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Halle 1954. Ein Betriebsleiter kassiert mit der Jahresprämie einen Fünfzigmarkschein, durch zwei grüne Tintenspritzer seltsam markiert. Er schenkt ihn Inge, seiner jungen Frau - die fährt mit ihren Ersparnissen nach Westberlin. Sieben Jahre vorm Mauerbau eine atemberaubende Stadt! Zum Wechselkurs 1:4,70 kauft sich Inge dort eine "Lambretta" von NSU, als das noch kein mörderischer NS-Untergrund, sondern eine Automarke ist. Und nun wandert der Geldschein weiter, von einem flotten Callgirlring zur KgU, einem der vier Dutzend Geheimdienste vor Ort … Spannend und punktgenau liefert die Spur der Banknote das Panorama einer "Frontstadt" aus längst versunkener Zeit. Das den heutigen Leser immer noch fesselnde Buch erschien erstmals 1955 im Verlag Das Neue Berlin.
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Seitenzahl: 393
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Wolfgang Schreyer
Die Banknote
Kriminalroman
ISBN 978-3-86394-084-3 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1955 im Verlag Das Neue Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Um die Mittagsstunde des 1. Dezember 1958 betrat ein schlichtgekleideter Mann die Hauptniederlassung der städtischen Sparkasse Halle (Saale). Zu dieser Zeit war der große Schalterraum fast leer; es roch nach Fußbodenöl und Zigarettenrauch. Vor der Barriere lehnte ein junger Bursche - vielleicht der Lehrjunge eines benachbarten HO-Geschäfts, der Wechselgeld holen sollte. Dahinter hantierte eine Bankangestellte mit einem schwierigen Apparat; sie steckte ein Sparbuch hinein, drückte verschiedene Knöpfe, und die Maschine begann zu rasseln. Hartgeld klirrte, halblaute Sätze wurden gemurmelt, wieder rasselte die Maschine. Trübes Licht fiel durch die hohen, unten mattierten Scheiben, brach sich in den Glasaufbauten der Schalterwände. Die Tür des mächtigen Panzerschranks stand halb offen.
Der Eintretende nahm dies alles wahr; die passende Situation für einen Bankeinbruch, dachte er flüchtig. Aber das gab es wohl nicht mehr, wie überhaupt die Zahl der Verbrechen von Jahr zu Jahr geringer wurde ... Er blieb stehen, blinzelte ein wenig und nickte gewohnheitsmäßig dem grauhaarigen Kassierer zu. Ihm wurde bewusst, in welch sonderbar nachdenklicher Stimmung er sich befand.
„Schönen guten Tag, Herr Lenz", erwiderte der Kassierer den Gruß; er knüpfte, während der Lehrling seine Groschenrollen einsackte, sogleich eine Unterhaltung an. „Sie kommen diesmal selbst? Wie geht es der Frau Gemahlin? Gut? Freut mich, freut mich sehr. Die Kinder gesund?"
Er sprach gedämpft, mit routinierter Liebenswürdigkeit. Zwischendurch prüfte er den Kontoauszug und suchte den Beleg heraus. „Ah, eine Prämie diesmal. Aber wie kommt die aufs Konto? Sie waren bei der Prämienauszahlung wohl nicht im Betrieb? Immerhin, man darf Ihnen dazu sicher gratulieren!"
„Ja, ich war auf Dienstreise." Werner Lenz lächelte dünn. Dabei zerrte er, den Ellbogen auf den Schaltertisch gestützt, gedankenverloren an seinem unförmigen Ohr, in dessen Muschel dunkelblonde Haarbüschel wuchsen. Unbeholfen stand er da, weit weg mit seinen Gedanken. Jetzt bot er keineswegs das Bild des kraftgeladenen Mannes, der er in Wirklichkeit war. Dreiundvierzig Jahre war er alt, breitschultrig und gedrungen, hatte sehnige, etwas kurzfingrige Hände, grobgeschnittene Züge, unregelmäßige, aber feste weiße Zähne; er leitete eine kleine volkseigene Lackfabrik am Südrand der Stadt. Er tat es mit Umsicht und Energie, auf eine zupackende, humorvolle Art. Privat galt er als das, was Berufskollegen und Bekannte einen „feinen Kerl" nennen. Nur heute stimmte etwas nicht mit ihm, er spürte es selbst. Zum Teufel auch, was war denn los?
„Fünfhundertfünfzig Mark", flüsterte der Kassierer, indes er zu dem mit Banknotenstapeln gefüllten Regal hinübersah. „Wie darf ich's Ihnen geben?"
„In großen Scheinen möglichst", erwiderte Werner Lenz. Er mochte den Alten gern und plauderte sonst manchmal ein paar Minuten mit ihm, wenn kein Andrang herrschte. Seine altmodische Höflichkeit nötigte ihm stets ein kleines Lächeln ab. Früher, das wusste er wohl, wäre es keinem Bankkassierer jemals eingefallen, sich um ihn zu bemühen; ganz davon abgesehen, dass er damals kein Konto besaß und in solch einem Raum überhaupt nichts zu suchen hatte.
„In großen Scheinen, sehr wohl", murmelte der Graukopf, befeuchtete die Finger an einem Schwämmchen und griff in das Fach der braunen Hunderter. Lenz schien es, als sei er ein wenig gekränkt. Er versuchte, ein freundliches Wort für den alten Mann zu finden, doch seine Gedanken schweiften ab. So blieb er schweigend stehen und zupfte an seinem Ohrläppchen: zerstreut und grüblerisch. Er war nicht bei der Sache.
Im Hintergrund lärmte die Maschine, Papier raschelte, dann lag ein kleines Häufchen brauner Hunderter vor ihm - obenauf ein roter Fünfzigmarkschein. Lenz betrachtete ihn versunken. Die Banknote war fettig und zerknittert; sie erinnerte ihn an eine andere, die er einst im Brustbeutel bei sich getragen hatte, neben der Erkennungsmarke. In der Entlausungsanstalt Brest-Litowsk war der Lederbeutel versehentlich in die Heißluftkammer geraten, wo er zusammenschrumpfte und mit allem, was an Schweiß und Fett in ihm saß, den Geldschein durchtränkte, so dass der fast durchsichtig davon geworden war.
„Zählen Sie nach", mahnte der Kassierer. Doch Werner Lenz fuhr fort, auf die Note zu starren. Fünfzig Deutsche Mark, las er; von der Deutschen Notenbank auf Grund ihrer Satzungen ausgegeben. Reichlich ein Jahr war vergangen seit dem Banknotenumtausch vom Oktober 1957, der damals für alle Schieber und Spekulanten ein wohlgezielter Schlag gewesen war. Er erinnerte sich noch an die Diskussionen in dem Aufklärungslokal, in dem er sein Geld umtauschen musste. Einige der Wartenden waren unzufrieden und quengelten laut. Er aber hatte sich gefreut, dass ein so großes Unternehmen bis zum letzten Augenblick geheim gehalten werden konnte und nun dank einer beispiellosen Organisation reibungslos ablief. Fünfviertel Jahre lang ging dieser Schein nun von Hand zu Hand - kein Wunder, dass er so aussah. Geld stinkt nicht, sagt man; aber in diesem Fall roch es wohl doch. Nach den Menschen, die es befingert, zerknüllt, mit sich herumgetragen haben. Wem mag der Schein wohl gehört, was wird er alles erlebt haben ... Links oben, neben der Nummer, gewahrte Lenz zwei giftgrüne Tintenspritzer, ihre Form und Stellung erinnerten an die Schlitzaugen einer Maske. Wie mochten sie daraufgekommen sein?
„Es ist kein sehr schöner Schein", bemerkte der Kassierer entschuldigend. „Leider ist es der letzte. Wir schließen gleich. Sie wünschten großes Geld! ... Den allerdings wollen wir doch lieber aus dem Verkehr ziehen. Darf ich Ihnen fünf Zehner dafür geben?"
„Lassen Sie nur", murmelte Lenz; er hatte kaum hingehört. Seine Hand schob sich auf den kleinen Stapel, er verspürte plötzlich den närrischen Wunsch, etwas über das Schicksal der Note zu erfahren; doch zugleich wurde ihm wieder bewusst, wie unentschlossen und verträumt er dastand, dass er sich seltsam benahm. Etwas stimmte nicht mit ihm - woran lag das? Nun, einerlei, Schluss damit! Er gab sich einen Ruck, blätterte flüchtig die Scheine durch (fünf Hunderter, ein Fünfziger, jawohl) und schob sie in die Brieftasche.
„Verzeihen Sie ... wie haben Sie das nur angefangen?", hörte er den anderen von weit her flüstern.
„Wieso angefangen?", fragte er verständnislos zurück. Der Kassierer hatte sich vorgebeugt und die Brauen hochgezogen; es war eine Miene respektvoller Neugier. Nun rieb er nervös die Hände und fügte etwas unsicher hinzu: „Ich wollte natürlich keineswegs indiskret sein ..."
Jetzt begriff Werner Lenz den Sinn der Frage; er beschloss sogleich, eine freundliche Erklärung zu geben, um seine Zerstreutheit wiedergutzumachen. „Sie meinen, wie die Prämie zustande gekommen ist? Wir haben einen neuen Lack entwickelt, das heißt eine graue Vorstreichfarbe: deckt gut, ist genügend hart, trocknet rasch. Das Zeug ging reißend weg, wir konnten unseren Betriebsplan übererfüllen, verstehen Sie?" Er sagte „wir", wusste aber, dass ihm allein die Idee gekommen war, dass er, weil er gern experimentierte, die neue Farbensorte entdeckt hatte.
Der Kassierer griff sich an die Nase. „Offen gestanden, noch nicht ganz", gab er zurück. „Man entwickelt einen neuen Lack - und schon ist der Betriebsplan übererfüllt?"
„Nein, nein", erwiderte Lenz; er schob den Finger zwischen Hals und Kragen. „Ich habe die Hauptsache vergessen. Die Rohstoffe, aus denen wir die Farbe herstellen, wurden vorher als Abfallprodukte weggeschüttet. Sie kosten uns sozusagen nichts, das ist der springende Punkt."
„Ja, jetzt verstehe ich", versetzte der Kassierer. „Sie haben also Reste verwertet. Meine Frau macht das manchmal auch; dann kocht sie alles zusammen, wissen Sie. Aber eine Prämie würde ich ihr dafür nicht zahlen." Er lächelte säuerlich. „O nein, ich werde mich hüten."
Blinzelnd trat Werner Lenz ins Freie. Die Sonne schien grell, eine Straßenbahn fuhr vorüber. Auf der anderen Seite stand sein Dienstwagen, ein neun Jahre alter DKW F8; er chauffierte stets selbst. Es war noch eins der ersten Autos, die von den Arbeitern der jungen volkseigenen Automobilindustrie in den ehemaligen Zwickauer Audi-Werken gebaut worden waren. Heute freilich sah es nicht mehr besonders gut aus. Der eine Kotflügel war verbogen und das Verdeck geflickt. Nur der Anstrich war neu; in dieser Hinsicht saß man an der Quelle.
Gerade wollte er die Fahrbahn überqueren, als er einen modern gekleideten Herrn gewahrte, der neben dem Auto stehen blieb und wissbegierig hineinspähte. Etwas in seinem Gebaren erinnerte Lenz an irgendjemanden. Der Fremde schob den Kopf auf besondere Weise vor - diese Geste erschien ihm vertraut. Er verfügte über ein gutes Personengedächtnis, doch die Sonne blendete, und nun schoben sich wieder Fahrzeuge dazwischen; ihm wollte nicht einfallen, wer der Mann dort drüben war. Bestimmt hatte er schon einmal mit ihm zu tun gehabt.
Werner Lenz wartete; nur wenige Sekunden lang hatte er dem Fremden zugesehen, doch weckte dieser Anblick - in rätselhafter Ideenverbindung, über die er später oft nachgrübelte - eine bestimmte Erinnerung in ihm. Plötzlich war alles wieder da: Jetzt wusste er, weshalb ihn den ganzen Vormittag hindurch eine merkwürdige Unruhe verfolgt hatte, warum er zerstreut und unentschlossen war; er verstand auch, wieso er vorhin angesichts des fast leeren Schalterraums an einen Banküberfall hatte denken müssen. -
Dies hatte sich zugetragen:
Als er heute früh bei Arbeitsbeginn sein Büro aufschließen wollte, kam er damit nicht gleich zurecht. Etwas klemmte oder hakte, obgleich das Schloss sich sonst leicht bedienen ließ. Mit verwundertem Kopfschütteln nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz und hatte den Vorfall nach wenigen Minuten bereits vergessen.
Zwei Stunden darauf, als er den Rollschrank öffnen wollte, wiederholte sich jedoch derselbe Vorgang. Auch hier leistete das Schloss zeitweilig Widerstand. Ihm kam der Verdacht, dass jemand (trotz des Werkschutzes) über Sonntag mit Nachschlüsseln eingedrungen sein könnte. Er ließ den Mechaniker rufen, der beide Schlösser prüfte, aber nur erklärte, sie seien verschmutzt, er müsse sie einmal reinigen und ölen...
Als der Mann gegangen war, hatte Lenz seine Hand betrachtet und die Finger gespreizt: sie zitterten etwas. Er hatte die Nacht über, wie so oft, wenig geschlafen und schob den ganzen Vorfall nun darauf. Dennoch sah er in allen Schubfächern nach, besonders dort, wo er die Produktionspläne und neue Lackausarbeitungen aufbewahrte. Es fehlte nichts; anscheinend lag alles so, wie es liegen musste. Erst gegen Mittag vermisste er die Kladde, in welche er die Ergebnisse eigener Experimente und Beobachtungen provisorisch eintrug. Er nahm aber an, dass er sie mit nach Hause genommen habe, und ließ es damit vorläufig bewenden. Schließlich war es albern, den Detektiv zu spielen oder die Staatsorgane anzurufen und dann zum Gespött des ganzen Betriebes zu werden, nur weil er schlecht geschlafen hatte und Gespenster sah. Als zuletzt seine Sekretärin, wohl durch die Nachsuche angeregt, behauptete, ihre Schreibunterlage habe am Sonnabend, als sie das Büro verließ, anders gelegen als heute früh, da kniff er die Augen belustigt ein. Und trotzdem war etwas zurückgeblieben: ein leichtes Befremden, ein kleiner Stachel, ein argwöhnischer Funke, der in seinem Unterbewusstsein schwelte. Jetzt fiel ihm alles wieder ein. -
Er überquerte die .Fahrbahn und schritt auf den Fremden zu, der noch immer den Wagen mit offenkundiger und (wie Lenz fand) durch nichts begründeter Aufmerksamkeit betrachtete. Sonderbar, zwischen diesem gutgekleideten Herrn und den ein wenig lächerlichen Vorgängen im Büro bestand kein erkennbarer Zusammenhang, doch hatte sein Erinnerungsvermögen sekundenschnell eine Gedankenverbindung hergestellt ... „Na, Meister", redete er den anderen, der ihm den Zugang zur Tür versperrte, von hinten an, „Sie interessiert wohl die Konstruktion? Ist das neueste Modell."
Bei diesen Worten fuhr der Fremde herum, schaute auf und wich einen halben Schritt zurück. Er öffnete ein paar Mal den Mund, schien zu einer Antwort anzusetzen, brachte jedoch zunächst keinen Ton heraus. Seine Lippen bebten, Stirn und Wangen verfärbten sich.
Lenz erkannte ihn nun sofort. Das war Kurt Teichert, ein ehemaliger Kraftfahrer seines Betriebes, der im Jahre fünfundfünfzig wegen Veruntreuung fristlos entlassen worden war.
„Ich, ich sehe den Wagen", stammelte Teichert, „denke, den kennst du doch ... Ist aber wohl neu gespritzt, der Wagen?"
„Die Farbe ist das Beste daran", brummte Werner Lenz. Er betrachtete den anderen nun näher und sagte sich, dass auch an dem die Aufmachung vielleicht das Beste war. Der war ja wirklich fein in Schale! Sein Blick streifte den hellen Wintermantel, blieb an den Hosen aus mausgrauem Gabardine haften, die, wie es die neueste Mode verlangte, nach unten übertrieben eng wurden. Kein Wunder, dass er den ehemaligen Kraftfahrer (er mochte achtundzwanzig sein) nicht eher erkannt hatte!
Einen Hut trug er nicht; Teichert hatte, wie ihm einfiel, auch früher nie einen aufgesetzt. Ihn überkam eine leichte Verlegenheit - es war eine etwas peinliche Begegnung.
Er reichte dem Kraftfahrer unbeholfen die Hand. „Na, also ... wieder mal im Lande?"
„Ja -", erwiderte Teichert gedehnt. Seine dunklen schönen Augen wanderten umher; er hatte seinerzeit als Herzensbrecher gegolten.
Misstrauen gegenüber Menschen, die einmal versagt haben, hielt Werner Lenz für ein dummes Vorurteil. Er stimmte immer dafür, ihnen wieder eine Chance zu geben, unter das Vergangene einen Strich zu setzen, sie als Gleichgestellte zu behandeln. Teichert war ein hübscher, etwas leichtsinniger Bengel; womöglich hatte sich sein Charakter auch schon gefestigt. Dann musste ihn Zurückhaltung verletzen. „Wo wollen Sie hin?", rief er und riss den Schlag auf. „Kommen Sie 'rein, ich kann Sie mitnehmen."
Teichert stieg zu, die Wagenfedern quietschten. „Ich möchte zum Bahnhof", erklärte er tonlos.
Schnarrend setzte der Motor ein, das Fahrzeug rollte an. Er wollte zum Bahnhof; wohnte er nicht mehr in Halle? Ob er Eltern hatte und wo sie lebten, wusste Lenz nicht. Er entsann sich, dass Teichert damals möbliert gewohnt und alle paar Wochen das Quartier gewechselt hatte. Es hieß, die Vermieter hätten an seinem Lebenswandel Anstoß genommen, er pflege mit Schnaps, Weib und Gesang fröhliche Urwaldfeste zu feiern. Die Vorgänge in seiner Behausung waren eine Zeitlang im Betrieb Gegenstand wildester Gerüchte gewesen.
Lenz grinste ein bisschen. Schön ist die Jugendzeit, sie kommt nicht mehr. Teichert hatte damals, wie ihm einfiel, den Beinamen „schöner Jonny" getragen ... Ganz verstand er die jungen Leute allerdings nicht, seine Empfindungen blieben zwiespältig. Er gönnte ihnen gern jedes Vergnügen, solange es nicht zum Lebensinhalt wurde. Den Typ des genusssüchtigen, egoistischen und dabei oft anmaßenden Jugendlichen, den häufig die ersten Nachkriegsjahre hervorgebracht hatten, verabscheute er zutiefst, ja, er begriff sein Wesen nicht. Gab es das überhaupt, Menschen ohne Ideale, ohne innere Haltung, Liebe zum Beruf, Bildungsdrang - die Forderungen stellten, ohne Verpflichtungen anzuerkennen? Junge Menschen mit der Denkweise von Spießern! Er hatte sie im Betrieb kennen gelernt, einen nach dem anderen durchschaut, obgleich es nicht leicht war, sie zu durchschauen, denn sie arbeiteten meist sogar gut; allerdings nur, um genug zu verdienen, kaum jemals aus Liebe zur Sache. Gehörte auch Teichert zu dieser Sorte? „Wo arbeiten Sie jetzt?", erkundigte er sich nebenbei.
„Ich? - In Berlin."
„Hier mal alte Freunde besucht?"
„Nein, bin bloß auf der Durchreise."
„Gute Stellung in Berlin?"
„Danke, ich bin zufrieden", sagte Teichert. Er hatte seine Fassung zurückgewonnen und sprach nun etwas lässig.
Er ist zufrieden, überlegte Werner Lenz; ganz so sieht er auch aus. Scheint die Treppe hinaufgefallen zu sein. Nun, ihm sollte das recht sein ... Kurz vor dem Thälmannplatz begann der Motor zu spucken. Lenz knurrte eine Verwünschung, lenkte das Fahrzeug an den Rinnstein, stieg aus und öffnete die Haube.
„Mit der Kutsche war schon früher nicht viel los", hörte er hinter sich sagen. Teichert war gleichfalls herausgeklettert. „Schönen Dank, Herr Lenz", fügte er hinzu. „War sehr freundlich von Ihnen. Das letzte Stück mache ich dann eben zu Fuß. Mein Zug geht - Sie verstehen!"
„Verstehe, verstehe", nickte der Werkleiter, während er den Kopf aus der Motorhaube hob; sein Gesicht verzog sich dabei. „Alles Gute weiterhin."
Aber Kurt Teichert hatte das wohl nicht mehr gehört. Die Hände in die Taschen des hellen Wintermantels gesteckt, schritt er davon, heiter und elegant. Ein junges Mädchen drehte sich nach ihm um.
Zerstreutheit und Ärger hinderten Lenz daran, den Schaden rasch zu beheben. Schließlich verstand er nicht sehr viel von Automobilen. Der Bengel aber war gelernter Kraftfahrzeugschlosser (kein schlechter, wenn er sich recht besann); er hätte wenigstens anstandshalber so tun können, als wolle er helfen, den Fehler zu finden. Aber er fürchtete wohl, sich die Pfoten schmutzig zu machen. Eine verdammt komische Bande war das, die jungen Männer von heute. Merkwürdige Gesellen fanden sich darunter!
Als der Wagen endlich wieder lief, steuerte er zum Werk zurück; er hatte die halbstündige Mittagspause längst überschritten.
Während er die Straße der Republik hinunterrollte, fiel ihm der Inhalt seiner Brieftasche ein, und seine Stimmung besserte sich. Es war eine anständige Prämie; heute Abend würde er mit Inge beraten, was davon angeschafft werden sollte. Sie würde in die Hände klatschen wie ein kleines Mädchen und gurrend lachen; er sah ihren halbgeöffneten Mund und hörte dieses Lachen, das tief unten aus der Kehle kam ... Ihm wurde warm bei dieser Vorstellung, für ein paar Minuten verdrängte sie den Gedankenkomplex, der seine heimliche Unruhe verursachte. Ja, es lohnte sich, zu schuften; schon wegen dieses leisen, tiefen Lachens lohnte es sich.
Unwillkürlich trat er kräftiger auf das Gaspedal, die Straße kam schneller auf ihn zu. Er erinnerte sich der Banknote, des fettigen Fünfzigmarkscheins mit den zwei grünen Tintenspritzern, die dem Augenpaar einer Maske glichen. Wie schmutzig sie aussah! Er ertappte sich bei dem Wunsch, einmal dabei zu sein, wie sie von Hand zu Hand ging - nur ein paar Tage lang. Sie musste allerhand erleben ... Nein, ein alberner Einfall. Mit ihm stimmte wirklich etwas nicht, er wurde anscheinend wunderlich. Als Junge hatte er sich oft gewünscht, eine Tarnkappe zu besitzen; darauf besann er sich genau. Später träumte er manchmal davon, sich in einen winzigen Käfer zu verwandeln, um ungesehen allen Mädchen, die ihm gefielen, zu folgen bis in ihr Zimmer, wo sie sich auszogen. (Natürlich war er, auch ohne ein Käfer zu sein, eines Tages in solch ein Zimmer gekommen.) Die Idee, den Weg des Geldscheins zu verfolgen, kam aus der gleichen Kiste.
Werner Lenz grinste ein bisschen und pfiff ein Lied. So bog er in das Werktor ein. Aus dem Pförtnerhäuschen nickte ihm Hans zu, ein alter Bekannter vom Betriebsschutz, und Asta, der große Schäferhund, sprang in langen Sätzen heran. Er nahm den Fuß vom Gashebel und lehnte sich tiefatmend zurück; das war sein Betrieb, er kam mit jedermann gut aus; soweit er wusste, mochten sie ihn alle - immer, wenn er so mit Schwung durch das Tor hineinrollte, grüßte ihn jeder auf seine Weise ... Aber er hatte die Kurve zu scharf genommen; ein Vorderrad löste sich und rollte davon; auf dem Innenhof legte sich das Auto stöhnend und knarrend auf die Seite.
Inge Lenz stand am Fenster; sie wartete. Es war nun schon sieben durch, die Kleine lag im Bett, weshalb kam Werner nicht? Er hatte doch versprochen ... Sie schaute hinaus, atmete die Winterluft, die nach Nebel und Rauch schmeckte. Der Abend war nicht sonderlich kalt, aber feucht; der milde Schein der Gaslaternen schuf runde gelbe Inseln im dunklen Meer der Straße. Warum kam Werner nicht? Sie fröstelte; ein Hauch von Unruhe überschlich sie.
Irgendwo wurde ein Schlager gepfiffen, das Pedal eines Fahrrads schrammte über den Bordstein; aus der Tiefe zwischen den Lichtkreisen drangen heimliche und kecke Laute: Geflüster, Lachen, halblaute Zurufe, Gekicher. „Ping-pong", machte eine Fahrradklingel. Zischend leuchtete ein Streichholz auf, zeigte ein junges Gesicht, erlosch, und nur das Zigarettenpünktchen blieb zurück - es beschrieb rote Kurven und Kreise, als spräche der Bursche eifrig auf das Mädel ein. Vielleicht versuchte er sie zu überreden, morgen mit ihm ins Kino zu gehen.
Inge schloss das Fenster, zog die Gardinen und Rollos vor. Solche kleinen Beobachtungen stimmten sie manchmal wehmütig. Fünf Jahre lang war sie nun verheiratet; heimliche Gespräche und Verabredungen mit all ihrem Zauber - das lag endgültig hinter ihr; um sie warb niemand mehr. Sie hatte einen Mann und zwei Kinder dazu, sie trug einen Ring, spielte die glücklich verheiratete Frau und erreichte damit denn auch, dass keiner der Berufskollegen mit ihr zu flirten wagte. Allerdings, sie waren auch nicht gerade nach ihrem Geschmack, die Modezeichner, Einkäufer und Presseleute. Gute Kerle waren es meist, nett und kameradschaftlich - mehr nicht.
Inge schaltete die behagliche Stehlampe an; auf dem Wege zur Küche betrachtete sie sich aufmerksam im Spiegel. Mittelgroß, blond (sie benutzte nur Römische Kamillen), mit hellen grauen Augen und von schlanker Gestalt, konnte sie für eine Frau Anfang Zwanzig gelten, vier oder fünf Jahre jünger, als sie wirklich war.
Sie schnaufte leise und versuchte einen schmachtenden Augenaufschlag - von unten herauf, mit halb gesenktem Oberlid, wie sie es als Mädchen oft im Spaß probiert hatte, nachdem sie das einmal im Kino gesehen. Es war eine überaus feine Miene, so fein, dass nur der sie bemerken konnte, zu dem sie sprechen sollte; und auch diesem einen gegenüber konnte sie rechtzeitig noch verleugnet werden, falls sich etwa herausstellte, dass er nicht empfänglich dafür war. Hatte sie schon verlernt, wie es gemacht wurde? Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hatte Werner Kleinigkeiten, denen - wie diesem Augenspiel - ein prickelnder Reiz anhaftete, nie beachtet. Er war ein guter Mensch, einfach, schlicht und gerade, mitunter bis zur Unerträglichkeit. Lag es an ihrem Altersunterschied? Ach, das hatte sie sich schon oft gefragt.
Ein Schlüssel klirrte, sie drehte sich um und wusste, er war endlich gekommen. Die Flurtür sprang auf.
„Stell dir vor, Mäuschen", rief er zur Begrüßung, „ich musste zu Fuß gehen! Der Wagen ist vorerst nicht mehr zu gebrauchen!"
Früher pflegte er solchen Feststellungen meist noch einen Kraftausdruck hinzuzufügen; das tat er nicht mehr.
„Zusammenstoß?", fragte sie rasch und schaute ihn ängstlich von Kopf bis Fuß an. Doch er stand unversehrt da, ihr großer, starker Werner.
„Drei Wochen Reparaturzeit", erklärte er. „Kein Zusammenstoß - Altersschwäche! Drei Wochen Reparaturzeit, stell dir das vor."
„Kauf uns doch 'nen eigenen Wagen!"
„Ha!"
„Mach nicht solchen Krach, Papi", flüsterte sie, schlang ihren Arm um seinen Nacken und legte die Hand auf seinen breiten Mund. Gott sei Dank, ihm war nichts passiert. „Sei leise hier draußen, die Kleine schläft schon."
Werner Lenz nickte schwerfällig, gab ihr einen Kuss und zog seinen Mantel aus. Die Kleine schlief, das hatte er sich gedacht. Und der Junge wohnte bei den Schwiegereltern, er bekam ihn nur sonntags zu sehen. Da war nichts zu machen; er hatte das alles in Kauf genommen, weil Inge ihren Beruf nicht aufgeben wollte. Sie war schon damals, als sie sich kennen lernten, selbständige Modefotografin gewesen und auf ihre fachliche Leistung sehr stolz. An sich fand er es ganz in Ordnung, dass sie so an ihrer Arbeit hing. Theoretisch war es eine gute Sache ...
„Hab' dir was mitgebracht", sagte er und zog ein unförmiges Paket aus seiner Aktentasche. „Hoffentlich gefällt's dir."
Inge wickelte es aus, Papier raschelte, ihre Augen glänzten. Zum Vorschein kam ein eiserner Leuchter, schwer und massiv, handfeste Schmiedearbeit. „Fünf Kerzen gehen 'rein", erläuterte er.
Inge nickte; sie lächelte etwas mühsam. Er wusste, sie liebte gesellige Abende bei Kerzenschein, und sicher war ihm wieder eingefallen, dass sie ihm neulich einen bestimmten, in der Leipziger Straße ausgestellten Leuchter beschrieb, den sie sich wünschte. Er hatte am Schreibtisch gesessen und gearbeitet, als sie davon sprach - und vermutlich nur mit einem Ohr zugehört; der Leuchter, den sie meinte, war ein zartes, kunstvolles Gebilde aus gehämmertem Messing.
„Solide gebaut, nicht wahr?", sagte er, „Der kippt nicht um. Fünf Kerzen gehen 'rein!"
Sie strich über das schwere raue Metall, gerührt und verzweifelt. Er meinte es so gut, hatte ihr einen Wunsch erfüllen wollen! Doch ach, wie wenig verstand er sie. Sie schluckte, dann sagte sie: „dass du daran gedacht hast! Er ist sehr schön ..." Sie log damit nicht, es war ein auf seine Weise durchaus schöner Gegenstand; er würde ein Menschenleben überdauern.
„Weißt du, wem ich begegnet bin?", fragte er am Abendbrottisch. „Teichert. - Du besinnst dich wohl nicht mehr."
„Auf einen Teichert, nein."
„Das war der Kerl, der damals einige krumme Sachen gemacht hat. Vor drei Jahren, als unser Junge unterwegs war."
„Teichert - etwa der, für den du dich noch eingesetzt hattest, dass er nur entlassen wurde, aber nicht angezeigt?"
Werner nickte. „Wir haben ihm damals 'ne Chance gegeben, und anscheinend hat er sie richtig genutzt."
„Wieso?" Sie goss ihm Tee nach, der Kannendeckel klapperte. Werners Ton ließ sie aufhorchen.
„Feiner Pinkel geworden, Wollmantel und Krawatte", sagte er grimmig. „Ganz groß in Schale! Der macht sich die Pfoten nicht mehr schwarz an 'nem Automotor." Und er erzählte den ganzen Vorfall.
„Du, ich glaube", warf Inge plötzlich ein, „den habe ich auch gesehen. Den Namen hatte ich vergessen, aber jetzt kann ich mich erinnern! Der saß heut Nachmittag in der HO-Gaststätte am Markt."
Werner Lenz ließ die Hand flach auf den Tisch fallen; das Geschirr klirrte, die Teelöffel hüpften. Es war also Schwindel gewesen mit dem Zug. Das hatte er sich doch gedacht!
„Er saß dort übrigens nicht allein", bemerkte sie. „Ullmann war noch da und ein anderer, ich glaube, auch aus deinem Betrieb; sie unterhielten sich sehr lebhaft. Ich hab' den Teichert gleich erkannt, nur wie er hieß, fiel mir nicht ein. Grauer Gabardineanzug, ja? Sehr schick."
Sie besprachen die Sache, konnten aber nicht klären, wer der Dritte gewesen war; sie behauptete, ihn auf dem letzten Betriebsfest gesehen zu haben. Hieß er nicht Klatt? - Werner zuckte die Achseln. Weshalb setzten die drei sich zusammen? Er dachte darüber nach. Teichert war früher nicht sehr beliebt gewesen - bei den Frauen schon, aber nicht bei seinen männlichen Arbeitskollegen. Und jetzt trafen sie sich mit ihm und hoben einen. Na, er konnte sich denken, weshalb; bestimmte Leute, wie Ullmann (ein Bummelant, der wieder einmal krank geschrieben war), schienen ihn interessant zu finden. Vor dem Kriege, unter den Nazis, hatten sie fristlos Entlassene gemieden wie die Pest, die Erfahrung hatte er selbst gemacht. Heute gingen sie mit ihnen in ein Lokal und feierten Wiedersehen. Diebstahl von Volkseigentum - ein schiefes Lächeln, Augenzwinkern übers Bierglas hinweg: Es wurde ja kein Privatmann geschädigt, nur der Staat. Oh, er kannte das, er konnte sich vorstellen, was in der Kneipe geredet worden war. Teichert, ein Märtyrer mit 'nem Heiligenschein. Wahrscheinlich hatte er die beiden freigehalten.
„Du isst ja gar nicht mehr", sagte Inge. Ihr Gespräch schlief ein, und sie wusste, wie das weiterging. Gleich würde er nach der Zeitung greifen, hastig versuchen, einige Artikel, die ihm wichtig schienen, zu lesen - dann scheußliche Tabellen aus der Aktentasche ziehen und den Rest des Abends am Schreibtisch zubringen, bis er sich müde, knurrig und geistesabwesend schlafen legte. Verhielten sich alle Männer so? Sie glaubte das nicht. Sie dachte an den Herrn im grauen Gabardineanzug, den sie im HO-Restaurant gesehen. Er hatte gar nicht zu den beiden anderen gepasst; so ein hübscher junger Mann. Solche wie er gingen sicherlich mehr auf ihre Frauen ein ... „Bist du wirklich schon satt?"
„Ja, danke, Schluss. Hab' mir noch etwas Arbeit mitgebracht." Er neigte sich seitwärts und angelte nach seiner Aktentasche.
„Guck mal, Papi, meine neuesten Aufnahmen", sagte sie nach einer Dreiviertelstunde schüchtern.
„Hm", machte er; sie trat behutsam an ihn heran. Sie wusste, ihn störten solche Unterbrechungen, doch er vermied es fast immer, sich etwas anmerken zu lassen. Nur unterhalb seiner Ohren, am Kiefermuskel, erschien auf jeder Seite ein kleiner Knoten. Manchmal war es ihr schon gelungen, ihn mit ihren Fotos loszueisen; er betrachtete eines nach dem anderen, schob schließlich seine Papiere beiseite - und der Abend war gerettet
„Die neusten Modelle aus unserem volkseigenen Modeatelier", flüsterte sie und legte eine besonders schöne Aufnahme vor ihn hin - nicht etwa auf seine Tabellen, was ihn gereizt hätte, sondern ein Stück daneben. Ja, die Knoten spielten wieder auf den Kiefernknochen; ihr Mut sank.
„Hm, hm", machte er ein wenig ratlos. Sie hatte ihn kurz vor der Lösung aus einem schwierigen Gedankengang gerissen, doch er wollte nicht grob oder unwirsch werden, auf keinen Fall. Ein Teil seines Bewusstseins registrierte, dass es ein ungewöhnliches und bemerkenswertes Bild war: Im Gegensatz zu den modernen Kleidern, die er von Inges Aufnahmen und aus den Illustrierten her schon kannte, betonte die neue Linie wieder die Taille. Nur saß sie jetzt nicht an ihrem richtigen Platz, sondern war bis unter die Brust gerutscht. Ihm wäre es gar nicht aufgefallen, denn er verstand im Grunde nichts von der Mode, wenn das Mannequin auf Inges Foto nicht völlig unproportioniert ausgesehen hätte.
„Gefällt es dir?", forschte sie. „Hier siehst du's noch mal von der Seite." Sie gab ihm eine zweite Aufnahme.
Einen Augenblick lang dachte Werner darüber nach, warum man die neuen Modelle immer nur auf Bildern und fast nie im Betrieb oder auf der Straße sah, doch dann beschäftigten sich seine Gedanken schon wieder mit der Lackanalyse. Man müsste es doch mal mit dem neuen Kunstharz versuchen, vielleicht erzielte man dann einen höheren Härtegrad, und ein Zusatz von Standöl könnte die Trockenzeit verkürzen.
„Gute Aufnahmen, Mäuschen", sagte er zerstreut, „sehe sie mir nachher in Ruhe an."
Inges Augen wurden plötzlich schmal und bekamen einen eigentümlichen Glanz. „Die Bilder interessieren dich überhaupt nicht, sag es doch! Ich störe dich nur!", rief sie mit hoher, fast erstickender Kinderstimme; ihre Finger zuckten, rissen ihm die Bilder weg. „Du hast immer nur deine Arbeit im Kopf, und meine hältst du für zweitrangig oder für überflüssig." Atemlos, wütend, verletzt lief sie in die Küche.
Zwei oder drei Minuten lang saß er da, verwirrt und hilflos, mit verkrampften Händen. Er hörte das Geschirr klirren; wahrscheinlich zerbrach sie etwas in ihrer Erregung, wie so oft nach solchen Auseinandersetzungen. Sie tat ihm leid; er bereute seine Unaufmerksamkeit von Herzen.
Plötzlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht, er stand rasch auf, tastete nach seiner Rocktasche und verließ das Wohnzimmer.
„Hör mal", sagte er von der Schwelle der Küchentür aus. Sie wandte sich nicht um. „Ich hab' vergessen, dir was Wichtiges zu erzählen", begann er wieder.
Das Geschirr klapperte - entzweigegangen war diesmal noch nichts.
„Ich hab' die Prämie abgeholt", fuhr er mit einem kleinen Schmunzeln fort. Er hielt Inge für eine ziemlich kluge Frau und war sicher, dass sie den Zusammenhang zwischen seiner Extraarbeit und solchen Prämien begriff. Sie sagte nichts.
„Mehr als sonst, Mäuschen", fügte er hinzu.
„Dein Geld interessiert mich nicht", erwiderte sie endlich. „Ich verdiene selber welches."
„Aber nicht so viel." Er griff in die Tasche, entnahm ihr ein Bündel Banknoten, legte es behutsam auf den Küchentisch neben eine Schüssel, die angefüllt war mit tropfenden Tellern. Inges Augen wurden groß, er bemerkte es, obgleich sie rasch wieder wegsah. Seine Hände schoben sich in die Hosentaschen, er fühlte einen Stolz, der ihn etwas verlegen machte. Sein schmuckes Mädel - ja, da konnte sie staunen, soviel hatte er noch nie mitgebracht. Und er hegte nun einmal den Ehrgeiz, bedeutend mehr zu verdienen als sie. Vor fünf Jahren hatten sie sich zufällig kennen gelernt, und die Geschichte endete damit, dass ein hübsches und gescheites Mädel mit Oberschulbildung ihn (einen Mann, der sich alles selbst beigebracht hatte) heiratete. Ganz verstanden hatte er das nie. Vielleicht folgte sie damals einem plötzlichen Entschluss, denn es war nicht ihre Art, sich eine Sache reiflich zu überlegen. Ihre Familie verübelte es ihr noch heute, Eltern und Verwandte hatten noch nie diese Wohnung betreten; er wusste, dass sie manchmal darunter litt. Aber sie hatte einen guten Tausch gemacht, wenn er auch kein Akademiker, Ingenieur oder Geschäftsmann war; das wollte er ihr immer wieder beweisen. Und jetzt war ein solcher Augenblick, da er es ihr bewies.
Sie wischte sich die Hände ab und blätterte nun in den Scheinen. „Fünfhundertfünfzig", sagte sie staunend. „Fünfhundertfünfzig ..." Sie nahm den obersten Schein, ein erstaunlich schmutziges Exemplar; zwei grüne Tintenspritzer gewahrte sie darauf, die einem Augenpaar glichen. Sollte sie noch weiter schmollen? Sie starrte auf die grünen Kleckse. Solche Augen hat Teichert, dachte sie; etwas schräg gestellt, groß, dunkel. Schimmerten sie grünlich? Doch das war wohl einerlei.
„Du kannst dafür kaufen, was du willst", sagte Werner einfach.
Ihr Trotz zerschmolz, sie dachte nach. „Zu Weihnachten?", fragte sie. „Die Kinder ..."
Er unterbrach sie. „Du sollst das Geld für dich verbrauchen." Ihm kam ein Gedanke. „Es ist mein Weihnachtsgeschenk, zwar etwas vorfristig ..." Er lächelte stolz. Wie fast allen Männern machten ihm die Weihnachtseinkäufe große Sorge. Er wusste nie recht, was er schenken sollte, und verschob den lange vorher geplanten Bummel durch die Geschäfte jedes Mal bis kurz vor dem Fest. Dann waren die schönsten Sachen ausverkauft, und er musste sich mit Dingen begnügen, für die er sonst kein Geld ausgegeben hätte.
Inge trocknete langsam zwei Teller ab und trug sie zum Küchenschrank. Seit jeher liebte sie es, durch die großen Warenhäuser zu schlendern und zu kaufen, was ihr gerade einfiel. Dabei spielte der Zufall keine Rolle; sie wusste immer, was sie haben wollte. Aber die verwirrende Fülle des Angebots reizte sie, weil sie dann Standhaftigkeit beweisen musste. Nur selten änderte sie ihre Absicht und kaufte etwas anderes, als sie sich ursprünglich vorgenommen. Bisher hatte sie jedoch dafür niemals so viel Geld gehabt, wie Werner ihr eben geschenkt hatte, und außerdem schienen ihr die Geschäfte in Halle oder Leipzig für diesen Zweck nicht besonders geeignet zu sein. Sie hatten trotz aller Geräumigkeit und Abwechslung für sie etwas Provinzielles.
„Ob ich diesmal meine Weihnachtseinkäufe in Berlin mache?" Sie trug zwei weitere Teller zum Schrank und kehrte ihm dabei den Rücken zu.
„Glaubst du, dass es dort mehr gibt als hier?", fragte er, in Gedanken schon wieder bei seinen Lacken.
„In Westberlin ...
Werner war fassungslos. Plötzlich war alles andere vergessen. „Du weißt, dass wir drüben nicht kaufen!", sagte er heftig, und als sie nicht antwortete, verließ er zornig die Küche. In ihm war alles tot und kalt, wie abgestorben; er mochte sie nicht mehr sehen. Traurig und verwirrt kehrte er an seinen Schreibtisch zurück. Jetzt hasste er die fünf braunen Hunderter und den roten Schein mit den zwei grünen Tintenspritzern. Dass Inge so auf sein Geschenk reagierte!
Wieder an die Lackberechnungen zu gehen hatte wenig Sinn; die innere Sammlung fehlte ihm nun. So begann er, schmerzerfüllt und niedergeschlagen, nach der Kladde zu suchen, die er heute früh im Betrieb vermisst hatte. Aber er fand sie nicht.
Werner lag auf dem Rücken, die Augen in den gelblichen Schimmer gerichtet, der von einer Straßenlaterne zum offenen Fenster hereindrang. Neben ihm atmete Inge ruhig; sie schlief. Auch er glaubte ein wenig geschlafen zu haben, doch nun war es wieder aus damit. Fast jede Nacht wachte er auf, sein Herz pochte, es drückte gegen die Rippen, der Pulsschlag sang schrill in seinem Ohr, und er hatte, wie er es nannte, den ganzen Laden im Kopf: ein belangloses Gespräch mit dem Siedemeister, dem er phantastische Antworten gab; die verschwundene Kladde, die - wie seltsam - der Bankkassierer gefunden hatte; den defekten F8, dessen Reifen der Hund Asta auffressen wollte; eine Reklamation wegen des Betriebsessens und die Mängelrüge der Reichsbahn wegen einer gewissen Sorte schwarzen Speziallacks - all dies rollte wie ein Filmstreifen im Zeitraffertempo vor ihm ab, ohne dass er den Vorführapparat ausschalten konnte. Es war eine Qual.
Inge, dachte er. Wie kam sie nur auf die Idee, ihr Geld nach Westberlin zu tragen! Erst vor wenigen Tagen war in einer Note der Sowjetunion die Rolle der Berliner Westsektoren als Brückenkopf des kalten Krieges noch einmal für jeden verständlich hervorgehoben worden. In einer Gewerkschaftsversammlung hatte er seinen Kollegen die politischen Zusammenhänge erläutert, in einer Resolution hatten sie ihre Zustimmung bekundet. Und seine eigene Frau ...?
Werner Lenz wälzte sich unruhig von einer Seite zur anderen. Hatte er nicht auch mit ihr über die Note gesprochen? Er konnte sich nicht genau erinnern, aber das war auch nicht wichtig, denn die Zeitung las sie so gut wie er. Doch jetzt wurde Werner unsicher. Er war eingefügt in ein festes Kollektiv, mit dem er alles besprach, sie aber war unabhängig, gehörte zu keinem Betrieb. Ihre Fotos schickte sie an verschiedene Zeitschriftenredaktionen, mit denen sie im Allgemeinen nur brieflichen Kontakt hielt. Hatte er diesen Umstand immer genügend berücksichtigt? War es ihm eigentlich klar, dass er der einzige war, mit dem sie ihre Gedanken austauschen konnte? Er nahm sich vor, gleich morgen Abend mit ihr gründlich über Westberlin zu sprechen. Doch merkwürdig, dieser Entschluss beruhigte ihn nur wenig; allmählich begriff er, dass er seit langem etwas falsch gemacht hatte ...
Von der Straße her drangen die ersten Laute des neuen Tages ins Zimmer. Es war jetzt zwecklos, noch auf Schlaf zu warten, und müde lauschte er dem Ticken seines Weckers.
Als Inge Lenz am Vormittag des folgenden Tages (es war Dienstag, der 2. Dezember) in den Berliner Schnellzug stieg, fand sie die Abteile schon besetzt. Sie hatte am Fahrkartenschalter viel Zeit verloren, und nun durfte sie wohl viereinhalb Stunden stehen. Denn damit, dass einer der Herren da drinnen aufstand und ihr wenigstens zeitweilig seinen Platz anbot, rechnete sie nicht.
Als der Zug anruckte und aus der Halle rollte, lief Inge durch die Waggons, spähte in jedes Abteil: überall besetzt. Lokomotivdampf quoll herein; sie hatte diesen Geruch schon als Kind gemocht, schnuppernd sog sie ihn ein. Sie hatte bewegliche Nasenflügel, und ihre Nasenlöcher erweiterten sich nach außen, nach den Backenknochen zu, das gab ihrem schmalen, zarten Gesicht etwas Keckes, Energisches. - O je, nun würde sie halbtot in Berlin ankommen, ganz aufgelöst, wo sie so Wichtiges erledigen wollte! Unermüdlich suchte sie weiter.
Im letzten Wagen fand sie ein halbleeres Abteil, legte ihre Handtasche ins Netz und setzte sich. Wie gewöhnlich starrten die Mitreisenden sie eine Zeitlang prüfend an, doch sie begegnete den Blicken und veranlasste einen nach dem anderen, beiseite zu sehen. Es waren, wie sie fand, wenig bemerkenswerte Menschen, Handlungsreisende vielleicht oder Behördenangestellte, die Äpfel aßen, aus dem Fenster schauten oder in abgegriffenen Büchern lasen. Niemand sprach.
Inge überdachte noch einmal ihre Pläne. Sie wollte im Demokratischen Sektor zwei Redaktionen, mit denen sie schon seit geraumer Zeit in Verbindung stand, aufsuchen und einige Fotos anbieten. Sie war sicher, dabei Erfolg zu haben. Falls die Zeit reichte, wollte sie anschließend noch beim Deutschen Modeinstitut vorbeigehen und dann schnell den neuen Sybille-Laden in der Friedrichstraße aufnehmen; die Kleinbildkamera, von der sie sich kaum jemals trennte, steckte in ihrer geräumigen Handtasche. Und später?
Sie schloss die Augen und grübelte. In ihren Gedankenstrom drang das Rattern der Räder: bum-bum, bum-bum, bum-bum; ein ganz schwaches, geheimes Angstgefühl regte sich in ihr. Zum ersten Mal, seitdem sie beschlossen hatte, nach Westberlin zu fahren, fand sie Zeit, ihr Vorhaben gründlich zu erwägen. Handelte sie richtig? Ihr war, als drücke etwas auf ihren Magen, wenig nur, doch sie spürte es deutlich, und das Druckgefühl wich nicht. Werner, dachte sie und stellte sich seine sorgenvolle, zornige oder gar verzweifelte Miene vor, wenn er den kleinen Zettel las, den sie ihm ins Werk geschickt hatte. Du hintergehst ihn, flüsterte eine Stimme in ihr; er hat das Prämiengeld einfach auf den Küchentisch gelegt - du missbrauchst sein Vertrauen.
Nach einer Weile beruhigte sie sich. Hatte sie ihn nicht schon oft überrascht? Hieß er nicht ihre Anschaffungen zuletzt stets gut? Was das Kaufen anbelangt, so lag die Initiative nun einmal bei ihr, darauf verstand sie sich besser als er. Doch nun kamen ihr andere Bedenken. Es war verboten, in Westberlin einzukaufen; die Zeitungen schrieben, dass man dadurch die eigene Wirtschaft schädige. Das allerdings verstand sie nicht ganz. Natürlich floss das Geld, das sie drüben ausgab, auf irgendeine Weise wieder zurück. Viele ihrer Berufskollegen hatten schon drüben gekauft, Schuhe und Mäntel, Schallplatten oder Kakao. Im Geiste ging sie die Schar ihrer Bekannten durch und kam zu dem Schluss, dass fast jeder diesen oder jenen Gegenstand besaß, der von drüben stammte, wenn es auch manchmal nur eine Kleinigkeit war. Ein tröstlicher Gedanke.
Dreihundertfünfzig Mark steckten in ihrer Handtasche; mehr hatte sie von Werners Prämie nicht genommen. Nicht etwa, dass sie Hemmungen gehabt hätte, aber vieles konnte man in Halle natürlich besser und billiger einkaufen, zumal wenn man den hohen Umrechnungskurs berücksichtigte. Inge dachte jetzt zum ersten Mal darüber nach, was sie mit dem Geld anfangen wollte. Klar war ihr nur, dass sie es auf keinen Fall für sich allein ausgeben würde. Richtige Weihnachtseinkäufe wollte sie machen - für Werner, die Kinder und für sich. An ihren Mann dachte sie zuerst, obwohl ihr das gar nicht bewusst wurde. Es lag wohl daran, dass sie trotz allen Mutes, den sie ihrer Meinung nach heute Vormittag bewiesen hatte, ein schlechtes Gewissen besaß.
Schon seit langem wünschte Werner sich einen elektrischen Rasierapparat, und sie beschloss nun, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Sie war schon zwei- oder dreimal bei Gesprächen dabei gewesen, die Werner mit gemeinsamen Bekannten geführt hatte und bei denen die Qualität der Apparate aus der volkseigenen Industrie erörtert worden war. Wenn Werner sich bisher noch keinen Elektrorasierer gekauft hatte, dann lag das daran, dass er noch nicht genügend Zutrauen zu dieser technischen Neuerung besaß. Er hatte verschiedentlich gehört, dass es beim Rasieren immer noch irgendwelche Schwierigkeiten gab, was - wie sie wusste - auch mit den Eigenheiten des Bartwuchses zusammenhängen konnte. Inge glaubte jedoch, dass die Unternehmer im Westen längst Apparate entwickelt hatten, die wirklich allen Besonderheiten Rechnung tragen und die man deswegen bedenkenlos kaufen konnte. Bum-bum, bum-bum, bum-bum, machten die Räder. Was sie für sich selbst und die Kinder kaufen wollte, wusste sie noch nicht recht. Irgendwelche modischen Wollsachen vielleicht; sie war überzeugt, dass ihr die Auslagen der Geschäfte am Kurfürstendamm genügend Anregungen geben würden. Einen Augenblick dachte sie auch an die Kontrollen in den Zügen, aber die machten ihr wenig Sorge. Sie verließ sich in solchen Fällen auf ihr höfliches und sicheres Auftreten.
Hinter Wittenberg betrat ein Herr das Abteil, der, wie sie sich unklar entsann, schon zwei- oder dreimal draußen im Gang vorübergegangen war und wohl auch flüchtig hereingeschaut hatte. Er ließ sich ihr gegenüber nieder, ein Umstand, der zur Folge hatte, dass ihre Gedanken abzuirren begannen.
Betont gleichgültig blickte sie zu ihm hinüber; etwas an ihm erschien ihr bekannt.
Der fremde Herr saß eingeklemmt zwischen einem kleinen, alltäglich gekleideten beleibten Mann und einer älteren, knochigen Bauersfrau, die beide dösten. Von diesem grauen, etwas schäbigen Rahmen hob sich seine Kleidung ab, obwohl sie in gedämpften, unaufdringlichen Tönen gehalten war. Der Herr hatte, wie Inge fand, wirklich Geschmack. Zu seinem hübschen Gabardineanzug trug er ein perlgraues, feingestreiftes Hemd und eine rostrote Krawatte. Jetzt erkannte sie ihn: Es war Kurt Teichert,
Also, überlegte sie, hatte er vor Werner gestern nur teilweise gelogen; offenbar wohnte er wirklich in Berlin und fuhr jetzt nach dort zurück. Sie streifte ihn mit einem zweiten, womöglich noch abweisenderen Blick. Sein Äußeres gefiel ihr. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er einmal in Werners Betrieb Kraftfahrer gewesen war - er wirkte mehr wie ein ehemaliger Offizier. Vielleicht hatte er nach dem Kriege, wie so mancher, zunächst eine untergeordnete Tätigkeit ausüben müssen, war aber inzwischen wieder in seinem ursprünglichen Beruf untergekommen. Er mochte dreißig sein ... Weshalb hatte er diesen unbequemen engen Platz gewählt?
Unwillkürlich zog sie ihre Füße ein wenig zurück, schaute zum Gang hinaus ... In der Scheibe spiegelte sich sein Kopf, ein schemenhafter Reflex. Wirklich, er sah gut aus! Sein Antlitz zeigte Merkmale eines südländischen Typs, für den sie in ihrer Mädchenzeit sehr geschwärmt hatte. Eine lockige Haarsträhne fiel über seine schöne blasse Stirn, sie wippte dort im Rhythmus der Schienenstöße. Seine dunklen Augen schienen halb geschlossen; darüber wölbten sich feine Brauen, um die ihn manche Frau beneidet hätte. Die Zigarette hielt er auf unvergleichlich weltmännische Art - ihr blassblauer Rauch duftete aromatisch. Im Ganzen erinnerte er sie (so gelöst, wie er jetzt dasaß) an den amerikanischen Rumba-Jazzorchester-Dirigenten Angelo Santovano; sie hatte das Bild des Kapellmeisters kürzlich in einer westdeutschen Illustrierten gesehen.
Da hob er den Kopf - und ein nachdenklicher, dunkler Blick traf sie. Sie fühlte, dass ihr Herz zu klopfen begann, doch wich sie seinen Augen nicht aus; er schaute rasch beiseite. Aber gleich darauf sah er sie wieder an: prüfend, abschätzend, dabei verstohlen und jederzeit bereit, auszuweichen. Der Zug polterte über ein Weichenpaar.
Ihr wurde warm. Oh, sie kannte diese Art Blicke! Sie erinnerte sich, dass sie - ganz zufällig - keinen Ehering trug, und sie wusste nicht, ob sie das freute oder ärgerte. Sie griff nach ihrer Zeitschrift, entfaltete sie raschelnd. Fest stand, es gab Männer, die eine Frau so anzusehen verstanden, dass sie sich ausgezogen fühlte; und das empörte sie natürlich. Doch merkwürdigerweise stieß es sie bei Teichert nicht ab, es passte zu seinem Typ.
Von einem Mann, der so aussah wie er, erwartete man vielleicht so etwas; bei ihm hätten Zurückhaltung und mangelnde Aufmerksamkeit eher gekränkt.
Sie las und spürte dabei, dass er sie unausgesetzt betrachtete. Nun, sollte er doch. Sie war ja keineswegs aus-, sondern ziemlich reizvoll angezogen. Sie stellte sich vor, was er alles zu sehen bekäme: die modische Frisur, den hochgeschlossenen türkisgrünen Pullover mit der matt schimmernden Korallenkette, den Wickelrock aus hellgrüner Somolana-Wolle (zarter Pastellton) und die schicken Wildlederpumps. Sollte er ruhig gucken; jedem, der Schlichtheit und klare Linien zu schätzen verstand, würde dies gefallen. Sie fühlte, dass ihr kleine Schweißtröpfchen auf die Stirn traten. Es war schrecklich rauchig und heiß hier drin!
Plötzlich beugte er sich behutsam vor und sagte: „Verzeihung, ich störe Sie bei der Lektüre, aber mir ist so, als hätte ich schon einmal das Vergnügen gehabt, Sie kennen zu lernen." Er sprach mit klarer, angenehmer Stimme, um seine vollen Lippen spielte ein jungenhaftes, jetzt etwas hilfloses Lächeln.
Sie musterte ihn kühl. Sein Annäherungsversuch kam ihr unerwartet, doch ihr schien, dass er beim Reden etwas von seiner weltmännischen Eleganz einbüßte; dies gab ihr die Sicherheit zurück. Allerdings fragte sie sich, ob es wirklich nur ein - nicht gerade sehr geschickt ausgeführter - Annäherungsversuch war. Vielleicht hatte er sie tatsächlich erkannt? Aber Inge glaubte das nicht. Über vier Jahre lag jenes Betriebsfest zurück, es war ein großer Ball einiger örtlicher Chemiewerke mit über tausend Teilnehmern gewesen, und sie hatten nur einmal ein paar Takte miteinander getanzt. Übrigens sah er damals bei weitem nicht so blendend aus wie heute; er war ein ganz anderer Mensch geworden.
„So?" fragte sie schließlich. „Wo wollen Sie mich denn gesehen haben?"
Teichert hob mit nachdenklicher Gebärde die kräftigen Hände von den Knien, kehrte sie fragend nach oben. „Ja, wo ...", murmelte er. „Glauben Sie, ich zerbreche mir die ganze Zeit den Kopf. Wo und wann - ich komme einfach nicht darauf." Er schüttelte wehmütig sein dichtes schwarzes Haar.
Sein Benehmen war derart, dass sie nun endgültig erkannte: er besann sich wirklich nicht. Gut, erinnern wollte sie ihn nicht. Für ihn war es gewiss auch keine sehr angenehme Erinnerung. Damals, es mochte gegen zwei Uhr nachts gewesen sein, der große Saal war grau von Rauch, sie hatten nur wenige Schritte miteinander getanzt, als er sie immer enger an sich zog und mit glasigen Augen in ihren Ausschnitt starrte, woraufhin sie ihn mitten auf der Tanzfläche stehen ließ. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die so etwas fürs ganze Leben übel nahmen; sie hatte es nicht einmal an diesem feuchtfröhlichen Abend ernsthaft übel genommen: ein beschwipster dummer Junge. Jetzt freilich saß ein Mann vor ihr, gut gekleidet, liebenswürdig, von tadellosen Manieren. Eine erstaunliche Wandlung!
„Ich nehme an, es fällt Ihnen noch ein", entgegnete sie mit freundlicher Ironie. Er nickte verzagt, als wollte er sagen: Sie machen es mir nicht leicht, Fräulein ... Seine großen braunen Augen blickten ein wenig traurig drein; ein zärtliches Leuchten glomm darin.
Inge lächelte, sie glaubte ihn jetzt vollkommen zu durchschauen. Sie hätte gern gewusst, ob er, wie ein schwachbegabter Mime, seine Herzensbrecherrolle stets auf die gleiche Weise spielte oder ob es mehrere Varianten gab, deren er sich je nach Art und Alter des Opfers gesondert bediente. Unerfahrenen Mädchen trat er womöglich als flotter, Lorbeer umkränzter Sportsmann entgegen, jungen Witwen als vollendeter Lebemann, bei dem keinerlei Komplikationen zu befürchten waren. Das hing davon ab, wie viel Phantasie er hatte, und ihr wollte scheinen, er besaß davon genügend. Aber vielleicht tat sie ihm unrecht, er war im Allgemeinen gar kein Frauenheld, sondern wünschte nur ihre Bekanntschaft zu machen?
Teichert saß noch immer vorgebeugt; hinter seinem Rücken hatten die beiden Nachbarn, durch das Schlingern des Zuges in ihrem Schlummer gestört, eine Unterhaltung angeknüpft Nein, er gab nicht auf; er suchte sichtlich nur nach passenden Worten, um das Gespräch fortzusetzen. Sie wollte abwarten, wie er das machte. Sie fand, dass seine Anwesenheit die langweilige Fahrt auf angenehme Weise verkürzte.
Die Lokomotive bremste, die Waggons ruckten, der Zug lief in den Bahnhof Jüterbog ein; das machte die Gesprächspause weniger peinlich. Die Reisenden schauten zum Fenster, und Teichert benutzte die Gelegenheit, um ein paar Worte über den Ort zu sagen, in welchem sie nun hielten. Sie nickte bloß, ohne ihn im Geringsten zu ermutigen oder sein Vorhaben zu erleichtern; er verstummte von neuem.
In der nun folgenden Stille lauschte sie der Unterhaltung, die seine beiden Nachbarn führten. Der beleibte kleine Mann schimpfte auf die Regierung, während die Bauersfrau nur dann und wann ein bestätigendes Jajajaja einflocht. „Das soll erst mal einer mitmachen hier bei uns!", rief er zornig. „Das macht einem doch gar keinen Spaß mehr! Wissen Sie, die Zeiten früher, wo das Ei drei Fennje gekostet hat ..."
„Ich besinne mich nur auf fünf Fennje", sagte die Frau.
„Na ja, ich bin vielleicht 'n paar Jahr älter wie Sie, müssen Sie berücksichtigen; also damals jedenfalls drei Fennje das Ei, und überhaupt ... Bei Behnicke um die Ecke, Sie kenn' doch Halle, was, bei Behnicke um die Ecke, morgens ging ich hin, holte mir 'ne Flasche Bier 'raus, holte mir Jehacktes 'raus, und dann für zwanzig Fennje haben wir 'n janzes Frühstück jehabt ... Die Zeiten kriegen wir nicht wieder, sage ich Ihnen, das ist aus! Vierunddreißig Fennje kost' das Ei, und dann isses auch noch halb faul, nee, das macht einem keinen Spaß mehr. Hat gar keinen Zweck hier mehr."
Der Zug ruckte an, und der Mann fuhr erregt fort: „Ich sage Ihnen, bin neulich uff die Eisenbahn jegangen, wollte 'n paar Bretter holen für mein' Karnickelstall, sagt der mir: Lassen Se de Pfoten von weg, verstanden, ist Volkseigentum. Ich sage, Sie Matzbläke, sag' ich zu'n, das ist Volkseigentum, Sie ...? Das ist Volkseigentum, na ja, wenn's mir nicht gehören soll, sag' ich zu'n, wenn's mir doch nicht jehören soll, dann isses aber früher schon so jewesen, wo's noch kein Volkseigentum war! Da haben wir uns auch immer die Bretter jeholt, da haben wir die Waggons auch abjebaut, hat kein Hahn nich nach jekräht. Da ist der mit der Pickelhaube immer auf und ab jegangen, hat extra nich hinjesehen, hat sich jesagt, lass die Kackärsche doch holen, die armen Furzer, haben sowieso nischt vom Leben! Sehen Sie, das ist es nämlich. Da sagen die uff der Schulung immer zu dem: Wachsamkeit, Kollege, Wachsamkeit, und dann stellt er sich nachts hin und jlotzt, bis er Blinddarmschmerzen kriegt, bloß damit er sieht, dass man nicht die Bretter abmontiert ... Sehen Sie, kommt man nich mal hier in die Zone bei das Regime dazu, 'nen Karnickelstall zu bauen."
Der kleine Mann zog ein Taschentuch, wischte sich über die Stirn und wandte sich unvermittelt an Inge: „Nicht wahr", sagte er und senkte die Stimme herab zu vertraulichem Flüstern, „nicht mal den Mund auftun darf man hier!"
„Sie haben ihn doch aufgetan", erwiderte sie.
„Und nicht zu knapp, Fräulein", krähte der Mann böse. „Man sieht doch schließlich, wen man vor sich hat. Und außerdem, ich nehm' nämlich kein Blatt vor'n Mund, immer frei heraus, so bin ich nun mal, müssen Sie wissen. Sollen die mich doch einsperren, geh' ich eben in' Knast, da bin ich wenigstens versorgt. Schlimmer als draußen kann's da drinne auch nicht sein!"
„Glauben Sie das auch?", fragte Inge ihr Gegenüber. Teichert verzog das Gesicht, halb leutselig, halb ironisch; es war eine Miene gedämpfter Herablassung. Er kehrte sich seinem Nachbarn zu. „Reden Sie keinen Stuss, lieber Mann", sagte er heiter und ein bisschen angewidert. „Oder sprechen Sie etwa aus Erfahrung?"
Die Reisenden schmunzelten, eine allgemeine Unterhaltung kam in Gang. Die Zeit verstrich wie im Fluge, draußen jaulte der Fahrtwind. Teichert plauderte über belanglose Dinge; sie hatte dazu das Stichwort gegeben!