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Aus dem einstigen Jarl von Tautra wird der Graf der Wulfshöhe. Aus Jarl Einar wird Graf Wulfger. So erfüllt der junge Krieger jenen Schwur, den er dem alten Wikinger Thorstein gab und gewinnt die Burg seiner Ahnen zurück. Er schwört dem Sachsenkönig Cobbo den Treueeid, und wird dessen Gefolgsmann. Doch Einar kann nicht von den Raubfahrten lassen, und schließt sich dem Seekönig Ragnar an, um die große Stadt Paris zu belagern. Er fällt in Ungnade, und schon bald spaltet auch die Glaubensfrage den Nordmann und seinen Lehnsherrn, auf das ein Streit schwillt, der Graf Wulfger und sein Gefolge in größte Gefahr bringt.
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Seitenzahl: 350
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RAINER W. GRIMM wurde 1964 in Gelsenkirchen / Nordrhein -Westfalen, als zweiter Sohn, in eine Bergmannsfamilie geboren und lebt auch heute noch mit seiner Familie und seinen beiden Katzen im längst wieder ergrünten Ruhrgebiet. Erst mit fünfunddreißig Jahren, bedingt durch eine Rückenerkrankung, entdeckte der gelernte Handwerker seine Liebe zur Schriftstellerei. Als unabhängiger Autor veröffentlicht er seitdem seine historischen Geschichten und Romane, die meist von den Wikingern erzählen.
Das Land der Ahnen
Überraschungen
Die Entführung
Der erste Angriff
Kampf um die Burg
Von Alma, Thorvi und einem Versprechen
Hyrnings Arm
Die Burg von Badliki
Almas Vergangenheit
König Ragnars Angebot
Der lange Weg nach Paris
Raubfahrt im Land der Franken
Wikingerüberfall
Donnergrollen
Einars Ragnarök
Ohne einen weiteren Kampf mit den Kriegern König Grjotgards1 ausfechten zu müssen, hatten die Schiffe des Jarls2 von Tautra im Morgengrauen die Südbucht verlassen. Einars Hoffnung war es, dass der König die Bewohner von Sørhamna, die zurückgeblieben waren, verschonen würde, wenn er, der Jarl, nicht mehr auf der Insel weilte. Und so geschah es auch.
Als am nächsten Morgen die Nachricht, dass Einar fort sei, in das Lager der Krieger aus Lade3 getragen wurde, brachen sie ihren Angriff ab und segelten zurück zur Königsstadt. So blieb die Insel ohne Oberhaupt zurück.
Es dauerte nicht lang, und einige Männer begannen sich darüber zu streiten, wer nun der Herr auf Tautra werden sollte. Die einen waren der Meinung, sie müssten einen Anführer wählen. Andere aber sagten, dass nur der König einen neuen Jarl ernennen könne. Sonst wäre die Gefahr zu groß, das dieser wieder seine Krieger schicken würde. Wen hätten sie auch wählen sollen?
Es gab auf der Insel nur noch eine Person, die einem Jarlsgeschlecht entstammte, und diese war Ferun, die Tochter des alten Jarls Oyvind. Diese aber wollte nicht behelligt werden. Außerdem beabsichtigte sowieso niemand, einem Weib die Führerschaft und die Jarlswürde anzutragen.
So blieb die Insel ohne Anführer, und einzig Sigtrygg, der Rechtsprecher, wagte es hin und wieder den anderen Befehle zu erteilen. Die meisten aber wandten sich an Ulla, wenn es darum ging, Streitigkeiten beizulegen. Allen Bewohnern, ob in Sørhamna oder in der Siedlung Nordbuktavik, war bewusst, dass sie einen neuen Jarl oder Häuptling brauchten. So bestimmte Sigtrygg den nächsten vollen Mond dazu, ein Thing4 abzuhalten, an dem ein neuer Häuptling gewählt werden sollte. Doch es sollte anders kommen.
*
Je weiter die kleine Flotte nach Süden segelte, umso besser wurde das Wetter. Hatten sie noch im großen Fjord und im Nordmeer mit stürmischen Winden zu kämpfen, die ihnen fast das Tuch zerrissen, so flaute der Sturm vor der Küste Hardangers ab.
Die Landschaft, die an ihnen vorbeizog, begann sich schnell zu verändern. Das kahle, graue Gebirge wurde flacher, und grüner. Dichte Wälder, die bis an die Wasserkante hinunter reichten, wurden nun immer öfter von Wiesen unterbrochen, und aus Kiefern wurden mehr und mehr Buchen und Eichen. Als sie die See zwischen Hardanger und dem nördlichen Jütland, Skagerrak5 geheißen, hinter sich gelassen hatten, gab es kaum noch Gebirge an den Küsten des Nordmeeres. Was blieb, waren vereinzelte Hügel und Erhebungen, bis es fast gänzlich von flachem Land ersetzt wurde.
Eines seiner Schiffe hatte der Jarl im Hafen von Sørhamna zurückgelassen, denn es fehlte ihm an Männern, um dieses zu bemannen. Die Schniggen Wellenwolf, Wogenreiter und Flutenbrecher, so wie das Knarr6 aber, segelten in Rufweite nebeneinander durch die Fluten der See. Das dickbauchige Lastschiff war mit dem Gepäck und den persönlichen Gegenständen beladen worden, von denen sich die Flüchtenden auf gar keinen Fall trennen wollten. Doch jedem hatte Einar nur wenige Teile gestattet. Dazu kamen Gerätschaften, die sie brauchten, um das Land zu bestellen, Saatgut und natürlich Nahrung.
Mehr als ein Dutzend Familien waren dem Jarl gefolgt, hatten Haus und Hof zurückgelassen, um nicht unter einem fremden Jarl leben zu müssen. Ulla, aber, die Einar einst als Ziehsohn aufgenommen hatte, war auf der Insel im Ladefjord zurückgeblieben. Sie hatte die große Siedlung Sørhamna im Süden verlassen und war auf die Nordinsel nach Nordbuktavik zurückgekehrt. Dort hatte sie viele Sommer und Winter mit ihrem Gemahl als Jarlsgattin gelebt, und von dort wollte sie eines Tages den Weg in das Totenreich nach Helheim7 antreten.
Die Gefolgschaft des Einar war auf die drei Schniggen8 des Jarls verteilt worden, und die Gauten des Borka, die ohne Ausnahme ihrem Anführer folgten, segelten auf der Schnigge, mit der sie einst nach Tautra gekommen waren. So folgten dem Jarl noch etwas mehr als hundert Menschen, von denen fünfundziebzig erfahrene Krieger waren. Dazu kamen die gut fünfzig Gauten. Für alle diese Menschen galt es, eine neue Heimat zu finden. Erschwerend kam hinzu, dass Jarl Einar sein Gefolge versorgen musste, und dies zeigte sich, als der Herbst nahte, als nicht einfache Aufgabe. An den Anbau von Feldfrüchten war in diesem Jahr nicht mehr zu denken, selbst wenn sie schnell einen Flecken Erde finden würden, auf dem sie leben könnten. Und bei dem Ziel, welches sie im Auge hatten, war zu befürchten, dass kriegerische Mittel zur Durchsetzung von Nöten waren.
Mit einem kräftigen Nordwind in den Segeln erreichten sie das Skagerrak, und bald schon sahen sie die Küste Jütlands. Hier gab Jarl Einar den Befehl, die Schiffe an das Ufer zu steuern. Es wurde Zeit, ein Lager aufzuschlagen, denn viele waren erschöpft, und der Jarl durfte nicht vergessen, dass er Frauen und Kinder auf seinen Schiffen hatte. Außerdem wurde es bereits dunkel, und die Nächte verbrachten sie an Land. Dies schien dem Einar sicherer zu sein.
Schnell hatte Kjelt eine geeignete Stelle gefunden, denn hier kannte er sich aus. Schon des Öfteren hatten sie hier gelagert, wenn sie ihr Weg in das Kattegatt9 oder das warägische Meer10 führte.
Nachdem die Schiffe an Land gezogen waren, es war ein flacher Strand mit weißem Sand, an dem sie gelandet waren, schlugen sie ihr Lager auf.
Als es dunkel geworden war, brannten die Feuer. Die Kinder und manche Frau lagen bereits in tiefem Schlaf, während die Männer noch um die Feuer saßen und miteinander sprachen.
Nur einer saß allein, etwas abseits an einer Feuerstelle.
„Warum sitzt du hier allein, Einar? Dort drüben am Feuer ist es lustig“, sprach der Gautenjarl grinsend. „Ach, ich muss meine Gedanken ordnen“, antwortete Einar. „Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe, dass mir die Götter ihr Heil nahmen?“
„Sie haben dir dein Heil nicht genommen. Du lebst doch!“
„Aber ich habe meine Herrschaft verloren“, erwiderte Einar fast trotzig.
Der Gautenjarl grinste immer noch. „Vielleicht ist genau dies das Schicksalsnetz, welches die Nornen11 für dich gesponnen haben.“ Da sah Einar den Gauten an, sprach aber nichts.
„Ist es dir recht, wenn ich mich zu dir setze?“, fragte Borka und nahm Platz, ohne eine Antwort abzuwarten. Für einen Moment saßen die beiden Männer nun schweigend im Sand und starrten in die tanzenden Flammen des Feuers. Das Grinsen auf dem Gesicht des Gautenjarls war verschwunden. „Was bedrückt dich, Borka?“ Einar hatte seinen Kopf gehoben und lächelte den Gautenjarl an.
„Bedrücken? Mich?“, stotterte der weitaus ältere Mann verlegen. „Nun ja, es gibt da etwas, das bereitet mir Unbehagen, doch ich spreche es ungern aus.“
„Ich kann dich nicht zum Reden zwingen, Freund“, lächelte der jüngere Mann und ließ sich den feinen Sand immer wieder durch seine Finger rieseln.
„Wir sind dir sehr dankbar, Einar. Das musst du mir glauben.“ Borka stockte einen kurzen Augenblick. „Doch ich habe beschlossen, dass wir dich hier verlassen werden.“ Einar schien von den Worten des Borka unbeeindruckt zu sein, denn sein Blick klebte weiterhin an den tanzenden Flammen.
„Wir können im Süden nicht leben, denn ich denke, dort willst du hin“, fuhr Borka fort. „Uns zieht es aber zurück in die Heimat. Oder wenigstens auf eine der Inseln vor der Küste Götalands.“
Einar holte tief Luft. „Ihr seid freie Männer und könnt gehen, wohin ihr wollt.“ Er griff nach einigen dünnen Ästen, die hinter ihm lagen, und legte diese in das Feuer, dann griff er wieder tief in den warmen Sand. „Breka auch?“, fragte er. Der Gautenjarl nickte. „Ja, mein Sohn und sein Weib Astrid werden mit uns ins Dänenreich gehen.“
Er warf den Sand zur Seite und sah den Gauten an. „Ich habe geahnt, dass dieser Tag bald kommen würde, jetzt, wo man uns von Tautra vertrieben hat. Und ich kann nicht sagen, dass mich deine Entscheidung glücklich macht, Borka. Aber ich muss sie akzeptieren.“
„Ich stehe tief in deiner Schuld, Jarl Einar, das weiß ich, aber ich bin ein Nordmann, und nur hier will ich leben. Vielleicht hat mir König Hrotger verziehen. Und wenn nicht, finde ich einen anderen Platz.“
Nun war es Borka, der ein wenig beschämt in den Sand griff und zusah, wie dieser durch seine Finger rieselte. „Ich glaube, dass dies mein Schicksal ist!“
Da schossen Jarl Einar die Erinnerungen an den alten Thorstein durch seinen Kopf. Jenen alten Nordmann in Diensten seines wahren Vaters Wulfram, des Sachsengrafen, und an den Schwur, den dieser ihm in jungen Jahren abnahm.
„Du hast recht, Borka. Wir müssen unser Schicksal annehmen, so wie es die Nornen für uns bestimmten. Ich wünsche, dass die Götter bei dir sind auf eurem Weg.“ Der Gaute nickte, erhob sich und ging.
Zwei Tage lagerten sie auf dem Strand im Norden Jütlands, und dann begannen die Gauten, ihr Lager abzubrechen. Und als der Moment des Abschieds gekommen war, trat die Sigve als Erstes vor Einar und die Seinen. Zuerst umarmte sie die Sächsin Alma. Dann wandte sie sich dem Jarl zu. Fast zärtlich berührte die Hand das Gesicht des Einar. Mit einem Lächeln sprach die Völva mit dem feuerroten Haar:
„Mein Jarl Einar, dies wird kein Abschied für immer sein. Ich weiß es!“ Dann umarmte sie den Krieger und wandte sich wieder ihrem Gemahl Borka zu. Auch dieser verabschiedete sich herzlich und umarmte den Jarl sogar, der sie in Tautra aufgenommen hatte, als sie vor ihrem König Hrotger fliehen mussten, und der ihm einst seinen Sohn Breka zurück gebracht hatte. Auch von Alma und den anderen verabschiedete er sich, bevor er und Sigve sich gemeinsam auf das Schiff begaben. Nach und nach traten die Gauten vor den Jarl, denn keiner wollte es sich nehmen lassen, dem jungen Krieger zu danken.
Als letzter trat Breka vor seinen Freund Einar. Sein Gesicht war wie versteinert, und die Worte des jungen Mannes fielen ihm sichtlich schwer. „Die Götter mögen dich und dein Gefolge beschützen“, sprach er mit erstickter Stimme. „Ich werde immer dein Freund bleiben, Jarl Einar.“
Bald darauf segelte die Schnigge der Gauten nach Osten in das Kattegat.
*
So, wie Kjelt es in Tautra vorgeschlagen hatte, zog es sie in das Saxland12 zur Burg Wulfshöhe. Und Einar war sich nun sicher, dass genau dies sein Schicksal war. Warum sonst hatte Odin es zugelassen, das man ihn von der Insel vertrieben hatte.Ja, sein Schicksal war die Wulfshöhe!
Jene Burg an den Ufern der Lipsia13, nicht weit der Stadt Wesele14 gelegen, war einst der Stammsitz der Ahnen des Einar, dessen sächsischer Name Wulfger war. Und nun galt es, diese Burg für Graf Wulfger zurückzugewinnen.
Es war Spätsommer des Jahres 830 n.Chr., und Jarl Einar zählte sechsundzwanzig Sommer, als sie die Westküste des Danelandes15 hinter sich gelassen hatten, und nun auf das Land der Friesen zusteuerten.
Auf dem Wellenwolf, der Schnigge16 mit dem feingeschnitzten Wolfskopf am Vordersteven, fuhren neben dem schönen Sachsenweib Alma und dem ebenfalls sächsischen Krieger Raban, auch die engsten Freunde des einstigen Jarls von Tautra. Olaf, der hünenhafte Krieger mit dem blonden Haar, der Einar treu zur Seite stand und keinen Moment gezögert hatte, als der Jarl die Frage stellte, wer ihm weiterhin folgen wolle. Bogtyr, den sie alle Fuchs nannten und der der Stevenhauptmann des Wellenwolfes war. Er hatte seine Mutter und auch die Geschwister, alle mit leuchtend roten Häuptern, mit sich auf die Schnigge genommen. Kjelt, war der Steuermann der Schnigge. Den Befehl auf dem Flutenbrecher hatte Hyrning inne, und Ingolf war sein Steuermann. Auf dem Wogenreiter hielt Ubbe die Stange des Seitenruders in seinen Händen, und Thoke, der Zimmermann, der um wenige Jahre älter war als Einar, hatte das Kommando.
Ilva, die Schildmaid, die einst an der Seite der Schwester des Jarls auf dem Blutdrachen gefahren war, hatte sich mit ihrer kleinen Tochter dem Jarl angeschlossen. Sie hatte sich im letzten Frühjahr aus den Reihen der Schildmaiden gelöst, als diese unter dem Befehl der Thordis die Insel Tautra verlassen hatten.
Niemand wusste, wohin es die Jarlsschwester Thordis und die Kriegerinnen verschlagen hatte.
Auch wenn die hübsche Ilva nicht mehr die Konkubine des Jarls war, so wollte sie doch, dass ihre Tochter Thorvi, die nun drei Sommer und Winter zählte, in der Nähe ihres Vaters aufwuchs. Und Jarl Einar erfreute dies sehr, sodass er Mutter und Kind bevorzugt behandelte.
Es kam sogar manchmal vor, dass er der schlanken, blonden Ilva beilag. Doch dies war äußerst selten, denn er liebte die Sächsin Alma, die er einst als Sklavin ihrem früheren Herrn geraubt hatte.
Es war ein sonniger und warmer Tag, es wehte kaum ein Lüftchen, und die Männer trieben die Schiffe mit kräftigen Ruderschlägen in die Mündung des Rijns17. Überall, wo sie vorüberzogen, zeigte sich dasselbe Bild: Die Menschen flohen oder bewaffnete Krieger machten sich auf den Weg zum Ufer. Doch die Schiffe zogen weiter und ließen die Siedlungen unbehelligt. Nur zur Nacht gingen sie an Land, und manchmal stahlen sie den Bauern etwas Vieh von der Weide, um sich satt zu essen. Und früh am Morgen, noch ehe ein Landesherr seine Krieger schicken konnte, setzten sie ihre Reise fort. Zurück blieben nur die erkalteten Feuerstellen und die sterblichen Überreste der nächtlichen Mahlzeiten.
*
Schmatzend saß Ermold, der Graf der Wulfshöhe, an dem großen Tisch in der Halle, und sein Blick zeugte davon, dass er sich immer noch mit den Verpflichtungen eines Grafen und Burgherren äußerst schwer tat. Zwei Winter waren vergangen, seit er seinen Vater Dittmar vom Hochstuhl gestürzt hatte, in dem er Herzog Cobbo davon überzeugte, als Besitzer des Karlsschwertes der rechtmäßige Herr auf der Wulfshöhe zu sein. Den alten Grafen, für den er nicht gerade die Liebe eines Sohnes empfand, duldete er zwar noch auf der Burg. Mehr aber nicht!
Dies tat er aber nur, um beim Herzog nicht in Ungnade zu fallen. Auch Graf Dittmar hatte keine väterlichen Gefühle für Ermold übrig, den er einst mit einer Magd gezeugt hatte, doch da Dittmar mit seinem Weib ein Sohn und Erbe versagt blieb, hatte er den Bastard auf die Burg geholt. Wie einen Sohn aber behandelte er ihn all die Jahre nicht.
Dann aber erschien dieser Wikinger mit dem Schwert auf der Burg. Dies war das Schwert, welches einst der Frankenkaiser Karl aus Dankbarkeit dem Sachsengrafen Wulfmar als Pfand für seinen Anspruch auf die Wulfshöhe überreicht hatte. Wer im Besitz dieses Schwertes war, sollte der Herr auf der Wulfshöhe sein. So hatte es Karl der Große bestimmt.
Da machte sich Ermold auf zum Herrschaftssitz des Herzogs, um die Grafenwürde auf der Burg einzufordern, und Cobbo willigte ein, wenn er im Gegenzug das Schwert des Kaisers erhielt. Der Hauptmann der Berittenen, die zur Wulfshöhe gekommen waren, um Ermold zum Grafen auszurufen, sollte das Schwert zum Herzogensitz nach Osnabruggi18 bringen, dort war dieser aber nie angekommen.
An dem Kopfende des Tisches, direkt bei dem wärmenden Kamin, saß Ermold auf dem Hochstuhl des Grafen. Dass dieser schöne Stuhl mit heidnischen Götzenbildern beschnitzt war, hatte ihn und auch seinen Vater nie gestört. Zu seiner Rechten saß sein Berater Hidde, der schon dem Dittmar gedient hatte. Diesem gegenüber saß der Priester Ulfeus, neben dem der Hauptmann Rorik, Befehlshaber der Berittenen, saß. Diesem folgte der dickbauchige Wittich, der Hauptmann der Wache, und erst dann hatte der alte Graf Dittmar einen Platz gefunden. Mägde liefen umher und bewirteten die Männer mit Fleisch, Brot, Wein und Bier.
„Es wird Zeit, dass du dir ein Weib nimmst, Ermold“, sprach Dittmar schmatzend. „Du solltest für einen Erben sorgen!“
„Ich zähle zweiundzwanzig Winter, du alter Narr. Das hat doch wohl noch ein wenig Zeit“, fauchte Ermold seinen Vater an. „Außerdem kann ich auf deinen Rat verzichten.“ Da legte der Priester die Kanninchenkeule, die er in der Hand hielt und an der er herumknabberte, auf den Tisch und sprach: „Mein Graf, verzeih mir, aber Graf Dittmar hat recht. Du kannst nicht früh genug damit beginnen, einen legitimen Nachfolger zu zeugen.“ Dabei sah er den Dittmar vorwurfsvoll an.
Da sprang Ermold auf. „Was willst du damit sagen? Wirfst du mir etwa vor, ein Bastard zu sein?“, rief er erzürnt.
„Oh nein, oh nein, Herr! Es ist nur …!“
„Es ist was?“ Ermold war wenig erfreut über dieses Thema, denn alle seine Bemühungen, eine standesgemäße Braut zu finden, waren bisher ohne Erfolg geblieben. Kein Edelmann aus dem Gefolge des Sachsenherzogs Cobbo wollte dem Grafen der Wulfshöhe seine Tochter zum Weib geben.
Graf Ermold galt in diesen Kreisen inzwischen als ehrloser Kerl und wenig verlässlich. Dies war darauf zurückzuführen, dass er sein Versprechen, dem Herzog das Schwert des Kaisers zu überlassen, nicht nachgekommen war. Nur den Beratern des Herzogs hatte er es zu verdanken, dass er noch auf dem Hochstuhl saß. Ihnen war Ermold einfach zu kümmerlich, als dass sie Truppen zur Wulfshöhe schicken wollten. Und so lange dieser seine Abgaben leistete, war es gleich, wer auf dieser armseligen Burg herrschte.
„Ich will von dieser Weibergeschichte nichts hören, habt ihr das verstanden?“, blaffte der Graf seine Gäste unfreundlich an, und alle schwiegen.
Plötzlich war es wieder Dittmar, der das Wort ergriff. Mit einem hämischen Grinsen sprach er: „Hast du schon von den Wikingern gehört?“
„Welche Wikinger?“ Ermold hob seinen Kopf. „Willst du mich foppen?“
„Das fiele mir nicht im Traum ein, mein Sohn“, sprach Dittmar höhnisch. „Ich rede von den Wikingern, die flussabwärts gesehen wurden. Schon vor einigen Tagen sollen sie nicht weit der Isselburg gelagert haben. Vier Schiffe sagt man.“
„Vor Tagen, sagst du? Dann könnten sie längst in unserer Nähe sein“, mutmaßte der junge Graf.
Da grinste der alte Dittmar und kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Warum so aufgeregt, mein Sohn? Hast du etwa Angst?“
„Aber Herr“, mischte sich Hidde ein. „Es gibt doch gar keinen Grund zur Angst.“
„So, glaubst du das, Hidde?“ Graf Dittmar begann zu lachen. „Erinnere dich an den Grund, der mich diese Burg kostete.“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Das Schwert! Es war das Schwert des Kaisers und dieser verdammte Schwur, der darauf liegt.“
„Aber was hat das mit diesen Wikingern zu tun? Die sind sicher auf Raub aus“, hielt der Berater dagegen.
„Und wenn nicht?“, fragte Dittmar verstohlen grinsend.
„Wer hat nun das Schwert? Ich weiß nur, dass es Herzog Cobbo nicht hat.“
Die Anwesenden sahen, dass ihr junger Gaugraf mehr und mehr seine Gesichtsfarbe verlor.
„Herr, wir können Späher ausschicken“, schlug Wittich vor, und Rorik stimmte diesem zu. Da nickte Graf Ermold.
„Ja, das werden wir tun. Und behaltet mir das Ufer der Lipsia gut im Auge!“
Der alte Graf Dittmar lehnte sich genüsslich in seinem Stuhl zurück, warf einen Knochen auf den Tisch und lachte.
*
Das Drachenschiff steuerte an den Anleger, der weit in die Südbucht ragte. Der Stevenhauptmann Borkell, den man den Schwarzen nannte, rief seine Befehle, und die Krieger holten die Riemen ein. Mehrere Männer sprangen von Bord, um das Schiff fest zu vertäuen. Kein Geringerer als der König des Trøndelag selbst trat auf die Bretter des breiten Steges, gefolgt von Alwara, der Base des Königs, und Thorsti dem Mann an ihrer Seite. Natürlich eilten die Bewohner von Sørhamna zu Hauf in den Hafen, denn der Besuch des leibhaftigen Königs war etwas Besonderes auf der kleinen Insel im großen Fjord von Lade. Natürlich nur, wenn dieser in friedlicher Absicht erschien.
Der Zwist zwischen der Insel und dem König des Trøndelag war beigelegt, die Toten waren verbrannt worden, und nun ging man wieder seiner täglichen Arbeit nach.
In dem Haus, das einst der Jarl bewohnte, quartierte sich der König mit seinem Gefolge ein. „Nun ist dies wieder dein Haus, Alwara“, sagte er gönnerhaft, als sie über die Schwelle traten. Dann wandte er sich an den kleinen, dicken Mann mit dem Ziegenbart, der sein Berater war. „Ingolf, lass verkünden, dass das Volk sich am Abend auf dem Platz vor der Schildhalle sammeln soll!“
Der Berater mit dem roten, schütteren Haar nickte und gab den Sklaven weiter Anweisungen, die das Gepäck des Königs in das Haus schleppten. Darunter waren unzählige, feingearbeitete Kisten und sogar ein Hochstuhl, ohne den der König niemals reiste. Grjotgard war nicht weniger Krieger wie seine Männer, doch er liebte auch die Vorzüge eines Daseins als König.
Fackelschein erhellte den Platz, der sich nach Einbruch der Dunkelheit mehr und mehr füllte. Doch der König ließ sie warten, und so begannen einige Männer zu murren. Meist waren es diejenigen, die auf Seiten des Jarl Einars gekämpft hatten.
Dies aber wussten die Krieger der Königswache schnell zu unterbinden. Sie pickten sich die Störenfriede heraus und knüppelten sie ohne Gnade mit den Schäften ihrer Speere nieder. Töten durften sie sie nicht, das hatte Grjotgard verboten.
Endlich trat der König aus der Schildhalle, und mit ihm die einstige Gemahlin Jarl Einars, sowie der Krieger Thorsti, den viele den Schönling nannten.
Als die Männer und Frauen Thorsti erkannten, begannen sie zu murren, denn in ihm sahen sie einen Verräter. Was er wohl auch war!
König Grjotgard Herlaugsson trat an den Rand der hölzernen Planken, hob seine Hände und rief: „Der abtrünnige Jarl Einar ist fort! Nun mögen die Götter dafür sorgen, dass wieder Friede herrscht im Ladefjord. Und damit dieser Friede auch auf Tautra gewahrt bleibt, bestimme ich Thorsti, den Sohn des Vestein, zum neuen Jarl auf Tautra.“ Die Menge vor der Halle schwieg. Kein Jubelruf oder zustimmendes Klatschen erklang.
Mürrisch sah der König auf die Menschen herab, blickte seine Base an und rümpfte seine Nase. „Außerdem gebe ich bekannt, dass meine Base den neuen Jarl von Tautra zu ihrem Gemahl erwählt hat.“ Wieder blieb es ruhig, und der König begann sich langsam zu ärgern. Seine Stimme klang nun nicht mehr so freundlich wie zuvor, und er rief laut: „Ihr habt drei Tage, um die Festlichkeiten vorzubereiten. Und vergesst nicht, die Braut entstammt einer königlichen Sippe!“ Dann wandte er sich um und verschwand, gefolgt von den anderen, in der Schildhalle.
Die Laune des Königs war fortan nicht mehr die beste „Ich danke dir für dein Vertrauen, König Grjotgard, aber wie du gesehen hast, bin ich hier in Sørhamna nicht sehr beliebt.“ Die Worte des neuen Jarls gefielen dem König keineswegs. „Na und? Du bist der Jarl, und niemand muss dich lieben. Es reicht, wenn sie dich fürchten!“
„Wie soll das gehen?“, fragte Thorsti. „Ich habe nur wenige Männer, die mir folgen. Seit ich mich gegen Jarl Einar gestellt habe, wagten nur einige, mir die Freundschaft zu erhalten.“
Der König lachte laut auf. „Sorge du nur dafür, dass ich meine Abgaben bekomme, dann sorge ich dafür, dass es niemand wagt, dich anzugreifen.“ Er sah eine Sklavin an und verlangte nach Bier, dann fielen seine Augen wieder auf Thorsti. „Sobald ich in Lade angekommen bin, schicke ich dir zehn Krieger als Leibwache. Sorge also dafür, dass es meinen Männern bei dir an nichts fehlt!“
„Oh, mein König“, katzbuckelte Thorsti, „darauf kannst du dich verlassen.“
„Siehst du, mein Lieber“, mischte sich Alwara ein und lächelte ihren zukünftigen Gemahl wissend an. „Niemand wird es wagen, uns zu behelligen.“
*
„Dort drüben haben wir gelagert, als wir das letzte Mal hier waren“, grinste Kjelt und zeigte auf das Ufer an der Steuerbordseite. „Ja, und dieses Mal lagern wir dort drüben“, befahl Einar und zeigte auf das linke Ufer. Ein Hornstoß ertönte, und die Schiffe folgten dem Wellenwolf an die Küste. An einer mit Weiden bewachsenen Böschung legten die Schiffe an und wurden an den Bäumen vertäut.
Dann schoben sie Planken auf das Land hinüber.
Während sie ein Zelt errichteten, fragte Kjelt plötzlich seinen Anführer: „Willst du sofort gegen die Burg marschieren?“
Da schüttelte Einar seinen Kopf. „Ich gedenke gar nicht, gegen die Burg zu marschieren.“ Kjelt sah den Jarl erstaunt an. „Glaubst du etwa, dieser Graf wird freiwillig das Feld räumen?“
„Das weiß ich nicht, Kjelt, doch ich werde dafür sorgen, dass ihm keiner zu Hilfe eilt.“ Langsam strich er mit der Hand über den Griff seines Schwertes Blutauge.
Da mischte sich Alma ein, das Weib mit den langen, schwarzen Locken. „Glaubst du wirklich, dass der Herzog dir die Burg gibt? Du bist ein Nordmann, Einar!“
„Ja, meine Schöne, das bin ich. Aber ich bin auch der rechtmäßige Erbe der Wulfshöhe. Meine Ahnen haben sie erbaut, und mein Urahn hat dem Kaiser das Leben gerettet.“ Er strich dem Weib liebevoll über den Kopf. „Außerdem besitze ich das Schwert, welches dieser Cobbo gerne gehabt hätte.“ Er griff sich einen Wasserschlauch aus Ziegenleder und trank einen tiefen Schluck daraus. „Als wir es uns zurückholten, haben wir Ermold einen Hieb verpasst, und unseren Anspruch auf diese Burg gewahrt“, fuhr er grinsend fort, „und ich denke, der Herzog wird nicht gut auf diesen zu sprechen sein.“
Olaf begann zu lachen, denn er erinnerte sich an den Streich, als sie den Berittenen des Herzogs das Schwert Blutauge abnahmen. „Wenn der Schwur des Frankenkaisers noch Gültigkeit hat, könntest du recht haben.“ Dann wurde er ernst. „Das heißt aber nicht, dass dieser Ermold uns die Burg kampflos überlässt.“
„Olaf, mein Freund, wir machen einen Schritt nach dem anderen und werden sehen, was passiert.“ Einar setzte sich auf einen großen Stein. „In ein paar Tagen, werde ich mich auf den Weg begeben, um diesem Herzog meine Aufwartung zu machen. Dann werden wir sehen, wie er zu dem Schwur des Franken steht. Doch erst einmal ruhen wir uns aus und besorgen einige Pferde, denn der Weg zum Sitz des Herzogs ist weit.“
Schon am nächsten Tag begab sich Einar mit Raban zu dem Hof eines Bauern, der nicht weit ihres Lagers, auf einer großen Wiese stand. Die Aufregung war groß, als die beiden Fremden auf den Hof traten und nicht weniger als vier Kerle stellten sich den Nordmännern mit Forken und Äxten in Händen entgegen. Schnell aber hatte Raban dem Bauern ihr Anliegen erklärt und versichert, dass sie keine feindlichen Absichten hegten.
„Dieser Mann hier“, er zeigte auf Einar, „ist der wahre Herr der Wulfshöhe. Er ist der Sohn des Wulfram und der Walburga.“
Der Bauer sah den Nordmann ungläubig an. „Dieser Kerl da soll aus dem Clan der Wölfe sein? Wer’s glaubt? Schon seit vielen Wintern hat keiner der Wölfe mehr auf der Burg geherrscht.“
„Glaube es nur! Nicht mehr lange, und er ist dein Herr!“ Raban nickte dem Bauern zu. Da trat plötzlich ein Mann aus dem Haus. Einer, der schon viele Sommer und Winter erlebt hatte. Sein graues Haar hing dem Alten bis auf die Schultern, und sein Bart war lang und ebenso grau. Ohne ein Wort zu verlieren, trat er vor Jarl Einar. Er begann den Nordmann zu mustern. Sah ihm tief in seine blauen Augen, beäugte den blonden Bart und griff dem Jarl in sein Haar. Er hielt die Hände so, dass die Haare von ihnen verdeckt wurden und somit kürzer erschienen. „Graf Wulfmar!“, sprach er leise, wandte sich dann seinem Sohn, dem Bauern zu, und sagte mit krächzender Stimme: „Er ist dem Wulfmar wie aus dem Gesicht gestochen. Und auch seinem Vater sieht er ähnlich. Er ist der Sohn des Grafen!“
„Was erzählst du da, Vater?“, zweifelte der Bauer an den Worten des Alten. „Woher willst du das so genau wissen?“
„Ich war lange genug in den Diensten des alten Grafen Wulfmar. Ich war noch ein junger Bursche, als ich für seine Pferde sorgte“, berichtete der Greis. „Und Graf Wulfram, dessen Sohn der da ist“, er zeigte auf Einar, „gab mir diesen Hof zum Lehen. Oh, du kannst mir glauben, ich erkenne die Familie der Wölfe.“
Jarl Einar war äußerst erfreut über die Worte des alten Bauern. „Sag mir, kennst du auch den Nordmann, der in Diensten des Grafen stand?“ Da lachte der Alte auf. „Ja, natürlich! Thorstein war sein Name!“ Er schlug sich auf den Oberschenkel. „Er war ein harter Krieger und dem Wulfram, so wie vorher schon dessen Vater, treu ergeben. Man erzählte sich, dass er damals, als wir gegen Graf Dittmar kämpften, mit dem Kind geflohen sei.“
„Welches Kind?“, fragte nun der Sohn des Alten. „Na, das Kind der Walburga!“ Und plötzlich begann der alte Bauer zu grinsen und hob den Finger. „Du! Ja, du bist dieses Kind, mit dem der Thorstein verschwand!“
Nun senkten der Bauer und seine Söhne die Waffen. „Was wollt ihr also?“
„Wir brauchen Pferde“, sprach Raban, und der Bauer begann lauthals zu lachen: „Pferde? Wo sollen wir Pferde herbekommen? Wir sind froh, wenn uns dieser elende Dreckskerl auf der Burg ein paar Körner lässt, um den Winter zu überleben. Nein, Pferde besitzen wir keine.“ Da meldete sich einer der Söhne zu Wort. „Sicher finden sie bei Ogger welche. Aber ob er sie euch gibt, ist eine andere Sache.“
„Wer ist dieser Ogger?“, fragte nun Einar, und der Sohn des Bauern erzählte von dem großen Hof, der auf der Straße nach Wesele lag. „Entweder der Bauer Ogger oder Graf Ermold hat, was ihr benötigt.“
*
1 Grjotgard Herlaugsson – von 790 bis 867 König des Tröndelag
2 Jarl – Earl, Graf
3 Lade – Königsstadt im Trøndelag, von König Olaf Tryggvasson in Nidaros umbenannt und erweitert, heute ein Stadtteil von Trondheim
4 Thing – Ratsversammlung der Nordleute
5 Skagerrak – Teil der Nordsee zwischen der Nordküste Jütland und der Südküste Norwegens
6 Knarr, Knorr - Dickbauchiges Handelsschiff der Nordleute
7 Helheim – eine der neun Welten, das Totenreich der Göttin Hel
8 Schnigge – schnelle, schlanke Kriegsschiffe mit bis zu 40 Riemen
9 Kattegat - Meer zwischen dem nördlichen Jütland und dem Götaland
10 Warägisches Meer - Ostsee
11 Nornen – Urd, Verdandi und Skuld, die drei Schicksalsgöttinnen bewachen den Brunnen des Schicksals an den Wurzeln der Weltesche, sie bestimmen das Schicksal der Götter und das der Menschen
12 Saxland – Bezeichnung der Nordleute für das Sachsenland, reichte vom heutigen Ruhrgebiet bis hinauf nach Niedersachsen
13 Lipsia – die Lippe, Fluss in Westfalen
14 Wesele - Wesel
15 Daneland - Dänemark
16 Schnigge – schnelle, schlanke Kriegsschiffe mit bis zu 40 Riemen
17 Rijn - Rhein
18 Osnabruggi – Osnabrück, Sitz des Sachsenherzogs Cobbo
Guntram, der Stevenhauptmann auf der Schnigge des Borka, stand am Vordersteven und beobachtete die Küste, die vor ihnen lag, und welche sie nun in südlicher Richtung entlang segelten. Der Jarl hatte sich lange mit seinem Sohn Breka beraten und war zu der Entscheidung gelangt, nicht in das Land König Hrotgers zurückzukehren.
Im Grenzgebiet zu den Schweden gab es einen großen See, an dessen Ufern sicher noch Platz war, um eine kleine Siedlung zu gründen.
Zum einen Teil, lag der See19 in dem Gau Ranrike, welches in immer wiederkehrenden Grenzkriegen, mal den Norwegern und mal den Schweden anheim fiel. Das südliche Ufer lag im Götaland.
Bald schon fanden sie die Mündung der Götaälv20, der sie flussaufwärts folgten. Vorbei an hohen, mit Wiesen bewachsenen Hügeln, Kiefernwäldern und Wasserfällen, die in den Fluss stürzten, ruderten sie in das Landesinnere. Und so gelangten sie an den See, welchen die Gauten Vänern nannten. Groß wie ein Meer lag das Gewässer vor ihnen, und Borka ließ die Männer noch eine Weile das Nordufer entlang segeln. Irgendwann erreichten sie die Mündung eines Fjordes, der sich nach links und rechts teilte. Jarl Borka wählte den linken Fjord und gab Befehl, in diesen hinein zu steuern. Bald schon erkannten sie am Ufer eine Siedlung.
„Dort rüber!“, rief der Gautenjarl und zeigte dorthin, wo sich die Rauchschwaden aus den Häusern in den Himmel erhoben.
„Vielleicht können wir dort unsere Vorräte auffüllen und etwas über die Gegend erfahren.“
Als das Schiff am Ufer anlegte, der Steg war von zwei großen Schniggen belegt, warteten auch schon viele Bewohner der Siedlung auf die Ankömmlinge. „Kommt!“ rief einer der Männer. Seid willkommen im Svanefjord! Kommt an Land!“
Jetzt, da sie auf festem Boden standen, sahen sie erst, dass die Siedlung viel größer war, als dies vom Wasser aus den Anschein hatte.
„Ich bin Askold, der Dorfälteste. Wer ist euer Anführer?“ Der Mann war bereits in einem hohen Alter, doch schien er nicht gebrechlich oder wirr zu sein. Und er war freundlich! Borka trat dem Mann gegenüber und sprach: „Ich bin Jarl Borka, und ich komme …“
„… von der Insel Tautra in Ladefjord“, sprach eine weibliche Stimme im Rücken des Gautenjarls. „Bekannte Gesichter in der Fremde sieht man doch immer gerne.“ Borka wandte sich um und sah in das Antlitz der Thordis. Noch ehe er etwas antworten konnte, ertönte aber ein spitzer Schrei.
„Thordis!“
Astrid, die mit Breka über die Planke an Land gegangen war, hatte die Schildmaid, ihre einstige Anführerin, erkannt, und stürzte sich dieser in die Arme. „Thordis, wieso …? Wie kommst du …?“, stotterte Astrid, bis Breka das Wort ergriff.
„Sei mir gegrüßt, Thordis. Ich freue mich, dich zu sehen, aber, um die Worte meines Weibes zu vollenden: Wie kommst du hierher?“
Thordis befreite sich aus dem Griff der Astrid und grinste den jungen Gauten an. „Breka, auch ich freue mich, dich zu sehen. Die Wege der Götter sind manchmal für uns Menschen unergründlich“, grinste sie. „Ich bin schon lange hier, und ich denke, ihr werdet euch noch wundern.“
„Was soll das heißen?“, fragte Borka nun streng, doch Thordis antwortete nur geheimnisvoll: „Lass dich überraschen, Gautenjarl.“
„Ihr seid Gauten?“, fragte nun der Askold irritiert. „Sagtest du nicht, ihr kämet aus dem Ladefjord?“
„Dies ist eine lange Geschichte, Askold“, nickte Borka dem Grauhaarigen zu. „Nun, unser König hört gerne Geschichten. Gib deine Befehle und komm, Gaute!“
Der Alte wandte sich um und ging. Borka und die anderen sahen ihm nach. „Ihr habt ihn gehört! Kommt“, befahl Thordis und folgte dem Askold. „Breka, Astrid, Sigve! Ihr kommt mit mir! Die anderen errichten unser Lager.“
Der grauhaarige Askold und Thordis, die Ziehschwester des Einar, führten die Gauten zu der großen Schildhalle inmitten der Siedlung. „Kommt“, bat Askold, als die Besucher innehielten, denn sie glaubten, erst um Einlass bitten zu müssen. So folgten sie dem Alten weiter durch die zweiflügelige Tür in das Innere des Gebäudes. Zur Rechten standen drei lange Tischreihen, an denen aber nur wenige Männer saßen. In der Mitte des Raumes war eine lange Feuerstelle, in der jedoch nur in dessen Mitte ein kleines Feuer brannte. Und zur Linken standen auf einem Podest zwei mit besten Fellen bedeckte Hochstühle.
Nun erhob sich einer der Männer, der an einem Tisch mit Würfelspielen beschäftigt war. „Askold, wen bringst du uns da?“ Doch plötzlich hielt der Mann inne, kniff die Augen zusammen und sprach: „Kenne ich euch nicht?“
„Ragnar!“, rief da Breka erfreut aus. „Ragnar Sigurdsson!“
Langsam trat Ragnar auf den jungen Gauten zu. „Dich kenne ich doch“, sagte er grinsend. „Du bist doch ein Mann Jarl Einars!“ Breka nickte zustimmend. „Wie geht es meinem Freund? Wird auch er hierher kommen?“, fragte der Mann mit dem blonden Zopf sichtlich erfreut. „Nein, das glaube ich nicht“, antwortete nun Borka für seinen Sohn und trat heran.
„Ich bin Borka, einst Jarl im Land König Hrotgars, und nun auf der Suche nach einer neuen Heimat.“
„So, ihr sucht Land zum Siedeln. Askold, fällt dir dazu vielleicht etwas ein?“, fragte Ragnar den Dorfältesten, und dieser nickte. „Ja, mein König, das tut es!“
„Gut! Sprechen wir später darüber.“ Ragnar wandte sich wieder Borka zu. „Baut euer Lager am Ufer auf, und wenn du ausgeruht bist von der Reise, lade ich dich mit den Deinen in meine Schildhalle. Dann könnt ihr mir berichten, was euch herführt.“
Noch am selben Tag, die Dämmerung hatte eingesetzt, kam König Ragnar in das Lager der Gauten. Er trat an das Feuer vor dem Zelt des Borka, und dieser forderte den König auf, sich zu setzen. Sigve brachte Becher und Bier, nahm dann auch Platz auf einem der großen Steine, die sie um die Feuerstelle gelegt hatten. „Du willst sicher den Grund unserer Reise wissen, König Ragnar“, sprach Borka, und der König nickte, während er von Sigve einen Becher entgegennahm.
„Ja, das will ich, und natürlich auch wissen, wie es meinem Freund Einar geht.“ Auch Borka nahm den Becher, den Sigve ihm reichte, und begann zu berichten. „Einar ist nicht mehr der Jarl von Tautra.“ König Ragnar hob seine Brauen. „Ist er nicht?“
„Nein! Der Ladekönig Grjotgard Herlaugsson hat ihn vertrieben, und bis zur Küste Jütlands segelten wir noch gemeinsam“, sprach Borka. „Ihn zieht es in das Land der Sachsen, denn dort steht die Burg seiner Ahnen.“
„Ja, ich erinnere mich“, wandte Ragnar ein. „Von dort waren die sächsischen Pferde, die er mir damals in Haithabu verkaufte.“ Plötzlich näherte sich ein Weib mit einem Knaben an ihrer Hand dem Feuer. Sie war ein ausgesprochen hübsches Weib mit langem, blondem Haar, einer schlanken Statur, und in das Kleid einer Königin gewandet. „Ah, mein Weib“, rief Ragnar und sah den Borka an. „Dies ist mein Weib Lagertha und mein Sohn Björn. Komm, Weib setz dich zu uns.“
„Lagertha? Etwa die Schildmaid Lagertha aus dem Gaulatal, von der man am ganzen Nordweg spricht?“, fragte da die Völva21 Sigve erstaunt, und König Ragnar nickte. „Es war Einar, der mir von ihr erzählte, und ich wurde so neugierig, dass mich nichts mehr hielt“, lachte der König. „Und als ich sie sah, war es um mich geschehen.“ Dann wurde sein Blick plötzlich ernst. „Doch die Schildmaid hat es mir nicht leicht gemacht.“
„Ja, er musste sich beweisen“, sprach nun Lagertha, lächelte den König dann aber liebevoll an.
„Einar wurde also aus seiner Herrschaft vertrieben?“ Der König blickte in die Flammen. „Ich hatte schon von Thordis erfahren, dass Einar mit dem Ladekönig im Zwist lebt. Auch den Grund hatte sie mir genannt, denn dieser war es, der sie hierher geführt hatte.“ Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher, den Sigve ihm noch einmal gefüllt hatte. „Ich hoffe, auch er findet den Weg zu mir. Gute und treue Jarls braucht jeder König.“
„Nun ja“, sprach nun Borka ein wenig kleinlaut. „Ich wäre bereit, dir den Eid zu schwören, solltest du für uns einen Platz in deinem Reich finden.“
Da grinste Ragnar. „Wenn ihr den Svanefjord verlasst und die Küste des großen Sees entlang nach Nordosten segelt, erreicht ihr eine Mündung, nicht breiter als ein Fluss die euch in den Harefjord führt. Dort könnt ihr euch ansiedeln, denn es gibt dort keinen Jarl.“
Ragnar klopfte dem Gauten auf die Schulter. „Ihr werdet die Nordgrenze meines Reiches schützen. Leiste mir den Gefolgschaftseid, dann mache ich dich zum Jarl des Gaus am Harefjord. Aber ich sage es dir gleich, dies ist kein leichtes Unterfangen.“
Doch Borka brauchte nicht lang zu überlegen und willigte ein. Schon am nächsten Tag trat er in der Schildhalle vor den König und sein Weib, die schöne Schildmaid Lagertha. Unter den Augen der Gefolgschaft, leistete er den Eid, der ihn wieder zu einem Jarl mit einem eigenen Gau machen sollte.
Obwohl Borka und auch einige Männer und Frauen aus seinem Gefolge unter den Folgen des vorangegangenen Abends zu leiden hatten, machten sie sich schon am nächsten Tag auf die Suche nach dem Fjord, der fortan das Gau des Jarls Borka sein sollte.
*
Die Nacht hatten die Männer des Einar auf dem Hof des Bauern Uddo und seines Weibes Heidrun verbracht, und zum ersten Male hörte Einar Geschichten über seine wahren Eltern aus einem anderen Munde als dem des Thorstein. Der alte Bauer, dessen Name Udbart war, wusste viel zu erzählen über den Grafen und sein Weib, und auch über den Nordmann Thorstein. Schließlich war die Wulfshöhe einmal seine Heimstatt gewesen. Und je mehr Zeit er mit Einar verbrachte, umso sicherer war er sich, dass dies Wulfger, der Sohn des Wulfram war. „Ja, du bist der wahre Herr auf der Burg, und nichts wäre mir lieber, als dass dieser Schwachkopf Ermold und sein seniler Vater Dittmar von dort fortgejagt würden“, sprach Udbart böse dreinschauend. „Dann musst du mich begleiten, Udbart“, verlangte Einar plötzlich. „Begleiten?
Wohin?“, mischte sich Uddo ein. „An den Hof Herzog Cobbos, nach Osnabruggi. Er kann bezeugen, dass ich die Wahrheit sage, dass ich Wulfger, der Sohn des Wulfram bin.“ Die Antwort des Nordmannes gefiel dem Bauern keineswegs.
„Bist du närrisch? Mein Vater ist ein alter Mann. Er würde die Reise nicht überstehen!“
Olaf sah seinen Jarl eindringlich an. „Da könnte er recht haben! Es ist sowieso ein Wunder, dass der klapprige Greis noch lebt.“ Uddo nickte, obwohl er gar nicht verstand, was der Nordmann gesprochen hatte. Doch er ahnte, dass es zu seinen Gunsten war. „Einen solch langen Ritt würde mein Vater Udbart niemals überstehen.“
Da mischte sich Raban ein. „Wer spricht davon, dass Udbart reiten muss?“ Der Sachse grinste und sprach weiter: „Wir laden ihn auf einen Karren und bringen ihn so nach Osnabruggi.“
Sofort begann der Alte zu lachen, denn die Aussicht, noch einmal eine Reise zu machen, gefiel ihm gut. Sein Leben auf dem Hof war trist und eintönig. Eigentlich wartete er nur noch auf den Tod. Da war die Aussicht auf eine Reise doch etwas ganz anderes. Und würde er dabei sterben, hätte er wenigstens noch etwas erlebt.
„So machen wir es!“, rief Udbart laut. „Ich gehe mit euch!“
Mit der Hilfe des Bauern Uddo war es den Nordmännern gelungen, dem reichen Bauern Ogger fünf Pferde und einen Wagen abzuschwatzen. Von Uddo, dem Ogger als künftiger Graf der Wulfshöhe vorgestellt wurde, würde Einar der Herr des Bauern sein, und bei diesem wollte Ogger nicht gleich in Ungnade fallen. So überließ er dem Nordmann die Pferde.
Sicher aber auch aus Angst, dass die Wikinger in böser Absicht auf seinem Hof erscheinen könnten.
Kaum aber hatten sich die Fremden und der Bauer Uddo verabschiedet, griff sich Ogger ein Pferd und machte sich auf den Weg zur Wulfshöhe.
Außer Atem stürzte der reiche Bauer in die Halle des Grafen Ermold, nachdem ihn ein Diener durch die Gänge geführt hatte. Er wartete es nicht ab, von diesem vor den Hochstuhl