Der Feind im Haus - Wolfgang Schreyer - E-Book

Der Feind im Haus E-Book

Wolfgang Schreyer

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Beschreibung

Edgar Sörensen ist ein angesehener Journalist und Terrorexperte, und jetzt ist er Leiter des „Hauptstadtstudios“ und somit auch Chef seiner jungen Ehefrau. Die forscht in seinem Auftrag in Akten der Birthler-Behörde nach einem über vierzig Jahre zurückliegenden Spionagefall. Sie wird auf überraschende Weise fündig, auch wenn es andere Ergebnisse sind, als ihr Mann erwartete. Wolfgang Schreyers spannender, auf Tatsachen beruhender Roman zeigt das Innenleben der Geheimdienste und den heutigen Medienalltag.

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Impressum

Wolfgang Schreyer

Der Feind im Haus

Roman

ISBN 978-3-96521-451-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 2011 im Verlag Das neue Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Paul Schreyer unter Verwendung eines Fotos von Featurepics

2021 EDITION digitalPekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

ANJAS TRAUM

Wie schön war doch die Welt! Dieser 25. April war weiß Gott der erste warme Sonntag hier am Stadtrand, im Berlin des Jahres 2010. Das Hausmädchen hatte sonntags frei, daher hatte Anja Sörensen selbst den Tisch gedeckt, zum Frühstück auf der Terrasse. Und sie genoss es, dort zu sitzen, erstmals nach dem langen Winter, ihren Mann erwartend, im fröhlichen Konzert der Vogelstimmen. Ein milder Südwind blies vom Müggelsee herauf, und sie fand, etwas Heiteres liege in ihm, schwer zu deuten, gewürzt mit leichtem Teergeruch, wohl vom Bootssteg. All das war wie ein Versprechen, ein köstlicher Vorgeschmack auf Kommendes für sie … Gewiss nicht für Edgar, der würde den Duft kaum spüren. Sein Geruchssinn war matt, in puncto Natur schwach entwickelt. Nur für Menschen und deren Pläne, zumal die versteckten Absichten, da hatte er eine gute Nase.

Ach, in ihrer beider Fantasie gab es wenig Berührungspunkte, von ihm salopp Schnittmengen genannt, im Jargon der Medien. Ihre Vorstellungswelten wichen voneinander ab, das enttäuschte sie manchmal. Und doch war sie glücklich mit ihm – seit anderthalb Jahren ganz stolz darauf, nicht mehr Scholz, sondern Sörensen zu heißen und seine Ehefrau zu sein.

„Wir haben halt nicht alle dieselben Feinde“, pflegte er, darauf angesprochen, hochherzig zu sagen. So freundlich wischte er Differenzen weg, jeder Zoll ein Gentleman von 43, im Studio heimlich Sir Edgar genannt. Elf Jahre älter als sie und ihr in beinah jeder Hinsicht überlegen; doch versehen mit soviel Geist, Humor und Zartgefühl, dass er’s sie nicht merken ließ.

Jedenfalls schien er das zu glauben. Nur fiel es ihm natürlich schwer zu vergessen, dass er mal ihr Chef gewesen und es im Grunde auch geblieben war, mit dem Umzug nach Berlin. Welch ein Karriereschritt für ihn: Aufstieg zum Leiter des Hauptstadtstudios, das auch sie beschäftigte. Wenn auch nicht mehr als Quotenfrau aus dem Osten und als Edgars Assistentin, quasi seine rechte Hand, wie es ja einst angefangen hatte. Sondern aufgerückt ins Ressort Innenpolitik, hübsches Vorwärtskommen für sie zwei! Manchmal, etwa beim Einkauf im Supermarkt, streifte sie der Gedanke, dass Edgar rund dreißigmal soviel verdiente wie die Kassiererin, und sie selber immerhin noch fünf- oder sechsmal soviel.

„Du, ist das eigentlich gerecht?“, hatte sie ihn kürzlich erst gefragt, halb erfolgsbewusst, halb auch geplagt von ihrem Gewissen. Worauf er amüsiert dreingeschaut und etwas recht Plausibles geäußert hatte. Von der argen Konkurrenz des Privatfernsehens ging seine Rede, das einem sonst die besten Köpfe flink wegschnappen würde. „Billig sind andere“, meinte er. Es klang für sie ganz wie das Rechtfertigen der Spitzengagen von Bankern. Für ihn aber war das eine naive Ossifrage, von Leuten eben, die dem Gleichheitswahn zuneigten, weil ihre Erziehung noch in der alten DDR erfolgt war. Und vielleicht stimmte das ja auch. Anja war zwölf gewesen, als die Mauer fiel und der Staat dahinter von einem Herbst zum nächsten versank, das heißt aufging im einig Vaterland.

*

Edgar Sörensen trat aus der Glastür, rosig vom Duschen, flott frisiert. Das Sonntagsblatt in der Hand, gab er seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. Als seriös durchgestylter Fernsehmann ließ er sich auch daheim kaum gehen, blieb meist hellwach, fast als könne sich jäh eine Kamera auf ihn richten. Das ständig Vorzeigbare, fand Anja, diese Präsenz ist schon toll bei ihm. Selbst sein Rasierwasser passt zum Typ. Jederzeit könnte er in einem Gucci-Werbespot punkten oder eine Talkshow dominieren. Er hat einfach alles, was manch einem Politiker eher fehlt – vor allem Erfolg. Dank seines Auftretens und der akribischen Arbeit, die immer bei ihm dahintersteht.

Die Zeitung freilich dürfte ihn heute reizen, das hatte Anja schon beim ersten Blick darauf erkannt. Was für Titel auch wieder: „Özkan für Kreuz-Verbot“, „Linke für Doppelspitze“, „Steinmeiers Berater Ex-Spion?“ – na, dies ging ja noch an. Und „Saddams Vize gefasst“ oder „Giftanschlag der Taliban?“, das konnte ihn sogar freuen, vielleicht. Hatte doch ein Sprecher des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai erklärt, nach Kontakt mit Islam-Extremisten seien 80 Schülerinnen mysteriös erkrankt; und jeder Versuch, Mädchen von der Schule fernzuhalten, sei ein terroristischer Akt.

Dann aber las er ihr vor, zur Trauerfeier für die gefallenen Soldaten in Ingolstadt, da habe ein Leser bemerkt: „Nun lassen wir uns, gedeckt durch die internationale politische Führung, immer weiter in endlose kriegerische Auseinandersetzungen ein, alles unter dem Deckmantel der Prävention gegen den Terrorismus. Nur, Druck erzeugt Gegendruck! Gerade durch die Kämpfe in Afghanistan holen wir den Terrorismus zu uns in die Heimat. Was die Sowjets dort nicht schafften, das wird auch uns nicht gelingen. Es gibt keinen einzigen Grund zur Rechtfertigung unseres Krieges in dem Land.“

Wieso, mochte Edgar sich jetzt fragen, gab die Redaktion so abwegigem Zeug denn Raum? Sie sah sein Kopfschütteln, das Verdüstern. „Probier doch mal die Marmelade von Gabi“, sagte sie, um die Morgenstimmung zu retten. „Die hat Mutter selbst für uns gekocht.“

„So? Wie nett von ihr. Aber weißt du, ich halte mich lieber zurück bei allem, was süß ist … Die Ausnahme bist du!“

Sie atmete auf; wenigstens wandte er sich ihr wieder zu. Er legte die Zeitung weg, und Anja sah eine Chance, ihr Anliegen vorzubringen. „Ich muss sie unbedingt bald besuchen“, teilte sie ihm schonend mit. „Gibst du mir drei Tage frei?“

„Aber ja doch, Schatz. Es können sogar vier Tage sein, wenn du das Wochenende gleich nach Himmelfahrt nimmst.“

„Sie hat leider schon am 9. Mai Geburtstag, heute in zwei Wochen. Und es ist ihr 60., Eddie! Du bist selbstredend auch eingeladen. Aber ich weiß ja, du machst dir nicht viel aus ihr.“

Sörensen blinzelte in die Sonne und schwieg. Es sah aus, als störe ihn noch immer die Ablehnung der Afghanistan-Hilfe durch eine närrische Mehrheit im Volk, dessen Inkompetenz nun schon in der Presse vereinzelt Ausdruck fand. Sein Thema, ganz verinnerlicht von ihm, war ja der Kampf gegen den Terror. In diesen Grundsatz verbiss er sich. Das war sein Mantra, wie er’s manchmal nannte, mit einem Hauch von Selbstironie, der noch Distanz erkennen und Anja hoffen ließ. Aus ihrer Sicht die Zauberformel, der er seinen Ruf und Rang im Sender wohl verdankte. Kein Wunder, dass der finstere Komplex ihn oft ziemlich ausfüllte. Ohne es zu wollen blendete er anderes dann einfach aus. Wobei ihm freilich zum Glück das Gesamtbild, der große Überblick nie abhanden kam … Sekundenlang fühlte sie sich gleichwohl an den Rand gedrängt, fast ausgegrenzt von seiner Gedankenwelt.

„Was hast du eigentlich gegen meine Mutter?“, warf sie keck in den dunklen Strom, der ihn so spürbar von ihr entfernte. „Manchmal gibst du mir das Gefühl, als hätte sie keinen Widerstand geleistet im alten Regime, sondern als wär sie eine Zumutung für dich.“

„Alle Eltern sind eine Zumutung, auch meine, Anja. Und zwar schon deshalb, weil man sie sich nicht aussuchen kann. Natürlich, der 60., da musst du allerdings hin … Nur eine Bitte hab ich, fahr mit dem Zug! Bloß mir zuliebe.“

Anja musterte ihn stumm. Sie begriff, da sprach Sorge aus ihm. In seinen Augen drohte nämlich, fuhr sie per Bahn nach Rostock, ihrer gemeinsamen Zukunft eine Gefahr weniger. Eine Zukunft voller Ungewissheit für ihn und sie beide. Die Furcht vor schlimmen Dingen, das war sein Schwachpunkt, die Achillesferse. Raser und Drogensüchtige im Straßenverkehr, Linksradikale, Alkoholiker, platzende Reifen, ja auch Terroristen – der Unterschied war marginal. Er hatte da zu viel Fantasie, in seinem Kopf spukten tausend Gefahren. Folglich hatte er jetzt auch die Alarmanlage für das Grundstück angeschafft, sündhaft teuer, und es mit Videokameras bestückt – eine sogar am Bootshaus unten, was sie dann doch übertrieben fand. Letztlich schien er zu glauben, als Terrorfachmann des Senders selber gefährdet, also im Fadenkreuz von Extremisten zu sein.

„Na schön, nehm ich eben den Zug“, sagte sie sanft. „Aber hast du bedacht, es kommen auch Bombenanschläge auf Züge vor?“

Er lachte auf, ein kurzes Bellen. Anja sah ihn den Zeigefinger heben, ihr schmunzelnd drohen; demnach begriff er, dass sie sich milde lustig machte über ihn. Wie er es zuließ, das zeigte wieder sein Format. Und mehr noch, es bewies, ihre Skepsis ging zu weit, die leise Befürchtung, das Terror-Mantra könne sich in ihm verselbstständigen und eines Tages münden in Verfolgungsangst. Nein, keineswegs! Edgar stand zwar voll im Stoff, doch als guter Journalist stets auch ein ganzes Stück darüber … Paranoia lag ihm völlig fern.

*

Alles schien ihr normal, im grünen Bereich. Dennoch fand sie bald nach dem Gespräch, so arg sei es in letzter Zeit sonst kaum mit ihm gewesen. Je mehr sich ihr Edgars Wesen erschloss, sein Denken speziell in diesem Punkt, desto klarer sah sie, es war nicht so sehr der Karrieremann in ihm, der ihn machtvoll hinzwang auf ein Thema, das seit neun Jahren die Welt bewegte und Konjunktur in den Medien hatte. Es beherrschte die breaking news, aber nein, der Quell seines Antriebs lag tiefer – womöglich in einer existenziellen Unsicherheit, die er sich nicht eingestand und mit dem Drang nach perfektem Schutz totschlug oder doch dämpfte.

Übrigens, dies beides schloss sich ja nicht aus. Im Leben voranzukommen und dabei das Erreichte zu sichern, das waren legitime Bestrebungen eines jeden Bürgers, die einander ergänzten. Safety first hieß die Devise, ob daheim, auf der Straße oder im Büro. Dort bremste er Gegner ebenso nüchtern aus, wie er sich fit hielt durch Training in frischer Luft, gesundes Essen, Nichtrauchen und seine Checks beim Internisten. Sollte sie sich nicht geborgen fühlen bei einem so verantwortungsbewussten, grundsoliden Mann?

Trotzdem, manches blieb da irritierend. Zum Beispiel, dass er ihr auftrug, den Rostock-Besuch beruflich zu nutzen, im Sinne der historischen Vertiefung seines Stoffs. Je näher der Reisetermin jetzt rückte, desto dringlicher klang – lästig wiederholt – da seine Bitte. Er nahm wohl mit Recht an, dass es zwischen dem einstigen Ministerium für Staatssicherheit und dem westdeutschen Terrorismus der 70er Jahre Fäden gab, die noch immer nicht restlos entwirrt worden waren. Erst kürzlich Entdecktes wie die Stasi-Verstrickung des Polizisten Kurras, der den Studenten Ohnesorg mutwillig erschossen hatte, anlässlich des Schah-Besuchs in Westberlin, so etwas sprach doch dafür. Übrigens geschehen am 2. Juni 1967, dem Jahr, in dem Edgar zur Welt gekommen war. Wie weit das schon zurücklag, all das, was dazu beigetragen hatte, die Studentenschaft zu spalten und die linke Szene zu radikalisieren, bis es im Terrorismus der RAF gipfelte – heimlich gewollt und verstohlen gedeckt von der Stasi, dem Schild und Schwert der Staatspartei? Deren Interesse sprach dafür. Wie auch immer, es hätte denen dort ja gepasst ins Bild des Klassenkampfes.

„Der ist euch doch gepredigt worden, ständig“, sagte Edgar eines Tages. „Schön, ihr habt schließlich weggehört, aber …“

„Nein, von individuellem Terror hat man nichts gehalten bei uns“, warf sie ein. „Da ist oft Lenin zitiert worden, wie er zu einem Attentat auf den Zaren nämlich sagte: Das ist nicht unser Weg.“

„Na ja, Wasser predigen und Wein trinken, das passiert nicht bloß in der Kirche; jeder Ideologe neigt dazu. Was gezählt hat, war das Resultat. Darum ging’s, bei uns hübsch aufzumischen.“

Anja schwieg dazu. Sie fing wieder an, sich ein bisschen zu sorgen um ihren Mann, der andere da Ideologen nannte und nicht merkte, dass er in dem Punkt selbst einer war. Gewiss, er spürte ihr Befremden und zog es meist ins Scherzhafte, stets mit einem lustigen Spruch zur Hand. Doch die Besorgnis setzte sich allmählich in ihr fest. So hielt sie es zum Beispiel für ein schlechtes Zeichen, dass Edgar sich weder um das Boot kümmerte, den 20er Jollenkreuzer, noch dem Boxerhund Tom mehr Beachtung schenkte – sonst von ihm gehätschelt und einst benannt nach einem Konkurrenten im Studio, der, längst überholt, für ihn nun keiner mehr war. Immerhin, demnächst stand das Ansegeln beim Yachtclub auf dem Plan, und er nahm keinerlei Notiz davon, wo ihm die Segelei doch soviel gab.

Stattdessen kam er gern darauf zurück, dass Gabi Scholz von Anfang an dort an der Quelle saß, mit Zugang zu gesperrten Akten. Zählte seine Schwiegermutter denn nicht zu jenen Bürgerrechtlern in der späten DDR, die zu Beginn der 90er Jahre – in der Landespolitik gescheitert – wenigstens Fuß gefasst hatten im Amt des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des MfS? Der fleißigen Behörde, anfangs geführt vom Rostocker Pastor Gauck, dann von der nicht minder rührigen Marianne Birthler? Es konnte doch Anja nicht schwerfallen, der Mutter zu erklären, wie sie einem am besten half; natürlich streng im Rahmen der Vorschriften, die für Mitarbeiter galten … Hier blickte er pfiffig drein, augenzwinkernd, wie um ihr die Dringlichkeit seines Anliegens und das vermutlich Dehnbare des Handlungsrahmens für leitende Mitarbeiter zu unterstreichen. Recht überzeugend, ja suggestiv, mit dem vollen Ernst und Charme seiner Persönlichkeit.

*

Als am Freitag, dem 30. April, die schwere Limousine vorfuhr, da hatte es aufgehört zu nieseln. Die Singvögel tschilpten, und noch im leichtesten Wind war das Nahen des Frühsommers zu spüren. Jan Otto, der baumlange Chauffeur, riss vor den Sörensens wie üblich die Tür zur Rückbank auf. Doch nur Anja stieg dort ein, ihr Mann setzte sich nach vorn. Das geschah selten, eigentlich bloß, wenn er den Fahrer anweisen wollte, abzuweichen vom direkten Weg ins Studio.

Dieser schweigsame Mann genoss sein Vertrauen. Nur wenig jünger als Edgar, war er Feldwebel der Bundeswehr und schon vor fünf Jahren mit einer Eliteeinheit in Afghanistan gewesen. Zur Jagd auf die Taliban, das hatte den Ausschlag gegeben. Deswegen zog Edgar ihn anderen Fahrern vor, über die der Sender verfügte. Jan Otto war privilegiert, er bewohnte das hübsche Quartier über Sörensens Doppelgarage allein, ohne dass er etwa schwul gewesen wäre; seine Neigung, mit den wechselnden Hausmädchen anzubändeln, sprach klar dagegen. Er verstand sich auch als Leibwächter und war einer derjenigen, denen es erlaubt war, unterwegs wie auch im Studio bewaffnet zu sein. Und wenn das Haus der Sörensens im Urlaub leer stand, wurde es von ihm bewacht; ein rundum zweckmäßiges Arrangement.

Nach dem Theaterabend gestern war man verspätet aufgewacht, daher fiel das Gespräch am Frühstückstisch denkbar knapp aus, und Anja hätte es gern fortgesetzt. Zum Beispiel noch geklärt, ob die Spitzenmeldung des Tages dem Ressort Innen- oder Außenpolitik zuzuordnen sei. Letzteres ging sie nichts an, es schien aber ein typischer Grenzfall zu sein.

Da hatte doch Laura Bush, die sonst eher stille Frau des letzten US-Präsidenten, laut CNN und dpa einen schlimmen Verdacht geäußert. Nämlich in ihren Memoiren jüngst enthüllt, sie sei am 7. Juni 2007 beim Abendessen auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm vergiftet worden, und mit ihr die ganze US-Delegation. Sie alle habe Kopfweh und Übelkeit geplagt, ein Assistent sei zeitweilig ertaubt, ein zweiter nicht mehr gehfähig gewesen. Und George W, ihrem Mann, hätten die Symptome derart zugesetzt, dass er kein Frühstück zu sich nahm und, dem straffen Reiseplan zuwider, vorzeitig aufgebrochen war nach Polen, Italien und Albanien. Man hatte halt genug gehabt von der Küche des Kempinski Grand Hotel in Heiligendamm!

Peinliche Story. „Ich dachte, ich sterbe hier“, hatte die First Lady in der Tat gesagt. Der Secret Service habe, höchst alarmiert, das ganze Umfeld nach Giftstoffen abgesucht. „Ist es vielleicht ein schlechtes Schnitzel gewesen?“, fragte jemand von CNN, dem Lauras Buch Spoken From the Heart (Aus dem Herzen gesprochen) vorab zugegangen war. Dem trat der Chefkoch des Grand Hotels prompt entgegen: Er habe nur für die Staatschefs und deren Gattinnen gekocht, wie also könne es die übrigen erwischt haben? Es sei denn, das Gift entstamme Lebensmitteln, von den Yankees selbst mitgeführt. „Die hatten ja sogar ihr eigenes Benzin dabei“, erinnerte sich der Mann, heute tätig als Spitzenkoch in Rostocks Jachthafen-Residenz Hohe Düne.

War all das wirklich ernst zu nehmen? Die für morgen fälligen Mai-Krawalle hier in Berlin gingen doch bei weitem vor. Anja fragte sich, ob es sie überhaupt beschäftigen solle. Merkwürdig nur, dass Edgar dies jetzt, statt mit ihr, mit dem Fahrer besprach. „Wenn Heiligendamm da mal wieder ins Gespräch kommt, ist das gar nicht übel“, hörte sie den sagen, als er einbog ins Adlergestell, die Chaussee zum Autobahnring. Und ihr Mann setzte noch eins drauf: „Laura Bush macht Werbung. Verschwörungsmärchen ziehen immer, das wird der Verlag ihr gesagt haben, Jan.“

Um nicht weiter übergangen zu werden, beugte sie sich vor und warf ein: „Nimm aber mal an, es stimmt – wie wär das möglich gewesen bei der Akribie des Personenschutzes, dieser pingeligen Überwachung und Vorkosterei? Jeder amerikanische Präsident reist doch, perfekt bewacht, in einem Sicherheitskokon!“ … Darauf hatte Edgar keine Antwort. Wie seltsam; sonst fiel ihm immer etwas ein.

Anja fühlte sich ausgegrenzt. Links glitt der Adlershof- Komplex vorbei, einst Zentrum des Fernsehfunks der DDR und Sitz von dessen Frontmann Karl-Eduard von Schnitzler. Sohn eines königlich-preußischen Legationsrats und Kommunist bis zu seinem Tode; erst kurz nach den Anschlägen vom 11. September war der verstorben, mit 83 Jahren. Auf gewisse Art, dachte sie, hat Edgar ihn in puncto Bildschirmpräsenz beerbt. Nach dem Untergang der DDR sind jene Studios abgewickelt worden, das Gelände lag brach bis zu der Idee, es zu nutzen für eine neue „Stadt der Wissenschaft, Wirtschaft und Medien“, genannt WISTA, und den Standort tüchtig auszubauen.

Schnitzler übrigens, sie wusste es von ihrer Mutter, hatte einen Ritterkreuzträger der Wehrmacht als Chauffeur gehabt. Und es lockte sie, ihrem beharrlich schweigenden Mann das nachher auch zu sagen, ihn mit dem Vergleich zu ärgern – einer wohl systemübergreifenden Affinität von Stars und Stärke, also von Geist und Macht. Weil aber Edgar ihr befremdlicherweise momentan jede Antwort schuldig blieb, drehte der Fahrer sich halb zu ihr um. „Falls der Verdacht wirklich zutrifft, Frau Sörensen“, sagte er höflich, „muss es ein Sicherheitsleck gegeben haben bei den Amis.“

„Was heißt das, Jan?“

„Nun, ich denke mal, ein Doppelagent im Secret Service. Das wär aus meiner Sicht die beste Erklärung.“

Und wieder äußerte sich Edgar nicht. Er hob die Schultern, als ziehe er sich bewusst zurück. Es wäre, fand sie, dann ein Anschlag gewesen, der in seiner Sprache home-grown hieß, selbst gemacht. In seinem Wortschatz wimmelte es von Anglizismen, das ging nicht auf Eitelkeit, sondern seinen Werdegang zurück. Er hatte zu Beginn der 90er Jahre in den USA zwei Semester Journalistik studiert nebst Politologie, und später war er für vier oder fünf Jahre Washington-Korrespondent des Senders gewesen.

Doch schließlich brach ihr Mann das Schweigen. In der Mittagspause erst kam er auf den Fall zurück. Unter vier Augen gestand er, verblüffend bei ihm, einen Anflug von Unsicherheit. Neuerdings, so seine Auskunft, falle es ihm mitunter schwer, zu beurteilen, wie weit das, was Jan Otto sage, tatsächlich ernst gemeint sei, restlos ehrlich.

„Edgar, ich verstehe dich nicht.“

„Nun, er ist an sich ein toller Kerl. Schnelle Hand, prima Schütze, körperlich topfit … Nur“ – hier senkte er die Stimme – „ist er auch seelisch ganz intakt? Das ist leider zu bezweifeln. Traumatisiert vom Einsatz dort unten, meint der Arzt, wie so mancher Veteran leicht manisch-depressiv. Und das allerdings geht oft einher mit einem schizoiden Zug, der anfällig macht.“

„Bitte, anfällig wofür?“

„Beispielsweise für ein Leben als Doppelagent. Du erinnerst dich, wie der Ausdruck von ihm kam. Dass er selber davon angefangen hat, halte ich für kein gutes Zeichen, denn das ist ihm so entschlüpft.“

Jetzt wusste Anja selbst nicht mehr, was sie glauben sollte und woran sie mit ihm war – ob er scherzte oder nicht. In letzter Zeit glückte es ihm öfter, sie für einen Moment ziemlich zu verwirren. „Und ich dachte immer, du vertraust ihm zu hundert Prozent“, sagte sie entgeistert.

„Tu ich auch. Bloß ab und an, wie heute früh im Auto, da hab ich kein gutes Gefühl. Ach, vergiss es, Schatz, wahrscheinlich sind das Hirngespinste; ein purer Überschuss an Fantasie.“

„Das will ich doch stark hoffen.“

„Die Ambivalenz des Kreativen“, brummte er über seinem Kompott. „Die Geißel von Menschen unseres Schlags. Der Preis, den wir zahlen für Erfolg im Leben und Beruf. Denn sieh mal, ohne Fantasie gelingt dir nichts; und dann wieder belästigt sie dich.“

Sie nickte ihm zu. Dem ließ sich ja kaum widersprechen.

*

Im Laufe des letzten Apriltages kam er zweimal darauf zurück, fand noch mehr besänftigende Worte, ohne völlig überzeugend zu sein. Echt bedrückend war das zwar noch nicht, es häufte sich bloß langsam und fing an, sie zu nerven. Die Mehrheit ist gegen Afghanistan? Na wenn schon, erklärte er ihr nebenbei, Politik macht man nach Überzeugungen, nicht nach Umfragewerten. Und hat nicht jeder Staatsmann oder Fernsehstar zumindest ein großes, zentrales Thema, an das er seinen Aufstieg, seine Zukunft knüpft? Seines war nun mal der internationale Terrorismus, jener Schrecken, weltweit und markerschütternd.

Anja schwankte zwischen Zustimmung und Zweifeln. Ach, sie verstand ihn ja. Im Grunde schien sie ihr doch logisch, seine Beharrlichkeit, der Sache völlig angemessen. Sogar gerührt war sie von soviel Konsequenz, da ja der eigene Mann es war, verehrt und bestaunt, der sie entwickelte. War es eigentlich nicht lobenswert, wenn ein prominenter TV-Journalist investigativen Eifer zeigte? Und, indem er sie damit zu ihrer Mutter schickte, den Hauptweg mal verließ, den Trampelpfad der Tugend, um sein Thema zu vertiefen und hinter etwas zu kommen – also ein Stück Wahrheit zu erschließen, für das große Publikum? So lief Quellenforschung, Wahrheitsfindung in einem freien Land.

Anfang Mai erst regte sich in ihr erneut Besorgnis. Die Tumulte vom Festtag trugen dazu bei. Etwas schien neu bei den Krawallen. Da wurden nicht bloß, wie seit Jahren üblich, in Problemvierteln wie Kreuzberg Autos abgefackelt und Polizisten gleich hundertfach verletzt. Es war auch ein Massenprotest gegen den Jobabbau und die üble Profitsucht der Banken. Er reichte bis nach New York, in das Herz der Spekulation, die jetzt Griechenland bedrohte und die eigene Volkswirtschaft sowie den Euro gleich mit.

In dieser Stimmung, leicht gestresst, kam Edgar von einem Telefonat mit dem Sender an den Abendbrottisch zurück und goss sich, völlig ungewohnt, einen großen Drink ein. „Ich glaube fast, unsere Leitung wird angezapft“, hörte sie ihn murmeln, leise, wie im Selbstgespräch. Es klang ein bisschen so, als wolle er sein jähes Trinken entschuldigen.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie.

„Mir ist, als hätte ich da irgendwas gehört.“

„Unsinn, Eddie, wir sind nicht mehr im vorigen Jahrhundert, in der alten DDR! Heute merkt es kein Mensch mehr, ob er abgehört wird.“

„Es sein denn, man will, dass er es mitkriegt.“

„Weshalb sollte man das wollen?“

„Was weiß ich?“ Er setzte das Glas hart ab, es war leer. „Vielleicht, um einzuschüchtern.“

„Dich einschüchtern, das Kriminalamt oder der Verfassungsschutz?“ Sie war perplex. „Wo wäre das Motiv? Du, das ergibt überhaupt keinen Sinn.“

„Verfassungsschutz, an den hab ich gar nicht gedacht. Wenn es wer anders ist … Die hätten schon ein Motiv.“

„Wen meinst du damit?“

„Keine Ahnung … Aber Jan, der kriegte es hin, hier im Haus an der Leitung zu fummeln. Technisch reicht’s dazu bei ihm. Und der brauchte dazu keinen Gerichtsbeschluss.“

Anja gelang es, ihre Bestürzung zu verbergen. Sie wechselte das Thema und hatte den Eindruck, dies sei auch ihm nur lieb. Er schien seinen Seufzer zu bereuen; der war ihm so herausgerutscht. Doch der Verdacht, der darin lag, das spürte sie, der blieb zurück und fraß in ihm. O Gott, was hieß das denn? So schlimm war es mit ihm noch nie gewesen. Und wie passte das zu ihm? Er war doch ein kluger Kopf, der Alphamann und King des Senders! Um ihn herum gab es im Hauptstadtbüro nur noch ein Dutzend Figuren, zweitrangig und kaum wahrnehmbar. Was um Himmels willen ließ ihn jetzt so verstört und furchtsam werden?

*

Dazu fiel ihr auch tags darauf bloß zweierlei ein, und beides hatte zu tun mit dem Hauch von Gegenwind zu Afghanistan, der neuerdings Teilen der Presse entstieg. Da hatte ein Nachrichtenblatt, das als Trendsetter oder Meinungsmacher galt, mit der Schlagzeile „Die schmutzige Wahrheit“ einen Kommentar gebracht, so provokant wie knallig. Ins Auge sprang der Zwischentitel, rot und fett: „Die Deutschen lehnen den Krieg ab, er ist ihnen fremd geworden; zu hoffen ist, dass es dabei bleibt“. Ein Text, über dem Edgar tief durchatmen musste, so sehr ging ihm das gegen den Strich.

Und nun kam per E-Mail noch ein Memorandum, drei Seiten stark, verzapft von einem freien Journalisten, das 30 Abgeordneten im Bundestag gleichfalls zugegangen war. Unter dem Rubrum „Strategische Informationen zum Afghanistan-Einsatz“ hatte der völlig unbekannte Autor dem Statement Frau Merkels vom 22. April, die Luftschläge des 11. Septembers 2001 seien von Trainingslagern der al-Qaida am Hindukusch ausgegangen, so strikt widersprochen, so unverschämt kühl, dass einem die Luft wegblieb.

„Das Dogma, die Anschläge wurzelten vor allem in Afghanistan, kann mit guten Gründen widerlegt werden“, hieß es da staubtrocken. „Die Skepsis setzt bei der schlichten Tatsache ein, dass keiner der vier Terrorpiloten oder ihrer 15 Helfer Afghane war. Die Flieger stammten aus Saudi-Arabien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Libanon. Drei von ihnen wohnten lange in Hamburg, ehe sie mehr als ein Jahr vor der Tat in die USA zogen. Der vierte lebte schon länger in den Vereinigten Staaten. Dort fand auch die Planung und Vorbereitung der Flugzeugentführungen statt. Zu mindestens sechs finalen Absprachen trafen sich die Piloten allein in Las Vegas. Zwei der Planer wohnten sogar bei einem Spitzel des FBI (den das Justizministerium dann fernhielt von der parlamentarischen Untersuchungskommission). All dies geschah in Kalifornien, fern vom Hindukusch. Anführer Mohammed Atta schließlich erlernte in Florida, nicht etwa in Kandahar, das Fliegen.“

Da musste man erst einmal schlucken und sich darauf besinnen, dass es nur in einem freien Land möglich war, der eigenen Kanzlerin so glatt zu widersprechen.

„Bereits zwei Monate nach Attas Einreise in die USA“, ging es weiter im selben Stil, „waren er und seine Komplizen zudem durch ein geheimes Sonderprogramm des US-Militärs namens Able Danger als Terrorzelle erkannt worden, ohne dass diese Information an Ermittlungsbehörden weitergereicht wurde. Die ,New York Times‘ machte den gesamten Vorgang im Jahr 2005 einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Die immer wieder behauptete Verbindung zwischen Afghanistan und dem 11. September ist de facto eher schwach. Es gab und gibt dort zwar terroristische Trainingscamps, und auch Osama Bin Laden hatte bei den Taliban Unterschlupf gefunden. Jedoch ist gerade ihm bis heute keinerlei Verbindung zu 9/11 gerichtsverwertbar nachgewiesen worden. Selbst das FBI sucht ihn offiziell weiterhin lediglich wegen der Anschläge in Ostafrika von 1998. Die wirkliche Planung des 11. Septembers fand so nach allen vorliegenden Indizien eindeutig in zwei Mitgliedsländern der NATO statt.“

Und es blieb bei diesem Ton. Das Papier las sich wie der Text eines Staranwalts, der es schafft, Strolche freizupauken. Gekrönt von der Behauptung, Afghanistan zu besetzen, das sei schon vor dem 11. September geplant, nämlich im Weißen Haus beschlossen worden. Und zwar, weil man die Taliban – einst hofiert als Helfer im Kampf gegen die Sowjets – nun loswerden wollte, um jeden Preis. Sträubten sie sich doch gegen Amerikas Pläne, zum Sichern der nationalen Energieversorgung Pipelines zu legen, welche die reichen Quellen in Kasachstan und Usbekistan mit dem Persischen Golf verbanden. Mittlerweile habe die US-geführte Dauerpräsenz der NATO in dem wilden Bergland auch geopolitisch Wert erlangt, als Machtfaktor von Rang! Gleichsam als Pfahl im Fleisch der Feinde Washingtons, exakt platziert zwischen Russland, China, Indien, dem instabilen Pakistan und dem seit mehr als 30 Jahren so überaus lästigen Iran, dessen nicht existente Kernwaffen noch der gewaltsamen Beseitigung harrten.

Starker Tobak, meinte Anja; und wie nun erst für ihren gebeutelten, arg vorgereizten Mann! Echt leid tat der ihr, er schwoll beim Lesen rötlich an. Selten hatte sie ihn so verbittert und aufbrausend erlebt. „Das ist ja lachhaft, absoluter Stuss“, rief er. „Weg damit, ins Altpapier! Dieses Zeug hättest du mir ersparen können. Das kommt von der verbohrten Linken, die ernsthaft glaubt, wir hätten dort nichts zu suchen. Du, ich sage dir, wer den Sinn unserer Mission am Hindukusch verkennt, der leugnet am Ende auch Auschwitz und den Holocaust!“

Anja schwieg, ihr kamen Zweifel. Sein letzter Satz, logisch hielt der ja kaum stand. Eigentlich klang das fatal. Trotzdem sprach es, gerade durch die Übertreibung, für sein starkes Engagement. Und sie schätzte doch an ihm, dass er eben kein Zyniker war, sondern ein Mann, der privat zu dem stand, was er öffentlich vertrat. Schlimm zu sehen, wie er, dem Haltung sonst über alles ging, nun bebte vor Zorn. Das Zeug war schieres Gift für ihn und den Stoff, der nun mal sein Markenzeichen, also zum Kern und Glanzpunkt seiner Arbeit geworden war.

*

Still räumte sie den Tisch ab und öffnete das Küchenfenster. Ein leichter Regen hatte eingesetzt, ließ den Asphalt der Zufahrt schwarz erglitzern, schwarz wie Edgars Zorn. Und sie – mochte es auch närrisch sein – doch, ihr war, als liebe sie ihn dafür, dass er standhaft blieb, jeder Anfechtung zum Trotz. Den dummen Vergleich verzieh sie ihm; so was passierte doch jedem mal. Wer von uns hält, wenn die Wut ihn packt, denn immer sein Niveau?

Später, im Bett, ging ihr das nach. Sie warf sich vor, ihn schon am Vortag sinnlos erzürnt zu haben, als sie das Kriminalamt und den Verfassungsschutz erwähnte, um seine Einbildung, man höre ihn ab, zu entkräften. Natürlich tat das keine Behörde. Sie wusste ja, Edgar zählte zur Elite, zum Kreis der Besten seines Fachs, dem manch ein Nachrichtendienst ganz im Gegenteil öfter etwas steckte – ob nun als Hintergrund-Information oder zur gezielten Veröffentlichung eines sensiblen Tatbestands. Um welches Amt es sich dabei handeln mochte von Fall zu Fall, das verriet er nicht mal ihr. Soweit ging von Berufs wegen seine Diskretion. Quellenschutz war oberstes Prinzip, und das wurde von ihr respektiert.

Immerhin hatte er ihr anvertraut, dass es bei der Jagd auf Terroristen mitunter Überschneidungen gab, einfach weil mehrere Dienste dieselbe Gruppe im Visier oder sie sogar infiltriert haben konnten. Das erschwerte dann den Ablauf. Es entstand ein Durcheinander, wenn sowohl der Bundesnachrichtendienst wie der Verfassungsschutz im selben Fall tätig wurden, vielleicht dazu noch das Bundeskriminalamt oder auch der Militärische Abschirmdienst. Kein Mangel an Behörden, und niemals war der Kontakt da durchweg eng, selten lief es dann reibungslos und partnerschaftlich ab … Konnte, fragte sie sich, das nicht auch in Amerika so gewesen sein, wo noch weit mehr solcher Dienste wetteiferten miteinander? Dann traf die Denkschrift jenes linken Autors, die Edgar so reizte, in dem Punkt wohl zu.

„Bis zu einem gewissen Grad spornt Rivalität natürlich an“, hatte er neulich dazu bemerkt. „Konkurrenz belebt das Geschäft, heißt es in der Wirtschaft. Hier aber führt der Mangel an Kooperation leicht in ein schwarzes Loch, nachrichtendienstlich. Es ist wie überall, Anja, man wahrt gern seine Kompetenzen und zögert, gewisse Erkenntnisse einander zugänglich zu machen. Was im Geschäftsleben gut sein mag, völlig akzeptabel, das entpuppt sich bei der Landesverteidigung oft als übles Defizit.“

„Du lieber Gott, das musst du mir nicht sagen, das versteht doch jeder.“

„Und hinzu kommt ein weiteres Erschwernis – die Loyalität der eigenen Vertrauensleute. Gerade die fähigsten von ihnen haben leider auch das Zeug zum Doppelagenten. Und ein paar von denen erliegen womöglich der Versuchung des Seitenwechsels.“

„Weshalb das denn? Was treibt sie an?“

„Na Geld, schnelle Autos, teure Frauen. Kein Mangel an Motiven, Schätzchen. Doppelt kassieren, in dem Gewerbe ein uralter Brauch. Böse Komplikation! Und stell dir vor, es gibt auch Überzeugungstäter, ideologisch motiviert. Das sind die Schlimmsten.“

„Da bin ich aber froh, dass du kein V-Mann bist und ich keine kostspielige Frau …“ Eine Zeit lang spukte das Geplänkel noch in ihr, dann schlief sie endlich ein.

*

Anjas Reise nach Rostock war für den 6. Mai geplant, damit ihr dort genügend Zeit blieb, ein Geschenk für die Mutter zu kaufen und mit deren Hilfe das Archiv ihrer Behörde in der Außenstelle Rostock-Waldeck zu durchforschen, nach einem ergiebigen Fund. Von Edgars Erwartungen fühlte sie sich bedrängt. Doch drei Tage vor ihrer Abfahrt schwand der Druck durch einen Anruf vom Südufer des Sees. Dort nämlich, nahe der früheren Großgaststätte „Rübezahl“, saßen die Paulys. Das einzige Paar, mit dem Sörensens vor Ort verkehrten, hatte ein hübsches Zweithaus da. Eric und Rita Pauly kündigten ihr Kommen an, kurzfristig wie üblich, im eigenen Motorboot. Nichts Großartiges, keine richtige Jacht, doch mit Kajüte. Die ließ sie das Wetter fast vergessen. Da musste man nicht einmal segeln können, um den maikühlen See zu überqueren.

Ach, die Paulys! Ihre Besuche, oft überraschend, galten als unabwendbar. Fleisch für den Grill, Rehrücken oder das Beste vom Hirsch, brachten sie stets selber mit. Eric Pauly war Anfang 60, ein namhafter TV-Regisseur. Das halbe Dutzend Grimme-Preise, die sich bei ihm angehäuft hatten, bezeugte sein Talent. Ostdeutscher wie Anja, hatte er gleichwohl Fuß gefasst beim Sender, besser noch als sie. Und zwar seit langem gestützt auf Albert Baron, den Drehbuchautor mit Hang zu üppigen Stoffen. Seine Szenarien barsten schier von prallem Leben, Ausbrüchen vitaler Kraft; von Liebe, Verbrechen und Leidenschaft. Heimlich nannte man ihn Al Barone, in Anklang an den sagenhaften Gangsterboss. Während man von Pauly gern als Rübezahl sprach, nach dem versunkenen Lokal dort drüben, das wie der schlesische Berggeist hieß. Dem hochgewachsenen Mann mit seinen großen Ohren und den starken Brauen im Pferdegesicht haftete, in Anjas Augen, ja auch was an von jener Spukgestalt.

Jetzt begrüßte sie deren Kommen. Der Frühling war für einen Tag zurückgekehrt, ein Garten-Picknick möglich. Das lockerte die Spannung, blieb aber doppelt problematisch. Denn erstens schien Eric unfähig, länger als drei Minuten von etwas anderem zu reden als von seinem Werk und seinen Plänen – auf Bewunderung erpicht; was ihn von anderen Meistern des Fachs freilich nicht unterschied. Und zweitens war Erics Ehefrau, gut 40 Jahre jünger als er, nicht bloß Schauspielerin, sehr früh erfolgreich, sondern auch Edgar Sörensens Tochter; soweit er wusste, sein einziges Kind. Schon das allein verbot es ihm, den beiden abzusagen oder sich ihnen sonstwie zu entziehen.

Dabei fiel es Edgar seit langem schwer, sich daran zu erinnern, wie es passiert sein konnte, dass er und Nora, Ritas Mutter, einander hinreichend begehrt hatten, um in sexueller Erregung eben jenes bildhübsche Mädchen zu zeugen, das nun so schick und sportlich vor ihm stand, die Kühlbox mit dem Rehrücken – oder was es diesmal sein mochte – fest in der Hand.

„Na, Ritalein, wie geht’s der Mutter?“, fragte er mit netter Routine. Oft war dies seine erste Frage, es entlastete ihn, sie zu stellen. Denn egal, wie weit all das zurücklag, dem Vergangenen blieb man verpflichtet, es gehörte sich so. Die Idee von Schuld und Sühne saß ihm im Blut, wie mit der Muttermilch empfangen.

„Och, ganz gut“, sagte Rita. „Sie lebt jetzt am Chiemsee, Dad, wie du weißt. Und Richard versteht es, sie für die Natur zu begeistern. Sogar fürs Fischen, das er doch so liebt …"

Gewiss ein Lebensabend in stiller Harmonie. Richard war ja schon damals, in Edgars stürmischer Studentenzeit, Noras Ehemann gewesen – Handelsattaché an der Botschaft in Washington, konfliktscheu und pedantisch, ein dröger Diplomat; nun längst pensioniert. Und sein Weib, doppelt so alt wie Edgar, als er einstmals für sie schwärmte, musste mittlerweile Ende 50 sein. Sie hätte, fand er, viel besser zu Eric gepasst als die wunderbare Tochter. Leiser Neid schlich sich bei ihm ein auf diesen Mann, der es sich als Künstler leisten durfte, das Sticheln von Nachbarn oder den simplen Büroklatsch zu überhören. Selber war er zu bürgerlich, um davor gefeit zu sein.

„Guckt ihr eigentlich die neue Serie?“, fragte Rita. „Auf Arte jetzt gestartet! Hast du mich gesehen, Dad?“

Doch, das hatte er – und befürchtet, dass dies zur Sprache kommen werde. Altmeister Pauly verknüpfte in seinem Endlos-Thriller, wie es im Programmheft hieß, die verästelten Erzählstränge zu einem Riesenepos über wahre Liebe, Prostitution, Familie, Ehre, Korruption und Verbrechen. Sinnlich, poetisch, prall – großes Kino im TV, ja, so klang der Jubel. Aber die erste Doppelfolge hatte sie beide, ihn wie Anja, mit ihrer Bilderflut gequält. Die entfesselte Handkamera und geschnitten wie bekifft! Da blieb man doch schockstarr zurück und beschloss, auf den Rest zu verzichten.

„Glänzend gespielt und inszeniert“, sagte er vorsichtig. „Ich war ganz hin, nur erschließt sich mir bisher die Fabel nicht. Es muss am Tempo liegen oder an was anderem: keinerlei Story in Sicht! Tut mir leid. Speziell die Kameraführung überfordert mich.“

„Was willst du, etwa den verstaubten ,Tatort'?“, rief der Regisseur. „Deutschland muss sich der Welt öffnen, dabei schwappt massenhaft Neues herein, auch neues Böses natürlich. Bis auf deine Terroristen von der RAF, Eddie, gab’s hier kein Format, nirgends. Welcher Politskandal reißt uns vom Stuhl, wer von Deutschlands Schurken kam je ran an Italiener oder Amerikaner? Dagobert etwa? Barschel in der Badewanne? Der deutsche Polizist steht traurig an der Würstchenbude, weil er selber so eins ist.“

„Sollen wir uns also freuen“, warf Anja ein, „dass diese Russenmafia in Charlottenburg den großen Erzählstoff bringt? Mir wären da die Banker in Frankfurt mit ihrem Finanzpoker lieber.“

„Zu komplex und von der Presse auserzählt“, grunzte Pauly.

„Mädchenhandel, na das bringt ja auch viel tollere Bilder.“

„Wenigstens tropft die Depressionssoße ab bei uns, bevor das Fernsehen noch ganz darin ertrinkt.“

Sörensen griff sich das Bier und wich an den Grill zurück. Mit Erics Film erging es ihm wie manchem Banker, der ein verzwicktes Derivat der eigenen Investmentleute nicht versteht. Er hörte, wie Eric zwar scherzte und schäkerte, doch nun auch alles, was man ihm vorwarf, aufs Drehbuch schob. Albert Baron, sein Szenarist, habe die Dramaturgie und das Studio voll hinter sich gehabt, wegen der Quote … Die Luft stand still, man musste Brennspiritus nehmen und die Flammen anfächeln, wenn das noch was werden sollte.

„Ach Eric, gib doch zu, du schielst nach Hollywood! Dich betört die Allmacht des Bösen, der Zwiespalt auch bei der Polizei. Das organisierte Verbrechen ist der überlegen, die Tarnung der Gangster wird immer perfekter …“

„Ein Grundgefühl des TV-Ermittlers ist halt Vergeblichkeit“, fiel Eric ihr ins Wort. „Weil‘s tatsächlich eben so ist, zumal bei uns in Berlin.“

„Aber an irgendwas muss man doch glauben …" Hier brach Anja den Angriff ab, lieber schnitt sie das Fleisch jetzt zu. Edgars Miene riet ihr ja: Hör auf, lass es gut sein, man hat‘s eh schwer genug mit dem Schwiegersohn, der 15 Jahre älter ist und dazu ein Genie, das locker zehn Millionen da verbrät und die Produktionsfirma in den Ruin treibt.

Nicht leicht auch mit der kapriziösen Tochter, die gekränkt schweigt, während sogar Tom, der Boxer, hechelnd an ihr hochspringt, sie schwanzwedelnd empfängt – Rita, die Elfe! Bestechend übrigens, wie der Gatte sie gefilmt hat, tief im See, splitternackt mit sexy aufgelöstem Haar, ohne auch nur für einen Moment ihre Brüste zu zeigen … Das immerhin macht ihm keiner nach.

„Dad, was Eric sagt, das scheint dich nicht zu interessieren“, klagte Rita. „Du hörst uns überhaupt nicht mehr zu!“

„Verzeiht, tut mir leid, ich muss mich ums Feuer kümmern. Außerdem denk ich, wir sollten das feiern, euren Film – trotz allem sehr stark, ’ne große Leistung. Wie wär’s mit einem Schluck Champagner jetzt?“

Anja verstand, sie lief nach der Flasche. Sie wusste genau, ihr Mann mochte keinen Schampus, die Kohlensäure bekam ihm nicht. Aber ein Gastgeber kennt seine Pflicht.

*

Als das stolze Paar im Surren des Bootsmotors losgebraust war, saßen die Sörensens vorm Fernseher, allzu satt. Was Anja auch immer erhofft hatte von dem Besuch, jetzt war der weg und mit ihm die Zerstreuung; ihr Befangensein kam zurück. Im Hinblick auf Rostock, das Reiseziel, hatte Edgar die NDR-Taste gedrückt. Dort lief in zweiter Folge ein „Polizeiruf“, der gleichfalls an der Küste spielte. Über neun Millionen, so frohlockte der Sender, hatten Teil eins gesehen und dem Start applaudiert. Auch sie beide hatte der Film mit frischen Gesichtern und einer gescheiten Handlung erfreut. Die Presse schrieb dem ermittelnden Rambo sogar Kultpotenzial zu.

Umso trister nun Teil zwei. Von subtilem Genuss diesmal keine Spur. Die Fortsetzung missfiel ihnen gründlich. Der Film kam Anja wie ein Dejá-vu-Erlebnis vor, sie fand Rübezahls neuen Stil ärgerlich kopiert: wirr, opulent und beklemmend, ja richtig bluttriefend. Steckten die Filmteams sich gegenseitig an mit dem Virus der Gewaltbereitschaft? Entstand da unmerklich ein Trend in der Lichtspielkunst, hin zu mehr Brutalität? Wieder einmal schaffte sie es nicht, der chaotischen Story zu folgen. Das Drehbuch wirkte hirnrissig hingeschludert, manch vulgärer Ausdruck stieß sie ab.

Edgar an ihrer Seite litt mehr am rasanten Bildwechsel der verrückten Kamera. Keine Einstellung war länger als zwei, drei Sekunden, so als wollten die Macher das Tempo der Zeit einfangen, um es noch zu steigern, grell und sinnlos, auch durch Sprengstoff, Fausthiebe oder Schießerei, bis zur Unerträglichkeit. Trotzdem, er harrte aus, weil der Erzählstoff wohl einen Nerv in ihm berührte: den latenten Schrecken geheimdienstlichen Handelns.

Die Nähe zum Terrorismus muss es sein, dachte sie, die ihn da fesselt. „Aquarius“, so hieß die Folge, bot einen wüsten Mix aus Ostschicksalen, Wendeschmutz und Mordermittlung. Eine Seilschaft von Kampfschwimmern der Nationalen Volksarmee hütete einen Goldschatz, auf Weisung des DDR-Devisenbeschaffers Schalck-Golodkowski nicht etwa wie sonst schlau in der Schweiz deponiert, sondern bei Rostock in einem Badesee versenkt. Und nun meuchelten die Taucher, einstmals alte Kameraden, stumm einander hin, anstatt sich still den Lebensabend zu versüßen. Aus Anjas Sicht ein Blick auf das Dumpfe, die Verkommenheit solch armer Ossis.

„Warum zappst du nicht weg?“, fragte sie. „Was gibt dir das denn? An Gold klebt Blut, das weiß man seit den Nibelungen.“

„Es ist doch ein Stück Zeitgeschichte.“

„Schwachsinn ist es. Sechs Kisten voller Goldbarren! Das Tauchteam weiß davon, und nach gut 20 Jahren sind die noch im Wasser. Der Strolch taucht ab im Herbst und kommt nach ein paar Minuten heraus, da liegt schon knöcheltief der Schnee! Dümmer geht’s gar nicht.“

„Das ist vielleicht symbolisch gemeint.“

„Nein, denen kam der Winter in die Quere. Merkst du nicht, was wir für die sind? Spätrömische Dekadenzlinge. Spiele fürs Publikum, das für den Schwachsinn auch noch zahlt.“

„Komm, sei friedlich“, bat er und knipste aus. „Ich weiß ja, mein Schatz, du spürst dort oben sehr viel Wesentlicheres auf, in drei Tagen. Glaubhafte Sachen mit Realitätsbezug.“

„Ja sicher, Eddie“, erwiderte Anja leise, ohne Überzeugung. Es klang wie ein alter Ohrwurm für sie. „Lass uns von was anderem reden, ja?“

„Nun schnappst du ein. Ich verstehe dich. Es ist auch wieder nicht leicht gewesen vorhin mit den beiden. Rübezahl hat schwer genervt, ein narzisstischer Charakter! Trotzdem ein Könner, ein echtes As. Kennst du seinen besten Trick? Er wechselt mitten im Spiel ganz ausgekocht das Genre. Bei ihm beginnt der Film mit einer Beziehungstat, die sich als Mafiamord entpuppt. Und dann der Gag: Es steckt ein Geheimdienst dahinter. Du, das ist genial. Solch doppelte Brechung kriegt außer ihm keiner hin; ein Glanzlicht an Raffinesse.“

Anja sah, wie sein Gesicht sich entspannte. Er ist fair, fand sie, er bleibt mein Held, der beste Mann für mich. Die Leute mögen ihn, sogar beim Sender; schon den Ernst, die klare Haltung. Seine Selbstsicherheit ist homegrown, nicht vorgetäuscht und aufgesetzt. Er ist ganz dabei, stets mit sich im Reinen. Wer ihn auf dem Bildschirm sieht, der kann sich leicht vorstellen, wie Edgar beim Frontbesuch in Afghanistan mit einem Trupp der Bundeswehr loszieht, um endlich Bin Laden zu finden … War das boshaft, ketzerisch gedacht? Vielleicht. Ob es wohl mal gelingt, ihn für etwas anderes, weniger Militantes zu erwärmen?

*

Der nächste Tag brachte neuen Verdruss. Da war schon am 1. Mai in New York, am belebten Times Square, eine dilettantische Autobombe eben noch rechtzeitig entdeckt, ein Blutbad also knapp verhindert worden. Und obgleich Edgar den Vorgang gar nicht selber kommentiert hatte, erreichte ihn wieder ein Text jenes Schreibers, der solche Meldungen grundsätzlich hinterfragte, stets der amtlichen Deutung misstrauend. Diesmal kam das Zeug, wohl um es aufzuwerten, sogar als Brief mit der Post – unter dem frechen Titel „Und ewig streiken die Zünder“.

Das war Polemik, Ironie. Es klang sogar poetisch, erinnerte Anja an den Roman „Und ewig singen die Wälder“, das Werk eines namhaften Norwegers im Bücherschrank ihrer Mutter. Weshalb ging so was immer Edgar zu, obschon der nie zurückschrieb? Sein Name stand wohl auf einer Liste des Kritikers. Der hatte sich die Anschrift verschafft; heutzutage keine Kunst. Oft wurden Adressen ja kommerziell gehandelt … Es gab sogar – das hatte ihr ein Rentner aus der Nachbarschaft geklagt – Kundenlisten bei Firmen, deren Werbung (für Münzen, Kaffeefahrten, Antifaltencreme oder Pillen gegen nächtlichen Harndrang) immer an Senioren ging, gezielt und penetrant. Das mochte normales Marketing sein, daher war der Vergleich zu harmlos, als dass sie Edgar damit hätte besänftigen können. An seiner Befürchtung, durch gelegentliches Erscheinen im Fernsehen auch Ablehnung auf sich zu ziehen, schien leider was Wahres dran. Sogar Gehässigkeit schlug ihm entgegen; dies war der Preis der Prominenz.

Das ominöse Auto, stand in dem Papier, habe schräg auf dem Bordstein geparkt, mit laufendem Motor und blinkendem Warnlicht; dazu sei Qualm von ihm aufgestiegen, aus krachenden Feuerwerkskörpern – ganz als habe der Täter gewollt, dass sein schlimmer Versuch bemerkt werde. Auch sei er wieder einmal unfähig gewesen, sein arges Gebräu zur Explosion zu bringen. Das lasse an all die gescheiterten Anschläge der letzten Jahre denken: Von dem verpfuschten Toronto-Attentat anno 2006 über das Zündversagen auf dem Flugplatz von Glasgow 2007 und den närrischen „Schuhbomber“ bis zu dem „Weihnachtsbomber“ vom Dezember 2009, der es bloß geschafft habe, statt des Flugzeugs seine eigene Unterhose anzuzünden.

„Avanti dilettanti“, hieß es weiter. „Wie schön, dass jene Dschihadisten, die im Nahen Osten fast täglich gewaltige Autobomben hochjagen, in Europa und den USA stets Probleme mit den Zündern haben. Ein Fortschritt immerhin, wenn dank geheimdienstlicher Einmischung, Beschaffungshilfe und Mitarbeit wenigstens im Westen niemand mehr sterben muss, wie noch 2001 in New York, 2004 in Madrid und 2005 in London. Bei uns sorgt al-Qaida bloß noch für Schlagzeilen. Und das reicht hin, die Erinnerung an alten Horror soweit wachzuhalten, dass die Linie der NATO- Staaten – von den Kontrollexzessen innen bis zum endlosen Krieg in Afghanistan – vom Publikum noch halbwegs geduldet und achselzuckend hingenommen wird, mehr resignierend als überzeugt.“

Edgar Sörensen fand den Text infam. Zumal die Fehldarstellung von geheimdienstlichem Handeln ihn empörte. Welch eine Bosheit da von links! Er atmete auf, als der Täter vom Times Square zwei Tage später anhand eines Videobilds erkannt und auf der Flucht gefasst wurde, in letzter Minute gehindert am Abflug nach Dubai. Ein amerikanischer Bürger, geboren freilich am Hindukusch als Sohn eines hohen Fliegeroffiziers, gescheit und tüchtig; bis sein Leben mit Weib und Kind im letzten Mai endete, weil der 30-Jährige erst den Job bei einer Marketingfirma, dann auch sein Haus verlor und in ein tristes Viertel umziehen musste. Erschüttert vom sozialen Abstieg, gab er an, er habe die ferngelenkten Angriffe von US-Drohnen auf seine Landsleute in Pakistan rächen wollen. Nun drohte ihm lebenslange Haft.

Bisher hatte Edgar dazu auf dem Bildschirm kein Wort gesagt, schließlich war der Knall verpufft. Erst der Brief des zähen Kritikers bewog ihn, vor die Kamera zu treten. Als Terrorexperte war er es den Menschen schuldig, auch Flops zu erklären, doch es wirkte recht dezent bei ihm. Ohnehin blieb er stets korrekt, streng sachlich, und ereiferte sich nie.

Diesmal sah man ihn nur im Profil, als er, vom Nachrichtensprecher befragt, bloß mit drei oder vier Sätzen beiläufig darauf hinwies, wie leicht ein frustrierter Mann in der freien Welt stets an brisante Stoffe gelangen könne – angeleitet von skrupellosen Terroristen, die sich nicht scheuten, ihre Ratschläge zum Bombenbau aus derlei Zeug ins Netz zu stellen.

Der gedämpfte Auftritt imponierte Anja. Gerade das Ausgewogene seiner Worte, die Nüchternheit gefielen ihr. Von dem Ärger merkte man ihm nichts an. Edgar strahlte wieder das aus, was sie an ihm schätzte: Zurückhaltung und Kompetenz. In der Ruhe lag die Kraft, und Augenmaß war seine Stärke. Das Preußenwort „Mehr sein als scheinen“, sie sah es tief verinnerlicht von ihm.

Außerdem, er hatte ja recht. Gefahrenabwehr, darin folgte sie ihm, ist das Kerngeschäft des Staates, unbedingt. Hier Schweinegrippe, da isländische Vulkanasche, dort Terrordrohung; und zweifellos noch manches mehr … Sie hörte sich seufzen, als ihr Mann vom Rand des Bildschirms verschwand. Ist unser Leben wahrhaftig so unsicher geworden, hatte der Briefschreiber da indirekt gefragt, mit kaum verdecktem Hohn, oder sind hier bloß janusköpfige Behörden am Werk, denen ihr Selbstdarstellungs- und Erhaltungstrieb, der Alarmismus und die Politik der Angst über alles geht?

Es freute Anja, wie souverän Edgar dem entgegentrat, restlos beherrscht. Nein – so die Botschaft –, wenn nur aufgepasst wird seitens der Regierung, gibt es nichts, was uns ernsthaft droht. Man war in Sicherheit, soweit das eben heutzutage ging … Und jetzt begrüßte sie den fremden Brief. Der erst hatte ihren Mann angespornt zu seinem Kurzauftritt, der die Unterstellung des lästigen Warners ziemlich ad absurdum führte.

*

Nach Mitternacht wachte sie auf und erinnerte sich wieder dieses Barbesuchs, vor dem Aufbruch vom Lerchenberg nach Berlin. Im grottenähnlichen Dunkel der Bar hatten sie beide Abschied genommen von Mainz, zu wehmütiger Musik. Neben ihnen stritt ein Paar, sollte man gehen oder bleiben? „Dies Lokal ist trist wie ein leeres Grab“, sagte die Frau; sie habe genug und rühre keinen Alkohol mehr an. – „Ich rühre ihn auch nicht an, ich trinke ihn.“ – „Du trinkst den eigenen Tod …“

Der Streit ging im selben Stil noch weiter. Und damit derlei Tristesse nicht auf sie übersprang, hatte Edgar ihr das neue Ziel emphatisch geschildert; eine leichtere Übung für ihn. Anders als Anja kannte er ja das Hauptstadtstudio von Kurzbesuchen her – nicht etwa nur die Muschelkalkfassade dort am Boulevard Unter den Linden, deren Pfeiler so klassisch kühn hochstrebten, wie bei keinem Neubau mehr gewagt. Sondern auch das Atrium, den wunderbaren Innenhof, der dank seiner Größe allen Räumen reichlich Licht spendete. Und nun vierfach unterkellert sei! So dass man zu den zwei Ebenen mit Tiefgaragen darunter noch weitere Flächen gewonnen habe für die Studios – da, wo sie geschützter nicht sein konnten, anderthalb Fußballfelder groß. Dort werde bestes Fernsehen gemacht, von „Berlin direkt“ bis zum kleinsten Kommentar aus dem magischen Zentrum der Bundesrepublik. Sehr solide, auf einer Bodenplatte aus Beton, drei Meter dick! Die Grabungen habe man übrigens erst in 50 Meter Tiefe gestoppt, als ein Kohleflöz erreicht worden sei.

Edgars Schwärmerei gipfelte in dem Newsroom-Konzept. Das vernetzte alle Stationen so perfekt, dass vom Chefplatz am Computer aus sämtliche Schritte, von der Recherche bis zum Layout, leicht zu steuern seien … Seine Begeisterung aber, so ansteckend die auch gewesen war, hatte bei ihr im Rest jener Nacht zu einem absurden Reflex geführt, und der Nachhall ging ihr nie mehr aus dem Sinn. In einem irren Albtraum nämlich lief sie, paradox ferngelenkt, durch schummrige Kohlestollen, ganz verstellt und verstopft mit Fernsehtechnik. Atemlos ging sie dort einer Verschwörung nach, programmiert aufs Entlarven von Islamisten, die, als Techniker getarnt, eingesickert waren in das unterirdische Reich des Hauptstadtstudios. Reiner Horror, die fremden Männer, in Terrorcamps gedrillt, lockten sie in einen Hinterhalt und drohten, sie zu steinigen – wegen eines Ehebruchs, an den ihr jede Erinnerung fehlte, wie sie nicht müde wurde zu beteuern.

„Man vergisst leicht, was einem peinlich ist, Frau Sörensen“, hatte der Anführer zu ihr gesagt. Ließ er sie laufen oder war sie ihm entwischt, nachdem er sie brutal begrapscht hatte? Das hatte nichts mehr zu tun mit normaler Recherche, kein Ende des Schreckens, es ging um ihr Leben, um ihre Bewährung in der Gefahr. Im Drang nach Aufstieg stolperte sie weiter, so zwanghaft wie pflichtbewusst. Der Fluchtimpuls endete erst, als es ihr ganz zuletzt noch gelang, an sich selbst den Stecker zu ziehen oder irgendwo am Rande des Infernos eine Sicherung herauszudrehen. Was genau sie erlöst hatte, das wusste sie nicht mehr … Denn soviel war immerhin richtig: Die Erinnerung wurde unscharf, man vergaß doch besser etwas, an das man so ungern zurückdachte.

ALTE GESCHICHTEN

Die Reise nach Rostock ließ sich trübe an. Aus dem grauen Himmel fiel Geniesel und legte sich ihr aufs Gemüt. Jan Otto chauffierte sie zum Fernbahnhof, denn auf die S-Bahn, hatte Edgar gewarnt, sei noch immer kein Verlass. Anja war vorn beim Fahrer eingestiegen, dem zuliebe. Distanzierter Umgang lag ihr nicht, sie fand, das demokratische Prinzip schließe Volksnähe ein. Auch spürte sie, dass Jan Otto sie mochte, als Frau. Längst ahnte ihr wacher Sinn bei ihm die Neigung, ein bisschen mit ihr zu flirten; was seine Stellung ihm allerdings verbot. Statt dessen lobte er unterwegs Edgars jüngsten Auftritt. Das war neutraler Gesprächsstoff, unbedenklich; für ihn noch die beste Art, ihr Ohr zu gewinnen.

„Was Ihr Mann leistet, ist enorm“, hörte sie ihn im Quietschen der Scheibenwischer sagen. „Das verdient auf jeden Fall Respekt.“

„Wie kommen Sie jetzt darauf, Jan?“

„Na, das Feindbild muss doch immer klar sein“, versicherte er ihr, während Pfützenwasser an den Wagen schlug. „Und genau dafür sorgt er ja, Frau Sörensen. Erst gestern wieder.“

Die schlichte Meinung des Soldaten.

„Klare Zielansprache“, fuhr er fort. „So muss man’s machen, um den Defätismus zu kontern, der da aufkommt. Wissen Sie, bei mir leuchtet die Warnlampe knallrot, wenn der Terrorismus irgendwie verharmlost wird.“