Der Skalde - Rainer W. Grimm - E-Book

Der Skalde E-Book

Rainer W. Grimm

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Beschreibung

Nachdem die Grafen ihre Jagd auf die letzten Asentreuen eröffnet haben und ihre Schergen brandschatzend durch die Dörfer und Wälder zwischen Aller, Emscher und Ruhr ziehen, ist Bran, der Sohn des Schmiedes in dem kleinen Dorf Buira, schon bald gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Als Seemann in Diensten eines friesischen Kaufmannes gerät er während eines Überfalls in die Hände umherziehender Wikinger und wird als Sklave in das vom dänischen König Harald besetzte Norwegen gebracht. Nun Eigentum des Schmiedes Askold, ergeht es ihm dort jedoch gut, und er entdeckt seine Fähigkeiten in der Kunst des Dichtens. Da wird der Jarl des Gaus auf Bran, der nun den Namen Rune trägt, aufmerksam. Dieser holt den Sachsen als Skalden auf seinen Hof, und er erkennt schnell, dass der junge Bursche noch ein größeres Talent besitzt, als das des Dichtens. Bald schon muss sich Rune als Mörder verdingen und dem Jarl unliebsame Widersacher vom Halse schaffen. Doch die Liebe zu der Tochter des Jarls und sein Drang danach, ein freier Mann zu werden, zerstreuen schnell all seine Bedenken. Und so beginnt für den jungen Sachsen ein abenteuerliches Leben als Skalde in den Ländern von Thule.

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Nachdem die Grafen ihre Jagd auf die letzten Asentreuen eröffnet haben und ihre Schergen brandschatzend durch die Dörfer und Wälder zwischen Aller, Emscher und Ruhr ziehen, ist Bran, der Sohn des Schmiedes in dem kleinen Dorf Buira schon bald gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Als Seemann in Diensten eines friesischen Kaufmannes gerät er während eines Überfalls in die Hände umherziehender Wikinger und wird als Sklave in das vom dänischen König Harald besetzte Norwegen gebracht. Nun Eigentum des Schmiedes Askold, ergeht es ihm dort jedoch gut, und er entdeckt seine Fähigkeiten in der Kunst des Dichtens. Da wird der Jarl des Gaus auf Bran, der nun den Namen Rune trägt, aufmerksam. Dieser holt den Sachsen als Skalden auf seinen Hof, und er erkennt schnell, dass der junge Bursche noch ein größeres Talent besitzt als das des Dichtens. Bald schon muss sich Rune als Mörder verdingen und dem Jarl unliebsame Widersacher vom Halse schaffen. Doch die Liebe zu der Tochter des Jarls und sein Drang danach, ein freier Mann zu werden, zerstreuen schnell all seine Bedenken. Und so beginnt für den jungen Sachsen ein abenteuerliches Leben als Skalde in den Ländern von Thule.

Rainer W. Grimm wurde 1964 in Gelsenkirchen geboren und lebt auch heute noch mit seiner Familie und seinen beiden Katzen im Ruhrgebiet. Erst mit fünfunddreißig Jahren entdeckte der gelernte Handwerker die Liebe zur Schriftstellerei, und es gelang ihm, ohne die Hilfe eines großen Verlages sein erstes Buch zu veröffentlichen. Mit den beiden Bänden der Saga von Sigurd Svensson sowie den drei Bänden der Saga von Erik Sigurdsson erschien seine große Wikingersaga. Des Weiteren veröffentlichte der Autor den Roman „Pakt der Barbaren“ und bisher drei Bände der Kurzgeschichtensammlung „Wikingerwelten“

Inhaltsverzeichnis

Düstere Wolken

Von Verrat und Tod

Der Weg nach Norden

Der Sklave Rune

Schwertkampf und Liebesspiel

Ein neuer Herr

Pfaffenmord

Dem Tode entronnen

Die Thorleifsson-Brüder

Ein dunkler Plan

Runes Wut

Siegmars verhängnisvoller Fehler

Eine böse Überraschung

Von den Göttern verlassen

...

Flucht und Hoffnung

Kampf in Haithabu

.

Wieder vereint

Von Lust und Streit

Historischer Hintergrund

Im Sommer des Jahres 782 n. Chr. hatte Carolus Magnus, der Frankenkönig Karl, den man nicht nur wegen seiner stattlichen Erscheinung den Großen nannte, das Land der Sachsen unterworfen, wie er glaubte.

Die christlichen Priester und die Kriegsknechte des Franken bekehrten das Volk der Sachsen mit Feuer und Schwert zum Glauben an den einen Gott. Wer sich der Taufe verweigerte, starb!

Auf dem Reichstag zu Lippspringe hatte Karl strenge Gesetze über das Volk der Sachsen beschlossen und seine Grafen als Vögte im ganzen Land eingesetzt, die er zur Umsetzung der Gesetze verpflichtete, und die mit harter Hand dafür Sorge trugen, das sich die Menschen wirklich dem neuen Glauben unterwarfen.

Doch der Widerstand des asentreuen1 Volkes an den Ufern zwischen Ruhr und Weser war beileibe noch nicht gebrochen, und so gelang es dem Sachsenfürsten Widukind im Herbst des gleichen Jahres, ein Heer des Franken vernichtend zu schlagen. Doch die Rache des Frankenkönigs ließ nicht lange auf sich warten.

Die Grafen schickten ihre Schergen aus und trieben die Männer aus den Dörfern und Städten zusammen.

Dazu kamen die gefangenen Sachsen, die sich in großer Zahl in der Hand des gnadenlosen Feldherrn und Frankenkönigs befanden.

In einem Lager am Ufer des Flusses Elera2, wollte Karl dem Widukind zeigen, dass die Sachsen keine Wahl hatten und ihnen nichts anderes als die Unterwerfung übrig blieb.

Blutrot färbte sich der Strom nahe der Stadt Veern3. Karl der Große hatte viel sächsisches Volk bei Androhung von Gewalt an diesen Ort gerufen, denn sie sollten Zeugen seiner Rache werden und die Kunde von dem, was geschehen würde, in das ganze Land tragen, - in die Städte, Dörfer und an die Kultstätten mit den heiligen Bäumen tief in den dichten, sächsischen Wäldern.

Nach und nach führten die fränkischen Kriegsknechte die Gefangenen über einen breiten Kiesstrand hinunter in die Fluten der Elera. Dort standen die Krieger mit ihren scharfgeschliffenen Schwertern in einer langen Reihe bis zu den Knien im kalten Wasser. Man führte die Sachsen aus dem Gefolge des Widukind vor die Scharfrichter, sie mussten sich in die Fluten niederlassen, und das eisige Wasser reichte ihnen bis zur Brust. Dann fielen die Köpfe, und die Körper trieben mit der Strömung fort.

Den Anführer des heidnischen Sachsenheeres hatten die Franken nicht in ihre Gewalt gebracht, denn der Sachsenfürst war in den Norden in das Reich der Dänen geflüchtet.

Es sprach sich schnell im Land herum, dass mehr als viertausendfünfhundert Menschen an dem Tage im Herbst ihr Leben lassen mussten, geschlachtet von den Schergen des Frankenkönigs. Im Namen ihres Gottes!

Den Kampfeswillen der heidnischen Sachsen hatte Karl mit dieser Tat aber nicht gebrochen.

Schon im Frühjahr des folgenden Jahres war Widukind mit seinem Gefolge aus dem Norden in die dichten Wälder seiner Heimat zurückgekehrt, und er ließ keine Zeit verstreichen, um ein neues Heer um sich zu scharen. Doch der Fürst musste erkennen, dass die Zahl derer, die bereit waren, sich ihm anzuschließen, geringer war als bei seinen Feldzügen zuvor. Es schien ihm, als trüge die christliche Saat des Franken erste Früchte.

Im Schatten einer riesigen, alten Esche opferten die Sachsen dem Wodan4 und seinem Sohn Donar5, um für einen Sieg über den verhassten Feind zu bitten. Doch die Ohren der Götter blieben verschlossen, und den Fürsten der Sachsen sollte das Heil verlassen!

Entgegen seiner bisherigen Kampfesweise, kleinen Stichen gleich mit überfallartigen Angriffen den Feind zu schwächen, forderte Widukind seinen Widersacher nun zu einer offenen Feldschlacht heraus. Und im Sommer des Jahres 784 n. Chr. trafen die Heere in der Nähe von Theotmalli6 aufeinander. Nun aber zeigte sich die militärische Überlegenheit des christlichen Heeres, das dem der Sachsen schwere Verluste zufügte.

Viele Männer zogen an diesem Tage in Walhalla, der Halle der toten Krieger ein, um an der Tafel Wodans auf den Tag der Götterdämmerung zu warten.

Und wieder musste Widukind vor den Franken fliehen.

Doch der Sachse blieb nicht untätig, und es gelang ihm, die an der Küste ansässigen östlichen Friesenstämme auf seine Seite zu ziehen. Karl der Große aber ahnte was kommen würde, und um dem Sachsenfürsten zuvorzukommen, schickte er seine Truppen in den Kampf. In einem Sommer- und einem Winterfeldzug wollte er den Widukind und seine Krieger zermürben. Ihm die Luft zum Atmen nehmen!

Als das Frühjahr kam, war die Streitmacht der Sachsen und Friesen besiegt. Die überlebenden Krieger hatten sich in die dichten Wälder zurückgezogen und waren dann auf ihre Höfe und in die Dörfer heimgekehrt.

Sie waren des Kämpfens überdrüssig, denn sie sahen, dass Wodan ihnen ihr Heil in der Schlacht genommen hatte. So ließen sie sich taufen - und mit ihnen ihre Sippen und Knechtschaft.

Die Priester schrieben das Jahr 785 n. Chr., da unterwarf sich auch Widukind dem Frankenkönig Karl und empfing die Taufe. Dieser war darüber so erfreut, dass er die Gesetze für die Sachsen abschwächte und den Papst in Rom um einen dreitägigen Dankgottesdienst bat.

Der Christenkönig war größter Hoffnung, die Sachsen nun endgültig besiegt zu haben. Doch er sollte sich täuschen!

Denn seine Gebeine lagen längst entfleischt und bleich im kühlen Grab, da gab es in den Wäldern des Sachsenlandes immer noch Menschen, die heimlich den Asen ihre Opfer darbrachten.

*

1 Asen – Germanisches Göttergeschlecht mit Wodan/Odin als oberstem Gott

2 Elera - Aller

3 Veern - Verden

4 Wodan/Odin – Oberster Gott der germanischen Mythologie, Gott der Dichtkunst, der Runen., der Ekstase, Gott der Weisheit und des Wissens, opferte ein Auge für einen Schluck aus dem Brunnen der Weisheit

5 Donar/ Thor – Der Donnergott, Gott der Bauern und Beschützer männlicher Kinder

6 Theotmalli - Detmold

1

Düstere Wolken

Stille herrschte in dem großen, aus Stein und Holz erbauten Gebäude, an dessen Wänden das Leben des Gottessohnes Jesus Christus in bunten Bildern dargestellt war. Auf einer steinernen Empore stand vor einem großen, aus Eichenholz geschreinerten Altar ein Mann, dessen schütteres Haar zu dem für christliche Mönche typischen Haarkranz geschnitten war. Obwohl der in eine braune Kutte aus grobem Wollstoff gekleidete Mann in seiner Erscheinung nicht besonders beeindruckend schien, er war klein und auch dick, so war doch seine Stimme umso gewaltiger.

Keiner der Anwesenden wagte es zu sprechen oder auch nur zu hüsteln. Alle starrten gebannt auf den Mann, der vor ihnen auf einer Empore stand, und über dessen Kopf ein großes, hölzernes Kreuz hing. Und der nun, nachdem er seine Predigt beendet hatte, mit dunkler Stimme wüste Beschimpfungen über die Menschen dieser Gemeinde ausschüttete.

„Ein jeder von euch soll im Fegefeuer Luzifers brennen!“, rief der Mönch böse aus und hob beschwörend seine Arme.

„Glaubt ihr etwa, ich weiß es nicht, dass es immer noch übles Heidenpack unter euch gibt? Kerle und Weiber, die des Nachts ihren Teufeln Wodan und Donar Opfer darbringen? Vielleicht sitzen ja sogar einige hier vor mir?“ Betreten sahen die Gläubigen den Mann in der Kutte an, einige senkten sofort ihren Blick.

Wie an den meisten Sonntagen waren die Menschen aus der ganzen Gegend in die Kirchen und Kapellen gekommen, um die Predigten der angereisten Mönche und Priester aus der Abtei Werden, einem Kloster an den Ufern des Flusses Ruhr, zu hören. Kaum einer wagte es, sich der Anordnung des Grafen Herimann von Lochtropgau7, dem neuen Vogt des Landes, den Gottesdiensten beizuwohnen, nicht nachzukommen.

„Doch glaubt mir, ihr Heiden werdet der gerechten Strafe des Herrn nicht entgehen. Die Grafen werden euch noch Mores lehren! Seid euch dessen gewiss, und seid auch gewarnt, ihr Ungläubigen! Nun gehet in Frieden!“

Unbemerkt von dem grauhaarigen Mann in dem Mönchsgewand, der den größten Teil seines Lebens sicher bereits hinter sich hatte, wechselten einige der zahlreichen Kirchenbesucher mit ernsten Mienen verstohlene Blicke.

Mit einem lauten „Amen“ und einem mit der Hand geschlagenen Kreuz entließ der Priester seine Gemeinde.

„Barthold!“, rief der Mann, nachdem er sich dem Schmied und seiner Familie mit schnellem Schritt genähert hatte und diese so dazu bewegen wollte, auf ihn zu warten.

Die Familie hatte sich nach dem sonntäglichen Kirchgang auf den weiten Heimweg begeben, denn die Siedlung Buira8, aus der Barthold stammte, war mehr als einen halben Tagesmarsch von der nächsten Kirche entfernt.

Der Schmied, sein Weib Irmhild, seine beiden Töchter Ida und Idun und sein Sohn Bran hatten die letzten Häuser der Siedlung längst hinter sich gelassen und gingen den Weg, der durch den Wald und entlang von Feldern nach Westen und Süden führte. Es war der Weg, den die Kaufleute und fahrenden Händler benutzten, um auf den Hellweg zu gelangen, der in die großen Handelsstädte weiter im Süden und die Seehäfen im Norden führte.

„So warte doch, Kerl“, sprach der Mann, als er den Gerufenen endlich erreicht hatte. „Was willst du, Albin?“

„Was soll ich schon wollen? Hast du etwa die Worte des Pfaffen nicht gehört?“

„Ach was! Alles nur leere Drohungen“, wiegelte Barthold ab. „Dieser Ludgerius ist ein großmäuliger Kerl, und doch nur ein kleiner, dicker Pfaffe. Glaubst du etwa, der Graf wird seinen Worten Glauben schenken?“

„Dem Ludgerius nicht, da magst du recht haben, aber sein Gekeife ist längst an die Ohren des Bischofs gedrungen“, sprach der großgewachsene Albin zu dem Mann, der ein Gode9 der Asentreuen war.

„Und es geht das Gerücht, das der Vogt Herimann wenig erfreut ist. Der Bischof von Mimigernaford10 soll ihn bereits aufgerufen haben, alle Heiden zu jagen.“

„Woher weißt du das?“, fragte Barthold erstaunt und sah an dem blonden Mann empor. Barthold war selbst eher von kleiner Statur, was seiner Kraft aber nicht abträglich war.

„Ich kam erst vor einigen Tagen zurück vom großen Markt in Mimigernaford. Da spricht man bereits davon, dass der Bischof von den Grafen Waffenhilfe einfordert.“

Irmhild ergriff die Hand ihres Mannes, und man sah ihr die Besorgnis über das Gehörte an. „Was, wenn die Männer des Grafen Herimann nach uns suchen werden?“

„Sie werden uns nicht finden. Niemand weiß von uns“, versuchte Barthold sein Weib zu beruhigen.

„Wodan wird seine Hand schützend über uns halten“, sprach da Bran, der Sohn des Schmiedes. Er zählte vierzehn Winter, sein dunkelblondes Haar reichte ihm bis auf die für seine Jugend doch schon recht kräftigen Schultern herab, und ein Flaum unter seiner Nase und am Kinn zeugte davon, dass Bran nun langsam zum Mann wurde. Seit er acht Winter zählte, half er dem Vater in dessen Schmiede, schlug das heiße Eisen mit dem Hammer auf dem Amboss, schmiedete Waffen und Gerät, wie sein Vater es ihm gezeigt hatte.

Bran hatte schon viel von dem Handwerk des Barthold gelernt und würde dereinst ein würdiger Nachfolger in der Schmiede werden. So hoffte der Vater!

Doch der Junge unterschied sich auch in anderen Dingen von den vielen Burschen seines Alters, die in der Siedlung lebten. Barthold entstammte dem Geschlecht eines Sattelmeiers des Sachsenfürsten Widukind, wie er selbst immer wieder behauptete, und als Gode der Asentreuen beherrschte er das Wissen über die alten Runenzeichen.

Auch dieses Wissen hatte er schon früh an seinen Sohn weitergegeben, genau wie er ihm den Umgang mit dem Sax11 lehrte.

„Bran hat recht! Wodan und alle Götter werden uns ihren Schutz gewähren. Der Platz der Irminsul12 ist tief im Wald versteckt, und keiner der Heuchlerbrut kennt den Weg dorthin. Sie wissen nicht einmal, dass der heilige Baum besteht.“

Barthold sah sein Weib mit einem beruhigenden Lächeln an.

„Für die Pfaffen sind wir brave und gottesfürchtige Christen. Glaube mir, wir sind sicher!“

Sie setzten den Weg über den baumgesäumten Pfad fort, und bevor sich Albin von der Familie des Barthold trennte, raunte ihm der Schmied zu, er möge am nächsten Abend zu seinem Haus kommen. Und so geschah es auch!

Am folgenden Tag, nachdem die Sonne untergegangen war, und dies geschah recht früh, denn es war bereits Spätherbst geworden, kam der große Sachse, so wie es Barthold verlangt hatte, in die Schmiede.

Doch als Albin an die Tür klopfte, bat ihn der Schmied nicht einzutreten. „Warte“, sagte er knapp und schob den großen Mann zurück, der sich gerade anschickte, über die Schwelle zu treten. Barthold rief nach seinem Sohn, der ihm folgen sollte, und verließ dann mit diesem das Haus.

Bran griff nach einer der beiden Fackeln, die zu beiden Seiten des Eingangs in eisernen Halterungen steckten, und folgte den beiden Männern in die offene Schmiede, die ein paar Schritte vom Haus entfernt im Schatten einiger dicken Eichen stand.

„Höre, Albin! Es ist wohl an der Zeit, den Rat zusammenzurufen. Die Lage scheint mir ernst zu sein“, sprach Barthold mit grimmiger Miene.

„Aber du sagtest, wir seien sicher. Es gäbe keine Gefahr“, unterbrach Bran seinen Vater. „Junge, das habe ich gesagt, um deine Mutter und deine Schwestern zu beruhigen. Wenn dieser elende Klosterabt tatsächlich nach der Unterstützung des Bischofs und der Grafen schreit, werden diese sicher ihre Krieger auf die Suche nach uns schicken!“

Das Gesicht des Barthold verhieß nichts Gutes, und Bran erkannte dies sofort. Sein Vater war sichtlich beunruhigt.

„Zum nächsten vollen Mond müssen alle Häuptlinge im Schatten der Irminsul erscheinen. Sorge dafür, Albin!“

Barthold zog eine kleine Schriftrolle aus seinem Hemd und reichte sie dem großen Blonden. Es gab nur noch wenige Männer, die des Lesens der alten Runenschrift mächtig waren, und Bran war einer von ihnen, denn Barthold hatte es ihn schon früh gelehrt.

Der großgewachsene Mann nickte zustimmend, denn auch er war der Meinung, dass die Lage für die Wodanstreuen brenzlig wurde. Dann wandte sich Barthold seinem Sohn zu und sprach: „Ich will nicht, dass deine Mutter in Angst leben muss. Also schweige über das Gehörte!“

„Kein Wort wird über meine Lippen kommen, Vater“, versprach Bran, und Albin legte ihm zustimmend seine Pranke auf die Schulter.

„So ist es recht, Junge. Wodan wird es dir vergelten!“

Barthold vermied fortan jedes Gespräch über die Drohungen des Priesters, und sein Weib fragte nicht, denn sie hatte nach einiger Zeit bemerkt, dass Barthold ihr auswich. Dass ihr Gemahl und auch ihr Sohn nun täglich den Umgang mit dem Sax übten, das war ihr allerdings sofort aufgefallen, denn der Schmied trug eigentlich nie eine Waffe bei sich.

Die Tage vergingen, bis die helle Scheibe des Mondes fast ihre volle Rundung erreicht hatte.

Noch bevor die Sonne hinter dem Horizont versank und sich die Dunkelheit über die Wälder des Sachsenlandes legen würde, nahm Barthold seinen Gürtel mit dem Kurzschwert, schnallte sich diesen um, hüllte sich in seinen Umhang, setzte seine Pelzkappe auf und verabschiedete sich von seinem Weib.

„Was wird geschehen?“, fragte Irmhild ihren Gemahl, und dieser zog seine Schultern hoch. „Ich weiß es nicht“, sagte er ruhig und küsste sein Weib auf die Stirn. Dann wandte er sich um und verließ das Haus, gefolgt von seinem Sohn, der noch einmal seine Mutter umarmte, bevor auch er durch die Tür ins Freie trat.

*

Mehrere Tage waren sie marschiert, und in einer wolkenlosen Nacht, erhellt von einem grellen Mondschein, der durch die dichten Kronen der Bäume strahlte, erreichten die Männer der Siedlung den Eingang einer Schlucht.

Weit waren sie nach Nordosten gegangen, denn der Platz, an dem die asentreuen Sachsen ihr Thing 13 abhielten, war dort, wo auch einst Widukind, der große Fürst des Volkes, wirkte.

Doch auch hier waren sie nicht sicher, denn der Bischof von Minda14 mit Namen Milo hatte den Heiden ebenso den Kampf erklärt wie sein Glaubensbruder in der großen Stadt etwas südwestlich gelegen. Es war sogar noch schlimmer, denn die Kerker in den Burgen der Grafen in diesem Teil des Sachsenlandes begannen bereits, sich mit Gefangenen zu füllen.

Immer dichter und enger wurde der Weg durch den Wald, bis nur noch ein Trampelpfad, von dornenbewehrten Brombeersträuchern und wilden Rosen gesäumt, durch das Unterholz hindurchführte.

Hintereinander liefen die Männer durch die Nacht den dunklen Pfad entlang. Noch hatten sie ihr Ziel nicht erreicht, und beschwerlich war der Weg, denn er führte bergauf, bis ihnen plötzlich einige hohe Felsen den Durchgang versperrten. Nur Eingeweihte erkannten, was sonst niemand wohl gesehen hätte, denn zwischen den hohen, grauen, mit Moos überwachsenen Felsen befand sich ein schmaler Eingang, zu schmal, um ein Pferd hindurch zu führen.

Nacheinander traten die Männer in die enge Gasse, die sie auf felsigem Boden weiter bergauf führte, bis sie endlich auf eine kleine, kreisrunde Lichtung traten, die umringt war von niedrigem Buschwerk und hohen alten Eichen. Von dort führte ein Pfad nach Osten, ein weiterer Pfad nach Norden und ein breiter Weg nach Westen. Die Männer kannten natürlich den rechten Weg und wandten sich nach Osten.

Nach einer Weile erreichten sie einen von Lagerfeuern und großen Fackeln hell erleuchteten Platz, auf dem viele Zelte standen.

Aus dem ganzen Sachsenland waren die Häuptlinge, die Goden der Sippen, die sich dem Christenglauben widersetzten, hierher an den geheimen Ort der Asensanbeter gekommen. Die Männer aus Buira zogen auf den Platz und begannen ihre Schlafplätze einzurichten. Dann sahen sie sich im Lager um, suchten nach bekannten Gesichtern, um die Männer aus anderen Dörfern und Städten zu begrüßen.

Bis tief in die Nacht saßen einige von ihnen an den Feuern und sprachen miteinander, während andere tief schliefen.

So auch Bran, der von dem langen Weg erschöpft auf sein Schlaflager gefallen war. Sein Vater Barthold, der Schmied, Albin und auch andere Männer der Siedlung vom Ufer des Flusses Lämscher15, saßen bis spät in die Nacht und sprachen mit anderen Sachsen. Und schnell zeigte sich, dass nicht nur im Westen die Bischöfe zum Kampf gegen die Asentreuen aufriefen. Sogar Kaiser Otto der Zweite selbst sollte bereits im Osten des Reiches, dort, wo viele Sippen der Slawenstämme der Obodriten, der Liutzen und der Heveller ansässig waren, auf Drängen des Erzbischofs von Magdeburg, den Heiden nachstellen.

Noch zwei Tage vergingen, dann hatte der Mond seine volle Rundung erreicht, und das Thing konnte stattfinden. Dichte, dunkle Wolken waren aufgezogen, ließen die leuchtende Himmelsscheibe nur hin und wieder ihr Antlitz zeigen. Es waren die Häuptlinge und Goden der Sippen und Stämme, die nun im Schein ihrer Fackeln, die sie mit sich trugen, tiefer in den Wald hinein zogen. An den Ort, in dessen Mitte ein uralter, riesiger Eschenbaum stand. Hochgewachsen war er, mit vielen verzweigten Ästen, so alt, dass sich niemand mehr an die Tage erinnern konnte, in denen der junge Trieb seine ersten Blätter in die Sonne gereckt hatte, und trotz des fortgeschrittenen Herbstes war er immer noch genauso voll belaubt wie die Eichen, die ihn umgaben. In seinen Stamm, hoch über den Köpfen der Männer, hatte man Gesichter der Götter in das Holz geschnitzt. So sahen Wodan, Donar und Saxnot16 auf ihre Anhänger hinab. Doch dieses Thing diente nicht zur Anrufung der von den Sachsen verehrten Götter, denn diesmal musste darüber entschieden werden, wie man sich gegen die Übergriffe der christlichen Schergen zur Wehr setzen sollte.

Nach und nach füllte sich der Platz mit den Männern aus dem ganzen Reich, die dem Thingruf gefolgt waren.

Allesamt waren sie Häuptlinge sächsischer Sippen mit ihren engsten Vertrauten. Die Begleiter waren in dem Lager zurückgeblieben, denn was gesprochen wurde, war nicht für alle Ohren bestimmt. So blieb auch Bran an einem der großen Feuer sitzen, um dort auf die Rückkehr seines Vaters zu warten.

Es war bereits hell geworden, als die Mitglieder des Rates zurückkehrten, und ohne zu zögern wurde das Lager abgebrochen. Auch die Männer von Buira machten sich auf den Rückweg.

Lange hatte Bran geschwiegen, als sie durch den dichten Wald gingen, doch dann konnte er nicht mehr an sich halten.

„Was haben die Häuptlinge entschieden? Was wird geschehen?“, fragte er neugierig.

„Das geht dich nichts an“, kam sofort die knappe Antwort des Barthold, der nur einige Schritte vor ihm ging.

Doch damit wollte sich der junge Bran nicht zufrieden geben. „Es geht mich wohl an. Schließlich bin ich tagelang mit euch hierher marschiert, und wenn ich auch jung bin, so bin ich doch einer aus der Sippe.“

Da mischte sich auch Albin ein. „Bran hat recht! Sag uns, was der Rat beschlossen hat!“

Der große Mann forderte eine Antwort von dem Schmied, und auch die anderen stimmten dem nun zu. Da blieb Barthold stehen, sah die Männer ernst an und sagtet: „Nichts wird geschehen! Gar nichts! Der Rat hat beschlossen, dass sich die Bedrängten in das Versteck bei der Irminsul zurückziehen sollen! Und keiner soll seinen Sax erheben!“

„Aber wir müssen uns zur Wehr setzen, bevor es zu spät ist“, sprach einer der Männer drängend.

„Nein, das werden wir nicht! Es wird keinen Kampf geben!“

Barthold war sichtlich erbost, denn er war einer der Anführer, die den Grafen im Kampf entgegentreten wollten.

Doch der Rat hatte anders entschieden.

*

„Und du bist dir sicher, mein Sohn, dass ich dich mit dieser Aufgabe betrauen kann?“, fragte Barthold, als sie am Abend gemeinsam an dem Tisch im Haus der Schmiede saßen und eine Hirsegrütze löffelten.

„Ich bin kein Kind mehr“, antwortete Bran und schien ein wenig beleidigt.

„Aber ein Mann bist du auch noch nicht“, wandte Irmhild ein, und seine Schwestern kicherten albern.

„Mutter!“, beschwerte sich Bran und giftete seine

Schwestern an. „Und ihr haltet den Mund, ihr Gänse!“

„Lass deine Schwestern in Ruh“, befahl Barthold und sprach dann ruhig. „Nun gut! Höre mir zu. Morgen in der Früh wirst du dich auf den Weg nach Werlaha17 machen, und trödele nicht. Der Zimmerer Ruland wartet auf die Beschläge.“

Bran winkte ab, als hätte er solche Aufträge schon oft erledigt, und löffelte hastig seinen Brei. Seine Schwestern kicherten weiter übermütig, das Gesicht seiner Mutter aber zeugte von Besorgnis. Doch Barthold sah sein Weib an und nickte.

Dunkelheit lag über dem Wald und der Schmiede, als Bran aus dem Haus trat. Es war kalt und noch sehr früh, selbst der Hahn in der Siedlung schien noch zu schlafen, da schulterte der junge Bursche den Sack mit der Ware seines Vaters und machte sich auf den Weg.

*

7 Herrmann oder Herimann I. von Werl – Graf von Lochtropgau gest. 985 n. Chr.

8 Buira, Puira – Buer in Westfalen, heute ein Teil der Stadt Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen

9 Gode – Häuptling, Schamane oder Priester

10 Mimigernaford - Münster

11 Sax – einschneidiges Kurzschwert der Sachsen

12 Irminsul – der heilige Eschenbaum der Sachsen

13Thing – Ratsversammlung der germanischen Stämme

14 Minda - Minden

15 Lämscher - heute Emscher

16 Saxnot – nordgermanisch Tyr

17 Werlaha – Werl, bedeutende Stadt am Hellweg

2

Von Verrat und Tod

Laut klappten die Sohlen der schweren, ledernen Stiefel die die beiden Soldaten trugen, auf dem steinernen Boden des Saales, in dem der Graf seine Audienzen hielt.

Unsanft warfen sie den jungen Burschen, den sie mehr mit sich schleiften, als dass sie ihn führten, dem Grafen vor die Füße. Der Vogt18 dieses Gebietes, der auf einem kostbaren Stuhl in der Nähe eines großen, offenen Kamins saß, in dem ein wärmendes Feuer brannte, sah den geschundenen Jungen ohne Mitleid an.

„Herr, hier ist der Kerl!“ Der Soldat versetzte dem Burschen einen kräftigen Tritt, sodass dieser aufheulte.

„Ein Bauer, was?“, fragte der Graf in abfälligem Ton.

„Er ist ein zäher Bursche. Wollte nicht reden“, sagte der eine der Soldaten, der der Hauptmann der Wache war.

„Aber wir haben da so unsere Methoden, die einem Mann schnell die Zunge lösen.“ Er grinste böse.

„Verschone mich mit deinen unappetitlichen Einzelheiten, Mann“, raunzte der hohe Herr seinen Waffenknecht an.

„Wie ist dein Name, Bursche?“

Der junge Kerl, der sicher nicht älter als fünfzehn Jahre war, starrte mit gesenktem Kopf auf den Boden und schwieg.

„Los antworte, oder ich helfe dir nach“, keifte der andere Soldat und schlug dem Burschen seine Faust in den Nacken.

Doch der Graf hieß den Mann, inne zu halten.

„Lass ihn, es ist nicht wichtig. Woher habt ihr ihn?“

„Der blöde Kerl latschte durch die Gassen von Werlaha und trug das hier um seinen Hals.“

In hohem Bogen flog dem Grafen ein Gegenstand entgegen, und dieser fing ihn geschickt auf. An einem geflochtenen Lederband hängend, hielt der Graf einen kleinen, hölzernen Anhänger empor und ließ diesen durch seine Finger gleiten.

Einen Hammer, das Zeichen des Donnergottes Donar!

Fein mit Runenzeichen beschnitzt war der Anhänger des jungen Asentreuen, den Herimann in seiner Hand hielt.

Da begann der Graf von Werlaha lauthals zu lachen. „Sie sind einfach zu dumm, diese Bauern!“

„Er wollte nicht reden, aber wir haben ihn überzeugt, es doch zu tun“, sprach der eine Soldat und verzog hämisch sein Gesicht. „Was der Herr Jesus erleiden musste, kann doch einem Heiden sicher nicht schaden.“ Er trat dem Burschen erneut in den Rücken, worauf dieser seine Hände öffnete und sie dem Grafen entgegenstreckte. In jeder Hand steckte ein dicker Nagel, der diese durchbohrt hatte.

Verkrustetes Blut klebte daran.

„Das ist ja widerlich“, empörte sich der Graf.

„Das wohl, Herr, aber es hat ihm geholfen, sich zu erinnern.

Er hat gesungen wie ein Vögelein!“

Der Soldat griff zu und riss einen der Nägel aus der Hand.

Der junge Bursche jaulte auf wie ein geprügelter Hund, und die Wunde begann erneut zu bluten. Da keifte der Graf den Waffenknecht wütend an: „Fort mit ihm! In den Kerker!“

„Es sind uns nun viele bekannt von dieser Heidenbrut, Herr“, sprach der eine Krieger, und der andere nickte grinsend. „Bald hat der Spuk ein Ende!“

Die beiden Soldaten grüßten knapp, ergriffen den Gefangenen und verließen den Saal.

„Was will der Graf eigentlich mit dem ganzen Pack anfangen, das bald in seinem Kerker sitzen wird?“

Der Soldat sah den jungen Gefangenen ohne Mitleid an.

„Wahrscheinlich wird das der Bischof von Mimigernaford entscheiden, doch am Ende warten sicher der Galgen oder die Sklaverei auf sie“, antwortete der andere.

Die Männer führten ihren Gefangenen durch die dunklen, nur spärlich beleuchteten Gänge der Burg von Werlaha, und je weiter sie sich von den Gemächern des Grafen entfernten, umso kälter und ungastlicher wurde der Bau.

Bald erreichten sie eine große, mit eisernen Scharnieren beschlagene Tür, durch die sie den Gefangenen ins Freie führten.

Vor ihnen lag nun der große Burghof, dahinter einige kleine Gassen mit Häusern, und an der hölzernen Palisadenwehr der Burg, die auf einer mannshohen Steinmauer stand, waren die Wirtschaftsgebäude und Ställe sowie auch die Unterkünfte für die Soldaten erbaut. Direkt neben dem großen Tor befand sich das Wachhaus, von dem aus man auch die Kerkeranlage der Burg erreichte. Nur spärlich war der Burghof beleuchtet, vereinzelt brannten Feuerkörbe oder Fackeln, die an den Wänden der Häuser befestigt waren, und nur wenige Menschen liefen zu dieser späten Stunde noch durch die Gassen.

Einige Krieger sah man über die Wehrgänge entlang der Palisade gehen, doch bei den Ställen und den anderen Gebäuden war es still.

„Wer da?“, tönte plötzlich eine Stimme durch die Nacht. Es war einer der Wachmänner, die auf den Wehrgängen und bei den Gebäuden ihre Runden drehten. Er hatte die Männer bemerkt.

„Ich bin es, Hrotgar, dein Hauptmann, du Esel! Es ist alles in Ordnung, und schrei hier nicht so rum in der Nacht!“

Der Wachmann murmelte etwas Unverständliches, gab sich aber mit dem Gehörten zufrieden und setzte seine Runde fort.

Nicht weit der Männer waren die Stallungen, in denen die Pferde der Burgwache standen.

„Ich muss mal pissen!“

Der Hauptmann wandte sich ab und verschwand kurzerhand in einer Nische zwischen den Wänden der Häuser in der Burg.

„Jetzt pisst dieser Drecksack den Leuten wieder in die Wassertonnen“, kicherte der Wachmann und sprach eigentlich mehr zu sich selbst als zu dem Gefangenen.

Gelangweilt begann er genüsslich in seiner Nase zu bohren.

Und dies war der Moment, den der Gefangene nutzte. Mit aller Kraft warf er sich gegen den Krieger des Grafen, sodass dieser strauchelte und unsanft auf das Pflaster fiel.

Dabei ließ er den Strick, an dem er den Gefangenen geführt hatte, aus den Händen gleiten, und noch ehe er wieder auf seinen Beinen stand, war der geschundene junge Bursche in der Dunkelheit verschwunden.

„Du elender Scheißkerl!“, fluchte der Überrumpelte und schrie dann lauthals: „He, du Sohn einer blutpissenden Hure! Komm zurück! Alarm!“

Mit aller Kraft versuchte der junge Kerl seinen schweren Atem zu unterdrücken, als er regungslos zwischen dem Heu auf dem Futterboden des Pferdestalls lag. Lang konnte er hier nicht bleiben, das wusste er, denn bald würden die Schergen des Grafen auch hier nach ihm suchen. Doch einen Moment konnte er hier zur Ruhe kommen. Er betrachtete seine schmerzenden Hände, die ihn, verdreckt und blutverkrustet, an die Tortur der Folter erinnerten. Scham überkam ihn. Was würde nun geschehen, jetzt, nachdem so viele Namen verraten waren von den Menschen, die wie er dem Wodan huldigten? Menschen, die er auf den Opferfesten gesehen hatte, deren Namen er hörte oder die er selbst auch kannte. Doch was war ihm anderes übrig geblieben, als zu reden?

Ja, er hatte die Namen verraten, aber den Ort ihrer Zusammenkünfte hatte er eisern verschwiegen, und die Waffenknechte gaben sich zufrieden mit dem, was sie gehört hatten. Ihnen ging es wohl nur darum, dass sie ihn quälen konnten.

Vorsichtig wagte er sich nun zu der Öffnung im Giebel vor, durch den das Heu hier heraufgeschafft wurde, und sah hinaus. Soldaten erkannte er keine, doch er sah den Schein der Fackeln, und er hörte ihr Rufen. Die Jagd war eröffnet!

Wie sollte es ihm nur gelingen, die Burg zu verlassen? Näher und näher kam der Fackelschein, und der Bursche wusste, dass er hier nicht bleiben konnte. Und plötzlich erkannte er die Gestalt, die aus einer kleinen Gasse heraustrat. Der laute Tritt der Stiefel verriet den Soldaten, und dieser schien genau zu wissen, wohin er wollte. Zu den Ställen!

Der Bursche hielt den Atem an. Schweiß tropfte von seiner Stirn.

Mit dem Spieß in Händen trat der Mann an das große Tor, blieb stehen und sah sich um. Er horchte ins Dunkel der Stallungen, doch außer dem Schnauben und Stampfen der Pferde vernahm er nichts Verdächtiges.

Plötzlich verschwand er aus dem Blick des jungen Burschen und trat in das Gebäude ein. Langsam schritt er die Reihe der Pferde ab, beugte sich immer wieder nieder, um zwischen die Beine der Tiere zu sehen. Dann wanderte sein Blick nach oben, und er stieß den Spieß immer wieder durch die Ritzen zwischen den Holzbohlen in das Heu. Langsam begab er sich zu der Leiter, die hinauf zum Heuboden führte.

Mit aller Kraft presste der Junge seinen Rücken gegen die Bretterwand des Stallgebäudes, als wolle er darin gänzlich verschwinden. Seine Hände schmerzten, und er spürte, wie das Blut durch seine Finger rann.

Nur ein gewagter Sprung an das Seil des Galgens, mit dem man das Heu auf den Dachboden beförderte, hatte ihn vor der Entdeckung gerettet. Nun stand er an der Rückwand des Stalles in einer Nische zwischen dem Gebäude und der Wehranlage der Burg, auf der die Soldaten der Wache ihre Runden gingen. Plötzlich stockte ihm der Atem.

Da war es wieder, das Geräusch auftretender Stiefel, und es näherte sich. „Hätten sie den Dreckskerl gleich aufgehängt, dann müssten wir ihn jetzt nicht suchen“, hörte er den Soldaten murmeln. Und dann sah er die dunkle Gestalt vor sich. Hätte sich der Bursche aus der Nische geneigt, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, den Kerl zu berühren. Der Soldat trat an das dicke Mauerwerk der Wehranlage heran, lehnte seinen Spieß dagegen, und begann an seinen Beinkleidern zu nesteln.

Ein Plätschern verriet, womit der Mann beschäftigt war, und nun sah der Bursche das Loch in der Wand, in das der Soldat pisste.

Ein Abfluss muss das sein, dachte er, ein Abfluss, der bei starkem Regen das Wasser aus der Burg ablaufen ließ. Das Herz des Flüchtenden begann zu pochen, sodass er Angst verspürte, der Soldat könne es hören, doch dieser war damit beschäftigt, seine Kleidung zu richten. Dann nahm er den Spieß und verschwand in der Dunkelheit.

„Am warmen Feuer könnte ich sitzen“, hörte er den Soldaten noch murmeln. Eine Weile, die dem Burschen wie eine Ewigkeit vorkam, stand er da, bis er sich endlich hervorwagte. Und die Götter waren mit ihm, denn da er nicht besonders groß und eher schmächtig von Statur war, gelang es ihm, sich durch das feuchte Loch in die Freiheit zu zwängen.

*

Barthold stand an der Feuerstelle seiner Schmiede, schürte das Feuer und stieß immer wieder ein Stück Eisen, das er mit einer langen Zange hielt, in die rote Glut, sodass die Funken sprühten. Plötzlich vernahm er in der Ferne den Donner des Hufschlags berittener Krieger, und es verging nur wenig Zeit, bis er die Reiter sah. Es waren mehr als zehn Krieger, die auf der Lichtung, an der sich die Schmiede befand, ihre Pferde zügelten. Sofort sprangen sie aus den Sätteln und begannen sich auf dem kleinen Gehöft zu verteilen.

„Bist du Barthold, der Schmied?“, fragte einer der Krieger, der der Anführer der Horde zu sein schien.

Der Angesprochene war unter dem Dach der offenen Schmiede hervorgetreten, sah den Mann streng an und fragte nun seinerseits: „Wer fragt danach?“

Statt einer Antwort schlug der Hauptmann dem Schmied mit der Faust in sein Gesicht, sodass Barthold strauchelte und zu Boden fiel.

„Wenn hier einer fragt, dann bin ich das, elender Heide!“, rief der Hauptmann verächtlich und trat zu.

Da ertönte ein Aufschrei, denn Irmhild stand in der Tür. Sie hatte den Angriff auf ihren Mann mitangesehen.

„Geh zurück ins Haus!“, rief Barthold seinem Weib zu.

„Ja, geh ins Haus!“, rief auch der Hauptmann lachend und nickte einigen Männern zu. Diese drängten die Irmhild in das Gebäude zurück und folgten ihr. Die Schreie seines Weibes und seiner Töchter, die nun aus dem Haus an sein Ohr drangen, ließen Barthold das Blut in den Adern gefrieren, und er ahnte, was sie nun erleiden mussten. Mit einem Satz sprang er auf und stürzte sich wütend auf den Hauptmann der Reiter. Schwer trafen seine Fäuste das Gesicht des Mannes, und dieser taumelte zurück. Wieder und wieder schlug er zu, bis ihn ein kräftiger Schmerz durchzuckte. Alles um ihn herum begann sich zu verdunkeln, nur die Schreie nahm er noch für einen kurzen Moment wahr. Dann verlor er die Besinnung!

Zwei Soldaten halfen ihrem Anführer auf die Beine, während ein anderer über dem Körper des besinnungslosen Schmiedes stand und frech grinste.

„Dieser elende Hurensohn! Soll ich ihm den Hals durchschneiden?“

Der Hauptmann hielt sich sein blutendes und geschwollenes Gesicht. „Nein, der Graf will die Kerle lebend. Aber brennt alles nieder!“, rief er voller Zorn.

„Und die Weiber?“, fragte einer der Soldaten.

„Ich sagte, brennt alles nieder!“, schrie ihn sein Anführer zornig an.

„Ja, ja… ist ja gut. Ich dachte nur, dass man die jungen Weiber noch an ein Bordell verkaufen könnte“, sagte der Soldat kleinlaut und gehorchte.

Nachdem die anderen Männer das Haus verlassen hatten, dauerte es nicht lange und die Flammen fraßen sich den Giebel empor. Entsetzliche Schreie erschallten aus dem Inneren, die irgendwann verstummten, und als Barthold seine Augen öffnete, brannte sein Haus lichterloh.

Zwei der Waffenknechte hatten den Schmied hochgerissen, hielten ihn fest ihm Griff, und der Hauptmann brüllte ihn an:

„Sieh genau hin, du Hundsfott! So ergeht es denen, die sich gegen den Grafen auflehnen!“

Die Stimme versagte dem Barthold, und er heulte in Tönen auf, die nur wenig Menschliches hatten. Plötzlich sah er mit tränengefüllten Augen eine Gestalt aus dem Unterholz des Waldes heraustreten. Es war Bran!

Er hatte ihn sofort erkannt. Der junge Bursche stand da wie angewurzelt, keiner Bewegung fähig, und noch schienen ihn die Soldaten gar nicht bemerkt zu haben. Barthold aber hatte nur noch einen Gedanken: Er musste seinen Sohn retten! Mit aller Kraft schrie er dem Bran entgegen: „Verschwinde von hier! Und kehre nicht zurück!“

Doch der junge Bursche schien die Worte seines Vaters nicht zu hören, denn er stand immer noch regungslos da und starrte auf die Flammen, die hoch in den Himmel schlugen.

Nun hatte aber auch der Hauptmann den Sohn des Schmiedes entdeckt, und sofort gab er den Befehl, den jungen Sachsen zu ergreifen. Jetzt, da die Soldaten auf ihn losstürmten, erkannte Bran die Gefahr, und er vernahm auch die kreischenden Worte seines Vaters. Fast hätten die Krieger ihn erreicht, da floh er in den Wald und lief, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Bran wusste nicht, wie lange er gelaufen war. Und er wusste auch nicht, wie lange ihn die Schergen des Grafen verfolgt hatten. Er war einfach gelaufen, bis seine Beine ihm den Dienst versagten, bis er strauchelte und in tiefe Ohmacht fiel. Es war ein kräftiger Regenschauer, der ihn aus seinem tiefen Schlaf weckte, und völlig durchnässt, von blutigen Kratzern übersät, saß er nun an einen dicken Baumstamm gelehnt. Die Beine ganz nah an den Körper gezogen, verharrte der junge Bursche, und sein Kopf schien zu zerspringen, denn die Gedanken an das Geschehene ließen ihn nicht los.

Als der Sohn des Schmiedes aus seiner Starre erwachte, lag der Wald in völliger Dunkelheit, und die Tiere der Nacht sangen ihre Lieder. Braunes Laub lag auf seinem Kirtel19, und Kälte kroch an ihm empor.

Wieviel Zeit mochte wohl vergangen sein? War es ein Tag oder vielleicht schon zwei?

Bran wusste es nicht! Aber trotz aller Trauer verspürte er nun Hunger, und er kannte nur einen Ort, an dem er etwas zu Essen bekommen würde. Dass es diesen Ort nicht mehr gab, daran dachte er nicht.

Langsam, mit größter Vorsicht, schlich Bran durch das Unterholz des Waldes. Die Dornen der Brombeersträucher hakten sich in seine Kleidung und zerrten an ihm, als wollten sie ihn davon abhalten, sich dem Haus seiner Eltern zu nähern. Das Hämmern in seiner Brust wurde immer schneller, je näher er dem Ort kam, an dem er eine glückliche Kindheit verbracht hatte, und von dem nun soviel Leid ausging.

Bald würde sich die Sonne hinabsenken, um gänzlich hinter dem Horizont zu verschwinden und der Dunkelheit zu weichen. Dann würde er es wagen, so dachte Bran. Er legte sich an den Stamm eines Baumes, um dort zu warten. Der junge Bursche schloss seine Augen. Nur für einen Moment, dachte er.

Als der Sohn des Barthold seine Augen wieder öffnete, vernahm er in der Ferne das Krähen eines Hahnes, und mit Entsetzen stellte er fest, dass bereits der Morgen graute. Er war eingeschlafen, und nun wurde es hell.

Bran sprang auf und sah sich um. Alles war ruhig!

Mit dem Ärmel seiner wollenen Jacke wischte er sich den Schweiß und die Tränen aus dem Gesicht, denn in der Nacht hatte er schlecht geträumt, hatte gegen die bösen Gedanken angekämpft, die ihm das Erlebte wieder und wieder vorgaukelten.

Als er aus dem Wald auf die Lichtung trat, sah er, dass von der Schmiede seines Vaters nur noch ein Haufen Schutt und Asche geblieben war.

„Oh, ihr Götter“, flüsterte Bran und setzte langsam einen Fuß vor den anderen, doch es schien, als würde ihn eine unsichtbare Hand zurückhalten wollen. Jeder Schritt, den er ging, verursachte ihm unendlichen Schmerz. Bedächtig trat er zwischen die verkohlten Balken, nur die steinerne Feuerstelle war noch als solche zu erkennen. Wände oder gar Tisch und Stühle waren ein Raub der Flammen geworden. Nicht weit der Feuerstelle warf sich Bran auf die Knie und begann, zwischen verkohltem Holz und Asche zu wühlen, und tatsächlich fand er, wonach er suchte. In einer länglichen Mulde, überdeckt von drei flachen Steinplatten, lagen ein Schwert, ein Sax und ein Messer. Das Schwert war völlig verbogen, der Griff verbrannt, doch der Sax, das Messer und der lederne Gürtel hatten den Brand, in ein Tuch gewickelt, wie durch ein Wunder fast unbeschadet überstanden. Vorsichtig nahm er den Sax auf und befreite das Kurzschwert von Russ und Dreck. Es war die Waffe des Barthold!

Bran kannte das Versteck, in dem sein Vater die Klingen aufbewahrte, denn der Schmied trug sie nur selten. Graf Herimann sah es nicht gern, wenn sich die einfache Bevölkerung bewaffnete, und seine Knechte achteten darauf, dass die Befehle des Vogtes eingehalten wurden. So hatte es Barthold meist vorgezogen, den Ärger mit den Kriegern zu vermeiden. Zaghaft strich die Hand des jungen Sachsen über den geschnitzten Bärenkopf, der den Knauf des Saxgriffes zierte.

Plötzlich fiel der Blick des jungen Burschen auf einen Gegenstand, der zur Hälfte aus einem Haufen Asche ragte. Er war schwarz verrusst, und nur schwer zu erkennen, doch Bran hatte ihn entdeckt. Er griff zu und zog die Hand sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zurück. Aus seiner Handfläche tröpfelte das Blut in die Asche, und der junge Sachse fluchte leise. Doch er griff erneut zu und hielt nun eine Fibel in seiner Hand. Bran hatte das Schmuckstück sofort erkannt, es gehörte seiner jüngsten Schwester Idun. Plötzlich schreckte er zurück. Diese Asche, sollte das etwa…?

Bran fuhr es eiskalt über den Rücken, dann aber senkte sich seine Hand langsam hinab. Fast zärtlich fuhr sie in den Aschehaufen, und der Staub rann durch seine Finger, während er die andere Hand, mit der er die Fibel hielt, fest zur Faust ballte. Tränen rannen über sein Gesicht, und das Blut tropfte zu Boden.

Der junge Sohn des Schmiedes war der Verzweiflung nahe, und er konnte nicht sagen, wie lange er in dem großen Wald herumgeirrt war, bevor er den Weg in die Siedlung Buira einschlug. Der Weg führte ihn aus dem Schutz der Bäume hinaus, an den stoppeligen Feldern entlang, bis er die Dächer der Hütten und Häuser erkannte.

Langsam ging er längs der Knüppelzäune, die die meisten Häuser umgaben, bis auf den Platz des Dorfes.

Zuerst begaffte man ihn neugierig und wie ihm schien, mit Misstrauen, als sei er ein Geist, bis Albin um die Ecke eines Hauses trat und Bran erkannte.

„Bran!“, rief er und kam nun eilig auf den Sohn des Barthold zugelaufen. „Du lebst!“

Freudig fasste er den Burschen bei den Schultern. „Du lebst! Wir glaubten dich tot, wie deine Familie!“

Mit leerem Blick sah Bran den großen Mann an und stotterte dann: „Meine Mutter und meine Schwestern starben… aber mein Vater lebt!“

„Barthold lebt?“, rief Albin. „Denn Göttern sei gedankt. Wo ist er?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Bran mit erschöpfter Stimme. „Ich weiß es nicht!“

„Komm, Junge, du musst etwas essen! Mein Weib wird dich schon wieder auf die Beine bringen.“ Er fasste Bran am Arm und zog diesen unter den Blicken der Dorfbewohner mit sich.

Auch sein Weib zeigte sich glücklich den Sohn des Barthold lebend zu sehen, und tischte diesem sofort ein gutes Mahl auf. Gierig schlang er das Brot und die Grütze hinunter, und erst als die Schüssel bis zum letzten Krümel geleert war, legte er den hölzernen Löffel nieder.

„Was hast du gesehen, Bran?“ Jetzt erst fragte Albin den Jungen. „Wo ist Barthold?“

Mit leisen Worten antwortete Bran: „Ich glaube der Graf hat ihn.“

„Graf Herimann hat auch hier aus dem Dorf einige Männer und Frauen wegschleppen lassen“, sprach das Weib des Albin. „Zwei Männer haben sie gar erschlagen, aber wir konnten uns rechtzeitig vor den Schergen im Wald verstecken.“

„Ich kam an diesem Tag aus Werlaha zurück, als ich den Vater in den Händen der Waffenknechte des Grafen sah und als das Haus brannte“, sagte Bran, und wieder rann eine Träne über sein Gesicht. Da trat Albins Weib neben den Bran und strich ihm mit der Hand tröstend über das Gesicht.

„Deine Mutter und deine Schwestern sind jetzt bei den Göttern. Sie verspüren nun kein Leid mehr!“ Sie lächelte den Sohn des Schmiedes Bran freundlich an.

„Was hast du da? Bist du verletzt?“ Sie zeigte auf die Hand, um die der Bursche ein Stück seines Hemdes gebunden hatte. Noch ehe er antworten konnte, hatte sie zugegriffen und den Verband entfernt. Bran verzog sein Gesicht vor Schmerz, denn das verkrustete Blut, das in der Mitte seiner Handfläche an dem Stoff klebte, zerrte beim Entfernen an der Verletzung.

„Was für eine merkwürdige Wunde. So etwas habe ich noch nie gesehen“, wunderte sich das Weib, und Albin neigte sich neugierig über den Tisch, um besser sehen zu können. Die Asche der Idun hatte das Blut auf der kreisrunden Wunde schwarz gefärbt.

„Ich… ich stach mich an der Fibel.“

„An welcher Fibel?“, fragte Albin.

„Die Fibel meiner Schwester. Ich fand sie in der Asche“, sprach Bran leise und starrte auf die Wunde in seiner Hand. „Es sind schlimme Zeiten geworden“, stellte Albin fest.

„Und der Schutz der Götter ist nicht sehr groß!“ Er erhob sich, trat zur Tür und öffnete diese, um hinaus zu sehen. Seinen Blick in den Himmel gerichtet, sagte er abschätzend: „Bald kommt der Schnee! Es wird nicht mehr lang dauern.“ Er schloss die Tür und nahm wieder Platz.

„Wir sollten Saxnot ein Opfer darbringen!“

*

Fast zwei Wochen waren vergangen, seit Bran nun im Hause des Albin lebte. Er hatte sich gut erholt, war wieder zu Kräften gekommen und half dem Bauern, wo er nur konnte. Es war an der Zeit, sich auf den Winter vorzubereiten, denn die immer öfter über das Land ziehenden Herbststürme waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass die kalte Jahreszeit nicht mehr weit war. Von den Menschen, die der Graf geraubt hatte, gab es kein Lebenszeichen. Es war, als hätte es sie nie gegeben! Düster war der Novembertag, an dem mehrere Männer in das Dorf kamen, von Hof zu Hof und Haus zu Haus gingen. Es schien, als kannten sie die Bewohner, denn alle, die sie aufsuchten, waren als Asentreue bekannt. Zu den wenigen Christen in Buira gingen sie nicht!

So kamen sie auch in das Haus des Bauern Albin. Bran hatte vom Stall aus gesehen, wie die Männer von Albin freundlich begrüßt worden waren und er sie in sein Haus geführt hatte. Lange blieben die Fremden auf dem Hof, und als sich die Tür des Hauses öffnete, war das Gesicht des Albin so düster wie die Wolken, die über Buira hinwegzogen.

Erst als die Fremden den Hof verlassen hatten, rief die tiefe Stimme des Bauern nach dem jungen Sachsen, und sie klang wenig freundlich. Doch Bran folgte dem Ruf und trat in das Haus. Dort stand Albin, groß und kräftig, und noch ehe der Sohn des Schmiedes ein Wort sagen konnte, traf ihn die Faust des Bauern, und dessen Weib kreischte mit hoher Stimme: „Erschlage diesen Verräter! Bei Wodan, erschlage ihn!“

Doch Albin hielt inne und sah streng auf Bran herab, der auf dem Boden des Hauses saß und sich das Kinn rieb. Blut rann aus seiner Lippe, und er sah den Bauern fragend an.

„Was machst du, Albin?“, rief das Weib. „Schlag ihn tot!“

„Schweig!“, fuhr da der Bauer seine Frau an.

„Du hast die Männer gesehen, die gerade fort sind?“ Er sah Bran zornig an. „Sie suchen den Verräter! Du warst in Werlaha vor nicht allzu langer Zeit?“

Er musterte Bran mit strengem Blick. „Und dort gerietst du in die Fänge des Grafen!“ Da schüttelte Bran heftig seinen Kopf.

„Lüge nicht!“, kreischte die Bäuerin, und Albin wandte sich ihr erneut zu und strafte sie mit einem bösen Blick.

„Lüge mich nicht an“, wiederholte er die Worte seines Weibes. „Es geht das Gerücht um, dass ein junger Kerl der Verräter ist, der so viele von uns an den Grafen verraten hat. Er wurde von den Schergen gefoltert.“ Albin sah den Sohn des Schmiedes mit durchdringendem Blick an. „Man trieb ihm Nägel durch die Hände, und er sprach!“

„Warum zögerst du? Denk an Irmhild und die Mädchen! Erschlage ihn, oder soll ich es tun?“ Albins Weib griff nach einem dicken Holzscheit, das neben der Feuerstelle lag, und erhob diesen zum Schlag, doch der Bauer hielt ihre Hand.

„Bist du von Sinnen, Weib? Das ist Bran!“ Er nahm ihr den Knüppel aus der Hand und warf diesen zurück auf den Haufen mit dem Brennholz. „Ich trug ihn schon als Kind auf meinen Armen, und du willst, dass ich ihn töte?“ Da griff sie nach der Hand des Bran und riss diese empor.

„Und was ist das? Er ist der Verräter!“

Albin sah auf die kleine schwarze Narbe inmitten der Hand.

„Aber du sagtest, sie trieben ihm die Nägel durch die Hände“, wandte Bran mit zitternder Stimme ein, und er wusste, dass es um nicht weniger ging als um sein Leben.

„Hier, sieh doch!“ Er hob auch die andere Hand, und die war unversehrt. „Ich war in Werlaha. Ja, das stimmt! Aber ich war Gast des Zimmerers Ruland und nicht der Gefangene des Herimann!“

„Schwörst du das, bei allen Göttern?“, fragte Albin streng, und Bran nickte heftig. „Ja, ja! Ich schwör es! Ich bin kein Verräter!“

„Das wirst du ihm doch nicht glauben?“ Albins Weib blieb unversöhnlich. „Der Rat soll entscheiden!“, verlangte sie trotzig.

„Nun ist es genug“, fauchte da der große Sachse sein Weib an. „Geh in den Stall und melke die Kuh“, befahl er und schickte sie fort. Und sein Weib gehorchte erbost. Doch sie ging keineswegs in den Stall, sondern begab sich in die Siedlung, um asentreue Männer herbeizuholen, die den Verräter töten sollten.

Fünf Männer stürmten in das Haus des Bauern und forderten erzürnt die Herausgabe des Verräters Bran. Doch da griff Albin auch schon mit seinen Pranken zu, ergriff den Wortführer und schüttelte diesen heftig. „Was fällt euch ein, ungebeten mein Haus zu betreten? Ich prügele euch zu Brei!“