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In einem Dorf an der Ostsee wird innerhalb kurzer Zeit in Datschen wohlhabender Leute eingebrochen; kostbare Antiquitäten und technische Ausstattungen werden entwendet. Die Kriminalpolizei ahnt: Hier sind Kenner am Werk. Doch gemessen an Hauptmann Wendts früherer Tätigkeit scheint diese Einbruchsserie banal. Bis ein Mensch zu Tode kommt. Und - bis Wendt sich in die schöne und selbstbewusste Jenny verliebt. Für Hauptmann Wendt entsteht eine ungewöhnliche Situation: Seine Arbeit und seine Liebe beginnen einander zu zerstören. LESEPROBE: Sanft läuft das Boot am Ende der Schilfgasse in den Schlick. Ein brüchiger Steg, Jenny steigt hinauf, zieht Jack hoch, der ein wenig nachtblind ist. Es quietscht unter den Sohlen, fünfzig Schritte feuchter Pfad, nun der Garten mit dem Umriss des Knusperhauses im letzten Widerschein des Hafens. Der Mond geht erst später auf, mach kein Licht, Jack, um Himmels willen, wir finden auch so den Holzstoß! Jetzt ertastet sie den Sicherheitsschlüssel in Zellophan. Sie zieht Handschuhe an und achtet darauf, dass auch Jack es tut... Atemlos schließt Jenny auf. Sie schleicht ins Haus, es riecht unbewohnt, muffig wie viele Häuser am Wasser, dazu nach einem Spray, als habe Frau Mau den Besitz chemisch konserviert. Hinter ihr ein schleifender Laut, Jack streicht an der Wand entlang, er stößt etwas um, eine Bodenvase, drückt auf die Taschenlampe. Jenny verbietet es ihm wegen der großen Scheibe zum Weg, nimmt ihm die Lampe weg. Ihr Ziel ist das Zinngeschirr auf dem Kamin, schimmernd im Restlicht der Sterne. Altes Kaiserzinn voll plastischer Figuren: Teller, Becher, Kanne, ein fünfarmiger Leuchter. Mopedgeräusch von draußen, ein Lichtkegel streift umher. Jenny duckt sich am Kamin, wartet auf das Wegwandern des Scheinwerfers, vorm Haus biegt der Weg ab. Aber das Moped hält an, es steht vorm Jägerzaun, leuchtet herein, im Sattel zwei Gestalten – wer? Keiner von den Maus, natürlich nicht, die kämen ja im Auto...
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Seitenzahl: 327
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Wolfgang Schreyer
Unabwendbar
Kriminalroman
ISBN 978-3-86394-113-0 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1988 beim Verlag Das Neue Berlin in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen).
Mitarbeit: Ingrid Mittelstrass
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Für Sabine
Um vom Himmel herunterzufallen muss man ihn erstiegen haben sei es auch nur für einen kurzen Augenblick und das ist schöner als sein lebelang auf der Erde zu kriechen
Theophile Gautier
Christian Wendt war einsachtzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer und in den zweiundvierzig Jahren seines Lebens kaum einmal krank gewesen. Es schien, als meine die Welt es gut mit ihm. Er war Hauptmann der Kriminalpolizei und noch immer ein geschätztes Mitglied ihrer Handballmannschaft. Sein Sohn Stefan war seit Mai bei der Fahne, Ladeschütze in einem Panzer des Typs T-55. Stefans Klagen über die Härte des Dienstes verstummten allmählich. Seine Briefe wurden seltener, ganz gewiss ein gutes Zeichen.
Bei einem Offizier der K denkt man, wenn überhaupt, an einen besonnenen Mann, der Tugenden wie Tatkraft, Geduld und eine Art verschmitzter Heiterkeit mit Schläue und Zurückhaltung verbindet. Die Medien pflegen diesen Ruf, Bücher und Filme haben ihn poliert und damit in der öffentlichen Meinung wohl etwas Glanz hinterlassen. Ohne am Lack zu kratzen oder ihn frisch aufzutragen, soll hier versucht werden, den Hauptmann als unverwechselbar vorzustellen. Manch ein Beruf prägt die, die ihn ausüben – ob in Uniform oder in Zivil; und doch bleiben sie einmalig.
Äußerlich mochte Wendt ein Dutzendtyp sein. Er hatte ein mageres Gesicht mit derbem Mund, gekerbtem Kinn, kurz geschnittenem schwarzem Haar und eigentümlich hellen Augen, um deren Winkel sich Fältchen drängten. Er war als einfallsreicher Ermittler und unermüdlicher Arbeiter mehrfach ausgezeichnet worden. Seine Ehefrau Helga war hübsch und anschmiegsam gewesen, so lustig, wie er selbst es einmal war; aber sie fühlte sich auf die Dauer von Wendt vernachlässigt und hatte ihn vor einem halben Jahr verlassen. Seitdem neigte er dazu, sich mit der Bemerkung, er sei an sinkende Schiffe gewöhnt, in aussichtslose Fälle zu verbeißen. Mehr hörte man von ihm nicht dazu. Er blieb ganz gelassen, äußerlich.
Aber einige Zeit nach seiner Scheidung ging der Hauptmann in den Nordbezirk. Zögernd hatte man ihn, auf eigenen Wunsch, nach dort versetzt. Heraus aus seiner Stadt, Strich unter das Vergangene, mit zweiundvierzig ein neuer Start – das erschien ihm als die Lösung, als Radikalkur gegen ein Stimmungstief, das ihn seit dem Winter lähmte.
Nur, das Tief folgte Wendt nach Rostock in den beigefarbenen Bau der Bezirksbehörde, wo der Leiter der Kriminalpolizei ihn mit der Frage empfing, was er denn trinke, Kaffee, Tee, Kognak oder Klaren? Sie kannten sich von der Offiziersschule in Aschersleben, dasselbe Studienjahr, der Genosse hatte es zum Oberstleutnant gebracht und stieß mit ihm auf gute Zusammenarbeit an. Dann freilich stellte er Wendt, ungeachtet seiner Praxis in der Morduntersuchungskommission, ab zur besonderen Verwendung. Er wurde mit Papierkram beschäftigt; so sah es seine Empfindsamkeit. Ja, er war müde und reizbar geworden.
Anfangs brachte der Wechsel Wendt die doppelte Belastung. Das war ihm nur recht. Er las sich ein in laufende Fälle und musste zugleich Neues übernehmen, verzwickte Affären wie die eines betrügerischen Juweliers, dessen Akte ihm von der Abteilung Finanzen auf den Schreibtisch kam... Zweiundvierzig, dachte er manchmal, ist ein dummes Alter. Man ist zu jung, um alles zu begreifen, was einen betrifft, es fehlt der volle Durchblick – aber zu alt, um mit Entschuldigungen durchzukommen. Alt genug für Herzbeschwerden, aber noch zu jung, um es zuzugeben. Erfahren genug, um Schwätzer oder Narren zu erkennen, aber noch nicht weise genug, sie auch zu ertragen.
Der Oberstleutnant hatte ihn, wie es üblich ist, auf lokale Besonderheiten hingewiesen, erschwerende Umstände wie die drei Staatsgrenzen im Westen, Norden und Osten; die drei Häfen mit Seeleuten aus allerlei Ländern. Im Sommer Millionen von Urlaubern, die Auto fuhren, Bier tranken und was alles daraus folgen konnte. Tausende von Wandervögeln als Saisonkräfte, leider nicht sämtlich Edelknaben und -mädchen; so etwa drückte er sich aus. Wendt wusste, jeder Bezirk wartete mit ähnlichem auf, unterstrich dies doch: Man stand auf schwierigem Posten. Sein eigenes Vorurteil beschränkte sich auf Worte wie "Ochsen im Wappen" und Bismarcks "in Mecklenburg passiert alles hundert Jahre später"... Bald darauf begann Wendt selbständig zu ermitteln. Ohne Begeisterung – gemessen an dem, was er früher geleistet hatte, nahm der Fall sich belanglos aus. Aber er sollte sein Leben verändern.
Sosehr ihm Rostock auch gefiel mit seiner Tradition, den Wallanlagen, den Backsteinbauten, seinem eher mittelstädtischen Charakter, dem Teerhauch an der Warnow, eben dem Fluidum von Weltmeer und Weite – in drei Punkten blieb der Nordbezirk hinter seinen Erwartungen zurück. Die Menschen zeigten sich zugeknöpfter, als sie Wendt von ein paar Urlaubswochen an der See in Erinnerung waren. Die Luft schien nicht mehr so klar zu sein wie noch in den siebziger Jahren. Und im Dienst störte gelegentlich die Länge des Einsatzraumes. Der Bezirk ist schmal, dafür endlos, er gleicht einem Fisch. Usedom der Schwanz, Rügen die Rückenflosse. Die Mittelgräte, an der all das hängt, ist zweihundertachtzig Kilometer lang, fünf Stunden Asphalt, oft nur zweispurig.
Gleich hinter der Autobahn empfing ihn der erste Stau. Von rechts, wo man ein Düngemittelwerk hingeklotzt hatte, bogen Lastwagen ein, und es stank nach Chemie. Während er, umblubbert von Abgasen, auf das Lenkrad trommelte, wurde ihm fast übel: kein körperlicher, ein seelischer Effekt. Das Gefühl, passiv im Blech zu stecken, bedrückte Wendt mehr als nötig. Ihm war, als müsse irgend etwas schlecht ausgehen, nur weil er keine Möglichkeit sah, sich aus der Kolonne herauszuarbeiten; so dass er auch unfähig sein würde, den Fall zu lösen, drei triste Einbrüche in Zweithäusern, die das Kreisamt in N. allein hätte aufklären können... Solche Anwandlungen waren schwer zu deuten und wenig originell, nicht wert, wie ihm schien, sich damit aufzuhalten.
Erst gegen Mittag erreichte er N. und hielt vor einem Gasthof am Ortseingang. Das Lokal hieß "Seerose", es war jetzt, in der Nachsaison, halbleer. Wendt bestellte ein Gedeck und zog den Bericht hervor, den der K-Leiter des Kreisamts, ein Hauptmann Drews, nach Rostock geschickt hatte. Danach war der erste Einbruch Ende Juni bemerkt worden, der zweite Mitte August und der dritte vorgestern – Ende September. Obwohl es nie Fingerabdrücke und auch sonst kaum Spuren gab, nahm Drews an, dass es sich um eine Serie handele: immer derselbe oder dieselben Täter. Wohl waren sie, gewaltsam oder mit einem Nachschlüssel, auf recht verschiedenen Wegen in die Häuser eingedrungen, wenn niemand dort wohnte. Entwendet aber hatten sie durchaus Vergleichbares, nämlich wertintensive Dinge von beschränktem Gewicht; niemals Sperriges wie Teppiche oder Fernsehgeräte. Das allerdings schien das einzig Übereinstimmende zu sein.
Als das Menü kam, merkte Wendt, es wich in jedem Punkt von der Speisekarte ab: Blumenkohlsuppe statt der Kaltschale, Schweinebraten anstelle der Roulade und statt Eis das unvermeidliche Apfelmus. Es sprach für seinen Gleichmut dem Essen gegenüber, einem Teil der Lebensfreude, dass er dies stumm durchgehen ließ. Das einzig Übereinstimmende war die Person der Serviererin. Sie tat Wendt eher leid; das Personal solcher Lokale stimmte ihn leicht mitfühlend. Beim Zahlen fragte er die Frau nach dem Weg zum Kreisamt, und sie sagte, an der Hauptstraße links hinter der Poliklinik und dem Veteranenklub, die Antennen sind gar nicht zu übersehen.
Ein schmuckes Städtchen. Wie die Reste der Festdrapierung zeigten, hatte es jüngst sein 675jähriges Bestehen gefeiert und wirkte entsprechend aufgeräumt. Die neue Umgehungsstraße hielt ihm das Gröbste fern. Den Parkplatz am Kreisamt säumten Rosenbeete. Im Korridor des Oberstocks blinkte eine Vitrine voller Urkunden und Auszeichnungen, das Modell eines Sputniks, eine Matroschka hinter Glas und Souvenirs wie Kremltürme unter verblassten Fotos und dem Schriftzug "In Waffenbrüderschaft vereint". Das wies auf die Nähe einer befreundeten Garnison hin. Nicht zu Unrecht wurde die Sowjetarmee als Pate, als eine Art Taufzeuge betrachtet.
Der Amtsleiter war groß und stämmig, starker Raucher, ein selbstbewusster Mann, der den ungewöhnlichen Namen Bradhering trug. Wendt wusste schon, dass Namen wie Frettwurst oder Bradhering, über die man anderswo lächeln mag, an der Küste recht verbreitet sind und niemandes Autorität schmälern können. Major Bradhering saß, die Fenster im Rücken, am Ende des Raumes hinter seiner Schreibplatte – blitzblank bis auf den Aschenbecher –, er kam ihm nicht entgegen, so dass Wendt am langen Konferenztisch vorbei auf ihn zuging. Er sah sich ohne den Anflug eines Lächelns begrüßt.
Eindrucksvoll die starken Brauen. Der Major hatte den Teint eines Menschen, der viel Freizeit draußen verbringt. Womöglich war er Angler oder Segler, doch wie blieb er erreichbar, wenn er solchen Sport betrieb? Nun, in einem Kreisamt gab es auch Außendienst, während man in der Bezirksbehörde meist hinterm Schreibtisch saß. Als Wendt den Amtsleiter im Profil sah, verblüffte ihn das Fehlen eines Hinterkopfes, kurzgeschoren stieg der Schädel senkrecht aus der kräftigen Muskulatur des Nackens... Bradhering sagte: "Wir hatten schon mal eine Einbruchsserie, im vorletzten Winter. Da kommt ja selten jemand in die Feriensiedlung. Der Täter war ein Asozialer, hatte sich da eingenistet und stieg in acht weitere Bungalows ein, um die Vorräte zu plündern. Das fiel erst auf, nachdem er eine Scheibe zerschlagen hatte und in dem Sommerhaus der Schornstein rauchte."
"Sie haben ihn natürlich rasch gefasst."
"Na, Kunststück. Unser ABV ist einfach hingegangen... Diesmal liegt der Fall schon anders."
Wendts Blick schweifte über die preußisch karge Einrichtung. Es gab keinen Zimmerschmuck, von dem offiziellen Bild neben dem Rollschrank abgesehen. In solch spartanischem Rahmen bündelte der Major die Polizeigewalt des Kreises. Ein rostfarbener Läufer führte von der Tür her geradlinig auf ihn zu – für Furchtsame lang genug, um darauf zu schrumpfen. Über dem Konferenztisch hing auf rotem Fahnenstoff eine Wettbewerbstafel, vielleicht auch die Unfallstatistik, denn eine Kurve glitt nach dem sommerlichen Höhepunkt abwärts. Bradhering sah nicht so aus, als hätte er einen Abwärtsknick bei positiven Erscheinungen geduldet. Alles Überflüssige und Ablenkende war aus seinem Umfeld verbannt worden. Selbst eine Karte des Kreisgebietes fehlte, die hatte er wohl längst im Kopf.
Und auch in dem, was er nun äußerte, die Stirn mehrfach gefurcht, lag der Verzicht auf Nebensächliches. Er gab Wendt die Adressen der drei Geschädigten und des Abschnittsbevollmächtigten von Cumin, eines Leutnants Nauschütz, der die Vorgänge bis ins Detail kenne. Hauptmann Drews könne ihn leider nicht begleiten, Drews spüre mit seinen Kriminalisten einem Kraftfahrer nach, der gestern Abend auf einem Parkplatz an der Bäderstraße eine Tramperin vergewaltigt habe.
Zum Schluss zog Bradhering einen Zettel in Zellophan hervor, mit der Aufschrift Störtebeker war hier, in vorgefertigten Druckbuchstaben. Dieser Wisch habe Ende Juni im Sommerhaus des Kulturbundsekretärs Dr. Alfred Mau gelegen, an der Stelle, wo man dem das Zinngeschirr abgeräumt habe. "Keine Profis, Genosse Wendt", sagte er knurrend. "Welcher Profi lässt schon etwas, das er mitgebracht hat, absichtlich am Tatort zurück?"
"Es sei denn, um eine falsche Spur zu legen."
Der Major blickte drein, als hätte man ihm weismachen wollen, es solle da ein Verdacht auf den sagenhaften Klaus Störtebeker gelenkt werden, eine Gestalt, die im Nebel der Historie verschwamm. Langsam schüttelte er den Kopf. "Erst sah es uns nach persönlichem Racheakt aus", fügte er widerwillig hinzu. "Aber dann der Einbruch bei Dropsch und jetzt bei Professor Rasmus... Na, machen Sie sich nur selber ein Bild. Manchmal sehen fremde Augen ja mehr. Jedenfalls, ich wünsche Ihnen viel Erfolg."
Das war alles. Er entließ Wendt nach kaum fünfzehn Minuten. Als der Hauptmann bei einem Chemiewerk in die Bäderstraße bog, glaubte er, die folgenden Besuche würden ähnlich enden. Ein verlorener Tag... Dieser Gedanke aber rief seinen Widerspruch hervor, blies den Funken Ehrgeiz an, der nach zwanzig Berufsjahren unverändert in ihm glomm. Das Bedenkliche an einer Serie ist ja, sagte er sich, dass sie selten endet, solange die Täter erfolgreich sind. Und den ersten wirklichen Fall, mit dem man ihn im Nordbezirk betraut hatte, den wollte er gern lösen.
Eine halbe Autostunde bis Cumin. Die Häuser wurden niedriger, bekamen Rohrdächer, Bäume wuchsen schief, geprägt vom Westwind, bizarre Kronen, die noch das Laub festhielten. Je mehr Wendt sich der See näherte, desto dunstiger wurde es. Das Land war ganz flach, über den Wiesen lag weißlicher Nebel. Kleine Waldstücke wechselten mit Gehöften ab, oft moderte dort am Wegrand ein Holzgestell, Milchrampe genannt. Früher hatten die Bauern ihre Milchkannen da hinaufgehoben, für den Wagen von der Molkerei. Heute, Wendt wusste es vom Urlaub her, überließ man das Großvieh dem Volksgut, baute Ställe um in Quartiere: Gäste brachten, bei weniger Plackerei, mehr ein als Rinder... Die Sonne brach durch eine Wolkenbank über dem unsichtbaren Meer, sie tauchte das Dorf vor ihm in eine Art Bühnenlicht, das gleich wieder erlosch.
Etwas spannte sich in ihm, er hatte den Eindruck, seiner Bewährung entgegenzufahren. Dabei ertappte er sich, eine Melodie zu summen, so ein trauriges Lied, er hatte es seine Mutter singen hören mit dem Text: Das Schifflein am Strande schwankt hin und schwankt her, ganz als ob im fernen Lande keine Hoffnung mehr wär... Wendt begriff dies als Störfaktor, als Symptom seiner Verfassung; abrupt hörte er damit auf, als lasse sich Schwermut durch Selbstdisziplin, durch einen Willensakt besiegen.
Einmal schob sich der Schilfsaum des Boddens bis an die Straße. Auf dem grauen Wasser der Umriss eines Zeesenboots, alle fünf Segel hatte es gesetzt, rotbraun getönt, piratenhaft. Störtebeker war hier. Ein Held, eine Kultfigur, der Stolz dieser Küste. Den Ordnungshütern von damals, den Bradherings und Wendts, hatte er ziemlichen Ärger bereitet. Heute hießen Ferienheime nach ihm, ein Dutzend Orte stritten sich um die Ehre, den Mann hervorgebracht oder wenigstens seiner Schar als Schlupfwinkel gedient zu haben. Die Geschichte hatte ihm Recht gegeben. Es war so weit gekommen, dass sich sogar Einbrecher auf ihn beriefen.
Cumin war eines der Boddendörfer, die wegen ihrer Nähe zur See nach dem Kriege kräftig aufgeblüht sind. Der Amtssitz des Leutnants Nauschütz lag unter dem roten Ziegeldach im weißgetünchten Haus des Rates der Gemeinde; zwei prächtige Lebensbäume bewachten den Eingang. Ein Blick genügte, um zu erkennen, wie sorgsam das Büro von dem Abschnittsbevollmächtigten geführt wurde – einem fülligen, noch jungen Mann mit ziemlich hoher Stimme. Er kanzelte gerade Verkehrssünder ab, zwei Fünfzehnjährige, die ohne Führerschein ihre Motorroller benutzt hatten. Sie sagten, die hätten sie schon zur Jugendweihe bekommen, der Lehrgang in der Kreisstadt sei überfüllt gewesen, was bleibe ihnen anderes, als auf Feldwegen zu üben? Ihr Ton war wenig schuldbewusst, fast zeternd. Der Leutnant blieb standhaft, er drohte ihnen im Wiederholungsfall die entsprechenden Maßnahmen an. Die zwei verließen aufgebracht, fast rüpelhaft den Raum.
Wendt spürte, Nauschütz war das peinlich. Im Übrigen begrüßte er seine Ankunft so warm, als stärke sie ihn in dem täglichen Kampf gegen Verstöße und Unordnung im Dorf. Er trug einen Schnauzer – die einzige Art Bart, an der man im Dienst keinen Anstoß nahm –, offenbar bestrebt, seinem weichen Gesicht mehr Strenge zu geben. Wendt hatte gleich das Gefühl, Nauschütz neige dazu, sich auf ihn zu stützen, während er selber es doch war, der Hilfe brauchte. "Fahren wir los", schlug Nauschütz ihm bald vor. "Es besteht Aussicht, die Geschädigten anzutreffen."
"Was sind das für Leute?"
Der Abschnittsbevollmächtigte bog beim Schuppen der Freiwilligen Feuerwehr in den Weg zur Feriensiedlung ein. "In welcher Beziehung, Genosse Hauptmann?"
"Gibt es zwischen ihnen Gemeinsamkeiten?"
"Ich wüsste nicht. Nein, die dürften einander nicht mal kennen. Sind aus ganz verschiedenen Gegenden. Das Ehepaar Mau – Kulturfunktionäre im Bezirk, ruhige Menschen, nett und bescheiden; mit denen gab's noch nie Schwierigkeiten. Ihr Haus liegt am Boddendeich, ein Stück weg von der Siedlung. Die beiden anderen wohnen hier. Dr. Dropsch ist Apotheker, Oberpharmazierat im Kreis. Professor Rasmus leitet ein Theater in der Hauptstadt."
Weshalb hat Nauschütz uns nicht avisiert, fragte sich Wendt; die Leute waren prominent genug, um auch in ihren Zweithäusern ein Telefon zu haben. Der Wagen rumpelte durch Bodenwellen, Wendt sah den Kopf des Fahrers wippen und dessen füllige Wangen beben. Was wusste man von seinen Schwierigkeiten? Vielleicht war es ihm misslungen, in der Gemeinde Fuß zu fassen. Doch indem Wendt dies erwog, ging ihm zugleich seine eigene Schwäche auf. Fehlte ihm selber der Schwung, verstand und bemitleidete er beinahe jeden.
Die Frau des Apothekers beschnitt die Hagebutten am Jägerzaun, eine kleine grauhaarige Dame in Manchesterhosen und Lederjacke. Sie benutzte eine elektrische Heckenschere, die sie flugs aus der Hand legte, höflich und erwartungsvoll. Angeborener Frohsinn oder der Glaube an die Allmacht von Behörden gab ihr den Gedanken ein, das Diebesgut sei aufgespürt worden. Kaum hatte Wendt sich ihr vorgestellt, da bat sie die Besucher ins Haus. Ihre Augen schimmerten feucht – Spuren einer Gemütsbewegung, die sie zu überspielen versuchte. Nein, das silberne Fischbesteck, die englische Kaminuhr und die zwei kleinen Ölbilder brachte er ihr nicht zurück.
Frau Dropsch fasste sich, bot Kaffee an (Wendt lehnte dankend ab), nannte ihn Herr Kommissar. Den Zweck des Besuchs verstand sie nicht, sie und ihr Mann – er kam erst nach Feierabend aus N. – hätten doch längst alles zu Protokoll gegeben? Mit ihrer Erlaubnis sah Wendt sich ein bisschen um. Der Raum, üppig verglast, nahm die Hälfte des Erdgeschosses ein, er wirkte städtisch, behäbig mit seinen Chippendale-Möbeln, den hübsch gerafften Gardinen und den Gemälden. Zwei davon fehlten, man sah es an Verfärbungen der Tapete, und zwar die wertvollsten: ein Caféhausbild und eine Mondscheinlandschaft des Malers Albert Ebert. Vor der Panoramascheibe stand, ganz blankpoliert, ein einäugiges Messingfernrohr auf dem Stativ. Über all dem lag ein Hauch von Eleganz und Besitzerstolz.
"Wer hätte das gedacht", klagte sie, "dass etwas Derartiges bei uns möglich ist."
"Außerhalb der Saison sind Sie nur manchmal hier?"
"An den schönen Wochenenden, wie all unsere Nachbarn. Im August waren wir in Ungarn, und bei unserer Rückkehr..."
"Für die Täter", sagte Nauschütz, der es wohl nicht ertrug, dass sie ihn überging, "ist dies praktisch ein offenes Haus gewesen."
"Wie darf ich das verstehen?"
"Nun, es ist unzureichend gesichert."
Frau Dropsch fiel ihn an, heftig wie ein scharfzahniger Foxterrier. "Ich muss doch bitten... Das Haus war fest verschlossen, vorm Gartentor lag eine Kette!"
"Was nützt die Kette am Tor bei einem so niedrigen Zaun?"
"Die Zaunhöhe ist uns damals vom Rat der Gemeinde auf den Zentimeter genau vorgeschrieben worden."
"Aber bei Ihren Werten", warf Wendt ein, "hätten Sie doch an ein Sicherheitsschloss denken sollen."
"Zeigen Sie mir den Laden, wo es das gibt, Herr Kommissar? Übrigens, man ist durch das Toilettenfenster bei uns eingestiegen."
"Für Fensterläden", fragte der ABV, "hat es gleichfalls nicht gereicht?"
"Eine sehr feine Bemerkung. Herr Nauschütz, Sie bauen doch selbst – wenn Sie Holz übrig haben, her damit! Wir kaufen es Ihnen sofort ab."
Wendt sagte: "Darf ich offen sein, Frau Dropsch? Ihrem Haus mangelt es offenbar an nichts, bis auf den notwendigen Schutz. Daher unser Rat, künftig schon von sich aus mehr zu tun..."
"Ach, an uns hat's gelegen, das Opfer ist schuld! Ein Standpunkt, den nicht einmal die Versicherung mit Ihnen teilt! Ich muss mir denn doch verbitten..." Atemlos brach sie im letzten Moment ihren Angriff ab, bog ihn in eine Klage um. "Verzeihen Sie, es nimmt einen derart mit. Aber das, was Sie verlangen, kriegt man ja nicht einfach für Geld. Und was uns genommen wurde, das ist unersetzlicher Familienbesitz. Ich bitte Sie sehr darum, uns wieder zu unserem Eigentum zu verhelfen."
"Wir tun, was wir können. Einstweilen vielen Dank. Und – hüten Sie den Rest."
Im Auto sagte Nauschütz: "Nun haben Sie's gleich erlebt, diese Unbelehrbarkeit! Das ist die typische Haltung, die Einstellung zu unserer Arbeit. Manchmal kann man es schon Arroganz nennen."
"Sie sprechen von den Besitzern der Datschen?"
"Bewachen soll ich die mit meinem Dutzend Helfern, von denen keiner aus der Siedlung ist, Hinweise aber verbittet man sich als Einmischung ins Privatleben... Dort an dem Prachtbau bleibe ich lieber im Wagen, wenn Sie gestatten. Professor Rasmus ist nämlich leicht erregbar. Wenn der mich sieht, geht er womöglich in die Luft."
Als Wendt das Tor im Schilfzaun öffnete, lag vor ihm ein ockerfarbenes Haus, mehr Landsitz als Datsche, weit zurückgesetzt vom Weg. Wuchtige Pfeiler trugen den Balkon, grob behauene Eichenstämme; das Rohrdach wölbte sich schützend über die Terrasse mit den Korbmöbeln im Jugendstil. Blumenstauden, Farnkraut, Blautannen und Wacholder säumten den Pfad, der vorm Haus zu einem Steingarten anstieg. Das Grundstück war doppelt so groß wie die übrigen, ein paradiesisch stiller Fleck. Hier konnte auch der Anspruchsvollste sich entspannen oder tätig sein, glücklich sein, falls er die Natur noch wahrnahm und genoss. Wie sollte jemand, dem dies zur Verfügung stand, sich über einen Polizisten ärgern, der so behutsam und pflichtgemäß verfuhr wie Nauschütz?
Professor Georg Rasmus war ein schlanker Mann von gut sechzig Jahren, mit vollem Haar, silbrig an den Schläfen, und wachen blauen Augen hinter einer randlosen Brille. Sekundenlang verwirrte Wendt sein Aufzug, er trug einen kimonoähnlichen Hausmantel aus schwarzer Seide, bedeckt mit weißen, rätselhaften Symbolen – Schriftzeichen vielleicht. Seine Haltung war vollendet, von ihm ging etwas aus, das an einen Zauberkünstler denken ließ, einen großen Illusionisten, der Menschen oder Dinge verschwinden lassen kann. Bestimmt konnte er mehr als das, auf seiner Berliner Bühne. Diesmal freilich war ihm selber etwas verschwunden, drei Statuetten, zwei seltene Bücher und ein Porzellanservice im Wert von fünfzehntausend Mark, wie in der Akte stand. Der Schaden wurde größer, die Täter langten von Mal zu Mal kräftiger hin, nach dem Gesetz der Serie.
Rasmus rief nach der Haushälterin, er lud gleich zum Tee ein: Jasmintee, Kirsch- oder Orangenblüten? Sein Ton war väterlich, ja so hypnotisch, dass es dem Hauptmann misslang, sich seiner Freundlichkeit zu entziehen. Rasmus stopfte sich die Pfeife mit einem Tabak, der nach reifen Pflaumen oder Feigen roch, und wies hinter sich in die Diele; sie ging am Kamin in den Wohnbereich über. "Wir haben nichts angerührt, ehe Ihr Kollege vom Kreisamt kam. Es lag uns fern, ihm die Arbeit zu erschweren. Er hat das ganze Haus abgesucht, leider ohne Resultat."
"Sie merkten gleich, dass etwas fehlte?"
"Mir fiel nur das leere Kaminsims auf. Meine Frau Wagner entdeckte dann die Lücke im Geschirr."
Wendt nippte von dem Tee, er schaute sich um. Zweifellos, hier passte alles zusammen, das Haus hatte Charakter. Gescheuerte Dielen aus prächtigem Holz, das an Schiffsplanken erinnerte, mit Läufern aus Schafwolle, auf denen man leicht rutschte. Ein L-förmiger Raum, kostbar und schlicht, durch sein Ausmaß bestechend. Solide Deckenbalken, Regalwände voller Bücher, geschnitzte Möbel, ein schmiedeeisernes Gitter als Raumteiler, Steh- und Wandlampen, alles sehr gediegen. Den Unterlagen nach war man mit einer Leiter (aus dem unverschlossenen Schuppen) über den Balkon gekommen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen. Der Einbruch, vorgestern entdeckt, lag womöglich viele Wochen zurück; Rasmus hatte Indien besucht und dann mit seinem Ensemble in Schweden gastiert. Was sollte der Spurensicherung unter Hauptmann Drews denn entgangen sein? Unmöglich, zwei Tage später mehr zu finden als er.
"Da will man sich sammeln, auf ein neues Stück konzentrieren", äußerte der Professor. "Und dann – ein Schlag ins Gesicht! Wo leben wir denn, in Chicago? So wird einem die Arbeit vergällt, da bleiben schon die simpelsten Einfälle weg."
"Haben Sie selber irgendeinen Verdacht?"
"Da hat mir jemand eins auswischen wollen."
"Sie meinen, es galt Ihnen ganz persönlich?"
"Ein paar Feinde hat schließlich jeder."
"Könnten Sie das wohl präzisieren?"
"Ach, wissen Sie, in meiner Position... Je straffer man führt, je erfolgreicher man ist, desto ärger Missgunst und Neid. Vermutlich machen Sie sich keinen Begriff von dieser Seite des Kunstbetriebs. Niemand weiß, weshalb das so ist – nirgends nehmen Kränkung und Bosheit solche Formen an wie dort."
Wendt schwieg, verblüfft von dieser Egozentrik. Bezog der Mann denn alles auf sich? War das der Preis von Glanz und Ruhm? Nicht einmal die Stille hier brachte ihm Frieden, Argwohn zehrte an ihm, wenn er den oder die Täter in seinem Umkreis suchte... Durch das Westfenster sah man eine Trauerweide, die gefiederten Zweige wiegten sich im Wind, ein Sinnbild der Wehmut, der Vergänglichkeit des Lebens. Am flüchtigsten schienen dem Hauptmann Träume von der Bedeutung und Unersetzlichkeit der eigenen Person zu sein. Aber vielleicht kam ein Kunstschaffender nicht ohne die aus.
Da hörte er Rasmus sagen: "Sie bezweifeln das? Der Text verrät es doch!"
"Welcher Text, Herr Professor?"
"Wie, den kennen Sie noch nicht, der fehlt in Ihren Papieren?" Rasmus lächelte, als habe sich ihm der Verdacht bestätigt, dass die örtliche Polizei es an Präzision mangeln ließ, dass sie im Schlendrian versunken sei. "Wo das Meißner gewesen ist, lag die Visitenkarte eines Ratsmitglieds dieses Bezirkes. Auf der Rückseite stand in Druckbuchstaben, wie man sie im Papierwarenhandel kaufen und abreiben kann: Karl Moor lässt grüßen. Ein hübscher Fingerzeig, nicht wahr?"
Wirklich, diesen Text hatte bisher niemand erwähnt. "Sind 'Die Räuber' denn in Ihrem Haus gelaufen?"
"Letzte Spielzeit erst, in meiner Inszenierung. Und zwar modern aufgefasst, was natürlich auf Widerspruch stieß..." Rasmus verlor sich in Einzelheiten der Aufführung, bis Wendt ihm versicherte, selbstredend gehe er der Sache nach.
"Wo nehmen Sie den Faden auf?"
"Kaum bei Ihrem Publikum, es dürfte wohl zu zahlreich sein. Eher schon bei der Herkunft der Visitenkarte, einem möglichen Beweisstück."
"Recht so", sagt der Professor, als wäre Wendt sein Schüler.
"Haben Sie noch mehr Hinweise für mich?"
"Falls Sie auf meine Berufserfahrung anspielen, die ist da wenig wert." Rasmus saugte an seiner Pfeife. "Man bringt schon mal ein Kriminalstück, aber das Theater wird selten froh damit. Es gibt nämlich die goldene Regel, dass der Zuschauer immer etwas mehr weiß als die Akteure auf der Bühne. Folglich müsste er den Täter kennen; da verliert so ein Stück an Reiz."
Plaudernd lüftete er ein paar Geheimnisse seiner Kunst, huldvoll und charmant. Dabei kam Wendt in den Sinn, was man so über ihn hörte: Rasmus sei ein Titan, Diplomat und Dompteur in einer Person, er fordere strikten Gehorsam, ja Unterwerfung; sein Ideal sei die perfekt gesteuerte Bühne mit Monitoren zur Überwachung des Probenbetriebs und Knöpfen zum Abrufen jeder beliebigen Leistung der Darsteller; mehr Arrangeur als Regisseur... So stand er da in den Augen seiner Kritiker und Neider. Das besagte kaum etwas und hatte Wendt nicht zu kümmern. Doch aus dem Gefühl heraus, sich gegen den Mann behaupten zu müssen, fragte er ihn beim Abschied: "Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihr Haus besser zu sichern?"
"Es in eine Festung verwandeln, meinen Sie?"
"Nicht unbedingt. Aber Sie empfangen doch häufig Gäste. Da bleibt es nicht verborgen, was hier so an Werten steckt."
"Meine Gäste dürfen Sie getrost von Ihrer Liste streichen."
"Ich muss mir erst mal eine machen... Ein Schloss vor dem Schuppen, in dem die Leiter war, hätte den Einbruch jedenfalls erschwert."
Im Hinausgehen sagte Rasmus dicht an seinem Ohr: "Genosse Hauptmann, gehen Sie jetzt nicht ein bisschen weit?" Noch leiser, fast schonend, fügte er hinzu: "So können Sie nicht mit mir reden."
Sein Händedruck war fest, Wendt fühlte sich in die Schranken verwiesen. Besonders störend empfand er das freundlich Beiläufige, die milde Glätte des Tadels, die Widerspruch ausschloss. Konnte es sein, dass er den ganzen Einsatz diesem Mann verdankte? Vielleicht hatte Rasmus sich, den Fähigkeiten des Kreisamtes misstrauend, an die Bezirksbehörde gewandt. Er war anmaßend genug für solch einen Schritt und völlig daran gewöhnt, bevorzugt zu sein. Am Ende sollte seinetwegen noch ein Stab zusammentreten und die Gegend zu einem Brennpunkt der Polizeiarbeit erklären. Manchmal riss man sich ja ein Bein aus für Leute, die geschickt auf ihre Vorrechte pochten.
Im Abgang zwischen Ginster und Farnkraut war das Unangenehme der Begegnung dennoch leicht zu deuten. Wahrscheinlich ließ ein Theater sich nur mit fester Hand leiten. Rasmus musste die Interessen und Neigungen buntscheckiger, rivalisierender Talente wohl kräftig bündeln, um in der Kunst zum Ziel zu kommen. Kein Wunder, dass er versuchte, auch im Alltag zu herrschen, Autorität auszuüben. Offenbar sah er sich selbst und seinen Rang in der Gesellschaft deutlich über dem aller anderen Normalsterblichen... Aber was soll's, dachte Wendt, wie immer bemüht, nichts persönlich zu nehmen. Es gehört zu dem Guten, das man Menschen wie dem Professor verdankt, dass sie ganz ungewollt zu Vergleichen anregen und einen an Wesentliches in unserem Zusammenleben erinnern: an die Gleichheit vor dem Gesetz, an das Prinzip der Gerechtigkeit.
Im Wagen fragte er Nauschütz: "Gab's öfter Kummer mit ihm?"
"Ach, es geht so. Nur einmal schlug er großen Krach, vor Jahren, als sein Boot zwei Tage lang verschwunden war."
"Er hat hier ein Boot?"
"Das größte des Segelklubs, einen dreißiger Kielkreuzer. Jeden Sommer gibt er darauf eine Party, zu seinem Geburtstag. Aber einmal war die Jacht eben weg, wir benachrichtigten sämtliche Dienststellen, dabei lag sie nur ein paar Kilometer vom Hafen im Schilf, mit geklapptem Mast, bloß aus der Luft auszumachen. Jemand hatte ihm einen bösen Streich gespielt. Dass ich nicht herausfand, wer, das verzeiht er mir nie."
"Gab es einen Verdacht?"
"Nur Vermutungen. Der Professor ärgert sich manchmal mit Jugendlichen am Liegeplatz herum. Er macht seine Jacht wegen des Tiefgangs nämlich nicht im Klubgelände fest, sondern am Hafenausgang. Dort steckt er die Landzunge ab, beansprucht sie für sich. Die Folge ist, man stopft ihm schon mal eine Kartoffel in den Auspuff – etwas in der Art. Die Entführung allerdings war ein starkes Stück, die hat uns entsprechend beschäftigt."
Das konnte Wendt sich vorstellen. Verschwand ein Boot in Küstennähe, und sei es selbst an der Binnenseite, weit weg vom offenen Meer, wurde immer gleich an Grenzverletzung gedacht... Sie kamen an ein paar ziegelgedeckten Einfamilienhäusern vorbei, erbaut in den späten zwanziger Jahren, wie die Dreieckfenster im Giebel und andere Eigentümlichkeiten ihm verrieten. Das eine zierte der Spruch Schaffen und Streben allein nur ist Leben. An dem nächsten stand, lauschig von Wein umrankt: "Baue nach Lust dein Feld, nach Bedarf dein Haus, und sieh auf die tolle Welt behaglich zum Fenster hinaus." In der Feriensiedlung gab es dergleichen nicht – obwohl, wie der Hauptmann fand, dieses Motto schon dorthin passte. Drückte es doch aus, was für einen Teil der Datschenbesitzer wohl Lebenskunst und letzte Weisheit war. Ihnen fehlte nur die Naivität der Menschen, die vor fünfzig Jahren solch ein Wort noch arglos über ihre Tür gesetzt hatten.
Leutnant Nauschütz hielt vor einem schmalen Fachwerkhaus dicht am Deich. Mit den Wackersteinen des Fundaments, einem winzigen Erker, aufgemalten Ziegeln und den vorgetäuschten Lebkuchen an den Fensterläden gab es sich den Anschein, Menschen als Quartier zu dienen, die das deutsche Märchen liebten. Bereits im Juni war man dort, ohne das Schloss zu zerkratzen, mit einem Zweitschlüssel eingedrungen, unbeirrt vom Geist der Romantik und dem harmlosen Gemüt der Bewohner, um ihnen das alte Zinn zu stehlen. Leider waren sie nicht da, das halbrunde Tor mit dem Bronzeklopfer blieb verschlossen.
"Pech", sagte Nauschütz. "Übernachten Sie doch bei mir! Morgen ist Freitag, da kommt das Ehepaar Mau immer heraus."
Wendt aber fand, der Leutnant habe schon genug für ihn getan. Und so trennte er sich von ihm auf dem Damm, der Cumin bei ablandigem Wind vor dem Hochwasser des Boddens schützt. Im sinkenden Tag wandte er sich dem Hafen zu, das Gras wurde allmählich feucht. Eine Zeitlang tat es ihm gut, leicht fröstelnd auf einer Bank zu sitzen – Grübeln schadete nur –, also an nichts zu denken und das Trugbild der Natur zu genießen. Unter einem Wolkenband loderte der Horizont in düsterem Orange, schwarz spießten Weidenruten und Bootsmasten in die Glut. Das Abendlicht hatte etwas geheimnisvoll Gütiges und Tröstliches, obschon es langsam an Kraft verlor.
Ein paar Lampen flammten auf, als er durch steigenden Dunst auf den "Blauen Anker" zuging, wo man um diese Jahreszeit, laut Nauschütz, auch unangemeldet ein Zimmer bekam. Kühle wechselte ab mit Wellen lauer Luft, das Wasser verströmte noch Reste der Sommerwärme, ein Jahrhundertsommer sollte es gewesen sein, was aber hatte er gebracht außer Dürre und Beunruhigung? Bald roch es nach welken Dahlien, bald nach Abwässern, die von irgendwoher säuerlich in den Bodden sickerten. Neben der Tür des Gasthofs blinkte ein Stapel Aluminiumfässer... Auf den Stufen holte es ihn ein, das Gefühl von Leere und Vergeblichkeit. Es war wieder da, ließ sich nicht deuten, durch keinen Willensakt abschütteln. Nur von selber zog es sich zurück, unwillkürlich, vielleicht überdeckt von seinem Tun, sofern die Arbeit voranging. Schaffen und Streben allein nur ist Leben...
Das Lokal, warm beleuchtet und schwach besucht, glich einem Zufluchtsort Gestrandeter, von Leuten ohne Heim, einer dunkel getäfelten Höhle voller Tabakrauch, Fischgeruch und dem Dunst siedenden Öls. Im Hintergrund des Raumes hockten Skatspieler unter einem schwebenden Schiffsmodell beim Bier, zwei Tische neben Wendt trank ein junges Paar schäumenden Sekt, ein Bild, das ihn neidisch machte. Fremd war er, spürte keinen Kontakt zu dem knappen Dutzend Menschen; manche sprachen Platt, was ihn noch mehr von ihnen trennte. Wer hier saß, der wich der Fernsehunterhaltung oder seinem Ehepartner aus, rettete sich in eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. Die Urlauber hatten das Feld geräumt, man war wieder unter sich.
Am Holztisch mit dem karierten Deckchen brütete Wendt vor seinem Bier, achtete auf kein Gespräch, hörte kaum die Musik, die da vom Tonband lief. Wieder neigte sich ein Tag, äußerlich bunt, im Kern jedoch farblos; fad reihten sie sich seit Monaten aneinander. Der Fall, der ihn herführte, schien so verzwickt wie all das Übrige, in das er verwickelt war – von seiner privaten Situation bis zur Weltlage. Wie oft am Abend fühlte er sich nutzlos, verbraucht und ausgelaugt; nur morgens beim Aufstehen war es manchmal noch schlimmer. Man kam halt schwer darüber hinweg, wenn einem nach soviel Jahren die Familie zerbrach, es war dann eigentlich kein Leben mehr.
Aus dem Qualm und Talmi hinter der Theke, all den wie zum Kundenfang ausgespannten Netzen, Schwimmkugeln und sonstigem Beiwerk der Seefahrt, Fischerei und Gemütlichkeit löste sich die Gestalt des Wirts, der immer wieder verschwand, als sei er sein eigener Koch. Gebratenen Zander schob er ihm hin, das Paar nebenan bekam die zweite Flasche Sekt, sacht drehte der Wirt den Korken heraus und goss nach.
Dann geschah ein kleines Wunder. Das Mädchen hatte Wendt bemerkt, sie trank ihm übermütig zu. Verdutzt hob er sein Glas, reflexhaft, ohne zu ahnen, dass es einer der Augenblicke war, die man nicht mehr vergisst. Sie mochte Mitte Zwanzig sein, hatte aschblondes Haar, schulterlang, mit hellen Spitzen, ausgebleicht vom Jahrhundertsommer; viel mehr nahm er gar nicht wahr. Der junge Mann drehte sich kurz zu ihm um, streifte ihn mit einem wachen und, wie es schien, triumphierenden Blick.
Als Wendt den Teller wegschob und wieder hinsah, tanzte das Mädchen zwischen den Stühlen vor einem Rettungsring – allein, verhalten, fast auf dem Fleck. Ihr Begleiter klatschte den Takt, er blickte drein, als tanze sie nur für ihn; doch ihr Körper verriet, sie tat es einzig für sich. In ihren Bewegungen lag etwas Fließendes, Sinnliches, ein bedingunsloser Glaube an die Verheißungen der Welt. Wer so aussah und so alt war wie sie, der erwartete ja noch viel Köstliches. Den Hauptmann berührte der Überschuss an Lebenslust, das Ungenierte, das aus ihrem Auftritt sprach. Und plötzlich sehnte er sich nach dem Zauber jener Zeit, in der auch er so unbeschwert und voller Hoffnung gewesen war.
Aus diesem Impuls heraus applaudierte er ihr am Ende des Lieds. Es war ein Schlager der Saison, Vamos a la Playa, "Auf zum Strand", ein doppelbödiger Titel, der vom Ausbruch eines Atomkriegs handelte, unbemerkt von fast allen, die danach tanzten. Ein hämmernder Song, die öde Tonfolge – man konnte es kaum Melodie nennen – haftete in Wendts Ohr; so oft er sie auch noch hörte, versetzte sie ihn in den "Blauen Anker". Ganz wie Puderduft oder das Gefühl von Samt ihm die Theaterbesuche seiner Kindheit zurückbrachte. Und wie die Erinnerung an Helga, seine Exfrau, verknüpft war mit dem Lockruf der Tauben auf der Fernsehantenne vor ihrem Zimmer, in dem sie sich liebten.
Die zwei machten ihm Zeichen, da wechselte er hinüber an ihren Tisch. "Ich bin Udo", sagte der junge Mann, winkte ein drittes Glas herbei und füllte es ihm. "Das ist Jenny..."
"Christian", sagte Wendt.
Udo trug einen Vollbart, das blonde Haar wuchs ihm tief in die Stirn, seine dicken Brauen liefen in sandfarbene Büschel aus. Der Haarwuchs tarnte drei Viertel seines verwegenen Gesichts. Er sei Fischer, erklärte Udo, die Reaktion belauernd, als rechne er mit Erstaunen oder gar Geringschätzung. Und zwar der größte, fügte Jenny hinzu, der jüngste und erfolgreichste auf diesem Bodden. Udo winkte ab. "Das war einmal. Du holst nichts mehr heraus. Am einen Ende die Giftbude, am anderen das Rindvieh, die verdrecken uns das Wasser..." Über der Lehne hing seine Lederjacke. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Rallye, das seine Muskeln hervorhob. Jennys Kleid dagegen verhüllte die Figur, es bestand aus asymmetrischen Farbfeldern und ähnelte einem Flickenteppich, den ein breiter Gürtel zusammenhielt. Sie war ziemlich groß und hatte etwas alkoholisch Gelöstes, Leichtfertiges an sich. Ihre braunen Augen schimmerten bald zärtlich, bald herausfordernd, je nachdem, wen sie ansah.
"Wir feiern etwas", sagte sie. "Merkt man uns das an?"
"Verlobung, in aller Stille?"
Sie schüttelte den Kopf. "Ach, das errät keiner... Und Sie? Etwa noch im Urlaub?"
"Nein, ich bin auf der Durchreise." Was er trieb, war ihnen gleichgültig, sie hatten nur Augen füreinander, auch wenn sie mit ihm sprachen, dies übrigens ganz unbeschwert.
Udo kannte nur ein Thema, seinen Beruf, wobei er es fertig brachte, im selben Atem darauf zu schimpfen und davon zu schwärmen. Einerseits das Sinken der Erträge durch Verschmutzung, das Chemiewerk mache Dreck wie eine Großstadt, lieber zahle es den Fischern, also ihrer Genossenschaft, Schadenersatz, als dass es neue Filter einbaue. Und das volkseigene Gut habe die Wiesen überdüngt, im Winter sehe man, dass in jener Ecke kaum mehr das Wasser gefriere. Zwar, der Zander möge trübes Wasser, nur, was zuviel ist, ist zuviel... Doch andererseits, noch war man immerhin sein eigener Herr, in freier Natur, kein Tag glich dem anderen, schlug das Wetter mal um, wenn man draußen war, forderte der Job den ganzen Mann.
Jenny sagte: "Hart und schwer ist das Leben der Männer an der Küste."
Es störte ihn nicht, dass sie ihn aufzog. "Aber ich hab's mir ja so ausgesucht. Von klein auf wollt ich Fischer werden. Und wissen Sie auch, warum?"
"Keine Vorgesetzten? Oder die frische Luft, das Naturerlebnis?"
"Mein Großvater! Der ist mein Vorbild gewesen. Es hieß doch früher 'die armen Fischer', aber der hat 'ne Menge Kohle gemacht mit seiner Nase für den Fisch. Hat immer gewusst, wo und wie die Schwärme ziehen."
"Es muss erblich sein bei euch Kerlen, das Gespür", sagte Jenny.
"Das ist wie mit dem gewissen Etwas einer Frau..."
"... man hat's oder hat's nicht?"
"Beruhige dich, du hast es."
"Es liegt euch im Blut, seit der Steinzeit ungefähr. Das älteste Gewerbe an der Wasserkante! Gleich nach den Jägern und Sammlern."
"Der Mann ist vielseitig gewesen, so clever, das stellst du dir gar nicht vor. Fisch war spottbillig damals, damit allein konntest du nichts werden, da ging er eben ins Spritgeschäft."
"Spritgeschäft?", fragte Wendt.
"Wissen Sie, hier gab's eine Schmugglertradition seit Napoleon; später noch mit solchem Zeug wie Salz. Dann, in den zwanziger Jahren, kam das Alkoholverbot in Skandinavien. Da ist Großvater bis Schweden und Finnland geschippert, lauter schöne Flaschen an Bord. Das waren noch Zeiten. Der hat immer gewusst, was anlag, auch wenn er mal voll gewesen ist."
Erstaunt darüber, wie schnell man Bekanntschaft schloss, seinem Vorurteil zum Trotz, spürte Wendt, dass der Alkohol sich wärmend in ihm verteilte. Vermutlich, so sagte er sich, empfand nur er das Außergewöhnliche eines wohltuend raschen Kontakts. In Wahrheit war es eine der alltäglichen Situationen, in die ein Kriminalist geriet, wenn er außerdienstlich unter Menschen ging. Die beiden brauchten ihn als Echowand, als Spiegel ihres Glücks, darüber hinaus wollten sie von ihm so wenig wie er von ihnen. Es war entlastend, ja anheimelnd, einfach so dazusitzen und zuzuhören. Arglos spann Udo sein Garn, beschrieb die unglaublichen Streiche seines Großvaters, Straftaten, wenn auch längst verjährt, die er unverhohlen bewunderte. Ach was, Straftaten, urige Geschichten! Wendts Fehler war, überall sah er Spuren von Kriminalität oder doch zumindest Ordnungswidriges wie ein schlecht gefülltes Bierglas oder Leute, die bei Rot über die Straße liefen – als hätte sein Beruf sich tief in ihn eingefressen. Der selektive Polizistenblick, geschult in zwanzig Jahren, brachte zur Schärfe auch Verengung mit sich; in diesen Minuten ging ihm das auf.
"Schade, das ist vorbei", hörte er Udo sagen. "Sonst hätte er mich darin noch angelernt! Man muss wissen, ihm ist manches Ding passiert, nur zweierlei hat er nie gemacht: den Kutter auf Grund gesetzt und die Frau im Stich gelassen. Abgehauen ist er bloß vor den Zöllnern. Zuhaus, da war er treu wie Gold." Er sah Jenny groß an. "Das liegt bei uns gleichfalls in der Familie."
"Wie hat er den Erlös denn angelegt?" Ja, Wendt konnte es nicht lassen, nach dem Verbleib der Beute zu forschen.
"Immer wieder im Geschäft. Und ein schönes Heim gebaut, richtiges Kapitänshaus mit Ziegeldach und Bullauge auf dem Lokus... Bis dann im Krieg bei den Angriffen auf Peenemünde eine Bombe alles zerdeppert hat. Zufall, wie das Schicksal so spielt. Nur das Zeesenboot ist noch von ihm und sein Messingkompass, den hat er mir geschenkt."
Als die zwei gingen, sah der Hauptmann ihnen nach in dem Gefühl, ihm schlage eine Tür vor der Nase zu. Sie waren so jung, so unverbraucht und voller Vertrauen in die Zukunft! Er bat um ein Zimmer, und später, in dem klammen Bett, merkte er, der Abend hatte ihn auf seltsame Art gestärkt. Etwas von der naiven Zuversicht, von der Ausgelassenheit des Paars hatte sich auf ihn übertragen. Vielleicht wurde auch mit ihm selber bald alles gut.
Zwar stimmte es, und daran hielt er fest, man konnte umso fröhlicher sein, je weniger man nachdachte und vom Leben verstand. Die beiden fragten gar nicht erst nach irgendeinem Sinn, sie lebten einfach und liebten sich, das war ihnen genug, ihr ganzes Geheimnis. Womöglich aber lohnte der Versuch, ihnen wider besseres Wissen darin zu folgen: zu handeln, als ob sein Tag noch ausgefüllt und die Welt ganz in Ordnung sei? Anstatt zu grübeln, die Wunde offen zu halten, dem Vergangenen nachzutrauern. Bestimmt ging's ihm besser, wenn er, wie die meisten Menschen, schlicht das Nächstliegende tat, ohne das Übernächste zu kennen.
Mit diesem Vorsatz schlief er ein. Doch es war nicht so leicht, dem allen zu entfliehen. Wirre Träume suchten ihn heim, mit Irrläufen durch Korridore, in denen er auf Professor Rasmus stieß. Der hatte Augen wie beschlagenes Porzellan, er spornte ihn an mit dem Satz, Störtebeker sei hier. Wie fast in jeder Nacht fuhr Wendt auf, pünktlich um zwei. In seinem Kopf saß ein rhythmisches Rauschen von zu hohem Blutdruck. Er nahm eine der Pillen dagegen, die ihn durstig machten und später erneut wecken würden. Zunächst tauchte er wieder in das Labyrinth der dumpf hallenden Türen. Eigentlich gab es keinen zwingenden Grund dafür, durch die Gänge zu irren; nur den einfachen Wunsch, das Ende des Traums zu erfahren.