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Gesetzt den Fall, Sie hätten nach langer Wanderung Ihr Glück gefunden. Sie lebten in keinem Industrieland mehr — brav, geordnet und langweilig vor sich hin. Sondern mit Ihrer reizenden Freundin auf einer Trauminsel, und zwar vom Touristen-Geschäft! Nicht behütet von einer Regierung, die auf Ihr Wohl sieht, sondern auf freier Wildbahn — unter einer Obrigkeit, der Sie schnurz sind, die sich mit dem lokalen Rauschgifthandel zu arrangieren weiß. Und eines Tages war Ihre Existenz kaputt. Was würden Sie tun, fänden Sie dann in Ihrem Fluchtgepäck, zufällig auf dem Flugplatz vertauscht, statt der letzten jämmerlichen Habe einen Berg Bahama-Dollars? Den Koffer zurückgeben oder ihn als gerechten Ausgleich, als Geschenk des Schicksals nehmen? Von dem Geld dann solide leben oder es erneut riskieren: in einer Schatzsuche, um aus dem kleinen Fund den großen Wurf zu machen, den Volltreffer Ihres Lebens? Liegt da nicht an einem verlassenen Ort im Pazifik von alters her Piratengold? Und der Kirchenschatz von Lima, anno 1822 beim Rückzug der Spanier aus Peru versteckt? Dazu noch das Beutegut eines deutschen Hilfskreuzers, der hier im April 1916 nach erbitterter Gegenwehr sank? Ist die Karte von Isla del Coco authentisch, die das Versteck des Prisenguts nennt? Fragen, auf die der spannende Roman von Wolfgang Schreyer — so fantasievoll wie gründlich recherchiert — passende Antworten gibt. Sein Buch „Der Fund" folgt dem Roman „Die Suche". Es setzt die „Abenteuer des Uwe Reuss" atemberaubend fort und ist das Mittelstück der Odyssee, der amüsant-gefahrvollen Irrfahrt eines Helden wider Willen.
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Seitenzahl: 403
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Wolfgang Schreyer
Der Fund oder Die Abenteuer des Uwe Reuss
Zweites Buch
ISBN 978-3-86394-110-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 beim Verlag Das Neue Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Für Susanne und Robert
Wo Geld ist, da ist der Teufe. Aber wo kein Geld ist, da ist er zweimal.
Georg Weerth
Die Koralle wuchert, die Palme wächst, der Mensch vergeht
Karibisches Lied
Die Tür wurde geöffnet, Reuss und die zwei Gäste sahen auf – Gina Dahlmann trug das Essen heraus: Ente afrikanisch, gefüllt mit fünf oder sechs Bananen, in Scheiben geschnitten. In der schwachen Abendbrise, die kaum die Blätter rascheln ließ, wehte der Duft über die kleine Holzveranda. "Ein Rezept meiner Urgroßmutter", sagte Gina. "Ihr Mann war Tropenarzt im damaligen Deutsch-Ostafrika."
Reuss mischte die Long Drinks, Mojito für sein Mädchen Gina, für die Bentleys Ron Collins (zwei Unzen weißen Rum, Zitronensaft, ein Teelöffel Zucker, Sodawasser und Eiswürfel, verziert mit einer Kirsche), Bloody Mary für sich. Barbarisch wohl, zur Ente Rumcocktails zu nehmen, doch es war ihr Lieblingsdrink, und die beiden hatten sich als so unkompliziert erwiesen, dass er sie ungern gehen sah. Auch Gina waren sie sympathisch. Zwei rundum gelungene Wochen. So müsste es immer sein. Aber nun, mit Saisonbeginn, standen ihm jene zahlungskräftigen Leute ins Haus, die einem das Reisebüro in Nassau mit den Bahamas Airways schickte.
"Köstlich", lobte Alec Bentley, ein kräftiger Mann von Mitte vierzig mit welligem, ausgebleichtem Haar um die Stirnglatze und rötlich behaarter Brust, in halboffenem Hemd und Bermuda-Shorts. "Sehr lecker, Gina!"
Sie strahlte ihn an. Anfangs hatte sie ihn für einen Chef gehalten, der unter dem Vorwand einer Geschäftsreise seine Frau mit der Sekretärin betrog. Bald nicht mehr, denn solche Burschen zogen die luxuriösen Strände der Hauptinseln vor. Bentley war bescheiden, ihn störte nicht mal das Fehlen eines Telefons. Er hatte einen grobkörnigen, nunmehr sonnenbraunen Teint und lustige hellgraue Augen, Quell seiner Munterkeit. Gina schien von ihm bezaubert, während Reuss Bentleys Freundin höchst beachtlich fand. Alice Yeats, die flotte Blondine; Fremdsprachenkorrespondentin einer Versicherungsfirma, der Caribbean Atlantic Life Insurance. Als er ihr neulich Post von Port Nelson mitbrachte, hatte er diesen Absender gelesen. Die tüchtige Alice, selbst im Urlaub unentbehrlich. Auf eine etwas katzenhafte Art war sie flink und proper, fast so hübsch wie Gina – zehn Jahre älter, mit weit mehr Profil, Härte und Persönlichkeit.
"Das Henkersmahl", seufzte sie jetzt. "Wie traurig, morgen abzureisen, wo es uns gerade so gut geht."
"Bleibt doch einfach", sagte Reuss. "Was kann euch schon passieren? Dass der Job futsch ist? Leute, es gibt Schlimmeres."
"Nicht für mich", sagte Alice. "Wovon soll der Schornstein rauchen?"
"Ihr seid Aussteiger, habt's geschafft", meinte Bentley. "Na, das wär ein einsamer Entschluss."
"Erfolg ist nicht alles." Gina schenkte ihm einen Blick, in dem schalkhafte Herausforderung und Naivität lagen. "Ich frage mich manchmal, ob wir nicht das Beste, was es auf der Welt gibt, einem dummen Ehrgeiz opfern." Sie wusste, als Nachrichtentechniker der Raumfahrtbehörde Nasa stand er vor der Beförderung zum Chefingenieur.
"Wirklich schön, wie ihr hier lebt", sagte Bentley.
"Und miteinander umgeht", fügte Alice hinzu.
"Die kennen eben auch das süße Geheimnis, Darling."
"Welches Geheimnis denn?"
"Nicht verheiratet zu sein." Bentley grinste spitzbübisch.
"Nein, es ist wahrhaftig mehr als das. Schau dir die beiden an, so friedlich, so wunderbar entspannt, wo gibt's das heute noch?"
"Abends streiten wir nie", sagte Reuss.
"Ihr seid überhaupt nicht aggressiv – und sagt, was ihr wollt, das liegt auch am Milieu."
"Dann zieht doch her", schlug Gina vor. "Wozu noch lange überlegt? Brecht die Brücken hinter euch ab, mietet den Bungalow an der Racoon Bay, der steht schon ewig leer, und der goldene Friede zieht bei euch ein."
"Erst einmal", sagte Bentley, "bräche die Armut aus."
"Natürlich steigt ihr bei uns ein. Mit dem, was ihr auf der hohen Kante habt oder was flüssig wird, wenn man zwei Haushalte auflöst. Wir schlagen die 'Fantasy' los, die ist uns längst zu klein, legen zusammen und kaufen eine Ketsch. Ihr zwei lernt segeln und wir skippern abwechselnd all die dummen Touristen, von Dezember bis März... Der Rest gehört uns."
"Ein verführerisches Wort." Bentley schien diesem Traum nachzuhängen. In seinen Augen war ein Ausdruck, den Reuss nicht zu deuten wusste. Es war, als lausche er einem Ton, einem Lockruf, der aus großer Ferne an sein Ohr drang.
"Ich allerdings", sagte Alice, "zöge Bimini oder Grand Bahama vor. Je nördlicher und näher an den Staaten, desto besser fürs Geschäft."
Reuss sah, dies ging Gina gegen den Strich. Gewiss, sie hatten das auch einmal geglaubt und für ihren Irrtum bezahlt. Dennoch widersprach er nicht. Besser, man ließ das Vergangene ruhen. Die Erinnerung an ihren Fehlstart im Norden hätte den Zauber zerstört, den Flug der Fantasie, der ihm so wohl tat. Die Mischung von Traum und Wirklichkeit in ihren Gesprächen, von Ernst und Scherz; man schwebte, den Drink in der Hand, beim Klingeln der Eiswürfel über den Dingen. Wie sehr er das genoss! Alice und Alec waren so amüsant. Sie konnten zuhören und sich selber öffnen, ohne je banal zu sein. In ihrer Gesellschaft war für flaches Geschwätz kein Platz.
Gina räumte ab. "Glaubt mir, dort oben ist zuviel Konkurrenz. Organisierter Freizeitrummel. Da kann man auch gleich nach Florida gehen."
Bentley sprang auf, er half ihr, das Geschirr in die Küche zu bringen. Alice nahm sich eine Zigarette. "Was trinkt Gina da eigentlich?", fragte sie, als Reuss ihr Feuer gab.
"Mojito. Weniger Zitronensaft, zwei Tropfen Angostura und Minzblätter statt Ihrer Kirsche."
"Ein cubanisches Rezept, wie?"
"Von einem alten Freund... Die Schatten der Vergangenheit."
Sie wurden beide verlegen, denn es fiel ihnen nichts ein, was es dazu mit Takt noch zu sagen gab. Aus der Küche drang Ginas Lachen. Vermutlich machte Bentley ihr ein Kompliment, und sie wurde dabei rot. Die Neigung zum Erröten ärgerte sie, doch es gelang ihr nicht, sich davon zu befreien.
"Für mich ist das nicht bloß dahergeredet", hörte Reuss Alice da mit leiser, rauer Stimme sagen; sie hatte sich vom Licht abgewandt, das aus dem Haus fiel, ihr Umriss verschwamm in der Dunkelheit. "Auf einer der nördlichen Inseln würde ich's tatsächlich riskieren – und kriegte am Ende auch Alec herum."
Reuss glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Die zwei zogen es ernsthaft in Betracht, hatten vielleicht schon darüber gesprochen? Dann hatten Gina und er sie ja doch angesteckt, ihnen die Augen geöffnet für die wahren Genüsse des Lebens! Er war zu verblüfft, um mehr zu erwidern als: "Der Norden ist wenig geeignet."
"Das klingt nicht gerade sehr begeistert."
"Ich bin sprachlos vor Freude – mit dieser Einschränkung. Was haben Sie gegen Rum Cay, Alice?"
Sie wandte sich ihm zu. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. "Ein reizender Fleck, nur zu sehr aus der Welt. Das wär mein einziger Einwand."
Was hieß das, aus der Welt? Das Flugzeug kam dreimal die Woche, was wollte man mehr... Er sah nicht ganz durch. Vermisste Alice die Reize der Zivilisation, noch ehe sie der entfloh? Etwas war an ihr, das ihn davon abhielt, sie direkt zu fragen. Er hatte oft das Gefühl, dass sie Penetranz nicht schätzte und dass man es bedauern würde, wenn man auf einer Antwort bestand oder ihr sonst wie zu nahe trat.
Sie trennten sich bald in alkoholischer Harmonie. Es galt, morgen frisch zu sein für den letzten Törn. Beim zu Bett gehen sagte Gina, Bentley habe sich zu ihr ähnlich geäußert: eine der besseren Inseln – das sei auch seine Bedingung.
"Ausgeschlossen, für uns", sagte Reuss. "Wir bleiben, wo wir sind. Du hast ihm doch keine Hoffnungen gemacht?"
"Wie sollte ich. Immerhin, er hat seine Gründe."
"Was um Himmels willen passt ihnen hier nicht?"
"Sein Herz ist nicht recht intakt. Rhythmusstörungen von all dem Stress."
"Das gibt sich, wenn er aufhört bei der Nasa."
"Alec braucht eine Insel mit Arzt."
"Hättest du dein Studium nicht geschmissen, wär das Problem gelöst und er an Rum Cay gefesselt."
"Wer sagt dir, Uwe, dass ich ihn fesseln will?"
"Schatz, ich hab doch Augen im Kopf."
"Zwischen Alice und dir knistert gar nichts?"
Reuss gab es auf; das wurde uferlos. Allerhand ging ihm durch den Sinn. Alice und Alec würden das Dasein hier bereichern, zweifellos. Von kleinen Spannungen abgesehen, wie soeben gehabt... Er drehte sich zur Wand, um die Augen zu schließen und dies zu durchdenken.
Reuss erwachte beim ersten Sonnenstrahl. In lauer, salziger Dämmerung das Zischen der Brandung, er nahm es kaum noch wahr. Dazu ein Gefühl, als sei die Haut um seine Augen aus Papier. Er war unausgeschlafen, Gina hatte ihn gestört – wieder mal im Traum halblaut und hastig mit Sergio erzählt. Dass im Bett dieser Name fiel, war ihm keineswegs neu. In der Zeit ihrer Gemeinsamkeit hatte Reuss gelernt, mit dem Dritten zu leben, diesem wunderbaren Mann. Den konnte Gina nicht vergessen, seit vierzig Monaten irrte er durch ihren Schlaf... Gegen Geister kämpft man halt vergebens.
Um ihn Licht und Schatten, der Geruch süßer Gärung, aromatischen Verfalls. Weg das Moskitonetz; aber nimm dir Zeit, genieße den Tag, jeder ist unwiederbringlich. Bloß mal so einen Palmwipfel ins Auge fassen, sein Lackgrün gegen das Morgenrot, die toten Wedel hängen braun wie Tabak herab, oben wiegen sich die Fächer über dem stumpfen Ockerton der Nüsse. Durch das Blattwerk sickern Strahlen, werfen Streifen an die Wand.
Hundert Schritte bis zum Strand, in die lange Dünung. Im Frühdunst schimmert der Ozean wie Perlmutt, die Sonne lässt Licht aus dem Wasser spritzen. Neben ihrer Glitzerbahn, weit hinter den Dog Rocks, am Horizont die Insel, mit der Kolumbus einst das erste Stück der Neuen Welt entdeckt hat (er meinte: China). Und welcher Kummer, dort gab's kein Gold!
Reuss schwamm ein bisschen hinaus. Auch ihm war es nicht bestimmt gewesen, auf den Bahamas reich zu werden. Immerhin hatte er's zu diesem Holzhaus, dem rosafarbenen Anbau für zahlende Gäste, dem klapprigen Jeep und dem Neunmeterboot am Steg von Port Nelson gebracht; zwei Meilen durch den Busch. Herz, was willst du mehr? Er dankte seinem Schöpfer, dass die Zeit der hurricanes vorbei war. Heute würde er Alice und Alec zum Abschluss bis zur Watlingsinsel oder nach Long Island skippern und bei dem verfallenen Herrenhaus anlegen, mit den üblichen Betrachtungen zur Ära der Baumwolle im 18. Jahrhundert.
Das Leben ist Routine, selbst im Paradies. Und kein Mensch kommt immer ungeschoren davon. Zuerst der schreckliche Hurrikan auf Walker's Cay. Die nächste Bleibe – auch perdu. Vom zweiten Eiland seiner Wahl, Norman's Cay im Norden der Exumas, ist er genauso rasch verschwunden. Durch ein Fingerschnipsen des Señors Lehder, eines Kolumbianers deutscher Herkunft. Der hat das Inselchen gekauft und für den Rest der Welt gesperrt. Sportflugzeugen sperrt er die Piste – 3000 mal 70 Fuß Asphalt –, kein Boot darf mehr landen, wer es trotzdem tut, den scheuchen seine Helfer, seine Hunde, prompt ins Meer zurück. Da war es nur gescheit, auszuweichen, um hier auf Rum Cay 150 Meilen weg vom Schuss neu anzufangen.
Alles bestens, man hat Fuß gefasst... Reuss kehrte um. Die Luft war wie aus Seide. Daheim duschte er das Salz von der Haut, rieb sich ab und durchblätterte im Kaffeeduft den "Nassau Guardian" von vorgestern. Zwischen den Anzeigen der Geschäftswelt schrieb das Blatt – first in news, first in advertising, first in circulation –, die Falkland-Armada habe wohl doch Kernwaffen mitgeführt: Marinetaucher an Zerstörerwracks. In Brasilien wanke die Herrschaft der Militärs, Mexico sei in Korruption versackt. Reuss biss in den splitternden Toast, in Einklang mit einer Welt, die nicht mehr die seine war.
"Musst du immer lesen?", fragte Gina. "Sprich lieber mal mit mir!"
"Heute Nacht hast du für zwei gesprochen, davon erhole ich mich jetzt."
"Reizend. Wer dich hört, der könnte meinen, wir sind ein steinaltes Ehepaar."
"Keiner hört uns, die beiden schlafen noch. Übrigens, hier steht, die britische Regierung ist vom Club Méditerrané geleimt worden. Der Club hatte zugesagt, bis zum Jahresende auf West Caicos ein Feriendorf zu bauen. Dafür wollte London vier Millionen Pfund in den Straßenbau und in den Flugplatz stecken. Gebaut aber haben nur die Briten. Die Franzosen behaupten, sie hätten keine Baufirma gefunden, die ihnen das Feriendorf zu einem vertretbaren Preis hinstellt."
"Mir was vorlesen, Uwe, war eigentlich nicht gemeint."
"Nur noch das: Zwischen Andros und New Providence trieb eine Jacht, die Crew tot ringsum. Es scheint, alle sind gleichzeitig zum Baden ins Meer gesprungen und dann nicht wieder an Bord gelangt, weil keiner zurückgeblieben war, der die Badeleiter oder wenigstens ein Tau hätte ausbringen können. Nach verzweifeltem Kampf Tod durch Unterkühlung."
"Ende der Presseschau?"
"Dir zur Warnung, du springst auch gern spontan hinein. Aus dem Umstand, dass die Leichen nackt waren und ihr Badezeug aneinandergeknotet, schließt man, sie hätten versucht, daraus einen Strick zu drehen und über die Reling zu werfen, um sich daran hochzuziehen – vergebens."
"Die Leichen haben versucht..."
"Sei nicht spitzfindig, Gina."
"Das ist das Laster der Gewissenhaften."
"Willst du lieber über Sergio sprechen? Vielleicht hast du ja wieder Post von ihm."
Sie verneinte, doch nicht ganz überzeugend, wie ihm schien. Gestern hatte sie in Port Nelson eingekauft und natürlich nach Post gefragt... Seit vor über zwei Jahren aus Mexico die Nachricht von der Gefangenenbefreiung gekommen war – eine Haftladung sprengte das Tor des Staatsgefängnisses Lecumberri –, hatte Sergio Figueras sich mehrmals gemeldet. Von wechselnden Orten, aus wohltuender Ferne, dennoch mit Folgen für Ginas Gleichgewicht.
"Steckt er noch auf Jamaica bei dem Marihuana-Clan?"
Ihr Blick besagte, dass, wer sie so frage, mit einer Antwort nicht rechnen dürfe.
"Wenn's ihm schlecht geht, besinnt er sich auf dich."
"Red nicht so von ihm! Du vergisst, was wir ihm schulden."
Reuss fing an, sich zu ärgern. Er schuldete keinem was, auch nicht diesem Mann. Das Startgeld, das in dessen Mantel gesteckt hatte, stand Reuss zu, denn Sergio hatte ihn hineingeritten damals in Mexico-Stadt. Übrigens war es auf Walker's Cay und Norman's Cay geblieben. Das, was man hier besaß, stammte aus dem Erlös seiner Hamburger Habe. Einzig auf ihn ging es zurück, nachdem Jürgen Dahlmann sich geweigert hatte, seiner Tochter einen Zuschuss zu zahlen, solange sie nicht reumütig heimkam und wieder an ihr Studium ging.
Es klopfte; herein trat, ein Badetuch um die Schultern, die blonde Alice, schlank und biegsam, gefolgt von Bentley – ein Paar wie Katze und Bär.
"Hallo, ihr zwei", rief Gina. "Gut geruht? Ist euch die Ente bekommen?"
"Prächtig", erwiderte Alice. "Man kann's nur nicht fassen, dass dies der letzte Tag sein soll."
"Im Sinne von gestern Abend", sagte Reuss, "liegt auch ein Neubeginn in der Luft." Er spürte, wie Alice ihn mit einem trägen Blick streifte. Sie setzte sich, ohne darauf einzugehen. Also war es doch nicht mehr gewesen als ein Gedankenspiel... Vages Bedauern breitete sich in ihm aus.
"Was steht auf dem Programm?", fragte Bentley.
"Was immer Sie möchten, Alec", antwortete ihm Gina. "Alles zwischen Kolumbus' Strand und Blaubarts Turm bei Fox Hill."
"Na, das wär doch was für dich", sagte Alice.
"Spielst du auf mein Verkehrsdelikt an?" Bentley wusste, dass Fox Hill auch die einzige Haftanstalt der Inseln war. In Miami, wo sich die beiden kennen gelernt hatten, stand sein Wagen auf einem Platz mit beschränkter Parkzeit. Er hatte ihn da stehen lassen, um Hals über Kopf mit Alice nach Nassau zu fliegen – was Reuss durchaus verstand.
"Eher auf andere Sünden", sagte sie. "Zum Beispiel auf all deine Frauen."
"Blaubart hat immer nur eine gehabt."
"Genau das hatte er dir voraus."
Ein kleines Geplänkel beim Frühstück. Was steckte dahinter? Es klang, als zögere Bentley, dem Lockruf zu folgen, weil er in den Staaten Familie hatte oder sonst wie gebunden war. Oder vertrug die romantische Idee, feste Jobs und Aufstiegschancen gegen ein freies Leben einzutauschen, überhaupt kein Tageslicht? Für jeden Normalbürger ein hirnverbrannter Schritt; aber die zwei waren kein Durchschnitt, ihnen traute Reuss es doch zu.
Solange sie auf der Veranda saßen, wartete er auf ein klärendes Wort. Keiner von beiden sprach es. Und wie am Vorabend brachte er es nicht fertig, eine Frage zu wiederholen, der Alice ausgewichen war. Dabei wurde ihm bewusst, er stand ein wenig in ihrem Bann. Wie leicht wurde solch sanfter Einfluss zu wirklicher Macht... Vermutlich war es doch besser, man ließ die ganze Sache ruhen.
Schläfrig lag Port Nelson da, eingebettet in reiches Grün, winziger Hafen am Südrand der Insel. Seine Wellblechdächer reflektierten das Sonnenlicht. Staub tanzte über den Kai, als der Jeep vor dem Dutzend bunter Sport- und Fischerboote hielt, die sich im Südwind wiegten. Die Gäste gingen an Bord, Reuss legte die "Fantasy" in den Wind, bevor er mit Gina die Segel einspannte und hochzog; wie immer ohne Hast.
Alice und Alec fassten mit an, schweigend, die Stimmung schien gedämpft. Ihr letzter Törn, nun, sie wollten es ja so. Vergiss, was du nicht ändern kannst. Das ist nun mal. Bedingung des Traums von Glück und Wohlgefallen. Nur wem es gelang, sich dem sanften Fluss des Daseins der milchkaffeefarbenen Einwohner zu verschreiben, der lebte sorglos wie sie in den Tag hinein. War man reif für solch ein Gleiten im Strom, frei von Zwang, Konkurrenzneid und Leistungsdruck, die einen früher beherrscht hatten? Reuss hoffte es. Er arbeitete daran. In diesem Milieu waren Güte und Nachsicht erlernbar. Es würde ihm schon gelingen, sich nie mehr sinnlos zu erregen.
Als er den Festmacher loswerfen wollte, winkte ihm von der Wurzel des Stegs jemand zu, ein langer dünner Mann in Uniform: Joshua Oakland, der constable, nahezu einziger Vertreter der Staatsmacht auf Rum Cay. Reuss stieg an Land. Oakland hielt niemanden grundlos auf. Er war über fünfzig, eine schwarze Bohnenstange mit grauem Kraushaar und hängenden Schultern. Er schob den Kopf etwas vor, als geniere es ihn, größer als andere zu sein.
"Sir", sagte er nach der gemessenen Begrüßung, "mir liegt die Meldung vor, Sie führten nur sechs Schwimmwesten mit."
"Ich hab kaum einmal mehr als vier Passagiere."
"Nun, das Boot ist für acht Leute zugelassen. Dann heißt es, Ihre Beleuchtung sei mangelhaft."
"Die ist komplett. Außerdem, ich segele nur bei Tag."
"Das glaube ich Ihnen gern. Vielleicht sollten Sie es vermeiden, demnächst Arthurs Town anzulaufen. Daher kommt nämlich die Meldung. Man macht mir wieder das Leben schwer."
Reuss nickte mitfühlend, er wusste Bescheid. In die Aufsicht über Rum Cay teilten sich in undurchsichtiger Weise die Lokalgrößen zweier Nachbarinseln. Auf Long Island saß der Commissioner March, in Arthurs Town auf Cat Island der Assistant Commissioner Stubbs. Diese Zivilbeamten hielten sich hier beide für kompetent, seit langem führten sie ein träges Scharmützel um die Herrschaft über Rum Cay, wo es nur einen Polizeiposten gab – zwei oder drei Mann unter dem Sergeant-Major Oakland.
"Ferner soll Ihnen ein Radarreflektor fehlen..."
Reuss sah sich seufzend nach dem Boot um, dessen Fock im Wind knatterte, während der Großbaum hin und her schwang. Es ging natürlich nicht um diese Dinge. Auch Mr. Stubbs betrieb sein Amt im landesüblichen Schlendrian. Er wollte wohl bloß eine Strafgebühr erheben, am liebsten ohne Quittung und in bar. Im Umkreis von hundert Meilen litt niemand für irgendeine Überzeugung oder kämpfte für ein so abstraktes Ziel wie Ordnung und Sicherheit an Bord. – "War es das, Oberwachtmeister, was Sie mir sagen wollten?"
Oakland sah ihn nachdenklich an, so lange, bis Reuss ein Unbehagen empfand und es ihm Mühe machte, seinen halb scherzhaften, halb respektvollen Ausdruck beizubehalten. Er schätzte den Mann, hatte ihn von Anfang an gemocht. Oakland hielt nicht dauernd die Hand auf, obwohl er von seinem Gehalt schwerlich leben konnte. Was die Regierung in Nassau ihren rund tausend Polizeibeamten zahlte, reichte bekanntlich nicht weit. Tausend Mann, einschließlich der Feuerwehrleute und Kriminalisten, verstreut über hundert bewohnte Inseln und ein Seegebiet von der Größe Westdeutschlands. Sie ersetzten sogar die nicht vorhandene Armee. Einer davon, und nicht der schlechteste, war Joshua Oakland. Die kleinen Unterhaltungen mit ihm erweckten in Reuss manchmal eine Regung von Mitleid, wenn die Friedfertigkeit Oaklands durchschimmerte, sein ereignisarmes Leben. Nie geschah etwas, und es würde auch nichts geschehen, wodurch der Sergeant-Major sich auszeichnen, aufsteigen oder auf eine der Hauptinseln versetzt werden konnte. Aber er war mit seinem Dasein zufrieden, vielleicht gerade, weil es sich so verhielt.
Als folge Oakland diesem Gedanken, sagte er: "Wissen Sie, es ist ruhig hier. Sieht man von ein paar Prügeleien und dem Totschlag aus Eifersucht im letzten Sommer ab, sind wir praktisch frei von Kriminalität. Ich bin froh und dankbar dafür und hoffe nur, das ändert sich nicht."
"Das sehe ich auch so. Würden Sie mich jetzt entschuldigen? Wir wollen mittags in Cockburn Town sein."
"Einen Moment noch bitte, Sir. Sie sind nun schon zwei Jahre bei uns, waren zuvor im Norden und wissen bestimmt, was dort läuft. An einigen Orten haben wir große Probleme, da nimmt die Unordnung zu. Bestechung und Rauschgift – meistens geht das Hand in Hand. Ich möchte gern alles tun, um dergleichen von Rum Cay fernzuhalten."
"Sie finden mich da an Ihrer Seite."
"Es ist immer gut, Unterstützung zu haben."
"Ich werde Ihnen die Statistik nicht verderben. Der Radarreflektor wird demnächst montiert."
"Ist Ihnen ein Herr namens Figueras bekannt?"
"Flüchtig", antwortete Reuss verdutzt. "Weshalb fragen Sie?"
"Ach, wir sind vor ihm gewarnt worden. Anscheinend saß er in Mexico ein, entwischte dort vor geraumer Zeit und soll schon wieder die Finger im Drogenhandel haben."
"Ja, und?" Reuss hatte den Eindruck, der Mund werde ihm trocken.
"Ihre Frau, Sir, bekam kürzlich Post von ihm."
"Wer hat Ihnen denn das erzählt?"
"Ein kleiner Vogel... Sehen Sie, in Nassau befürchtet man, Figueras könnte Sie aufsuchen wollen."
"Wieso mich? Sie nehmen doch nicht etwa an, ich ließe mich in Drogengeschäfte ein?"
"Ich nehme gar nichts an. Das tun ganz andere. Sie, Mr. Reuss, sind vor reichlich drei Jahren mit diesem Mann zusammen gewesen, wie es heißt auf einem Schiff und in Mexico-City. Und Sie haben ein Boot, dem der Radarreflektor fehlt; das also nachts schwer zu orten ist."
Reuss schwieg verblüfft. Der Satz drang in sein Bewusstsein und machte ihn stumm vor Wut. Weder gefielen ihm die Worte noch die Art, in der sie gesprochen wurden. Joshua Oakland, wer hätte das gedacht! Der gehörte ja zu den Leuten, die selbst in Uniform meist unbemerkt bleiben, von denen man kaum weiß, wie sie aussehen, auch wenn man gelegentlich mit ihnen spricht. Ein kleines Licht. Und nun spielte er sich auf, spielte den allwissenden Ordnungshüter, den Verdacht schöpfenden Profi auf der Jagd... Gewiss hatte er aus Nassau einen Hinweis bekommen, dem er nun pflichteifrig nachging. Aber musste das auf diese Weise sein?
Von der "Fantasy" wurde nach Reuss gerufen.
"Ich will Sie nicht aufhalten", sagte der Sergeant-Major. "Sind Sie heute Abend zurück?"
"Selbstverständlich."
"Und laufen Sie morgen wieder aus?"
"Ich werde es Sie wissen lassen, sobald ich es selber weiß", erwiderte Reuss förmlich. "Guten Tag, Oberwachtmeister."
Oakland tippte an den Mützenrand. "Gute Fahrt, Sir."
Reuss ging zum Boot zurück. Das klang ja wahrhaftig, als habe man ein Auge auf ihn! Er hatte immer geglaubt, es sei längst Gras über all das gewachsen. Sein Ärger war so überwältigend, dass die Enttäuschung über Ginas Unaufrichtigkeit ganz dahinter verschwand. Sie hatte einen Brief von Sergio bekommen und es ihm verheimlicht – na schön, sie wollte seine Gefühle schonen. Aber dass dieser Polizist auf Vorgänge anspielte, die weit zurücklagen und ganz woanders passiert waren, das war befremdend, ja erschreckend. Tatsächlich, man hatte ihn soeben verwarnt; und nicht mal völlig grundlos, vom Standpunkt der Behörden aus. Die Schatten der Vergangenheit senken sich auf dich, dachte er, um Abstand bemüht. Meist half ihm sein Sarkasmus, kühlen Kopf zu bewahren und Menschen und Dinge im rechten Licht zu sehen. Doch es blieb bestürzend, wie viel man hier über Sergio und seinen eigenen Umgang mit dem zu wissen schien.
"Was hat er denn gewollt?", fragte Gina.
Reuss unterdrückte eine Geste der Gereiztheit. Er warf die Leine los, das Boot luvte an und rauschte aus dem Hafen. Die Antwort blieb er ihr schuldig; es schnürte ihm die Kehle zu. Das ist bloß Routine, sagte er sich: die Polizei bei der Arbeit. Er würde das wegstecken und sich den Tag nicht verderben lassen... Vergiss, was du nicht ändern kannst.
Mit der "Fantasy" war es eine Tagestour nach Watlings Island, auch San Salvador genannt, am Ostrand des Archipels. Reuss blieb schweigsam, er hing seinen Gedanken nach und überließ es Gina, small talk zu machen. Die Backstagbrise trug einen in knapp vier Stunden nach Cockburn Town, der Hauptsiedlung; heimwärts lief man dann hart am Wind. Hinter ihnen versanken Inseln wie die Rücken mächtiger Wale. Ohne den Missklang vorhin im Hafen, ohne Oaklands Impertinenz wäre es ein schöner Tag gewesen.
"Von den Bermudas abgesehen", hörte er Gina plaudern, "sind dies die nördlichsten und wohl auch reichsten Koralleninseln der Welt."
"Hier lässt sich's weiß Gott leben", stimmte Bentley zu.
"Wenn es wirklich einmal regnet, dann als kurzer, warmer Guss. Man muss ihn bloß abwarten... Und was meint ihr, fiel den feiernden Menschen am zehnten Juli im Clifford-Park von Nassau auf den Kopf? Da hat es Geld geregnet, grüne US-Dollarscheine aus einem Sportflugzeug. Banknoten aller Größen, vermischt mit Flugblättern. Die wetterten gegen euren Imperialismus. Der sei dabei, hieß es, die vormals britische Kolonie zu einer der Yankees zu machen."
"Wer war der Spender des Segens?"
Mit einem Blick auf Reuss hob Gina die Schultern. Ihr war klar, er schätzte dieses Thema nicht. Irgendein Freund der Regierung, erwiderte sie. Jedenfalls sei das typisch – die rechte Art, den neunten Jahrestag der Unabhängigkeit zu begehen. Nichts außer der Sonne lache auf den Bahamas so beständig wie Bargeld. Es liege halt auf der Straße. Ganze Inselchen wechselten gegen cash den Besitzer. Und Bargeld türme sich auch in den Spielkasinos von Freeport, Nassau und Cable Beach, den wichtigsten Waschsalons für Mafiageld; dazu bei den fast vierhundert Banken des Zwergstaats – mehr Banken als Ärzte, auf kaum sechshundert Einwohner je ein Geldinstitut.
"Ein paar sahnen ab", brummte Bentley, "der Rest guckt in die Röhre."
"Nicht ganz", sagte Gina. "Der kleine Mann hat auch seine Chance. Als Bootseigner jedenfalls. Unsere bunte Dollar-Abart finden Sie bündelweise bei Fischern, die mal ganz arm gewesen sind, aufgerollt in der Hosentasche. Arbeitslose Teenagers haben dreitausend, fünftausend Dollar unterm Hemd oder Goldketten wie Girlanden um den Hals."
"Was ist das Geheimnis dieses Wirtschaftswunders?"
"Kokain. Eine Menge Leute auf den nördlichen Inseln handeln damit und nehmen es selbst. Abhängigkeit ist die Kehrseite der Medaille."
"Und die Polizei?", fragte Alice Yeats.
"Ach, die..." Gina winkte ab. "Es gibt Gegenden, da taucht sie gar nicht erst auf, Inseln, die fast nicht mehr regierbar sind. Die Biminis zum Beispiel, Hemingways berühmte 'Insel im Strom'. Der Drogenmarkt dort hat übrigens ein sicheres Konjunkturbarometer: Wenn die Goldketten der jungen Leute verschwinden, dann sind Lieferungen ausgeblieben. Die Ketten finanzieren die Sucht bis zum nächsten Transport."
Cockburn war ein stilles Nest an einer Bucht der Westküste von Watlings Island, das einzige Hotel hieß "Polaris By The Sea" – der Polarstern sollte es gewesen sein, der Kolumbus hergeführt hatte. Ein Monument schmückte den Punkt, wo er am 12. Oktober 1492 im Beiboot durch das Riff geschlüpft und am Oststrand gelandet war: ein weiterer Nationalfeiertag auf den Bahamas.
Nur die Frauen unterhielten sich bei Tisch. Bentley schien nicht bei der Sache, wie eine reife Frucht hing sein Kopf über dem Rumpunsch. Er lehnte es ab, den Wagen des "Polaris" für die Fahrt zum Denkmal zu chartern – höflich, doch ohne Erklärung. Jeder hat seinen Kummer, dachte Reuss. Alec plagt der Abschiedsschmerz oder schlicht die Sonne. Acht Sonnenstunden pro Tag, 340 Sonnentage im Jahr, nur Flugminuten von Florida im lauen Wasser des Golfstroms – der Touristenboom war eigentlich unabwendbar gewesen. Dazu das wohltuend Leichtlebige, die angeborene Freundlichkeit der milchkaffeefarbenen Menschen. Aber nicht jeder vertrug die Sonne. Blondinen wie Alice bekam sie besser als rothaarigen Männern.
Gleich nach dem Lunch wollte Bentley zurück. Er fürchtete, das Flugzeug zu verpassen. Er wirkte abwesend, so als hindere ihn etwas daran, den letzten Tag zu genießen. Es machte ihn nervös, wie Alice das Essen Eiscrem löffelnd in die Länge zog. "Was sind das dort für riesige Antennen?", fragte sie ihn.
"Eine US-Militärstation", antwortete ihr Gina. "Sie verfolgt die Bahn von Raketen, die in Cape Kennedy aufsteigen."
"Kinder, lasst uns gehen", drängte Bentley.
Beim Einsteigen merkte Reuss, Alec hielt Ausschau nach Rum Cay in der glitzernden Weite. Das Ziel lag im Gegenlicht. Bentley ging zu Alice auf das Vordeck, in den Schatten des Focksegels, von ihrem Gespräch war hinten nichts zu verstehen. In einem Punkt schienen sie geteilter Meinung zu sein, ihre Gesten verrieten es.
"Wir waren uns doch einig", sagte Reuss zu Gina, "das Thema zu vermeiden."
"Rauschgift? Was sie von mir gehört haben, steht in jedem Magazin."
"Jetzt ahnen die zwei, weshalb die nördlichen Inseln tabu sind für uns."
"Ist es schlimm, Gangstern aus dem Weg zu gehen?"
"Keiner muss mehr als nötig über uns wissen."
"Aye aye, Sir. Niemand darf wissen, dass wir wissen, dass er weiß, was wir wissen. Hut ab vor deiner Vorsicht."
Reuss verstummte gereizt. Ihm war klar, worauf sie anspielte – auf das, was sie seinen Sicherheitskomplex nannte. Als Bootseigner musste man, bei aller Toleranz, ein Gespür für Zwielichtiges entwickeln. Ja, er hatte es sich angewöhnt, von Fall zu Fall solche Gäste, die von der Norm abwichen, heimlich zu kontrollieren. Auch zu Ginas Beruhigung übrigens. Schließlich konnte sie nicht vergessen, wie damals die "Pirate's Lady" von der angeheuerten Crew – Sergio und dessen Komplizen – hinter Antigua gekapert worden war. Kein Wunder in Gewässern, wo manche Jacht verschwand, weil Schmuggler stets Bedarf hatten an nicht Polizei bekannten Booten. Da ging schon mal der Eigner über Bord. Bentley war schwer genug, einen überraschend ins Meer zu stoßen; seine Freundin wurde mit Gina fertig... Als die zwei sich gleich am ersten Tag seinen Jeep geliehen hatten, war er in den rosafarbenen Anbau gegangen, ohne etwas Aufregenderes zu finden als den 280 Seiten dicken Reiseführer Yachtman's Guide to the Bahamas. Kein zweiter Pass und keine Waffe waren zum Vorschein gekommen.
Vorn spritzte die See, den beiden wurde es zu nass, sie krochen ins Cockpit zurück. Flotte Fahrt, Reuss hatte die Segel dichtgeholt, die Pinne lag ihm leicht in der Hand, schnurrend vom Abriss der Wasserwirbel. Die Strömung versetzte nach Steuerbord, man würde später kreuzen müssen. Allmählich kam Rum Cay über die Kimm, mit der Doppelinsel Conception drei Strich daneben... Nicht mehr so sicher, es bis zum Start des Abendflugzeugs bequem zu schaffen, sah er zur Uhr. Ihm war plötzlich unbehaglich. Sein Instinkt sagte ihm, dass sich etwas verändert hatte. An Bord oder nur in seinem Kopf?
So viel stand fest, die Polizei in Nassau konnte unmöglich die alten Geschichten kennen; nie gab deren Kartei das her. Es sei denn, ein weit fähigerer Apparat hatte sie ins Bild gesetzt, Interpol etwa oder die nordamerikanische Drogenbehörde DEA; die stand schon damals in Mexico hinter denen, die Sergio gejagt hatten. Der DEA-Speicher spuckte gewiss Sergios Daten aus, sobald man daran tippte; vielleicht mitsamt dem Namen Uwe Reuss! Das konnte üble Folgen haben. Es war niemals angenehm, irrtümlich in einer Datenbank zu stecken.
Er merkte, man sprach schon wieder über Rauschgift. Wer hatte diesmal angefangen? Wohl Gina. In ihrer Klatschsucht hielt sie das für einen Gegenstand, der Segelgäste trefflich unterhielt. Seit der Vertreibung von Norman's Cay hasste sie allerdings die Drogenhändler, mit einer bezeichnenden Ausnahme: Sergio Figueras. Als hätte dem nie ein Krümel Marihuana am Hemd geklebt! Nur sie konnte das übersehen, mit dem leidenschaftlichen Vorurteil einer Frau.
"Ach, wisst ihr", warf Reuss ein, "mehr noch als das Teufelszeug verdirbt uns das viele Geld, das beim Handel damit hängen bleibt. Man kennt Rechtsanwälte, die haben größte Mühe, die Riesensummen, die ihnen bar ins Haus flattern, als ganz normale Honorare ihrer ehrbaren Klienten zu verbuchen. Aber in Nassau oder Freeport finden sie eben Bankdirektoren, die so tun, als glaubten sie, die Millioneneinzahlungen ihrer Kunden seien legale Gewinne im Devisengeschäft..."
Es fiel ihm auf, dass er gegen jeden Vorsatz sich nun selber hinreißen ließ. Mit einem Gefühl, als werde da ein Druck von ihm genommen, fuhr er fort: "Im Norden gibt es Polizeioffiziere, die leisten sich Cadillacs, angeblich dank eines Lottogewinns. Minister behaupten, ihr Vermögen der Großherzigkeit ihrer Verwandtschaft zu verdanken. Und es gibt nicht zuletzt einen schielenden Premier, Sir Lyndon O. Pindling mit Namen, dem die Liebe seiner Landeskinder das Geld nur so in die stets offenen Taschen geschaufelt hat."
"Keine Majestätsbeleidigung unter dieser Flagge!" Alice wies zum Heck, wo das blaugelb gestreifte Tuch mit dem schwarzen Dreieck flatterte.
"Bei uns kennt man sich, da bleibt nicht viel verborgen. Pindling hat in den letzten Jahren achtmal mehr ausgegeben als offiziell verdient."
"Hohe Bäume fangen viel Wind ein", sagte Bentley.
"Sie nennen ihn einen Baum, Alec? Es ist weiter nichts als die Marionette der Drogenmafia. Die ist unter ihm ja völlig sicher! Gegen Bargeld, das seinen Weg durch die Taschen der Anwälte zur Justiz und zum Innenministerium nimmt, kriegt sie jeden Schutz und jeden Pass."
"Wirklich?", fragte Alice. In ihren Augen saß ein belustigtes Funkeln. Reuss hätte sie gern gefragt, was es da zu lachen gebe. Fand sie Korruption so amüsant?
"Uwe nimmt das zu ernst", sagte Gina. "Ein paar Politiker macht er haftbar für die Übel der Welt."
"Für die Kriminalität auf den Hauptinseln!" Es drängte geradezu aus Reuss heraus. "Und den steten Verfall der Regierung."
"Auch anderswo leben Tausendsassas, die ihre Finger überall drin haben", beschwichtigte Bentley. "Mit den richtigen Leuten telefonieren, essen gehen, Deals machen; ihr wisst schon, was ich meine."
"Wollen Sie Pindling nicht wieder wählen?" Alices Zunge fuhr spitz über die Oberlippe. "Dessen Progressiv-Liberale Partei steht für die schwarze Mehrheit der Inseln. Die Opposition vertritt die weißen Interessen. Glauben Sie Ihr Anliegen dort besser aufgehoben, Uwe? Die Bankdirektoren, Drogenbosse und deren Anwälte sind weiß."
"Wählen? Ohne mich. Politik soll mir gestohlen sein."
"Moment mal", sagte Bentley, "die Bargeldschwemme erklärt sich ganz unverfänglich: keine Einkommensteuer auf den Bahamas, so dicht vor unserer Haustür. In den Staaten schnappt einem das Finanzamt bis zu fünfzig Prozent weg."
"Das ist erst die halbe Wahrheit", sagte Reuss. "Der Rest sieht ungefähr so aus: Ein Mann wie Joe Lehder dort auf Norman's Cay zahlt in Kolumbien für das Kilo Kokain fünfzehntausend Dollar. Der Großhandel in Florida gibt ihm glatt das Vierfache dafür. Sein Flugzeugpark reicht hin, auch für andere Händler zu fliegen, für fünftausend Dollar pro Kilo, auf deren Rechnung und Gefahr. Geschätzte Jahreseinnahmen: hundert Millionen steuerfrei, abzüglich der Transportkosten. Und natürlich muss er eine Menge Leute schmieren."
"Sie wissen aber gut Bescheid."
Reuss schwieg; diesmal war ihm, als fände Bentley es erheiternd.
"Das geht durch die Luft?" Alice sah Alec an. "Schafft man das, unbemerkt bei uns einzufliegen?"
Bentley zuckte die Achseln. "Kann sein, die tauchen unter dem Radar weg..."
Gina sagte: "Wenn nötig fliegt das Zeug auch mal nachts ins Meer. Wasserdicht verpackt, Positionsleuchten dran, und Señor Lehder ruft über Funk seine Boote. Die picken die Ballen auf und schmuggeln sie an der Küstenwacht vorbei. Vor Südflorida wimmelt es nur so, Tausende von Jachten, Sport- und Fischerbooten, das gibt genügend Deckung. Nur Stichproben sind möglich."
"Der Umschlagplatz ist Norman's Cay?"
"Zum Beispiel; es gibt auch andere. Unzählige Privatstege, verschwiegene Buchten und unkontrollierte Landepisten bieten sich an. Schließlich ist nur jede siebte Insel überhaupt bewohnt."
"Seht es doch mal locker", sagte Bentley. "All dies ist einst britisches Piratenland gewesen. Das schwarze Dreieck in der Flagge kann gar nichts anderes sein als der Rest vom 'Jolly Roger'. Ganz ohne Schmuggel ging's hier nie. Denkt an den Waffenhandel im amerikanischen Bürgerkrieg, an die Schwarzbrenner und Bootlegger während der Prohibition... Was glaubt ihr, woher eure Insel ihren schönen Namen hat?"
Vorn stieg das Riff aus der türkisfarbenen See, stark krängend kam die "Fantasy" dem Nordostkap von Rum Cay näher. Reuss ging über Stag, südwärts musste er gegen die Brise ankreuzen; alle wechselten den Platz, doch an dem Thema hielt man fest. Ein neuerlicher Anflug von Belustigung bei Alice gab ihm das Gefühl, ihr werde etwas erzählt, das sie schon bestens kannte.
Aus der Sonne schwebte das Abendflugzeug von Clarence Town auf Long Island ein, die alte DC-3, um vor dem Weiterflug nach Old Bight Airfield ein paar Passagiere und Treibstoff aufzunehmen. Sie brauchte fast eine Stunde dazu. Man sah ihr nach, bis sie in den Wipfeln verschwand. – "Schaffen wir's?", fragte Alice.
"Ich versuch's." Reuss wendete noch mal, man musste von The Elbow frei bleiben, der Riffkante in Lee. Während er die Fock dichtholte, hörte er Alice fragen: "Von der US-Drogenfahndung haltet ihr nicht viel?"
"Die wird am Ball sein, aber was hilft's", erwiderte Gina. "Letztes Jahr lief eine Großaktion ab, neunzig unserer Polizisten stürmten von See und aus der Luft Norman's Cay, auf Wunsch eurer Landsleute von der Drug Enforcement Administration. Viel Lärm um nichts! Außer dreißig Kolumbianern fand man ein Rudel Hunde und ein paar Revolver; von Drogen keine Spur."
"Das klingt ja, als seien die gewarnt worden."
"Ganz sicher. Der Boss hielt es nicht mal für nötig, sich abzusetzen, so wenig hat ihn die Razzia beeindruckt."
"Waschbär", sagte Bentley. "So hieß die Operation. Der Deckname war gut gewählt: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass... Herr Pindling mag schielen, doch er hat Humor."
"Woher kennst du den Namen?" Alice sprach gelassen, Reuss aber fand, dass sie erschrocken wirkte.
"Ich las davon in der Zeitung."
"Das hat nirgends gestanden..."
"Mein Gott, woher willst du das wissen?"
Unverkennbar hing Spannung in der Luft. Es kam Reuss vor, als werde da gepokert. Bentleys Gesicht war ausdruckslos. Alice sog Luft ein, die Nasenflügel gebläht. Herrlich vital sah sie aus in ihrer gezügelten Erregung.
"Ich weiß es eben, und das genügt."
"Mir nicht", sagte Bentley. "Du kannst unmöglich wissen, was die gesamte Presse darüber geschrieben hat."
"Alec, suchst du wieder Streit?"
Das Boot zog an den Dog Rocks vorbei, halb überspülten Korallenklippen, von Gischt gesäumt. Auf Steuerbord war jetzt das Haus zu sehen, keine halbe Meile weg. Unter den Palmwedeln ahnte man die Veranda und den rosa Klecks des Anbaus.
"Vergiss es!" Bentley lenkte ein. "Wer weiß, wer mir das erzählt hat..."
"Nein, mir reicht es..." Beide redeten gleichzeitig.
"Irgendein Freund bei der Nasa. Manchmal sind wir da im Polizeifunk drin."
"Keine Minute länger mit dir und deinen Lügen!" Alice stand auf, schwang sich über die Reling, glitt in das flache grünliche Wasser und schwamm auf die Lücke zwischen den Dog Rocks und The Elbow zu.
Es folgten Sekunden wortloser Verblüffung. Langsam richtete sich Bentley auf, er sah, den Mund halb offen, seiner Partnerin nach. Wollte sie das Flugzeug noch erreichen? Hatte die scheinbare Nähe des Strands oder der alberne Streit sie dazu gebracht, an dieser gefährlichen Stelle ins Meer zu springen? In Bentleys Miene war ein Ausdruck, den Reuss erst einmal an ihm wahrgenommen hatte. Es schien, als lausche er einem Ton, der aus der Ferne an sein Ohr drang. Dann rief er: "Ich hole sie zurück", und sprang ihr mit dumpfem Aufklatschen nach.
"Die sind wohl verrückt", stieß Gina heraus; sie wischte sich die Spritzer aus dem Gesicht.
Das Boot lag bedrohlich schräg. Reuss ging in den Wind, so dass es sich aufrichtete, gab Gina das Ruder, lief nach vorn und warf Anker, als die "Fantasy" anfing, zurückzudriften. Dann folgte er den beiden in die lauwarme, nicht sehr bewegte See – 26 Grad noch im November, er aber kannte die Strömung und die Gefahr, sich am Riff zu verletzen.
Er musste Alice davor bewahren. Fünfzig Meter vor ihm schwamm sie im Kraulstil, er hatte den Eindruck, ihr kaum näher zu kommen, obwohl er Alec rasch einholte. Eine Zeitlang blieb der prustend neben ihm, wie mit aller Kraft, dann verlor Reuss ihn aus dem Blick. Ein Stück vor den Dog Rocks begann ein Flach, er fasste Grund und spürte durch die Sportschuhe das Scharfkantige der toten Korallen; jäh riss es ihm die Füße weg. Es war, als stolpere er über ein Nagelbrett. Er schluckte Wasser und kämpfte gegen den Sog und die Vorstellung an, sich die Knie aufzuschürfen. Es zog ihn nach links, wo The Elbow schaumgesäumt ragte. Weit vor ihm trieb Alices blonder Schopf auf den Wellen.
Nach einer Weile begriff er, dass sie mehr Glück hatte oder einfach besser schwamm. Sie war schon in Sicherheit, erreichte den Strand nahe dem Bungalow und watete heraus, während Reuss das Wasser noch bis an die Achseln ging. Sobald er versuchte, zu stehen, bildete es schmatzende Strudel um ihn. Er sah sich nach Bentley um – den hatte er ganz vergessen. Vorn lief Alice auf das Haus zu. Einmal drehte sie sich um und winkte wie zum Spott... Wieder hatte er Grund, doch keinen Halt. Gurgelnd und unerbittlich trug es ihn zur Rifflücke hinaus.
Im Rauschen der Brandung hörte er Bentley schreien. Der hielt sich an einer niedrigen, messerscharfen Klippe fest, wie in Furcht, aufs Meer hinausgespült zu werden. Reuss hatte Mühe, ihn zu erreichen und dann seinem Griff zu entgehen. "Ruhig, Alec, lass los", wiederholte er und bog dessen Finger auf. Dieses Anklammern konnte tödlich sein. (In der letzten Saison hatte er einen Gast bewusstlos schlagen müssen, um ihn und sich selbst zu retten.) Er drehte Bentley auf den Rücken, stützte ihn unterm Kinn und hielt auf die "Fantasy" zu.
Der Mann war ängstlich und schwer. Wir schaffen es nicht, dachte Reuss, nach Luft schnappend – schnelle, gischtvermischte Atemzüge – und mit dem freien Arm rudernd. Es zieht uns hinaus, wenn Gina es nicht schafft, den Anker zu hieven und das Rettungsmanöver zu fahren! Die Kraft verließ ihn, allmählich wurden seine Beintempos schwächer. Das Land wich immer weiter zurück, die Sonne stach durch den Schaumschleier in sein Gesicht, so dass er das Boot aus den Augen verlor. Jetzt versuchte er nur noch, seinen und Bentleys Kopf über Wasser zu halten.
Ein Schatten glitt heran, der sprühende Umriss des Bootes. Der Rettungsring schlug neben Reuss auf, er griff danach, hing mit Bentley im Schlepp der "Fantasy", während Gina versuchte, die schlagenden Segel zu bändigen und das Boot im Griff zu behalten. Es drehte nicht mehr, wenn jemand dranhing, legte es sich quer zu den Wellen. Endlich gelang es ihr, zu ankern, so dass sie die Pinne loslassen und zupacken konnte.
Die See gab Reuss frei. Für Bentley war es höchste Zeit. Wie ein harpunierter Wal hing er am Heck, gemeinsam zerrten sie ihn hinauf. Im Cockpit sank er hin, keuchend, ganz erledigt; seine Lippen waren blau. Kaum zehn Minuten, doch sie hatten auch Reuss so erschöpft, als wäre es eine Stunde gewesen. Noch nie im Leben hatte er sich derart matt gefühlt. Und so dankbar, so stolz auf seine Partnerin. Ohne ihr Manöver wäre es aus mit ihm gewesen. Sie hatte ganz allein das Richtige getan: Anker gelichtet, vor dem Riff gekreuzt und sie beide aufgepickt, fehlerlos, ohne Grundberührung.
Er wollte ihr das sagen, doch wie oft fehlten ihm die Worte. Normalerweise war es leicht, mit Gina umzugehen, sie zu loben oder ihr zu widersprechen, ihr das Nötige mitzuteilen. An Land spürte sie intuitiv, was gemeint war und wie er zu ihr stand; selten musste er ausdrücklich fragen, wenn er etwas erfahren wollte. An Bord aber, wie sonderbar, verstand sich zwischen ihnen nichts von selbst, alles musste gesagt werden. Da fiel es ihm schwer, den passenden Ausdruck zu finden, es blieb bei knappen Kommandos oder gar bei stummem Tadel, denn ehe er etwas erklärte, tat er es lieber allein. Er begriff das als Zeichen eigener Schwäche und war dadurch noch mehr gehemmt. Für Gina war es ein Vorwurf seglerischer Minderwertigkeit, der es ihr verleidete, das Boot zu führen. – "Du hast uns aufgefischt wie ein Profi", würgte er heraus.
Gina lächelte, erwärmt von seiner Anerkennung. Ein guter Kamerad. Sie wusste wohl gar nicht, wie schlimm die Lage gewesen war und wie sie die gemeistert hatte.
Kurz vor Port Nelson erholte sich Bentley. Er kroch in Luv auf die Backskiste und fing an, darüber zu rätseln, was Alice mit ihrem Abgang bezweckt haben mochte. Der kleine Streit, der ihrem Sprung vorausging, spielte in seinen Überlegungen – soweit er sie äußerte – keine Rolle. "Verdammt, es scheint", knurrte er kurzatmig, "sie hat uns bloß zeigen wollen, was für 'ne tolle Schwimmerin sie ist."
"Das haben Sie nicht gewusst, Alec?"
"So gut lernt man sich nicht kennen in zwei Wochen."
"Auch nicht am Meer?", fragte Gina. Ganz obenauf, widerstand sie der Versuchung nicht, mit ihrem vom Vater ererbten Scharfsinn zu glänzen. "Dann hat Alice es Ihnen verheimlicht?"
"Mir und euch. Wären wir sonst hinter ihr her?"
"Sie sind spontan gesprungen", sagte Reuss. "Die Kavaliersehre, nicht wahr? Der Beschützerreflex. Und ich war für euch beide verantwortlich."
"Das Drehbuch des Lebens", sagte Gina, "schreibt uns die Rollen vor."
"Ja, sicherlich." Bentley grinste matt, er betonte und pausierte etwas willkürlich, wobei ein Röcheln aus ihm drang. "Aber es ist anders gekommen, umgekehrt... Nun habt ihr mich aus dem Bach gefischt. Soviel riskiert... Das vergess ich euch nie."
"Unsinn, Alec, das mussten wir doch. Wer sollte uns denn sonst die Rechnung bezahlen?"
"Glaubt ihr, Alice wollte weg – ohne mich?"
"Es hörte sich zuletzt so an", sagte Gina.
"Wenn sie so gut läuft wie sie schwimmt", fügte Reuss hinzu, "kann sie sogar das Flugzeug noch kriegen. Lag ihr viel daran?"
Bentley nickte. "Auch mir... Da ist wohl keine Chance."
"Kaum", sagte Reuss. Aus dem Busch hinter Port Nelson erscholl Motorenlärm, dann stieg die DC-3 der Air Bahamas wie ein dicker Falter aus den Wipfeln, zog glitzernd eine Schleife und flog nordwestwärts davon.
Es schien, als schmettere dieser Anblick Bentley nieder. Er sackte zusammen, bat um Wasser für seine Kreislauftabletten, dann verlangte er ächzend nach einem Arzt. Gina kümmerte sich um ihn, während Reuss in den Hafen rauschte, am Steg in den Wind schoss und mit einem Ruck anlegte, den er sonst vermied.
Im Jeep fuhren sie Bentley nach Riding Point, der Piste im Busch auf halbem Weg zwischen dem Hafen und ihrem Haus. Der Auspuffdunst der Linienmaschine hing noch über dem Rollfeld. Neben der Abfertigungsbaracke stand das einmotorige Lufttaxi, eine betagte Beechcraft, für Leute bereit, die es eilig hatten... Der Pilot jedoch weigerte sich, in der Dämmerung zu starten, noch dazu mit einer nahezu hilflosen Person.
Inzwischen ging es Bentley so schlecht, dass Gina anbot, ihn nach Oak Fields Airport zu begleiten, eine Flugstunde von hier, und weiter bis in das Hospital von Nassau. Unter dieser Bedingung und gegen Vorauskasse stimmte der Pilot zu. Sein Daumen wies auf den Einstieg an der Tragflächenwurzel. Gemeinsam half man Bentley hinauf. Er sprach kaum noch, rang nach Luft und schien einer Ohnmacht nahe.
Die Tür fiel zu, der Motor sprang blechern an. Als das kleine Flugzeug mit wirbelndem Propeller losrollte, auf dem Bugrad wippend, wendete Reuss den Jeep. Er schlug die Richtung zum Hafen ein, um das Boot abzutakeln. So klein Rum Cay auch war und nach Meinung der Polizei frei von Kriminalität, die Segel wurden einem sonst über Nacht gestohlen. Der Unterschied zum Norden war, hier kamen nur die Segel weg, dort das ganze Boot...
Mein Gott, was für ein Tag! In dem Gefühl, das Ärgste überstanden und logisch gehandelt zu haben, langte er endlich daheim an. Es wunderte ihn, dass im Haus Licht brannte, während der Anbau finster war.
Niemand außer Gina und ihm wusste, wo der Reserveschlüssel lag – hinter einem verschiebbaren Brett am Brunnen. Er sah dort nach, der Schlüssel war weg. Voller Unbehagen schlich er zum Fenster.
In dem weißen Korbsessel saß, vom Licht der Stehlampe mild übergossen, ein hagerer, düsterer Mann; die Füße bequem hochgelegt, als wäre dies sein Heim.
In Reuss zog sich etwas zusammen, eine Ahnung, ein leichtes Vibrieren oberhalb des Magens. Er sah den Fremden von der Seite, dessen verwittertes Profil – gekerbte Wangen, der harte Mund mit dem Lippenbart, die gerade, nur wenig vorspringende Nase –, Gott, das kannte er doch? Der Mann führte eine dünne schwarze Zigarre zum Mund, mit knapper Eleganz, und das brachte die Erinnerung zurück. Es war Sergio Figueras.
Reuss ging zum Jeep zurück, trug die Segelsäcke in den Schuppen, drückte das Vorhängeschloss zu und schlug für den Fall, dass es über Nacht regnete, das Verdeck des Wagens hoch. Aber es würde nicht regnen, er wollte Zeit gewinnen, mit der Tatsache fertig werden, nicht mehr überrumpelt sein, wenn er dann hineinging. Gina hat es gewusst, dachte er bitter. Sie muss Sergio geschrieben haben, wo der Schlüssel liegt. Vielleicht hat sie ihn sogar eingeladen... Darin lag, streng genommen, eine Art von Verrat.
Halb betäubt setzte er sich auf die Stoßstange. Rings um ihn zirpten Grillen. Nach allem, was hinter ihm lag, konnte er nicht mehr in Hochform sein. Was wollte Sergio hier: sein Geld oder sein Mädchen?
Womöglich beides. Figueras griff zu, selbstsicher, stolz und machtbewusst; kein Typ für harmlose Besuche und zweckfreie Geselligkeit. Ein Mann, der immer etwas wollte und auch wusste, wie es zu bekommen war. Ein Mensch von bedrohlicher Spannkraft. Schlecht nur verbarg seine Nonchalance den Stahlkern, den Magnetismus, der ihm Macht über Frauen gab; ebenso über Männer, die schwächer waren als er.
Reuss hörte sich stöhnen. Er versuchte, seine Chance abzuschätzen, dieses Eindringen heil zu überstehen. Es galt, sich darüber klar zu werden, ob Gina dem anderen folgen würde, falls der um sie warb. Und was Reuss selber mit ihr, der Tochter des einstigen Freundes, womöglich so fest verband, dass sie dennoch bei ihm blieb.
Sicherlich keine Leidenschaft. Kein großes Gefühl, falls es das für Kaltblütler überhaupt gab. Ihre Partnerschaft hatte sich damals ganz von selbst ergeben. Sie war etwas Zufälliges, angenehm Beiläufiges, das zur erfreulichen Regel geworden war. Der Zucker zum Kaffee. Eine zwanzig Jahre jüngere Freundin, wie sympathisch. Es kam ihm entgegen, dass Gina ihn schon als Teenager gemocht hatte und nun völlig auf ihn angewiesen war. Und wie intuitiv von ihm erraten, war sie auf eine naive, frische und rastlose Weise ziemlich sinnlich.
Von Anfang an war ihr Verhältnis unkompliziert gewesen, kameradschaftlich, natürlich (außer an Bord, die Dahlmanns hatten, so schien es ihm, kein Gespür für die Feinheiten der Segelkunst). Heute freilich war Gina auf See verblüffend gut gewesen, besser als er, hatte er ihr doch durch überflüssiges Ankern alles erschwert, anstatt sie gleich vorm Riff kreuzen zu lassen... Er hatte es ihr halt nicht zugetraut.
Drei gemeinsame Jahre, die wischte nichts so leicht weg. Nur mit ihr, so fand er, konnte man sich einen richtig schönen Abend machen: genussvoll essen, miteinander reden und lange wach bleiben, auf der Veranda sitzen, Gäste haben oder lesen, Musik hören und sich lieben – in der Morgendämmerung oder am frühen Nachmittag, wenn die Sonne draußen zu sehr stach. Nur mit ihr konnte man Vergangenes heraufbeschwören, die wilde Jagd zwischen Pazifik und Ostkaribik – oder an die ferne Heimat denken, um sich zu bestätigen, wie gut es doch war, dem Terror der Zivilisation, dem ganzen Trouble entwischt zu sein!
Wenig Höhen und Tiefen, Gewiss, das gestand er sich ein. Die auswaschende und abtragende Macht der Gewohnheit. Er war nicht sehr zärtlich zu ihr, außer im Bett. Mit der Zeit hatte Gina einen festen Platz im Hintergrund seines Kopfes bezogen, gebucht für die Ewigkeit. Sie war einfach da, immer um ihn, verlässlich, gesprächsbereit, selten launisch, zu jedermann freundlich und nett. Er konnte sich ihr widmen, sooft ihm danach war. Wirklich, er brauchte sie! Schon der Gedanke, dass sie jetzt in dem einmotorigen Flugzeug irgendwo über den finsteren Exuma Islands hing, nahe Norman's Cay, einen Kranken neben sich, oder mit dem schon im Taxi durch das nächtlich glitzernde Nassau fuhr, dieser Hochburg des Glückspiels und der Mafia, machte ihn nervös. Weit bedrohlicher aber war es, den Burschen dort in seinem Korbstuhl zu wissen.
Post von Figueras, laut Sergeant-Major Oakland. Reuss hatte es bereits vorher gespürt und geahnt. Solch ein Brief ließ Gina stets ein wenig unruhig werden. Sie lief dann ziellos am Wellensaum entlang und blickte zum Horizont: der Mann ihrer Träume, unerreichbar fern! (Oder bildete er sich das bloß ein? Egal, in der Liebe – oder was man so nennt – ist die Einbildung Wirklichkeit.) Flüchtige Anwandlungen; wie immer fand sie rasch zurück in die erprobte Zweisamkeit, das sanfte Leben an seiner Seite. Er pflegte sich da blind zu stellen, wollte nichts wissen, nichts aufrühren, ihr nicht lästig sein. Nun aber stand er der Tatsache gegenüber, dass jener Mann dort drin saß, selbstherrlich, besitzergreifend, in der Haltung eines Rivalen und todsicher bereit, den Frieden zu brechen: die kleine Welt zu zertrümmern, die sie beide sich hart arbeitend geschaffen hatten.