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Fünf Leben. Ein Mann und fünf Leben? Und wer ist eigentlich dieser Gundlach, Hans Gundlach, der sich zu Beginn dieses Buches aus Köln wieder einmal ins Ausland aufmacht: „Herr Doktor“, sagte die Sekretärin, als Gundlach vom Essen kam, „Herr Direktor Winter bittet Sie in zehn Minuten zu sich. Er hat auch etwas geschickt, drinnen auf Ihrem Schreibtisch.“ „Was will er denn?“ Achselzucken, wie üblich; diese Frau wusste niemals mehr, als man ihr sagte. „Es klang sehr dringlich.“ Bestimmt wieder ein Feuerwehreinsatz, Trip ins Ausland, etwa in dieses Drecknest Kairo. Oder nach Übersee, Indien oder Schwarzafrika, wo es dauernd haperte. Ach, er hatte es satt. Die Rheinische Industrie AG stand da in Ländern wie Zaire und Mali als Lichtbringer im Chaos. Und nahm der Ärger überhand, schickte man gern ihn, Hans Gundlach, mit seinen drei Fremdsprachen und der Verhandlungsgabe, die ja bloß Einfühlung war, die Kunst, sich mehr intuitiv als vernunftmäßig in den Partner zu versetzen. Meist gab man ihm einen Wirtschaftsfachmann, Juristen oder Diplomingenieur mit, jemanden aus der Projektierung oder vom Personalbüro, je nach Art des Problems. Er war der vierte Mann in der PR-Abteilung des Konzerns, sein eigener Kram, die Öffentlichkeitsarbeit in der Dritten Welt, blieb dann liegen, aber was half’s: Der Gundlach wird's schon richten. Diese Szene spielt im Herbst 1980 und Gundlach soll in El Salvador die Auslösung des dort entführten Filialleiters überwachen. Ein Detektivbüro soll ihn für 1,5 Millionen Dollar freikaufen. Und das scheint auch alles zu sein, was ihn außer seiner Karriere und seinem Leben interessiert. Denn Gundlach gerät in El Salvador in nicht geringe Schwierigkeiten. Aber irgendwann muss er sich selber auf die Schliche kommen: Eine wichtige Erfahrung - damit hatte Gundlach nicht gelogen. Wohin führte sie ihn, was wollte er jetzt? Zunächst einmal Klarheit über sich selbst. Nach diesem Gespräch beschäftigte ihn die Frage, was für ein Mensch er eigentlich war. Was machte ihn denn glücklich, wonach hatte er gestrebt? Bisher nach dem Üblichen: Geld, Erfolg, Karriere. Er war überzeugt, dass man sich im Kern niemals änderte. Die Wechselfälle des Lebens - Schicksalsschläge, beruflicher oder politischer Wandel - gaben dem Streben womöglich eine andere Richtung, ließen den Kern jedoch unberührt. Mehr und mehr wird Gundlach jedoch in die politischen und sozialen Kämpfe El Salvadors hineingezogen. Und das hat auch mit einer schönen Frau zu tun, Gladys Ortega.
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Seitenzahl: 471
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Wolfgang Schreyer
Die fünf Leben des Dr. Gundlach
Roman
ISBN 978-3-86394-109-3 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1982 bei Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB), Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Für Charlotte
"Herr Doktor", sagte die Sekretärin, als Gundlach vom Essen kam, "Herr Direktor Winter bittet Sie in zehn Minuten zu sich. Er hat auch etwas geschickt, drinnen auf Ihrem Schreibtisch..."
"Was will er denn?"
Achselzucken, wie üblich; diese Frau wusste niemals mehr, als man ihr sagte. "Es klang sehr dringlich."
Bestimmt wieder ein Feuerwehreinsatz, Trip ins Ausland, etwa in dieses Drecknest Kairo. Oder nach Übersee, Indien oder Schwarzafrika, wo es dauernd haperte... Ach, er hatte es satt. Die Rheinische Industrie AG stand da in Ländern wie Zaire und Mali als Lichtbringer im Chaos. Und nahm der Ärger überhand, schickte man gern ihn, Hans Gundlach, mit seinen drei Fremdsprachen und der Verhandlungsgabe, die ja bloß Einfühlung war, die Kunst, sich mehr intuitiv als vernunftmäßig in den Partner zu versetzen. Meist gab man ihm einen Wirtschaftsfachmann, Juristen oder Diplomingenieur mit, jemanden aus der Projektierung oder vom Personalbüro, je nach Art des Problems. Er war der vierte Mann in der PR-Abteilung des Konzerns, sein eigener Kram, die Öffentlichkeitsarbeit in der Dritten Welt, blieb dann liegen, aber was half’s: Der Gundlach wird's schon richten.
Er griff nach der "Frankfurter Allgemeinen", die da von Winter kam; er hatte Reiseunterlagen erwartet. Wichtiger übrigens als das Problem und das Ziel war ihm, wer diesmal mitkam. Hoffentlich nicht Winter selbst. Mitte Fünfzig war der, zwanzig Jahre älter, vierzig Pfund schwerer, zwei Firmenränge höher - na, da gab's halt kaum Kontakt. Gundlach hatte ihn einmal begleitet und davon noch genug! Privat schien Winter ein armer Hund, sexuell enttäuscht wie viele in dem Alter. Das ging Gundlach so recht erst beim Rückflug auf, als Winter nach zwei, drei Kognaks anfing, die Stewardess zu necken und auch die Namen der Fluglinien zu verballhornen. Aus Pan-Am machte er: "Passengers are not Allowed mating" - Passagiere dürfen sich nicht paaren, SAS hieß "Sex After Service", und die Lufthansa wurde bei ihm zur Lusthansa; ein gestresster Manager eben, der unterwegs mal Dampf ablässt. Gundlach erinnerte sich daran bloß, weil er selber bei "Lufthansa" noch eins draufgesetzt hatte, um den Mann zu erfreuen: "Let us fuck the hostess as no Steward available" - treiben wir's mit der Hostess, da kein Steward verfügbar. Erbärmliches Gewitzel, geschmacklos, man konnte auch Anpassung übertreiben. Obendrein war er Winter gar nicht nähergekommen, dem gab jeder Flugkilometer heimwärts ein Stück seiner Würde zurück.
Was sollte ihm das? Ein Jahr war die Zeitung alt, vom Dienstag, dem 16. Oktober 1979... Gundlach ging die Annoncen durch, sein Revier, doch die RIAG hatte in dieser Nummer überhaupt nicht inseriert. Dafür stieß er im Feuilleton auf eine zweiseitige Großanzeige, von Winters Grünstift angekreuzt. Unter der naiven Schlagzeile "An die Menschen der Welt" sieben Textspalten, drei unscharfe Horrorfotos, eine Statistik und das Emblem einer ominösen "Revolutionären Partei Zentralamerikanischer Arbeiter"! Keine Produkt-, eher Sympathiewerbung; das Inserat warb um Verständnis für einen Umsturz in Mittelamerika. Übrigens entschuldigte die Redaktion auf Seite 2 den Abdruck mit Erpressung.
Gundlach überflog den Text nur eben; eine Bleiwüste mit schaurigen Oasen. Zu verschroben klangen hier Kampfparolen wie "Lang lebe das Recht des salvadorianischen Volkes auf einen revolutionären Befreiungskrieg!" und die bizarren Anklagen aus dem Blickwinkel eines fernen, tropischen Untergrunds. Was richtete so etwas in Deutschland denn aus? Den Rebellen fehlte offenkundig ein PR-Mann, der ihnen die Selbstdarstellung und das Feindbild aufpolierte, beides war irgendwie trüb, verschleiert, von Hass und Schwulst entstellt; jemand wie er, Gundlach, hätte es entzerrt und effektiv gemacht, dank seiner Vergangenheit war er genau der Mann dafür gewesen. Denn mit 53 250 Mark, dem Listenpreis für die "FAZ"-Doppelseite, hätte sich etwas publizieren lassen, das den Leuten unter die Haut ging... Was eigentlich bezweckte Winter jetzt damit? Sollte es mit der Arbeit in El Salvador zusammenhängen, etwa diesem Hafenausbau?
Während Gundlach hinauffuhr in die Chefetage, kam ihm eine Erinnerung. Im vorigen Herbst waren zwei nordamerikanische Geschäftsleute dort an der Pazifikküste entführt worden; ihr Fahrer und der Leibwächter kamen bei der Sache um. Eine der fast schon alltäglichen Geiselnahmen in dem kleinen Land. Die Aktion hatte aber nicht nur wie sonst einen Berg Lösegeld gekostet, sie diente auch noch für einen Propagandacoup. Die Drohung mit dem Tod der Geiseln nämlich war der Hebel, mit dem die Täter ihr Manifest als Großinserat in die "Frankfurter Allgemeine" pressten; übrigens auch in die "New York Times", die "Los Angeles Times" und ein Dutzend weiterer Blätter wie "Le Monde" und den Londoner "Daily Mirror", Englands Bildzeitung. Ja, nun fiel es Gundlach wieder ein: Beckman Instruments Inc., Los Angeles, hieß die leidtragende Firma; die zwei Geiseln waren ihre Filialleiter in El Salvador gewesen.
Der Fall stand gar nicht einzig da. Vor zwei, drei Jahren schon hatte es solch ein Zwangsinserat argentinischer Guerrilleros in der "Süddeutschen Zeitung" gegeben, bezahlt von dem Konzern Bunge & Born in Buenos Aires. Die Entführung eines Mercedes- Direktors, auch in Argentinien, ergab eine Annoncen-Kampagne auf Kosten von Daimler-Benz. Und der Elektroriese Philips, dessen Manager in El Salvador gekidnappt worden war, musste in 32 Ländern eine zweiseitige Anzeige finanzieren, die dem Regime des Kaffeestaats das Übliche vorwarf: Demagogie und Verbrechen wie Korruption, heimliche Massaker und "bestialischen Sadismus", belegt mit den Fotos Gefolterter, ganz wie hier... Mehrmals traf es auch japanische Konzerne. Doch jetzt sah es so aus, als sei die eigene Firma dran.
"So ist es", sagte Winter, als Gundlach vor ihm saß. "Sie ziehen den richtigen Schluss aus dem, was ich Ihnen zur Einstimmung schickte; wie von mir auch nicht anders erwartet. Ja, diesmal hat es uns erwischt, und zwar gestern Abend, nach Ortszeit drüben exakt um zwölf Uhr mittags. High Noon mitten in der Hauptstadt."
"Gibt es Opfer?"
"Bis jetzt - nein. Es scheint nicht so. Herr Dorpmüller ist offenbar unserer Weisung gefolgt, in solchen Fällen keinen Widerstand zu leisten." Winter sagte das leiser, er hielt den Kopf schräg und sah auch zu Boden, vielleicht weil man einem Entführten, selbst wenn er noch lebt, Respekt und Bedauern schuldet. Dann fasste er sich, blickte wieder geschäftsmäßig drein. Er hatte kleine, eng zusammenstehende Augen, getrennt durch zwei senkrechte Linien der Sorge und Enttäuschung, die sich oft ablehnend vertieften. Mit dem leicht hängenden Mund unter der messerdünnen Oberlippe war es weiß Gott kein angenehmes Gesicht. "Nun geht's Zug um Zug", fuhr er fort. "Die Forderung hat uns heute früh schon erreicht, sie lautet auf anderthalb Millionen Dollar... Noch eine Stange Geld dürften die Anzeigen kosten, zu denen man uns außerdem zwingt."
"Soll ich das übernehmen?"
"Ach was, das macht eine Schweizer Agentur! Wie kommen Sie darauf? Da wird rein mechanisch so ein pathetischer Text in die Weltsprachen übersetzt und geht an die Blätter - dazu sind Sie mir zu schade", fügte Winter hinzu, indem er den Stachel seines Tadels floskelhaft abstumpfte. "Kaum unsere Sache, da auch noch auf Qualität zu sehen."
"Gewiss nicht. Was also kann ich tun?"
"Hinfliegen; möglichst heute noch."
Gundlach schwieg; das kam zu rasch und schien doch unumgänglich. Er spürte ein Lauern und sah Winter an mit jenem kleinen Lächeln, das, wie er hoffte, zugleich selbstbewusst und verbindlich war. Gundlach hatte Erfolge im Beruf und Erfahrungen mit Frauen gewonnen, beides verleitete ihn manchmal, eine etwas geckenhafte Überlegenheit zu zeigen, die andere, weniger Glückliche, schlecht vertrugen. Er wusste das und nahm hier alles, was sein Wertgefühl verriet, von vornherein zurück. Aber musste man ihn herausfordern? Winters Augen - nun, die hatte er nie gemocht. Meist schienen sie etwas abzuschätzen, zu berechnen. Der Blick wirkte unpersönlich, dennoch listig... Jetzt kam es ihm vor, als warte der Mann auf sein Erschrecken. Doch den Gefallen würde er ihm nicht tun. Denn schließlich wünschte Winter - so gern er andere einschüchterte und das bisschen Macht, ihm vom Vorstand verliehen, schmecken ließ - ja keine schreckhaften, sondern fähige Helfer.
"Gut, Herr Direktor. Ich lasse gleich die schnellste Verbindung buchen. Wie steht es mit dem Lösegeld?"
"Es ist völlig klar, dass wir zahlen. Jedes Zögern wäre unverantwortlich riskant... Zwei Drittel sind übrigens durch die Versicherung gedeckt."
"Ich meine, wie soll es übergeben werden und wie von mir hingebracht? Als Kreditbrief oder Scheck für unsere Bank in San Salvador? Oder kann dort außer Herrn Dorpmüller noch jemand über solch einen Betrag verfügen? Also in welcher Form..."
"In keiner Form. Damit haben Sie nichts zu tun. Wir sind uns einig, den finanziellen Teil durch ein amerikanisches Detektivbüro abzuwickeln - Spezialisten, Profis für Auslösungen. Mit denen treten Sie vor Ort in Kontakt; die Einzelheiten sind in dieser Akte."
Gundlach befühlte eine der grünen Mappen, die in der Chefetage benutzt wurden, wagte aber nicht, die Zellophanfächer aufzuschlagen. "Die Agenturmeldung dürfte heraus sein, es kommt sicher heute in der 'Tagesschau', dennoch ist Vertraulichkeit angebracht", hörte er Winter leicht krächzend sagen. "Noch etwas unklar? Mir scheint, ich hab Ihnen alles erklärt."
"Bis auf einen Punkt. Wo genau liegt meine Aufgabe, wenn ein Detektivbüro die Arbeit macht?"
"Na, um offen zu sein - Ihre Entsendung ist zunächst mal eine Geste. Wir haben ja ein paar gute Leute dort, die US-Detektive sind zweifellos tüchtig, aber natürlich schulden wir dem Betroffenen einen persönlichen Empfang durch einen Vertreter der Firmenleitung, nicht wahr, das leuchtet doch ein..."
Winters Gleichmut war verblüffend, wuchtig saß er da, in gesundes festes Fett verpackt, wie ein Fels hinter seinem Schreibtisch - Verkörperung der Beständigkeit dieses weltweit tätigen Konzerns. Wie peinlich es Gundlach auch war, sich selbst und den Entführten darin als Nummer zu finden, als Schachfigur, so gab er doch zu, dass es dumm gewesen wäre, sich deshalb zu erregen. Solch ein Vorfall hielt den normalen Geschäftsgang ja nicht auf. Und für Dorpmüller wurde getan, was zu tun war; besser, es geschah nicht gefühlvoll und stümperhaft, sondern so eiskalt gekonnt wie hier.
"Allerdings, sollten sich Komplikationen ergeben, dann zählen wir dort auf Sie", schloss Winter, wobei er sich erhob, um mit professioneller Herzlichkeit die letzte Ölung zu geben. "Denken Sie daran, Herr Gundlach, Sie gelten als einer unserer erprobten Troubleshooter. In dem Fall stünde also Ihr Ruf als Pannenhelfer, als Durchreißer auf dem Spiel... Na, ich wünsche Ihnen und uns nichts dergleichen. Auf Wiedersehen und guten Flug!"
Wieder unterwegs, dachte Gundlach, als die dreistrahlige DC-10 vom Rhein-Main-Flughafen abhob; meist auf Reisen und am Aufreißen, wie sein Stellvertreter Friedrichs spitz bemerkt hatte, weil Gundlach gut mit Damen auskam, auch an Bord, ob sie nun Flugbegleiterinnen oder Passagiere waren. Es half ihm nur über die Stunden hinweg, das Reisen hatte ihm niemals viel bedeutet: dröhnende, säuselnde Langeweile. Da hatte er sich gefragt, wer ihn begleiten würde, und nun flog er allein. Man hatte den Hinweis, sein Spanisch reiche nicht für ein Verhandeln auf Leben und Tod, weggewischt - er möge drüben einen Dolmetscher nehmen. Es war eben eine formale Mission, das Sagen hatten andere; die US-Detektive lösten Dorpmüller aus, die Schweizer Agentur verschickte das Zwangsinserat, der Versicherungskonzern überwachte die Finanzierung. Gundlach flog bloß als Empfangschef hin.
Wozu dann die Hast? Zug um Zug, hatte Winter gesagt, was nach Cash-and-carry klang, der amerikanischen Klausel für Barkäufe, bei denen man die Ware selbst abholt und das volle Risiko trägt. Aber Gundlach bezweifelte, dass dieser Fall sich zügig abwickeln ließ, obschon es der Gegenseite, neben dem bisschen Publizität, nur ums Geld ging. Schon normale Abschlüsse verzögerten sich leicht, dieser war schließlich kriminell, das zwang zur Vorsicht. Nach allem, was er von Entführungen wusste, ging das Auslösen kaum blitzartig vonstatten. Oder sollten die US-Profis das Geschäft rationalisiert, den Ablauf auf zwei, drei Tage verkürzt haben?
Möglich. Die Fälle häuften sich derart, dass es schien, als sei darin Service entstanden: Hilfe bei Entführung. Ein stabiler Markt gewiss, allein in El Salvador, das nicht größer war als Hessen, hatten Kidnapper im letzten Jahr 50 Millionen Dollar an Lösegeldern kassiert, schenkte man den Unterlagen Glauben. Gut, mit dem Geld hatte Gundlach nichts zu tun, den drei Millionen Mark, die sie ihm vielleicht nicht anvertrauen mochten, weil das immerhin eine Versuchung war nicht nur für einen unverheirateten Mann wie ihn. Trotzdem, es hätte ihn gereizt, Dorpmüller rauszupauken. Den kannte er von einer einzigen Begegnung an jenem Staudamm mitten im schwärzesten Afrika.
In seiner Erinnerung war Dorpmüller ein etwa sechzigjähriger, höchst beweglicher Mann mit ziemlich kahlem Schädel und etwas hervorquellenden Augen. "Mit unserer Technik allein ist es leider nicht getan", hatte Dorpmüller damals ungefähr gesagt. "Hier müssten Leute sein, die bleiben. Es fehlen Erfahrung und Kontinuität. Man braucht Jahre, um sich einzuleben und einzuarbeiten, um die Menschen zu verstehen. Irgendwie müssten unsere Schritte ja mit deren Lebensart in Einklang gebracht werden. Sehen Sie sich doch mal an, wie sich zum Beispiel das Aufstauen sämtlicher Gewässer auf die Landbevölkerung und ihre Umwelt auswirkt..." Vielleicht haftete das in Gundlach, weil es mehr Nachdenken und Mitgefühl verriet als gewöhnlich. Mit dem Segen des Wassers hatte sich nämlich Bilharziose ausgebreitet, eine schlimme Wurmkrankheit. Sie kam aus den überschwemmten Reisfeldern, aus malerischen Teichen und blockierten Flussläufen, in denen Kinder plantschten und ihre Kalebassen vollschöpften für die Hausgärten oben am Ufer... Ein Mann, den das schmerzte! Mein Gott, wie oft geschah es, dass ein Schlag den Falschen traf.
Und dem sollte er bloß die Hand schütteln im Namen der Firmenleitung, ihn heimgeleiten in den Sonderurlaub, der in solchen Fällen gewährt wurde? Statt einer Aufgabe - Stumpfsinn, Routine. Das Menü, jetzt über der Biskaya serviert, war auch wie üblich. Beim Essen brach der Überdruss durch, er fing an, mit den Namen der Fluglinien in Winters Stil zu spielen: EL AL, Entführer Landen Als Leichen. BOAC, Better On A Camel. JAT, Jesus And Tito. TWA, The Worst of All... Zu Pakistans PIA gab es zwei Deutungen: Perhaps I Arrive, vielleicht komme ich an; Please Inform Allah, sagt bitte Allah Bescheid.
"Haben Sie noch einen Wunsch?" Die Stewardess nahm das Tablett weg. Ein bisschen erinnerte sie ihn an Sylvie. Er stand auf, die erste Klasse war schwach besetzt. Er fand Sylvie II hinten bei der Bordküche und blieb stehen. "Das ist doch der Typ, mit dem letztes Jahr an die dreihundert Menschen abgestürzt sind - macht Ihnen das gar nichts?"
"Es ist alles geschehen, damit es sich nicht wiederholt, Sir. Das ist ein wirklich sicheres Flugzeug."
"Aber es hatte doch fünf Wochen Startverbot. War nicht ein Triebwerk herausgefallen? Na, es wiegt ja auch acht Tonnen."
Statt der vorgeschriebenen Antworten - dass dies kein Konstruktionsfehler, sondern Materialermüdung gewesen sei, der man mit stark verkürzten Kontrollintervallen begegne - lächelte sie ihn von unten her an. "Wenn Sie all das wissen, wieso riskieren Sie's dann?"
"Nicht ich, mein Chef. Der glaubt nämlich, ich will seinen Job."
"Und, hat er recht?"
Sie gefiel ihm sehr. Er hätte gern die Nacht mit ihr verbracht, falls es sich hätte einrichten lassen. "Wir pausieren in Panama", hörte er sie sagen. "Bleiben Sie dort?" Es klang wie ein Angebot. Er schüttelte den Kopf und murmelte: "El Salvador."
"Sie müssen mutig sein; da wird viel geschossen."
"Wen stört das schon zu Hause."
"Wird Ihr Chef Sie nicht anders los?"
"Ach, um genau zu sein: Ich war in der Firma der einzige, der wusste, wo das Land liegt."
Nun musste sie Kaffee kochen, er ging zurück auf den Platz. Es hatte nichts genützt, der Trübsinn war geblieben. Die Sonne sank widerstrebend, weil man gegen die Erddrehung anflog. Einmal hatte Gundlach die Sonne sogar ostwärts sinken sehen. Das war, als die spitzschnablige Concorde ihn zwischen Frühstück und Lunch in 225 Minuten von Paris nach New York gebracht hatte. Zwanzig Prozent Aufschlag auf das Erste-Klasse-Ticket, die Bordtoiletten eng wie die Zersägekisten eines Zirkuszauberers, das Fauchen und Winseln in violetter Höhe... Die Maschine flog noch trotz des letzten Ölpreisschubs; gewöhnlich nur halb besetzt, verfeuerte sie pro Passagier eine Tonne Kerosin über dem Atlantik; viermal soviel wie ein Jumbo. Fast hätte Winter ihn in der Concorde via Caracas oder über London nach México City gehetzt.
Immer in närrischer Hast! Aber das Tempo beschwingte und betäubte ihn, täuschte Tatenlust vor, enorme Wirksamkeit. Doch auf lange Sicht weckte es eher ein Gefühl von Verödung und Monotonie, den Eindruck, das Leben zu vertun. All die Jet-Geschäftigkeit war für die Katz. Was Gundlach auch unternahm, letztlich berührte es ihn nicht, diente bloß seinem Fortkommen. Es war, als schiebe sich kühles Glas zwischen ihn und die Umwelt, bis er sie kaum noch wahrnahm. In der Studentenzeit hatten sie ein Wort dafür gehabt: Entfremdung. Damals war es schick gewesen, vieles gesellschaftlich zu deuten, mit dem frühen Marx. Inzwischen zog er Freud vor, den anderen neuen Moses, die ganze Schule, auf der auch sein Handwerk fußte... Nein, diese Gier und Ungeduld entsprangen wohl dem Wissen, nur ein einziges Leben zu haben. In mörderischer Hast versuchte jeder, möglichst viel in dieses Leben und seine wenigen Jahre zu stopfen; das musste es sein. Wem aber ging das Trostlose daran auf?
Gundlach begriff es immerhin. Trotzdem, es blieb ausweglos. Wer sprang denn schon ab von dem rasenden Zug? Er nicht, lieber bestellte er jetzt einen doppelten Whisky als Schlummertrunk. Anderen geschah es, dass sie mal weich wurden unterwegs beim Gedanken an die Lieben daheim, Fotos herumzeigten und von den Zwischenlandungen bunte Postkarten schickten. Auch auf ihn wartete jemand, natürlich, doch es war ihm deutlich bewusst, wenig zu empfinden, wenn er auf das Jahr mit Franziska zurücksah. Nicht mal mehr ins Bett gegangen waren sie diesmal, bevor er den Kofferdeckel schloss - keine Zeit, und es hatte ihm nichts ausgemacht. Schade, dass sie nicht mitkönne, hatte er zum Abschied gesagt, in ihr mutloses Gesicht. Sie habe nicht den Wunsch zu reisen, war die Antwort gewesen. Ihr genüge es zu wissen, dass es all die Länder gebe...
Er wachte erst auf, als Sylvie II seinen Arm berührte. Pechschwarze Nacht. Die Landebahnfeuer von Panamá-Tocumen. Der Stoß, radierende Reifen, das Ausrollen und Warten auf die Gangway. Dann die Sauna über dem Beton, Flutlichter, züngelnde Abgase. In der gekühlten Halle die Auskunft, der Anschlussflug falle aus technischen Gründen aus. Gundlach schlug sich zum Schalter der Lufttaxis durch, um für die letzten tausend Kilometer - viel mehr waren es doch nicht - einen Jet zu chartern. Der Preisunterschied würde, in diesem Fall, daheim kein Thema sein.
Ein Herr aus Japan hatte dieselbe Idee und dasselbe Ziel. Vierzig Minuten später waren sie beide in der Luft. Gundlach spähte zum Fenster hinaus auf das, was das Leben ihm nun vorführen mochte, doch da war nur ein Lichtstreif auf Steuerbord, über dem Schwarz des panamaischen Dschungels. Er wandte sich seinem Nachbarn zu. "Fliegen Sie öfter dahin?"
"Sechsmal im Jahr." Auf dem bebrillten Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. "Wir stellen dort Textilien her und Lederwaren; auch Schneeketten auf Kunststoffbasis."
"Ist es ein guter Standort dafür?"
"Ganz ideal; bis vor kurzem jedenfalls."
"Inzwischen sieht es anders aus?"
"Das sollten Sie mit eigenen Augen ansehen und beurteilen; mir würden Sie vielleicht nicht glauben."
Gundlach ließ das Thema fallen, er kannte die Abneigung vieler Geschäftsleute, sich zu der Situation von Ländern zu äußern, in denen sie tätig waren. Japans Textilbosse beschäftigten also Salvadoreños, bevor sie die letzte Näherin durch einen Roboter der Marke Kawasuki ersetzten. Von der anderen Seite des Weltmeers aus bekämpften sie eine Arbeitslosigkeit, die - nach Winters Zusammenstellung - bei 35 Prozent liegen sollte. Die Lohnkosten, kaum viel mehr als fünf Mark pro Kopf und Tag, entsprachen ungefähr denen von Sri Lanka oder den Philippinen... "Von uns", sagte er, "sind die Hafenanlagen in Acajutla, das neue Flugplatzgebäude und ein Kraftwerk am Río Lempa."
"Wir kommen bald auch zu Ihnen, mit den Schneeketten", versprach der kleine Herr. Er klappte seinen Aktenkoffer auf und entnahm ihm, strahlend wie das Hochglanzpapier in seiner Hand, Werbeunterlagen, um sie entschlossen aufzufächern. Es schien, als sei er dabei, eine Marktecke zu säubern für sein eigenes Zeug, die in der Tat mit wenig brauchbarem Gerümpel verstopft war.
"Viele Kraftfahrer haben über ihre Schneeketten schon Blut, Schweiß und Tränen vergossen", hörte Gundlach ihn leise, doch ganz unbeirrbar sagen. "Glauben Sie mir, das hört nun auf... Unser Zweigwerk in San Salvador fertigt aber nicht nur dies, sondern auch Schutzwesten aus dem gleichen Material, für die Polizei. Sehen Sie, der bisher gebräuchliche Kugelschutz ist entweder zu schwer gewesen, wegen des eingebauten Metallpanzers, oder viel zu dick durch die Nylonpolster."
"Ihre Weste passt bestimmt hier in die Landschaft."
"Und zwar ist sie aus Kevlar. Wir machen das in Lizenz von Du Pont. Jeder zweite der sechshundertfünfzigtausend Polizisten in den Vereinigten Staaten trägt sie schon, und rund dreihundert hat sie nachweislich das Leben gerettet. Unser Test hat ergeben, sie hält sogar den Nahschuss einer Neun-Millimeter-Magnum aus, wenn Ihnen das etwas sagt. Ein schwerer Hammer unter den Faustfeuerwaffen, und es gibt höchstens einen Bluterguss."
Über dem Lago de Nicaragua ging die Sonne auf. Gundlach merkte, dass er beides haben wollte, die Schutzweste gleich, die Schneeketten für später. Nur konnte er sich nicht revanchieren. Es war eben schwer, jemandem den Wunsch einzuflößen, eine Flugplatzhalle oder ein Kraftwerk zu besitzen.
"Jetzt steigt sie ab", sagte der Herr aus Osaka. "Nur noch zwanzig Minuten... Schauen Sie mal hinab, ein hübscher Anblick! Das ist der Fonseca-Golf, drei Staaten grenzen daran. Das Städtchen dort auf der Insel bei der Tragflächenspitze ist Amapala; der einzige wirkliche Hafen von Honduras am Pazifik."
Gundlach sah schräg gegen die Sonne eine dreiarmige Bucht von der Größe - nun, vielleicht des Ijsselmeers in Holland. Zwei Vulkankegel flankierten die Einfahrt vom Ozean, gerade gab die Schwinge den zweiten frei, man blickte in den Krater. Daneben ein starrblauer Wasserspiegel, silbrig glitzernd, durchbrochen von Felsinseln und Klippen, um die es brandete. Man sah auch ein paar Untiefen, an dem hellgrünen Wasser kenntlich. Jenseits des Golfs erhob sich aus waldigen Bergketten eine Reihe von Vulkanen, die auf Gundlach fremd und bösartig wirkten, mochten sie auch längst erloschen sein. Ein Stück nackter Natur, auf unklare Art bedrohlich... Ihn fröstelte ein wenig, als ersten Eindruck hätte er sich Freundlicheres gewünscht. Ihm war, als müsse er sich bis ans Ende seiner Tage an dieses Bild erinnern.
Der internationale Flughafen Ilopango lag im Morgenschlaf, einziger nichtprivater Flugplatz eines Landes ohne inneren Luftverkehr. Abseits der Rollbahn sah Gundlach Militärmaschinen - leichte Kampfhubschrauber und "Magister"-Strahljäger aus Frankreich, am Bug schwarz vom Qualm der Bordwaffen. Trotzdem, das Ganze wirkte ländlich, leblos bis auf das Rundsuchradar und den Sonnenglanz auf all dem Glas und Aluminium der Abfertigungshalle: die Visitenkarte seiner Firma.
Und dort erwartete ihn Hertel, Leiter der Transportabteilung, ein junger Mann aus Dorpmüllers Stab, klein, zappelig, wie aus dem Ei gepellt. Kein Visum, bestätigte Hertel, selten Gepäckkontrolle, nicht mal die Pockenschutzbescheinigung wolle man; der Stempel im Pass sei einen Dreimonatsaufenthalt wert. Wer im Privatjet lande, gelte als wichtiger Mensch, den man kaum behellige. Den Rest habe er schon erledigt.
"Seit wann warten Sie auf mich?"
"Seit halb sechs, Herr Doktor Gundlach. Von neun bis fünf ist ja Ausgangssperre." Draußen auf dem Parkplatz sah Hertel sich mehrmals um, ohne den Redefluss zu bremsen. "Doktor Seitz hatte Sie bereits gestern erwartet, mit der Iberia aus Madrid, doch das war wohl nicht zu schaffen... Es ist ganz ruhig in der Stadt. Sie sind sehr gut im Camino Real untergebracht, absolut erstklassig."
"Wir fahren zuerst ins Büro."
Auf der vierspurigen Autobahn sagte Hertel: "Es sind nur fünfzehn Kilometer. Oft gibt es allerdings Kontrollen." Er sah in den Rückspiegel. "Links hinter uns der berühmte Ilopango-See, war auch mal ein Krater, riesenhaft, vierzehn Kilometer Durchmesser..." Hertel räusperte sich, wohl um das Zittern auszulöschen, das sich in seine Stimme schlich. "Wenn es jetzt am Ende der Regenzeit einen der üblichen zwei Erdstöße gibt - das Epizentrum liegt immer genau im See."
"Beschäftigt Sie der See?"
"Weshalb fragen Sie?"
"Weil Sie dauernd nach hinten sehen."
"Ach, das... Nein, vorhin war mir nur, als hätte sich wer angehängt. Ein gelber Datsun, glaube ich."
"Immer ruhig bleiben."
"Es fiel mir nur auf. Hier achtet man auf so was."
"So wichtig sind wir beide nicht." Die Stadt kam auf Gundlach zu, chaotisch, ein Millionending, nach rechts aufsteigend, an einen Berg geschmiegt, der auch wieder ein Krater war. "Wie lebt sich's denn mit der Ausgangssperre?"
"Man passt sich halt an. Der Salvadoreño ist äußerst flexibel, wissen Sie. Mit dem nötigen Kleingeld tanzt er vergnügt auf dem Vulkan. Da geht man also in Ihr Hotel zur 'Copacabana Rollerdisco' oder ins Sheraton, das bietet spezielle 'Sperrzeit-Wochenenden': Dinner, Tanz und Show am Samstag mit Übernachtung und Sektfrühstück - perfekt."
"Business as usual?"
"Genau, Herr Doktor. Auch das älteste Gewerbe geht mit der Zeit. Der Stoßbetrieb in Häusern wie 'La Guadeloupe' im San-Marcos-Viertel und bei 'Gloria', nicht weit vom Sheraton, hat sich von nachts eben auf die Mittagsstunden verlagert. Den Taxifahrern gibt man als Gloria-Kunde ein solides Fahrtziel an - das Bestattungsinstitut imesNewRomanPSMT","sans-serif"'>'Sinaí'. Das 'Sinaí' liegt nämlich direkt gegenüber. Und es hat gleichfalls Konjunktur."
"Danke für den Tipp. Aber ich hätte gern mehr über Dorpmüller gehört."
"Da möchte ich Herrn Doktor Seitz lieber nicht vorgreifen."
Beim Aussteigen gewahrte Gundlach einen gelben Datsun, der fünfzig Schritte hinter ihm rückwärts in eine Parklücke stieß. Er behielt es für sich. Wozu Hertel ängstigen, diesen Wicht, der flott und abgebrüht tat, während ihm die Nervosität doch aus jedem Knopfloch sah. Die Rheinische Industriebau saß, als verkaufe sie Kosmetika, an dem eleganten Boulevard de los Héroes, sie hatte in bester Lage eine Hochhausetage belegt. Aber Dr. Seitz, Dorpmüllers Bürochef und zweiter Mann der Niederlassung, war noch gar nicht da.
Es ging erst auf acht. Seitz' Sekretärin, eben angelangt, reichte Gundlach Kaffee. Sie hieß Lucie Binding. Es habe ja niemand gewusst, wann er kommen werde, klagte sie und rief ihren Chef an. Sie war um die Dreißig, recht gepflegt und attraktiv mit dem Nackenknoten, doch auf jene Art, die Gundlach kalt ließ. Etwas in ihm, das sich auch in Momenten wie diesem seiner Kontrolle entzog, tastete jede Frau gleich auf das Maß an Lust hin ab, das sie ihm womöglich bringen konnte; das Resultat war unwiderruflich, diesmal Null.
Man habe Herrn Dorpmüller nahe seinem Apartment oben in Escalón überfallen, teilte Frau Binding mit; das Auto blockiert, seinen Fahrer herausgezerrt und ihn im eigenen Wagen entführt. Sie fügte ein paar Details hinzu, die durchgesickert waren, Gundlach hörte kaum hin. Die Umstände der Tat waren ja belanglos. Dorpmüller befand sich in fremder Gewalt, es ging um Lebenszeichen, Modalitäten des Austauschs, Signale der Kidnapper also - davon aber wusste sie nichts, vermutlich weil Dr. Seitz äußerst schweigsam war.
Nun endlich traf er ein, ein hagerer älterer Herr, gelblich, leise und zäh. Seitz wirkte steif, formell und ziemlich autoritär. Bei aller Höflichkeit ließ er durchblicken, dass er mit einem Ranghöheren als Gundlach gerechnet hatte. Sein Sinn für die Hierarchie schien verletzt, die Unterstellungsfrage in seinen Augen völlig offen: Wer musste wem jetzt folgen, der junge Abgesandte aus Deutschland dem erfahrenen Mann vor Ort - oder umgekehrt? So etwas entschied Gundlach stets durch Überrumpelung, durch freundliche Weisungen und raschen Zugriff, doch Seitz leistete ihm Widerstand. "Nur Geduld", riet er kühl. "Es lässt sich nichts tun, ohne Herrn Dorpmüller zu gefährden. Da ist kein Spielraum für Verhandlungen. Man muss die Bedingungen leider akzeptieren..."
"Die sind akzeptiert. Nur, was geschieht denn?"
"Das liegt bei unseren Beauftragten, der Detektei Ward, Webster und Willoughby."
"Haben Sie die eingeschaltet?"
"Ich hab es der Zentrale fernschriftlich empfohlen und bin dazu ermächtigt worden, ja. Das ist auch der hier übliche Weg. Ward, Webster und Willoughby sind auf diese Fälle spezialisiert. Bei denen ist das in besten Händen. Wir sind dauernd in Verbindung und bekommen außerdem täglich ihren Tätigkeitsbericht."
"Und, was stand in dem letzten?"
"Es gibt erst einen, um exakt zu sein." Dr. Seitz schloss den inneren Teil der Doppeltür zum Vorzimmer, dann entnahm er seinem Safe ein Papier. "Bitte, lesen Sie selbst."
Unter ihrem pompösen Firmenkopf (vornehmer Graudruck mit einer Anschrift in México City und dem Kürzel WWW als Wasserzeichen) zählte die Zentralamerika-Filiale der Agentur zwei Kontakte der Kidnapper auf. Danach hatten sie sich gestern telefonisch mit ihrer Forderung im RIAG-Büro gemeldet und später ein Tonband geschickt, das Dorpmüller besprochen haben sollte. Doch hätte die Tonqualität nicht ausgereicht, den Entführten zu identifizieren. Der Rest war Geschwätz. Unterzeichnet hatten ein Mr. Hilary als WWW-Regionalvertreter in San Salvador und ein Mr. Pinero als Sonderagent, was auch immer das heißen mochte.
"Ist das wirklich alles, Herr Seitz?"
"Mein Gott, was verlangen Sie? Das Gesetz des Handelns liegt ausschließlich bei den Tätern."
"Aber das ist ja beides an Sie gegangen! WWW hat eine Fangschaltung gebaut, ansonsten bloß ausgewertet, was bei Ihnen ankam. Ich vermisse deren Eigenleistung. Diese hochbezahlten Leute teilen uns nur mit, was wir schon wissen."
"Bitte nicht so laut..." Seitz' rechter Mittelfinger lag auf der letzten Rippe, was zusammen mit dem Gelb seiner Augäpfel an ein Leberleiden denken und Gundlach hoffen ließ, er werde ihn schon kleinkriegen. Intuitiv erfasste er Seitz' extreme Vorsicht, sein Bemühen um Geheimhaltung eines Vorgangs, der bestimmt schon durch die Medien lief, entsprang nicht allein der Sorge um den Chef. Es war eher ein Symptom seiner eigenen seelischen Krise. Dorpmüllers Verschwinden musste ihn wie ein Schock getroffen haben: die Last der Verantwortung jetzt auf seinen Schultern! Da lag es für ihn nahe, Detektive zu bemühen... Vielleicht hatte er sich zu lange in Sicherheit gewiegt und geglaubt, ein deutscher Konzern vom Kaliber der RIAG sei für Entführer tabu, weil er solche Wunder ins Werk setzte wie den Staudamm am Río Lempa und demnach schwerlich als Ausbeuter oder Blutsauger betrachtet werden konnte. Er übersah dabei bloß, dass derlei Wunder den Vormarsch des Auslandskapitals erst ermöglichten - nicht nur in ultralinker Sicht. Davon, dass die Kidnapper ihre Opfer auch unpolitisch auswählen mochten, nämlich nach der Zahlungskraft, hatte er ebenfalls kaum eine Vorstellung. In dem Punkt lag die RIAG hier gewiss ziemlich vorn. Offenbar ging ihm überhaupt jeder Weitblick ab, deshalb war es das Beste, wenn er sich heraushielt.
"Kann ich das Tonband hören?"
"Es liegt bei Mr. Hilary."
"Sie geben das aus der Hand?"
"Ihre Fragen, Herr Gundlach, deuten auf eine gewisse, wenn auch verständliche Unkenntnis hinsichtlich der Regelung solcher Fälle."
"Ist Ihnen schon mal die Idee gekommen, WWW könnte am Ende selbst darin verwickelt sein?"
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Vielleicht regeln diese Helfer, die Sie kaum kontrollieren, das meiste da ganz allein - Kidnapping, Forderung, Zahlung und Empfang."
"Völlig absurd! Es scheint, Sie entwickeln eine geradezu kriminelle Phantasie."
"So was ist vorgekommen. Möchten Sie Beispiele hören?"
"Ich will gar nichts mehr hören!" Seitz führte sein Taschentuch an die Lippen, dann lockerte er den Schlips, als ersticke er vor Zorn. "Fragen Sie in unserer Botschaft nach... Fragen Sie wen und wo Sie wollen - amerikanische Firmen, die Japaner oder Franzosen im Land, beinah alle haben schon mit WWW gearbeitet, und zwar zur vollsten Zufriedenheit..."
"Kein Wunder, Herr Seitz. Es muss ja auch klappen, wenn alles in einer Hand liegt und ihre Agentur das Inkassobüro der Kidnapper ist."
Einen Augenblick lang meinte Gundlach, er habe es geschafft. Aber es funktionierte nicht, er hatte Seitz unterschätzt. Obwohl in Weißglut, blieb der handlungsfähig, ja, er schlug zurück. "Und wenn es so wäre? Dann war immerhin ein glatter Ablauf garantiert!"
"Sie räumen also die Möglichkeit ein und nehmen eine so dubiose Hilfe in Kauf?"
"Ich räume gar nichts ein. Ich weigere mich nur, das Gespräch in dieser Form fortzusetzen. Soll ich Ihnen sagen, wie mir Ihr Vorgehen jetzt erscheint? Mir scheint, Sie wollen die Sache um jeden Preis an sich ziehen, wollen der Firma drüben zeigen, was für ein fähiger Mann Sie sind - und was für Trottel wir übrigen. Sie versuchen ja nur, sich selber aufzubauen, sonst würden Sie nicht eine Stunde nach Ihrer Ankunft hier Streit provozieren! Und noch etwas: Wenn Sie auf Dorpmüllers Kosten glänzen wollen, dann bitte ohne mich."
"An Ihrer Unterstellung ist nichts dran", sagte Gundlach. "Das widerspricht sich nämlich selbst. Es stimmt zwar, wir müssen was tun und wollen natürlich erfolgreich sein, aber doch nicht auf Dorpmüllers Kosten - dann wär's ja kein Erfolg, das ist wohl sonnenklar. Im Übrigen nehme ich zur Kenntnis, dass Sie den Fall abgeben, ob nun an die WWW oder an mich. Darf ich die Anschrift der Detektive haben?"
Seitz saß da wie jemand, der perplex und außerstande ist, sich noch mehr zu erregen; er hatte demnach sein Pulver verschossen. "Die gibt Ihnen Frau Binding", zischelte er und entfaltete mit bebenden Händen sein Taschentuch. Von der Tür aus sah Gundlach ihn das Gesicht damit verhüllen, was seltsam wirkte, man verfuhr mit Toten so... Es mochte Seitz' Art sein, sich den Schweiß zu trocknen, wenn ein Gefecht vorüber war.
Es war natürlich Bluff gewesen. Gundlach glaubte keineswegs, die WWW sei mit den Kidnappern im Bunde. Sie hatte das Geld ja schon, es war ihr gestern überwiesen worden, wozu sollte sie sich also zieren und die Auslösung verschleppen, wenn sie den Zeitpunkt selbst bestimmen konnte? Der Optik wegen, um ihr Treiben zu tarnen, ihre wahre Natur hinter Schwierigkeiten zu verbergen, die als branchenüblich galten? Möglich, doch da schien wenig Logik drin. Trotzdem stand er unter dem Eindruck, etwas sei faul mit der WWW; gerade wegen des Lobs, das man ihr zollte. Ihr eigenartiges Monopol am hiesigen Entführungsmarkt war immerhin auffällig. Durch all die Affären, die Gundlach im Namen seiner Firma behandelt hatte, war in ihm ein Gespür für Zweifelhaftes gereift, ein Sinn für Geschäfte in den Grauzonen der Gesetzlichkeit.
Ein sonnensatter Vormittag. San Salvador erschien aufgeräumt, sehr nett und geschäftig mit seinen breiten Alleen, den Marmorstandbildern, Kaufhäusern, Restaurants und dem blanken Autostrom. Keine Spur von Bürgerkrieg. Palmen schwangen knisternd ihre Wedel im Wind, achthundert Meter Höhe und die Nähe des Meeres machten das Klima erträglich. Hertel, der ihn wieder fuhr, wies auf alles Mögliche hin. Gundlach aber überlegte, wie er - praktisch ohne Rückendeckung - die US-Detektive anspornen, sie notfalls beiseite schieben und ihnen die Befugnis entwinden konnte. Vielleicht überschritt er damit seine eigene Kompetenz. Aber hatte Winter nicht gesagt: "Sollte es Komplikationen geben, dann zählen wir dort auf Sie?" Wenn sich Dorpmüllers Auslösung verzögerte, lag bereits eine Komplikation vor, der er nachzugehen hatte; und genau das tat er jetzt.
Die Agentur lag in der Alameda Roosevelt, etwas stiller, doch ebenso schön wie der Boulevard de los Héroes, gleich neben der Schweizerischen Botschaft und über dem Büro der brasilianischen Luftlinie Varig. Am Ende der Glasfront das Schild der ALITALIA, von ihm gern ALIMAFIA genannt; das achtbare Umfeld ließ seine Skepsis noch wachsen. Ward, Webster & Willoughby firmierten in Goldlettern auf schwarzem Glas, dezent wie Leichenbestatter, vielleicht waren sie das nebenbei. Hertel hatte ihr Sicherheitsbedürfnis erwähnt, und wirklich stand man im ersten Stock vor einer Sprechanlage, die mit zwei Fernsehaugen verbunden war. Womöglich kam Gundlach nur hinein, weil Frau Binding ihn avisiert hatte. Ein Leibwächter sprach formelhaft Bedauern aus und tastete ihn sekundenschnell nach Waffen ab. Die WWW schützt zuerst sich selbst, schien das unsichtbare Motto an einer zweiten, gepanzerten Tür in dem kahlen Korridor zu sein, der ein vortreffliches Schussfeld bot.
Wurde draußen professionelle Härte vorgeführt, so war hinter der safeähnlichen Tür doch alles sehr kostbar und gediegen. Die Firma stank nach Geld; nicht sehr erstaunlich bei einem Jahresumsatz von 30 Millionen Dollar, wenn sie knapp zwei Drittel der Auslösungen schaffte. Nur in der Person des Filialleiters, Mr. Hilary, hatte Gundlach sich getäuscht. Einen hageren, gerissenen Yankee hatte er vermutet, von allen Hunden gehetzt, Kreuzung zwischen Börsenmakler und Sektenprediger - und stand vor einem soliden, ja biederen Mann, der ihm sogar einen Imbiss reichen ließ, da der Gast aus Deutschland seines Wissens noch nicht gefrühstückt hätte. Störend einzig Hilarys Undurchsichtigkeit, das auf den ersten Blick offene, in Wahrheit ausdrucksarme Gesicht, dessen höfliche Reflexe keinen Rückschluss auf das zuließen, was dahinter vorging: amerikanische Schule der Selbstbeherrschung, die an Selbstverleugnung grenzt. Das leckere Sandwich ausgenommen, biss man bei diesem Typ vermutlich auf Granit.
"Wir haben Herrn Seitz erklärt, dass er ein klares Zeichen braucht", sagte Hilary nach den einleitenden Worten. "Am besten das übliche Foto, das das Opfer mit einer Zeitung von heute zeigt. Jetzt erwarten wir den nächsten Anruf und schneiden ihn hier mit. Es gibt eine Direktschaltung von Ihrem Büro in dieses; das war unser erster Schritt."
"Das Tonband reicht nicht aus?"
Hilary spielte es ihm ohne weiteres vor. Ein klapperndes Sausen wie von einer defekten Klimaanlage überlagerte den Text so stark, dass nur wenige Sätze halb verständlich waren; darunter die Passage, in der Dorpmüller - falls er es war - sinngemäß beteuerte, es gehe ihm gut und er sei überzeugt, gegen die anderthalb Millionen umgehend freizukommen... "Herr Seitz war unsicher in der Bewertung, er hat die Stimme nicht einwandfrei erkannt. Und das birgt die Gefahr, dass ihm dieses Band von unbefugter Seite zugespielt worden ist - von Leuten, die wissen, was passiert ist, und nun an das Lösegeld wollen, ohne über das Opfer zu verfügen."
Diese Belehrung war schwer erträglich. "Die Höhe der Geldforderung kam nicht durch die Medien; immerhin haben sie die Summe ja gekannt."
"Auch das kommt vor bei Trittbrettfahrern."
Gundlach fragte: "Wer hat das Band zuerst abgehört, Sie oder Herr Seitz?"
"Wir. Er hat es uns überlassen, es passte nicht in sein Gerät, er fürchtete wohl auch, etwas zu verderben. Generell ist vereinbart, dass ohne uns nichts laufen soll."
"Kam er selbst damit zu Ihnen?"
"Herr Pinero hat es abgeholt, der den Fall bearbeitet. Wir gehen niemals ein Risiko ein."
Das Misstrauen vertiefte sich. Die Kidnapper als Stümper? Gewöhnlich vermieden sie auf Bändern jeden Laut, der auf ihr Versteck hinwies. Sollten sie so dumm gewesen sein, eine Aufnahme herzustellen, die nicht nur verräterisch, sondern auch unbrauchbar war? Das zweite Rätsel: Dorpmüller hatte zwar englisch gesprochen, sicherlich auf Weisung seiner Wärter, die ihn verstehen wollten; aber es erschien doch sonderbar, dass Hilary und Pinero sich dies zunächst ohne Seitz angehört hatten. Jedenfalls wäre es ihnen leicht gewesen, die Bandqualität zu manipulieren, durch Überspielen des Störgeräuschs zu mindern - nur, was hätten sie davon gehabt? Gundlach dachte nach, den Rest des Sandwichs im Mund, mit dem man ihn abzuspeisen hoffte. Gewiss, drei Millionen Mark brachten als schnelles Geld fast tausend Mark Tageszins; Kursschwankungen an der Börse ließen darüber hinaus Spekulationsgewinne zu, aber das war doch für eine Detektei dieser Art ein paar Nummern zu klein. Es sei denn, ihre zwei Herren wirtschafteten eben mal kurz in die eigene Tasche; dann reichte das Motiv.
"Halten Sie die Summe bereit?"
"Das ist doch selbstverständlich."
"Wären Sie so freundlich, mir das Geld zu zeigen?"
Hilary schwieg, er rührte sich nicht. Das Gesicht soll ein Spiegel der Seele sein, aber Hilarys Gesicht spiegelte gar nichts, es war maskenhaft, ein vollendetes Pokerface. Sie starrten sich an. "Es ist natürlich auf unserer Bank", sagte Hilary endlich.
"Auf dem Konto?" Gundlach wusste, die Frage war penetrant, im eigenen Haus hätte er sich zu solch einer Erniedrigung eines Mitarbeiters nur im Notfall entschlossen, hier aber galt es, Flagge zu zeigen und harte Bandagen, wollte man klarmachen, wessen Geld es war und wer folglich das Sagen hatte. Übrigens war der Notfall ja gegeben.
"Nein, im Tresor", antwortete Hilary nach einer Pause. "Und zwar zehntausend Hundert- und zehntausend Fünfzigdollarnoten, in zwei Taschen, wie gewünscht. Möchten Sie sich davon überzeugen?"
"Später und dann lieber bei Ihnen. Das Geld muss jederzeit bereitstehen. Hier dürfte es genauso sicher sein."
"Es wär allerdings ein zusätzliches Risiko..."
"Das müssen Sie schon tragen für Ihren Klienten, um dessen Befreiung es einzig geht. Ich konnte einen Teil Ihrer Schutzmaßnahmen sehen und bin davon sehr beeindruckt... Haben Sie eigentlich die Polizei verständigt?"
"Welche denn?"
"Wie bitte?"
"Nun, es gibt in El Salvador acht verschiedene polizeiähnliche Ordnungs- und Sicherheitsdienste. Mit welchem sollten wir nach Ihrer Ansicht kooperieren?"
"Ich dachte, Sie wüssten selbst, wer da in Frage kommt."
"Offen gesagt, Ihr Vorschlag überrascht mich. In der Regel arbeiten wir ganz allein. Man macht es uns normalerweise sogar zur Bedingung."
Gundlach nickte, er ließ das Thema fallen. Es gehörte zu seiner Taktik, bei kontroversen Gesprächen den Partner durch Zwischenfragen und raschen Wechsel des Gegenstands zu verwirren. Er stand auf in dem Gefühl, es sei ihm zumindest geglückt, den Mann etwas auf Trab zu bringen, ihn gleichsam mürbe zu klopfen. Die wirkliche Abreibung würde folgen, erst Schuss vor den Bug, dann den Schlitten vollgerotzt, dachte er - in Ausdrücken seines Vaters, der Hauptmann im zweiten Weltkrieg gewesen war. "Wir reden am Nachmittag weiter."
An der Tür sagte Hilary: "Vielleicht wollen Sie zu Ihrem eigenen Schutz einen meiner Leute haben? Herr Seitz lässt sich jetzt auch bewachen."
"Nein, vielen Dank."
"Wie Sie meinen, Sir."
"Die Entführer werden dieselbe Kuh nicht doppelt melken."
"Sie gehen von zwei Vermutungen aus: dass der Gegner berechenbar ist und als geschlossene Gruppe handelt."
"Aus Ihrer Sicht handelt die Linke irrational?"
"Na, wir hörten, dem Wagen, der Sie vom Flugplatz brachte, sei ein gelber Datsun gefolgt. Nicht unser Fahrzeug, um das klarzustellen... Es hält sich eben niemand für gefährdet, bis es dann zu spät ist."
Es klang nach versteckter Drohung; auf der Treppe glaubte Gundlach das. Doch als er wieder im Auto saß, bewies es ihm nur, dass ein schlechtes Gewissen empfindsam macht - war er nicht doch zu schroff gewesen? Nein, ein sauberer Einstieg war immer richtig. Die notwendigen Grausamkeiten muss man am Anfang begehen, wie es bei Machiavelli hieß. Nebenbei bezeugte die Gorilla-Offerte noch die Kaltschnäuzigkeit, den ungehemmten Profitsinn dieses merkwürdigen Partners: Personenschutz war ein teurer Spaß.
"Zum Hotel?", fragte Hertel.
"Erst zur Botschaft. Und bitte, sagen Sie's künftig keinem, wenn es mal so aussieht, als ob uns ein fremder Wagen folgt. Das macht den Laden bloß konfus... Als Chef unseres Transportwesens sollten Sie mich überhaupt nicht chauffieren."
"Das Transportwesen bricht auch ohne mich zusammen."
"Also lassen Sie mir das Auto und den Stadtplan, ich komme dann schon zurecht."
"Herr Doktor, wir wissen doch, was sich gehört."
Gundlach lachte, ihm gefiel der Ton. Das war der Vorteil, wenn man ohne Vorgesetzten reiste - draußen kannten sie nie so recht den eigenen Stellenwert und behandelten einen vorsichtshalber etwas besser, als es einem laut Rangordnung zustand.
Über die Botschaft machte Gundlach sich keine Illusionen. Sie lag weiter oben in Escalón, am Anfang der Calle Poniente. Zwischen blühenden Stauden war der Einlass erschwert wie bei der WWW, und die Amtsführung lief auf Sparflamme. Der wachsenden Unsicherheit wegen war Botschafter Neukirch mit seinem politischen Stab abberufen worden. Aus Winters Dossier ging hervor, dass in Bonn ein Dauerstreit schwelte um die Haltung zu El Salvador und dessen morschem Regime. Der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hatte die Entwicklungshilfe eingefroren, einige zwanzig Millionen, während der Außenminister sich auf Wunsch der USA gegen den Abbruch der Beziehungen stemmte. Das Ergebnis war ein Kompromiss, an irgendeinem Punkt der Skala diplomatischer Möglichkeiten schienen die Kontakte gekappt zu sein; neben dem Generalkonsul hielt nur noch ein Geschäftsträger seine Hand über die Bundesbürger.
Es empfing ihn Handelsrat Wallmann, ein blonder, untersetzter Herr mit porzellanblauem Blick, dessen Leib und Gesicht eine Neigung zum Zerfließen hatten. Trotz seiner Konzilianz war er Gundlach unsympathisch - gar zu schwammig. In Abwesenheit wurde er, nach Hertel, bald Lallmann, bald Schwallmann genannt.
"Wir haben bereits einen Herrn Ihres Hauses erwartet", sagte er, wobei ihn sein schweres Fleisch schon wieder in den Sessel zog. "Ja, was lässt sich für Sie tun? Ich fürchte, sehr wenig... Wir sind leider nahezu machtlos in diesem tragischen Fall. Unser Einfluss auf die Regierung schwindet von Monat zu Monat. Ganz abgesehen davon, dass diese Regierung, wie man zu ihr auch stehen mag, nicht für Handlungen ihrer Feinde verantwortlich ist. Man kann sie da nicht haftbar machen."
Es war trostlos, Wallmann ohne Einfluss auf das Regime und das ohne Macht über dessen Feinde, die Guerrilleros. Wallmanns glatte fette Hände, gewiss darin geübt, Gegensätze abzutragen oder durch sanfte Gesten zu verwischen, sanken ratlos auf den Tisch. "Ihrerseits", fragte Gundlach, "gibt es keinen Draht zum linken Untergrund?"
"Ach du meine Güte, wo denken Sie hin!"
"Schließlich reisen Vertreter der sogenannten Befreiungsfront durch halb Europa, werben um Unterstützung, um Verständnis für ihren Kampf und sind sogar in Bonn empfangen worden."
"Das mag ja alles sein. Uns aber, hier im Lande, würde man solche Kontakte nie verzeihen."
"Na, die Befreiungsfront würde das sicherlich honorieren, etwa indem sie unsere Leute nicht behelligt."
In Wallmanns Augen trat ein schnelles, unvernünftiges Erschrecken. "Also dies wär ein schwerer Verstoß gegen jeden internationalen Brauch. Man kann stets nur mit den Herren reden, bei denen man akkreditiert ist."
Gundlach hatte ähnliches erwartet. Diese Worte zeigten ihm die Grenzen. Hilfe für Dorpmüller, das war ein Schritt gewesen, der Befugnis und Tatkraft dieses Restes einer Botschaft weit überstieg. Blieb nur das Nächstliegende - er beschrieb die Einschaltung der US-Detektive, das unbefriedigende Resultat und bat um Auskunft über die Firma Ward, Webster & Willoughby: deren Ruf und den Grad der Vertrauenswürdigkeit. Wallmann nickte; nunmehr in stillerem Fahrwasser, notierte er etwas und schickte den Zettel, mangels einer Vorzimmerdame, durch den Sicherheitsbeamten, der Gundlach eingelassen hatte, an einen anderen Punkt des Hauses.
"Ihr Unternehmen zieht sich langsam hier zurück", plauderte Wallmann, um die Wartezeit zu füllen. "Baut ab am Río Lempa, wo es ziemlich brenzlig wird. Wir sind natürlich im Bilde... Und ich wünschte, wir dürften das auch."
"Verzeihung, was wünschten Sie?"
"Wegzugehen. Einfach weg! Ist Ihnen bekannt, dass in dieser Stadt schon zwei Dutzend Diplomaten entführt worden sind? Letzthin hat man die Botschafter von Südafrika und dreier Nachbarstaaten verschleppt. Ja, das schneidet sehr viel tiefer ein. Den Firmen gegenüber bleibt es bei Geldforderungen, die letztlich immer erfüllbar sind. Regierungen aber werden noch anders erpresst, es sollen dann Aufrufe gesendet und Häftlinge freigelassen werden zum Schaden der staatlichen Autorität! Da steht man vor schwersten Entscheidungen."
Gundlach überlegte, ob eine Äußerung des Mitgefühls von ihm erwartet wurde, das er kaum empfand für hochbezahlte Beamte, die es sich im Ausland wohl sein ließen. Die Rückkehr des Boten enthob ihn einer Antwort.
"Kein Einwand gegen Ward, Webster und Willoughby", sagte Wallmann, ein Papier in der kleinen feisten Hand. "Anscheinend versierte Leute. Die Agentur hat von México bis Argentinien weit über fünfzig Entführungsfälle befriedigend gelöst, das heißt, die Opfer freigekauft."
"Ist das ein Computer-Check?"
"Nein, die Auskunft eines Mitarbeiters der amerikanischen Botschaft, den wir in diesen Dingen manchmal konsultieren... Ja, ich hoffe, Herr Gundlach, Ihnen damit gedient zu haben. Sie können wahrscheinlich gar nichts Besseres tun, als mit diesen Herren zusammenzuarbeiten. Ich wünsche Ihnen dazu allen denkbaren Erfolg!"
Beim Einsteigen sagte Gundlach: "Zum Hotel."
Der Wagen rollte bergab.
"Sehen Sie das Mädchen dort an der Ecke?", fragte Hertel. "Vor der Cafeteria? Früher blieben sie im Zentrum, heute ist das auch schon ihr Revier - kommen bis ins Botschaftsviertel..." Sein Frohlocken war unüberhörbar, wie so manchem Mann gefiel es ihm, Frauen beliebig verfügbar zu sehen. "In der mittleren Preisklasse erkennt man sie an der Handtasche, Lackleder ist typisch. Wenn sie ihr Stammlokal betreten, stellt der Barmann die Tasche unter den Tresen, und wenn sie mit 'nem Freier abziehen, müssen sie die für zwanzig Colónes auslösen; etwa siebzehn Mark. So ist das Lokal mit im Geschäft, und es bleibt trotzdem erschwinglich."
Das Camino Real war nobel und stilbewusst auf jene altspanische Art, die Hotelketten wie Hilton südlich des Rio Grande in Serie kopiert haben. "Essen Sie mit mir", schlug Gundlach vor; er hoffte, von Hertel mehr zu erfahren über das, was am Río Lempa und anderswo geschah. Doch entweder plante der Besseres, oder er wollte nicht in Widerspruch zu Seitz geraten, dem Loyalität über alles ging - die Nibelungentreue seiner Assistenten.
Gundlach fuhr auf sein Zimmer und duschte. Er hatte eine Atempause nötig, gutes Essen, um in Form zu sein für die zweite Runde. Das Interieur sprach ihn an, schweres Mobiliar aus grobmaserigem Zedernholz, das zu der schönen Täfelung imesNewRomanPSMT","sans-serif"'>passte und einen aromatischen Duft zu verströmen schien, zarter als der Geruch all der flammenden Blumen. Man hatte statt seiner wohl ein Vorstandsmitglied erwartet. Im Bad gab es riesige Tücher im Türkis der Kachelung, die Zahnputzgläser waren luftdicht verpackt, dem Hygiene-Tick der Yankees zuliebe.
Unten bestellte Gundlach vor der Suppe einen trockenen Martini. Während er auf den Lammbraten wartete, gelang ihm ein Blickverhältnis mit einer großen, brünetten Dame, die zwei Tische neben ihm halb hinter dem gerasterten Raumteiler saß, einen Strohhalm zwischen den Lippen. Er spürte, wie der Alkohol sich in ihm verteilte. Seine Stimmung, durch Wallmann gedrückt, begann sich zu heben. Zu dem Braten mit neuen Kartoffeln und grünen Bohnen orderte er eine halbe Flasche Champagner rosé, das konnte ihm kein Mensch verdenken nach dem, was seit Frankfurt hinter ihm lag... Erst das gründliche Pistazieneis, schwungvoll zelebriert, zerschnitt den Blickkontakt, der Kellner flambierte es nämlich, bemüht, seine Kunst zu zeigen und mit der Flamme das Trinkgeld hochzujagen. Obendrein garnierte er das Eis mit frischen Erdbeeren, aus Kalifornien eingeflogen, exotische Früchte, die er flink beschnitt, mit der Silberzange einzeln in Eiswasser tauchte, um sie dann mit einem Hauch Angostura zu beträufeln. Als der Blick wieder frei war, saß niemand mehr da. Gundlach trank statt Kaffee einen Whisky, unterschrieb die Rechnung und wollte Hertel anrufen.
In der Halle, bei den Telefonkabinen, stieß er auf jene Dame. Zögernd prüfte er, ob er noch nüchtern genug sei, um sein armes Spanisch parat zu haben und dieses Geschöpf mit einigem Charme anzusprechen - erstaunt darüber, dass seine Partnerin gleichfalls stehenblieb und er sie nun plötzlich neben sich hatte, gebräunte Haut in hellem Kleid, von legerer Eleganz, ein Leuchten im Gesicht, das aber vielleicht bloß aus dem Whisky kam? Da hörte er sie sagen: "Hatten Sie vor, mich anzurufen?"
Ihm stockte der Atem. Obwohl sie sich als Callgirl zu erkennen gab, war er wie elektrisiert - unglaublicherweise war sie für ihn zu haben, und zwar in dem Moment, da er sie begehrte! Es gelang ihm zu sagen: "Ich denke, mein Zimmer wird Ihnen gefallen..." Er war zu sehr aus dem Häuschen, um geistvoll zu sein.
Sie lächelte sonderbar und tänzelte ihm voraus, in ihrem engen Kleid, so groß wie er selbst, ein schlanker, langbeiniger Frauenkörper in fließender Bewegung, der ihm fast schon gehörte. Er schätzte sie auf Mitte, Ende Zwanzig. Ihr Haar, zu einem Pferdeschwanz geschürzt, fiel dick und schwarzbraun den Rücken herab. Besonders erquickte es ihn, unter dem dünnen Stoff ihr Gesäß zu sehen. Sie wirkte erregend, dabei kaum professionell, restlos traute er seinem Glück nicht und folgte ihr in den Lift wie ein Jäger, der das Entschlüpfen der Beute fürchtet - doch bewusst gemessen und korrekt, gebremst von der Schwere des Alkohols.
Oben schloss er ihr auf. Die Sperrstunde macht es, dachte er, oder die Not, man ist flexibel, verlegt es in die Mittagszeit... Vieles kreuzte sich in seinem Kopf. Es wunderte ihn, dass sie weder Platz nahm noch anfing, sich oder ihn zu entkleiden, was er meistens sehr genoss. "Was trinken wir?", fragte er mit dem Blick zum Telefon.
"Sie haben schon genug. Da ist eine Nachricht für Sie. In Ihrem Interesse und noch mehr in dem Ihres Landsmanns - halten Sie die Amerikaner fern."
Das hörte er, doch es dauerte vier, fünf Sekunden, ehe die Worte sein Gehirn erreichten und der Inhalt ihm bewusst wurde. Alles um sie her verschwamm, das Interieur war weggewischt, er sah nur ihr Gesicht, die brennenden Augen. Darin lag etwas Düsteres, ja Zerrendes, als wollte sie ihm das Geld entreißen, das gar nicht in seinen Händen war; ein Ausdruck von Kampflust und Wildheit, vielleicht auch Gehetztsein, wie es ihm in alkoholischer Hellsicht erschien. "Und warum?", würgte er heraus.
"Diese Agentur kollaboriert mit der amerikanischen Botschaft. Man versucht uns aufzuspüren. Trennen Sie sich von diesen Leuten, sonst sehen Sie Ihren Mann nicht wieder."
Sie warf ein Kuvert auf den Tisch, und schon war das Zimmer leer, die Tür schnappte hinter ihr zu. Das kam so schlagartig wie ihr Satz eben in der Halle, zu schnell für den Grad von Rausch, den er sitzen hatte. Er sank in den Sessel und brütete vor sich hin. Dann riss er den Umschlag auf. Ein Bild Dorpmüllers glitt heraus. Das Opfer hielt eine Zeitung vor der Brust, den "Diario Latino" vom Tage.
"Wir müssen uns schleunigst von den Leuten trennen", sagte Gundlach zwanzig Minuten später im Chefzimmer des RIAG-Büros. "Ich wusste gleich, es ist was faul mit dieser Agentur."
"Ah so - das haben Sie gewusst?", fragte Dr. Seitz.
"Es lag doch nahe. Die WWW behandelt seit einem Jahr rund sechzig Prozent der hiesigen Entführungsfälle. Zu solchem Marktanteil kommt man in kurzer Zeit niemals ohne Rückenwind. Die amerikanische Botschaft steckt dahinter, sie hat das lanciert - die Firma diskret empfohlen. Das tut sie noch immer, Herr Wallmann kann's Ihnen bestätigen. Bei der US-Schlüsselrolle hier im Land ein ganz starker Trumpf! Natürlich geschieht so etwas nicht uneigennützig. Es sieht so aus, als leite die Botschaft Erkenntnisse der WWW weiter an den Sicherheitsdienst El Salvadors..."
"Das ist reine Spekulation."
".... mit Folgen für die Stadtguerrilleros, denn die haben das bemerkt. Also mit negativen Folgen auch für uns. Ich verkenne nicht die Absicht der Amerikaner, der Regierung beizustehen in ihrem Kampf gegen die Linkskräfte im Untergrund. Aber muss das auf unserem Rücken geschehen? Jedenfalls läuft Dorpmüllers Rettung nur ohne die Agentur. Und damit ist sie wohl für uns gestorben."
Seitz saß hager und gelblich da, Dorpmüllers Bild in der Hand - das farbige Polaroid-Foto der Entführer. Es bürdete ihm eine Entscheidung auf, der er sich gern entzogen hätte; sein Mienenspiel verriet es, die arg verkrampfte Haltung. Ein kränkelnder; geängstigter Mann, zäh an sein Führungsrecht geklammert. "Wie kommt es", fragte er, "dass man das Ihnen schickt anstatt hierher?"
"Man ist Hertels Wagen zum Flugplatz gefolgt und scheint mich identifiziert zu haben; zumindest für das zu halten, was ich auch bin: der Bevollmächtigte aus Deutschland."
"Von einer Vollmacht ist mir nichts bekannt."
"Wie auch immer, wir müssen die Detektei loswerden, also den Auftrag stornieren. Und zwar gleich, wollen wir in der Lage sein, jederzeit aktiv zu werden."
"Immer langsam, Herr Gundlach. Dazu sind wir nicht befugt. Ein solcher Schritt wär Sache der Zentrale." Seitz hob das Foto ans Licht, er befingerte es störrisch wie einen Geldschein, an dessen Echtheit man zweifelt; es wurde deutlich, dass er da einigem misstraute. Das Bild war der einzige Beweis, Seitz schien zu überlegen, ob es gefälscht sein könne. Er hätte es zu seiner eigenen Entlastung wohl gern der Agentur geschickt. Gefälscht! Einem komplett eingerichteten Labor voll erstklassiger Fachleute wäre es zwar möglich gewesen, durch Abdecken und Aufprojektion die Zeitung so auf Dorpmüllers Brust zu bringen, dass es aussah, als hielte er sie - vorausgesetzt, sie hatten ein geeignetes Foto von ihm. Aber in Anbetracht der Umstände war solch ein Verdacht geradezu albern. Wenn Seitz ihn hegte, so bewies das nur, dass er die Kränkung vom Vormittag nicht vergessen konnte, den raschen Versuch, ihn auszubooten. Rachsüchtig saß er da, die Hand wieder an der Galle, und legte sich quer.
"Es hilft doch nichts, Herr Seitz; wir müssen bereit sein zu zahlen. Rufen wir also die Direktion an oder lassen ein Telex los!"
"Dem steht nichts im Wege. Aber drüben ist es zehn Uhr abends, welcher der maßgebenden Herren wird da erreichbar sein?" Während Frau Binding ihm die Verbindung herstellte, streifte er Gundlach mit einem Blick. "Und noch ein Problem: Wer, wenn nicht die Agentur, bringt den Gangstern das Geld?"
"Nun, ich bin dazu bereit."
Seitz nickte, als habe sich ihm etwas bestätigt. Er schien nicht nur dem Foto, sondern auch Gundlach selber zu misstrauen! Hielt er ihn am Ende gar für fähig, das Lösegeld zu nehmen und mit den drei Millionen Mark auf und davon zu gehen? Es war unglaublich, doch eben dieser Argwohn hatte in Seitz' Blick gelegen. "Heute früh", hörte Gundlach ihn sagen, "haben Sie der Agentur unterstellt, ein Komplice der Kidnapper zu sein. Jetzt nun halten Sie sie für das Gegenteil, den verlängerten Arm der Polizei... Nicht sehr plausibel." Was für ein beschränkter Mensch. Er dachte scharf genug, aber auf niedrigem Niveau, dem des Verwalters einer Portokasse, dessen Triumph es ist, jemanden zu stellen beim Griff in seine Kasse. Gewiss war Gundlach auch selber schuld, er hätte die Empfindlichkeit des Kerls erkennen und sein Geltungsbedürfnis schonen sollen; selten war der gerade Weg der kürzeste.
Das Transatlantikgespräch war da, jemand von der Firmenleitung. Krächzend vor Erregung schilderte Seitz den Sachverhalt so dürftig und schwunglos, dass Gundlach sich versucht fühlte, ihm den Hörer zu entwinden. Mühsam hielt er sich zurück, dies war denn doch zu weit gegangen; Sekunden später tat es ihm leid. Es wurde offenkundig, wie überfordert Seitz hier war. Er legte mit den Worten auf: "Direktor Lupp will das nicht allein entscheiden. Es kommt auf der morgigen Sitzung zur Sprache, in zwölf Stunden wissen wir Bescheid."
"Das kann zu spät sein. Lassen Sie's mich vortragen!"
"Bitte sehr."
Seitz wandte sich ab, und Frau Binding, wie mit ihm im Bunde, ließ wissen, der Kontakt sei nicht wiederholbar, Direktor Lupp habe über das Autotelefon gesprochen und mitgeteilt, dass er nun nicht mehr zur Verfügung stehe; auch keiner der anderen Herren. Übrigens warte bei ihr Herr Pinero mit dem Tagesbericht der Detektei.
"Schicken Sie ihn herein."
Pinero war ein prächtiger, muskulöser Bursche mit federndem Gang, dichtem kurzgeschnittenem Haar und blitzendem Lächeln. Es fiel Gundlach nicht gleich ein, an wen Pinero ihn erinnerte - an jemanden wie Cary Grant (in alten Filmen) oder den Oberst Gaddafi. Dass solch ein Mann mit nichts kam als einem Stück Papier, zeigte den Unwert des Arrangements. Im WWW-Bericht stand, nach Abzug der Floskeln, die Kidnapper hätten sich gegen elf bei Seitz mit der Frage gemeldet, ob das Geld bereitliege; sie seien von ihm, gemäß dem Rat der Agentur, um ein zweites Lebenszeichen ersucht worden... Nun, das hatten sie geliefert. Es ging wirklich Zug um Zug, ganz wie gestern von Winter vermutet.
"Das Bild ist da, Mr. Pinero." Seitz' Stimme schwankte etwas, es kostete ihn Überwindung fortzufahren. "Aber die Gangster scheinen Ihre Vermittlerdienste abzulehnen."
"Mit welcher Begründung, Sir?"
"Die haben Herrn Gundlach erklärt, Ihre Firma hielte Verbindung zur amerikanischen Botschaft."
Pinero blieb liebenswürdig. "Es ist also ein nationalistischer Vorbehalt?"
"Doch wohl mehr", sagte Gundlach. "Sie fürchten eine Falle! Ist Ihnen letzthin mal was schiefgegangen? Haben Sie versucht, die Brüder aufs Kreuz zu legen?"
"Weshalb und wie sollten wir so etwas denn tun?"
"Zum Beispiel mit Sprechfunk in dem Auto, das das Lösegeld bringt, oder einem Minisender im Geldsack, wer weiß? Weshalb, ist Ihre Sache. Die Leute wollen Sie nicht - das genügt."
"Ein schwerer Vorwurf, Sir. Würden Sie mich zu Mr. Hilary begleiten, damit er darauf antworten kann?"
"Tun Sie das, Herr Gundlach", sagte Seitz. "Das sind wir der Agentur schuldig. Herr Hilary muss Gelegenheit zu einer Stellungnahme haben."
Gundlach stieg wieder zu Hertel ins Auto, sie folgten Pineros Falcon in Richtung der Alameda Roosevelt. "Ein Detektiv wie aus Hollywood", sagte er.
"Unterschätzen Sie ihn nicht", riet Hertel, "der ist Experte. War vorher für die 'Control Risks Limited' tätig, eine britische Großdetektei; hängt an der Versicherungsgruppe 'Lloyd's' dran und bietet Spitzenkräften der Wirtschaft Schutz vor Entführung und Erpressung. Ward, Webster und Willoughby haben ihn dort abgeworben, die wussten bestimmt, warum. Pinero trägt den schwarzen Gürtel."
"Ist mir gar nicht aufgefallen."
"Er hat den fünften Dan; das ist ein Meisterschaftsgrad in Karate."
"Hat er Ihnen das erzählt? Ziemlich viel Wind! Man sieht ja, dass er ein Kraftmensch ist, warum schreibt er dann Berichte? Na, davon wird er gleich erlöst."
Hinter der Panzertür seines Büros hielt Hilary die zwei Geldtaschen bereit. "Der Vorwurf geht ins Leere", äußerte er. "Es mag gewiss vorkommen, dass einer von uns die Botschaft betritt; schließlich sind wir amerikanische Staatsbürger und haben dort mal Persönliches zu regeln. Ansonsten handeln wir, im Rahmen der Gesetze, einzig zum Wohle unserer Kunden."
"Ist das der ganze Betrag?"
"Wollen Sie nachzählen?"
"Selbstverständlich. Mit Mr. Hertels Hilfe wird es nicht bis Büroschluss dauern. Und danach nehmen wir das mit. Wollen Sie bitte schon ein Dokument vorbereiten, auf dem ich Ihnen den Empfang quittiere."
Eine Spur Leben kam in Hilarys steinernes Gesicht. "Ausgeschlossen, so geht das nicht. Dazu brauchten wir die Bestätigung Ihrer Firmenleitung, fernschriftlich oder..."
"In Deutschland ist es jetzt Nacht."
"Tut mir aufrichtig leid."
"Sie würden es noch mehr bedauern, falls Sie mich behindern. Doktor Seitz stimmt dem zu - rufen Sie ihn doch an, wenn Ihnen Mr. Pineros Bestätigung nicht reicht. Seitz und ich handeln im Auftrag unserer Direktion, als deren höchste Vertreter hier im Land. Unser Wort muss Ihnen genügen."
"Es darf mir nicht genügen. Sehen Sie, der Betrag kam aus Deutschland, nur von dort aus kann er umdirigiert werden."
"Nein, er stammt vom hiesigen RIAG-Konto, über das Herr Seitz verfügt."
"Nicht bei Geldern diesen Umfangs..."
Sie verstrickten sich in juristische Details, bis Gundlach rief: "Sie stellen sich dem wirklich in den Weg und setzten das Leben Ihres Klienten aufs Spiel? Wir rechnen jeden Moment mit der Weisung zu zahlen und können es nicht, weil Sie sich an den Auftrag klammern! Mr. Hilary, das zwingt mich allerdings, damit an die Öffentlichkeit zu gehen."
"Wie bitte, Sir?"
Gundlach warf ein Geldbündel klatschend auf den Tisch. "Ich gehe jetzt und wende mich an Presse, Funk und Fernsehen. Wir werden die Medien von Ihrer Haltung unterrichten."
"Das brächten Sie wirklich fertig?"
"Darauf können Sie Gift nehmen."
Sie starrten sich über das Geld hinweg an. Dann sagte Hilary: "Gut, nehmen Sie es mit. Aber täuschen Sie sich nicht, das ist kein Job für Anfänger und Laien. Sie werden in dieser Stadt noch sehr ins Schwitzen kommen mit all dem da im Nacken."
"Bieten Sie mir wieder Personenschutz an?"
"Oh, keineswegs. Auch wir ziehen einen Strich. Mir bleibt nur zu hoffen, dass Sie Ihren Schritt nicht bereuen."