine Ausnahme. Sein Kopf brummte noch, und das Geschrei des Kollegen machte dies nicht besser. In seinen Gedanken suchte Johnny bereits nach einer Kopfschmerztablette. Wo hatte er die Dinger, wenn er welche hatte? Wahrscheinlich im Bad!
In dem Alibert, dachte er. Na klar, im Alibert! Gedanklich durchwühlte er bereits den Spiegelschrank über dem Waschbecken, welcher auf den Namen Alibert hörte. So wie wohl alle Brüder und Schwestern dieses Spiegelschrankes nach dem Namen des Urvaters der Spiegelschränke benannt wurden.
„Wir haben eine Leiche“, sprach die Stimme aus dem Hörer.
„Tatort ist in der Auguststraße. Ich treffe sie vor Ort! Und ein bisschen Beeilung, wenn ich bitten darf.“
„Auguststraße?“
„Ja, haben sie was an den Ohren?“ Es klickte, und das Gespräch war beendet. Was bildet sich der Affe ein, dachte Johnny und legte auf. Ein Neuer der sich als Boss aufspielte, so einer kam Johnny gerade recht.
Mit erhobenem Arm, an dessen Ende immer noch der schwarze Spitzen-BH baumelte, stand Anja vor dem Bett.
„Kannst du mir mal verraten, was das ist“, pflaumte sie ihren Verlobten an.
„Äh… dein BH?“
„Willst du mich verarschen? Du weißt ganz genau, dass ich so einen BH nicht besitze. Du kennst meine Unterwäsche doch genau“, schnauzte Anja ihn verärgert an. „ Außerdem passen da meine Möpse beide in ein Körbchen!“
„Ja ja, is ja gut“, gab Johnny zu. „Ich habe jetz keine Zeit.
Du hass doch gehört, dass wir einen Fall haben. Da muss ich hin.“
„Oh, so kommst du mir nicht weg, mein Freund.“ Anja fuchtelte mit dem fremden BH herum. „Der gehört der kleinen Schlampe, die mich im Hausflur fast umgerannt hat.
Ich hab doch das Parfüm gerochen.“ Anja war nun außer sich. „Sag bloß noch, du hast mit der gepennt?“, schrie sie Johnny nun wütend an. „Na klar hasse“, gab sie sich selbst die Antwort. „Ihr billiges Parfüm hat ja die ganze Bude vollgestinkert!“
„Nun rech dich ma nich so auf“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Ich soll mich nich aufregen? Du vögels hier inner Weltgeschichte rum, und ich soll mich nicht aufregen?“ Ihre Stimme wurde immer schriller.
„Anni, et tut mir leid“, versuchte sich Johnny zu entschuldigen. „Ich war total blau und weiß von nix mehr!
Gestern war doch datt Turnier.“
„Du glaubst doch nich, dass du dich damit rausreden kannst?“, rief sie wütend, warf ihm den BH ins Gesicht und rannte heulend aus der Wohnung. Johnny sah ihr nach und grunzte nur: „Da geht’se hin!“
In ihrem momentanen Zustand, war mit Anja sowieso nicht zu reden, dass wusste er. Also beließ er es erstmal bei dem Streit, und hoffte, dass sie sich irgendwann beruhigen würde. Dass die Geschichte für ihn noch längst nicht ausgestanden war, konnte sich Johnny natürlich denken. Da kannte er seine Anja zu gut. So eine Nummer hatte garantioert noch ein Nachspiel!
Aber jetzt konnte er erstmal durchatmen. Allerdings waren seine Gedanken bei der schönen Anja, denn diese tat ihm wirklich leid. Das hatte sie nicht verdient, und eigentlich war ihr Johnny auch immer treu gewesen.
Anja Gerhalt war fünfundzwanzig Jahre alt, und somit ganze sechs Jahre jünger als Johnny. Sie studierte im siebten Semester Maschinenbau, und lebte noch bei ihren Eltern.
Diese waren ziemlich wohlhabend, und mit dem Verhältnis zu dem Polizisten überhaupt nicht glücklich. Als Tochter eines Unternehmers gehörte Anja eigentlich einer anderen Gesellschaftsschicht an, wie die Gerhalts fanden. Doch sie hatte sich nunmal in Johnny Thom verliebt, als dieser ihr in einer der zahlreichen Gelsenkirchener Diskotheken über den Weg gelaufen war. Allerdings hatte sie es bisher noch nie in Betracht gezogen, bei Johnny einzuziehen. Und genau darüber machte sie sich nun Gedanken. Vielleicht war sie ja mit Schuld an dem was Geschehen war. Als sie sich im letzten Jahr verlobten, hatte Johnny sie gebeten bei ihm einzuziehen. Doch Anja hatte die Antwort bis heute hinausgezögert, denn es hatte natürlich Vorteile, wenn man die Tochter reicher Eltern war. Johnny hatte irgendwann aufgehört danach zu fragen, und so blieb alles beim Alten.
Und auch wenn ihr der Gedanke nicht gefiel, musste sie sich eingestehen, wenn sie mit Johnny zusammen wohnen würde, wäre die Sache mit dem fremden Weib nicht geschehen.
*
Johnny’s Wohnung lag im gleichen Stadtteil von Gelsenkirchen, wie der Tatort. Das Zechenviertel um die Auguststraße war allerdings im unteren, südlichen Bereich, während das Hochhaus in dem Johnny wohnte, im oberen, nördlichen Teil des Stadtviertels stand.
Auch hier gab es natürlich noch Zechenhäuser, und das Hochhaus war auch das einzige modernere, hohe Gebäude in der Straße, während alle anderen Häuser meist zweistöckige Zechenhäuser waren, die sich nun in Privatbesitz befanden. Irgendwie sah das schon merkwürdig aus, mit den alten Zechenhäusern und dem einen Hochhaus.
Seit mehr als zehn Jahren lebte er nun in diesem Haus, und war mit seiner Zweizimmerwohnung durchaus zufrieden.
Natürlich tat es ihm leid, was vorgefallen war, schließlich war er schon fast drei Jahre mit der hübschen Anja liiert.
Aber ungeschehen konnte er die letzte Nacht nicht machen, und außerdem ließ sein momentaner Zustand wirklich nur bedingt vernünftige Gedankengänge zu. Und da hatte auch die morgendliche Waschung mit eiskaltem Wasser, nichts dran ändern können. Nur der pelzige Belag auf seiner Zunge, war nach dem Zähneputzen endlich verschwunden.
Irgendwie lief der frühe Morgen an ihm vorbei, wie ein schlechter Film. Musste wohl noch am Restalkohol liegen, dachte er, erhob sich und ging zu dem kleinen Sideboard, neben der Wohnungstür. Hier stand eine hölzerne Schale in die er seine Schlüssel legte, damit er nicht nach ihnen suchen musste, wenn er die Wohnung verlassen wollte.
Leider funktionierte das auch nicht immer, denn er vergaß nur zu oft seine Schlüssel in die Schale zu legen. Was dann natürlich wieder eine Suchaktion nach sich zog.
In diesem Sideboard, hinter der rechten Tür, war ein kleiner Safe eingebaut, in dem er normalerweise Waffe und Munition verstaute. Normalerweise!
Der Ärger mit Anja, der dicke Kopp vom Whiskey, all das war ihm plötzlich völlig egal, denn Johnny stand mit weichen Knien vor dem leeren Safe. „Mist!“, entfuhr es ihm. „Wo ist die Scheiß Knarre?“
Eigentlich trugen die Beamten ja eine Vollautomatik vom Typ Walther, aber Johnny bevorzugte einen Revolver Kaliber 38 von Smith & Wesson. Hatte ihn einiges an Überredungskunst gekostet, bis der Alte die „Extrawurst“ genehmigte, wie der Chef das nannte. Lieber wäre Johnny ja ein 45er Colt gewesen. Aber das war dann doch zuviel „John Wayne“ und seine Kollegen verarschten ihn sowieso schon zur Genüge.
„Im Spind auf der Wache“, schoss es ihm durch den Kopf.
„Ja klar, die kann doch nur im Präsidium sein.“ Er versuchte sich daran zu entsinnen, ob er die Knarre am Samstagabend vielleicht wirklich in den Spind gelegt hatte. Aber irgendwie wollte sich die Erinnerung noch nicht so richtig einstellen.
Jetzt war jedenfalls keine Zeit mehr um zu suchen, er griff nach seiner braunen, verschlissenen Lederjacke, die irgendwie ein bisschen nach diesem modernen Antikdesign aussah, das jetzt so „in“ war, und die an dem Haken über dem Sideboard hing. Da rummste es, und die Smith & Wesson knallte auf den Boden. Johnny erschrak zuerst, und dann fiel ihm ein Stein vom Herzen, der in etwa genau so laut rummste, wie der Revolver. „Da bisse ja, blödes Ding!
Hast mir echt’nen Riesenschreck eingejagd!“ Er hob die Waffe auf, die in dem schwarzen Lederholster steckte, und befestigte diesen mit dem Klipp auf der linken Seite an seinem Gürtel, griff nach dem Schlüssel in der Schale, und verließ die Wohnung. Aus dem Radiowecker tönte „Take on me“ von A-ha.
Momentan außer Betrieb, stand auf dem Zettel der an der Fahrstuhltür befestigt war. Mit der Faust schlug Johnny gegen die Wand. „Dieses Scheißding is ja immer noch kaputt!“, brüllte er durch den Flur. Verärgert ging er, leise irgendwelche Flüche vor sich her murmelnd, die dem Hausmeister die Pest an den Hals wünschten, zum Treppenhaus und machte sich auf den langen Weg aus dem vierten Stock nach unten.
Als er die große Glastür geöffnet hatte und aus der Kühle des Treppenhauses hinaus trat, schlug ihm die Wärme eines schönen Sommermorgens entgegen.
Der graue Betonplattenweg führte über mehrere Treppen auf den großen Parkplatz, der für die Bewohner des Hochhauses gedacht war. Aber es gab immer wieder Streit in der Nachbarschaft, da auch andere Straßenbewohner die Parkplätze oft und gerne nutzten. Heute Morgen aber, war der Parkplatz leer!
Nur ein Fahrzeug stand darauf, im Schatten einer großen Eiche. Johnny’s BMW 2002tii! Er liebte dieses alte Fahrzeug! Vielleicht sogar mehr als Anni. Er war sein erstes und bisher auch einziges gewesen. Gekauft von seinem Gehalt als er die Polizeischule besuchte, und er hegte den Baujahr 1972er wie seinen Augapfel.
Damals, als er ihn bekam, war der Nullzwo in dem für diese Baureihe üblichen Gelb lackiert! Pissgelb, wie Johnny zu sagen pflegte. Kurze Zeit später erstrahlte der Wagen dann in einem schönen Weinrot, und diese Farbe war bis heute geblieben. „Na, mein Alter“, sagte er und legte seine Hand auf das warme Dach. Diese Begrüßung war Johnny zur Gewohnheit geworden und es gab nicht wenige, die sich darüber Lustig machten. Er schloss die Tür auf und drehte die Scheibe runter, zog die Jacke aus und warf sie auf die Rückbank. Dann nahm er Platz und startete den Motor, der sanft schnurrte, wie ein verliebtes Kätzchen. Das alte Blaupunkt sprang an, und Bob Geldof sang „I don’t like Mondays“.
Er fuhr, vorbei an den zum Teil hässlich verputzten alten Zechenhäusern, bis er auf die Hauptverkehrsstraße kam, die vom nördlich gelegenen Stadtteil Buer, durch den Stadtteil Erle nach Süden führte und auf der angeblich schon der olle Napoleon mit seinen Truppen von Russland nach Hause marschiert war. Dabei sollte der französische Kaiser sogar im Schloß Berge übernachtet haben.
Heute war die Crangerstraße Hauptverkehrsader und Geschäftsstraße. Das Herz des Stadtteils Erle!
Vorbei an der Post und auch der evangelischen Kirche, in der Johnny seine Konfirmation erlebt hatte und die er nur den Dom nannte, fuhr er die Straße hinunter in Richtung Forsthaus, dem letzten Gebäude der Ortschaft. Dieses Haus sollte irgendwann in grauer Vorzeit wohl tatsächlich mal die Behausung eines Forstbeamten gewesen sein. Heute aber beherbergte das Gebäude eine von vielen Erler Kneipen.
Noch bevor Johnny dieses markante Gebäude erreichte, bog der weinrote BMW nach rechts ab, in die Auguststraße, die auf der Hauptstraße mündete.
Zweistöckige rote Backsteinhäuser reihten sich, auf beiden Seiten der schnurgeraden Straße, nur durch Hofeinfahrten unterbrochen, aneinander. Die Auguststraße gehörte einst zu der alten Zechensiedlung des Bergwerks Bismarck, welches aber längst nicht mehr existierte.
Diese Gegend kannte Johnny gut, denn hier war er aufgewachsen, hatte auf den Höfen mit seinen Freunden gespielt, und in dem letzten Haus, am Ende der Straße wohnten immer noch seine Eltern. Von weitem sah er schon die grün-weißen Fahrzeuge seiner Kollegen von der Streifenpolizei am Straßenrand stehen. In der Einfahrt stand ein dunkler Ford Transit der Gerichtsmedizin Essen und er stellte seinen BMW dahinter ab.
Auf dem Hof mit dem dunklen Erdboden herrschte reges Treiben. Uniformierte waren damit beschäftigt die schaulustigen Nachbarn zurückzuhalten oder zu befragen.
Immer wieder flammte das Blitzlicht eines Fotografen der örtlichen Zeitung auf, der versuchte ein reißerisches Foto für sein Blatt zu schießen, oder den Beamten einige Details des Verbrechens zu entlocken. Auf dem Hof standen parallel zu den Häusern die Ställe, aus den gleichen roten Backsteinen gemauert und etwa genau so breit wie die Zechenhäuser.
Sechs Türen hatten die flachen Bauten, für jede Mieteinheit des Hauses ein Stall. Früher mal, wurden die Ställe von einem Schwein oder von Ziegen bewohnt. Heute hielt natürlich keiner mehr eine eigene Sau. Die gab es ja beim Fleischer ordentlich portioniert zu kaufen. Allerdings hielten manche noch Karnickel oder Tauben in den Ställen, und genau vor so einem Stall standen die Beamten. Über der Tür in dem flachen Satteldach mit den schwarzen Dachpfannen, waren die Einflugöffnungen für die Vögel, wenn sie in den Taubenschlag zurückkehrten. Johnny hob das gelbe Absperrband und trat heran.
„Moin Kollege“, grüßte einer der Uniformierten, doch Johnny Thom hörte nicht hin und ging geradewegs in den Stall. Beleidigt ging der junge Uniformierte weiter. Auch Johnny hatte bei dem „Trachtenverein“ angefangen, aber wer mit Kojak und den Straßen von San Francisco aufgewachsen ist, den zieht es zur Kripo. Das war zumindest immer sein Ziel gewesen!
In einem Maschendrahtverschlag in dem die Vögel gehalten wurden und an dessen Wänden die Regale mit den Brutboxen standen, lag ein älterer Mann. Es roch übel, und das nicht nur nach Taubenkacke, die den Boden reichlich bedeckte, so dass es Johnny gleich wieder schlecht wurde.
Ein Mann in einem weißen Einweg-Overall war über den Toten gebeugt, und als er den jungen Hauptkommissar bemerkte wandte er sich diesem zu. „Moin, Johnny!“
Fast alle Kollegen vom Revier und eigentlich auch alle Leute mit denen er zu tun hatte, nannten ihn Johnny, als Anspielung auf seinen Revolver und seine Vorliebe für Cowboystiefel. So war aus Johannes irgendwann Johnny geworden.
„Moin Pedder!“
„Ich vermute mal, der dürfte dir nicht unbekannt sein. Du kommst doch von hier“, sagte der Mediziner und erhob sich.
Nun erkannte Johnny den Mann, der da mit einem Messer in der Brust in der Taubenkacke lag. „Is datt etwa Opa Theo?“
„Opa Theo?“ Der Pathologe konnte natürlich nicht wissen, wen Johnny damit meinte.
„Theo Kampinski! Ehemaliger Bergmann.“ Johnny beugte sich über den Leichnam um sich zu vergewissern. „Als Blagen haben wir von ihm immer Bonbons bekommen.
Aber wenn wir ihn und seine Tauben geärgert haben, gab’s auch ma nen Tritt in Arsch!“ Johnny schüttelte den Kopf.
„Kannste schon watt sagen?“
„Willste wissen wie er gestorben is?“, witzelte der Pathologe. „Tatzeit, und all den anderen Kram, Blödmann!“
Irgendwie war Johnny nicht nach Witzchen zumute, dafür hatte er den alten Theo zu sehr gemocht. Der Mann war schließlich ein Teil seiner eigenen Jugend gewesen. Und nun lag er tot in der Taubenkacke. „Tja, so plusminus 10 Stunden, würde ich sagen“, antwortete Dr. med Peter Lorenz.
„Datt wäre ja gestern gegen 23 Uhr gewesen. Was hat der Theo um die Uhrzeit im Taubenschlach gemacht?“ Johnny griff in eine der Brutboxen, und nahm einen der Vögel fachmännisch in seine Hand. Vorsichtig streichelte er der Taube über das Gefieder. Und das Tier begann zu gurren.
„Warum bringt einer den alten Taubenvatter um?“
„Naja, das ist ja euer Job, es rauszufinden“, sagte der Pathologe. „Allerdings kann ich dir sagen, dass dies höchstwahrscheinlich nicht der Tatort ist. Aber ich denke, da wird dir die Spusi dann mehr zu sagen können. Ich bin jedenfalls hier fertig. Kann er weg?“
„Ja, kann er! Wir erwarten dann ihre Ergebnisse!“ Die Stimme kam von der Tür und Johnny wandte sich um. Dort stand sein neuer Kollege und Partner Hauptkommissar Bulle!
Der Mann in dem weißen Overall sah Johnny fragend an und dieser nickte zustimmend. Da schlängelte er sich an dem Hauptkommissar vorbei zur Tür. „Bis dann, Johnny!“
„Jau, mach gut, Quincy!“
Klaus Bulle war ein Anfang-Vierziger und kam vor einigen Wochen aus Düsseldorf in das Präsidium nach Buer. Warum sich jemand aus der Landeshauptstadt nach Gelsenkirchen versetzen ließ, war Johnny ein echtes Rätsel, und so benahm sich Bulle auch. Rätselhaft!
Er sprach nur wenig, und wenn dann nur rein Dienstliches.
Den Kollegen gegenüber verhielt er sich ziemlich arrogant und sprühte nicht gerade vor Freundlichkeit. Und auch der alte Polizeirat Kaltenberg hatte nichts über den neuen Kollegen rausgelassen!
Johnny war es egal! Er wollte sowieso keinen Partner, und einen wie den, schon gar nicht. Klaus Bulle war ihm zu überheblich, zu aalglatt, und er spielte sich zu sehr als Chef in den Mittelpunkt. Alles nichts für Johnny Thom!
Und überhaupt, was ging ihn dieser Kerl überhaupt an?
Obwohl man ja schon gern wüsste, mit wem man da zusammenarbeiten muss.
„Ihnen ist der Mann bekannt, Kollege Thom?“, fragte Bulle mit regungslosem Gesicht. Johnny nickte. „Ja, ich kenne ihn. Er wohnt hier in dem Haus. Und datt schon so lange ich mich erinnern kann.“ Klaus Bulle zog fragend seine Brauen hoch.
„Ach so, können se ja nich wissen. Ich bin hier aufgewachsen. Meine Eltern wohnen heut noch in dieser Straße“, er nickte mit dem Kopf in die Richtung, in der das Haus der Eltern stand. „Das erklärt natürlich einiges“, sagte Bulle herablassend, drehte sich um und verließ den Taubenschlag. Johnny Thom sah ihm verärgert hinterher, und atmete tief ein. Was in dem Gestank ein Fehler war, wie Johnny schnell feststellte.
Zwei Männer von der Gerichtsmedizin kamen und verpackten den Toten, um ihn in das Institut zur Obduktion zu bringen. Nun trat auch Johnny auf den Hof hinaus und hörte gerade noch wie eine ältere Frau zu seinem Kollegen, der einen kleinen Ringblock und einen Stift in seinen Händen hielt, sagte: „Ihnen sach ich ga nix, sie Schnösel!“
„Na, Frau Zepaniak, wie geht et denn?“, sprach er die Frau an. „Ach, der Johannes“, flötete sie, und das sie dem kleinen Johnny nicht noch in die Wange kniff, grenzte an ein Wunder. „Dem hier sach ich gar nix! So ein unfreundlicher Kerl!“ Sie zeigte mit dem Finger über ihre Schulter.
„Na, hören sie mal Frau…, ich kann sie auch ins Präsidium vorladen“, beschwerte sich der Hauptkommissar und war sichtlich eingeschnappt. „Ich denke, datt wird nich nötich sein, Kollege. Ich mach datt schon!“
Johnny schob sich an Kollege Bulle vorbei und hob das gelbe Flatterband hoch, um darunter durchzuschlüpfen. Er hakte sich bei Frau Zepaniak ein und ging mit ihr von den Schaulustigen weg. „Komm se, Frau Zepaniak, wir gehen ma ein Stück!“
Sofort liefen einige der neugierigen Kinder neben ihnen her, aber Johnny scheuchte sie weg. „Blöder Bulle“, schnauzte einer der Bengel, da wandte sich Johnny seinem Kollegen zu und rief: „Kollege der meint dich!“
Aber Hauptkommissar Bulle hatte zum Glück kein Wort verstanden, und sah nur fragend herüber.
„Jetzt sagen se ma, hamm se watt gesehen, Frau Zepaniak?“,
fragte Johnny die ältere Dame, die er schon so lange kannte, und wie er es geahnt hatte, sagte sie: „Du weiß ja, datt der Theo über mir wohnt… äh, gewohnt hat, und darum hab ich datt ja immer gehört, wenn er die Treppe runter kam. In die letzten Tage isser immer spät abends in runter seinen Taubenschlach gegangen. Datt hatt er sonst nie gemacht.“
„Und hamm’se da ma watt gesehen. Hatt er da Besuch gehabt oder so?“
„Ich bin ja nich neugierich, Johannes“, empörte sich die alte Dame. „Aber datt Licht aussem Stall hat immer in mein Wohnzimmer rein gescheint und darum hab ich aufn Hof rausgekuckt.“
Nee, neugierig bisse nich Frau Zepaniak, du wills nur nix verpassen, dachte Johnny und begann zu grinsen.
Er erinnerte sich daran, wie diese Frau, die immer in ihrem Küchenfenster gelegen hatte, ihn und die anderen Kinder bei den Eltern verpetzte, wenn sie mal Mist gebaut hatten. Oder wenn sie auch nur zu laut waren, beim Fußballspielen auf der Straße. Aber diesmal kam ihm die Neugier der alten Frau ganz Recht. „Da kam tatsächlich einer. So’n Großen“, sagte sie und machte ein nachdenkliches Gesicht. „Zweimal hab ich den gesehen!“
„Und wie sah der aus?“, fragte Johnny. „Hamm se irgendwatt erkannt, watt für uns wichtich sein könnte?“
„Jungchen, datt war doch dunkel!“ Frau Zepaniak schüttelte ihren Kopf mit dem zum Dutt verknoteten, grauen Haaren und sah den Polizisten dabei an, als wäre dieser nicht ganz richtig im Kopf. „Hm, schade!“ Irgendwie hatte sich der Kommissar mehr von der wissensdurstigen Nachbarin erhofft. „Na ja“, holte die Frau noch mal aus. „Also, viel mehr kann ich dir da auch nich sagen. Groß war er. Viel größer als Theo! Und der war nich mehr der Jüngste. Hatte fast schon ne Glatze, datt hab ich gesehen!“
Da musste Johnny wieder grinsen. Das bedeutete bei ihr also, nichts gesehen zu haben. „Hatte er vielleicht einen Bart?“, fragte Johnny, um der Frau ein bisschen auf die Sprünge zu helfen.
„Nee hatte der nich. Aber der truch jedes Mal so ein Holzfällerhemd. Weisse, so ein mit große Karos!“
„Na sehen se, Frau Zepaniak! Datt is doch schon watt!“
Langsam machte er mit der Frau an seinem Arm eine Kehrtwende, denn sie hatten das Ende des Hofes fast erreicht.
„Ich hab schon die ganzen Tage darüber nachgedacht, woher ich den Kerl kenne“, sagte Frau Zepaniak plötzlich und so ganz nebenbei. „Wie jetz? Kennen? Sagen se bloß sie haben den schon ma gesehen?“ Jetzt war Johnny platt.
„Ja, ich bin mir sicher“, sagte die Nachbarin und nickte.
„Aber ich weiß nich mehr wo. Muss schon länger her sein!“
„Mann, Mann, Frau Zepaniak, da würdense mir abba richtich helfen, wennse sich an den erinnern würden!“
„Ach Junge, datt alte Gehirn funktioniert nich mehr so schnell. Und die Augen auch nich. Abba wenn mir watt einfällt, sach dir datt“, versprach die Frau und wandte sich ab, um ins Haus zu gehen. „Getz muss ich abba ma rein, mein Morle hat bestimmt schon Hunger.“
*
Grübelnd saß Johnny an seinem Schreibtisch, die Augen auf die weiße Klapptafel gerichtet, die in der Ecke des Büros stand und auf die er Bilder des Toten, des Tatwerkzeuges und des Tatortes gepint waren. Aus dem Kassettenradio, das auf der Fensterbank stand, tönte Nenas „Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann“. Er hatte seinen Schreibkram bereits erledigt und wollte jetzt eigentlich Feierabend machen. Da wurde die Tür geöffnet und Klaus Bulle trat herein. In der Hand einen Becher dampfenden Kaffee, den er auf seinen Schreibtisch stellte, der dem Johnnys gegenüber stand. „Ach ja, son Kaffee wäre jetzt nich schlecht“, bemerkte Johnny, da sein neuer Kollege ihn beim Kaffee holen wohl vergessen hatte. Natürlich konnte er sich seinen eigenen Kaffee kochen, denn auf der Fensterbank standen eine Kaffeemaschine, ein Paket Filter und eine verschließbare Dose mit Pulverkaffee. Und sein Kaffee war bei weitem besser, als der aus dem Automaten, der unten im Flur stand.
Doch nur um zu erleben, wie Klaus Bulle einen Kaffee ausgab, hätte er die Miege aus dem Automaten getrunken.