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Jemal, ein kenianischer Teenager, hat nur ein Hobby: das Laufen! Und so beschließt er, nach seinem Schulabschluss, mit Unterstützung seines Onkel, das Training in einem Läufercamp aufzunehmen, zusammen mit seinem Freund Tamrat. Sein großer Traum dabei ist, seinem großen Vorbild, dem Marathonläufer Eliud Kipchoge nachzueifern und darüber seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch es ist ein langer und harter Weg. Bei seinen ersten Rennen muss er viel Lehrgeld zahlen, aber Jemal lässt sich nicht entmutigen und lernt aus seinen Fehlern. Außerdem trainiert er hart und nach einem weiteren Sichtungswettkampf erhält er einen Vertrag als Tempomacher. Dazu muss er für einige Monate im Jahr in ein Basecamp in Europa reisen und das alleine, da sein Freund Tamrat aufgrund von Verletzungen und anderer Missgeschicke noch nicht auf diesem Stand ist….
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Seitenzahl: 179
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Dieses Buch ist all den jungen kenianischen Lauftalenten gewidmet, die alle den Traum haben, eines Tages auch so groß rauszukommen wie ihre Idole, allen voran Eliud Kipchoge. Für viele ist dies der einzige Weg, dem Hunger und der Armut zu entfliehen. Allen von ihnen gelten meine Wünsche und Gedanken in diesem Moment
„No human is limited“ („Kein Mensch is begrenzt”)
Eliud Kipchoge, 18.10.2019
Mein Name ist Jemal und meine Geschichte beginnt, als ich 16 Jahre alt war und in dem kleinen Dorf Kapsisiywa im Westen Kenias wohnte. Ich war das älteste von vier Kindern meines Vaters Tesfaye und meiner Mutter Djamila. Meine Geschwister waren allesamt Mädchen im Alter von 11, 7 und 4 Jahren.
Ich war damals kurz vor dem Abschluss der Secondary School im nahegelegenen Nandi County. Unsere Familie lebte, seit ich denken kann, in sehr bescheidenen Verhältnissen, sowohl finanziell als auch räumlich. Wir lebten von einer eigenen kleinen Landwirtschaft und hatten einen Garten von ca. 150 qm Größe, in dem meine Eltern Süßkartoffeln, Tomaten und Bohnen anbauten. Daneben gab es noch ein Dutzend Mangobäume. Auch hatten wir noch einige Hühner und Ziegen. Die Ernte aus dem Gemüse und dem, was die Tiere hergaben, verkaufte mein Vater auf dem Markt in Dorfzentrum, der zweimal wöchentlich stattfand. So kamen wir einigermaßen über die Runden, ohne große Sprünge machen zu können. Zu schaffen machten uns seinerzeit aber die ausbleibenden Niederschläge der vorherigen zwei Jahre. Das hatte zu einer deutlich kleineren Ernte und somit auch kleineren Erträgen auf dem Markt geführt.
Ich muss zugeben, ich hatte damals nur ein Hobby: das Laufen! Die Strecke zur Schule, die immerhin gute drei Kilometer betrug, legte ich laufend zurück. Eine andere Möglichkeit gab es auch nicht, da kein Schulbus fuhr. Glücklicherweise war mein bester Freund Tamrat in der gleichen Klasse wie ich und lief ebenfalls für sein Leben gern. Und so verabredeten wir uns regelmäßig nach den Hausaufgaben noch zu einer Runde Laufen, meist so ca. 15 km.
Unser großes Vorbild dabei war Eliud Kipchoge, der kenianische „Wunderläufer“. Eliud wohnte wie wir ebenfalls mit seiner Familie, zu der inzwischen drei eigene Kinder gehörten, in unserem kleinen Dorf. Unter der Woche hielt er sich allerdings im gut 50 km entfernten Kaptagat auf, wo sich das Great Rift Valley Sports Camp befindet, ein Sportscamp für viele kenianische Läufer. Dieser Ort wurde nicht zufällig gewählt, denn es war u.a. die Höhenlage von ca. 2500 m, die ihn als Trainingsstätte so ideal machte.
Tamrats und mein Traum war es, wie Eliud eines Tages einmal ein berühmter Langläufer zu werden und damit unseren Lebensunterhalt bestreiten zu können und vielleicht auch unseren Familien damit ein etwas besseres Leben zu ermöglichen. Doch als Voraussetzung, sollte es jemals soweit kommen, mussten wir noch sehr viel und hart trainieren und genauso viel Glück haben. Denn in Kenia gab es massenhaft gute Langstreckenläufer, die alle einen ähnlichen Traum hatten. Dazu kam noch, dass man auch als sehr guter Läufer erstmal einen Sponsor finden musste, der einem die ersten Reisen zu den großen Wettkämpfen und Straßenrennen in Europa und den USA finanzierte.
Als in unserer Familie einige Monate zuvor die Sprache auf meine Berufsplanung kam, erzählte ich meinen Eltern von meinem Wunsch, mich ebenfalls dem Trainingscamp von Eliud anzuschließen, mit dem Ziel, dadurch irgendwann einen Sponsor zu finden, der mir eine Karriere als Profiläufer ermöglichen würde. Meine Eltern waren davon nicht begeistert, weil sie in erster Linie die Kosten für die Unterbringung sahen, die sie eigentlich nicht stemmen konnten. Daher antworteten sie: „Jemal, wir würden Dir dieses Camp gerne ermöglichen, aber wir sind finanziell nicht dazu in der Lage. Es tut uns wirklich sehr leid.“
Ich war daraufhin natürlich sehr enttäuscht und den Tränen nahe. Klar war mir unsere finanzielle Lage bewusst und dass meine Eltern jeden Cent zweimal umdrehen mussten, aber ich hatte dennoch die Hoffnung gehegt, dass sie es mir irgendwie ermöglichen konnten.
Am Wochenende darauf waren wir bei meinem Onkel Jabari in der nahegelegenen Stadt Eldoret eingeladen. Mein Onkel war Anwalt und lebte mit seiner Familie in einer geräumigen Mietswohnung in Stadtzentrum von Eldoret. Da meine Eltern sich die Bustour für die gesamte Familie ebenso wenig leisten konnten, sagte mein Onkel zu, diese zu übernehmen, denn es war ihm wichtig, seinem Geburtstag an diesem Wochenende mit seinen Geschwistern und ihren Familien zu feiern. Da an diesem Tage wunderschönes Wetter und es auch nicht zu heiß war, ging mein Onkel mit uns in den nahegelegenen Park und breitete dort mit unserer Tante ein reichhaltiges und leckeres Picknick aus. Mein Onkel wusste, dass meine Abschlussprüfungen in der Schule kurz bevorstanden und erkundigte sich nach meinen Plänen für die Zeit danach. Es war ihm bewusst, dass die Chancen einer guten Berufsausbildung auf dem Lande sehr viel schlechter waren als in Eldoret.
Ich sagte ihm: „Eigentlich ist es mein Traum, einmal Profiläufer zu werden wie mein Vorbild Eliud Kipchoge. Aber meine Eltern haben leider nicht das Geld, mir den Aufenthalt im Athletencamp in Kaptagat zu ermöglichen.“
Mein Onkel sah mir meine Enttäuschung an und überlegte lange.
Dann sagte er: „Jemal, ich könnte die Kosten für die dortige Unterkunft und Dein Auskommen für ein Jahr übernehmen. Wenn Du aber in diesem einen Jahr keinen Sponsor finden solltest, so musst Du Dich anderweitig orientieren und zur Not auch nach Eldoret umziehen, wo Deine Chancen auf eine gute Ausbildung sehr viel besser sind als in Kapsisiywa. Aber natürlich muss ich das Ganze zuerst mit Deinen Eltern besprechen, die selbstverständlich das letzte Wort haben.“
Ich holte auf der Stelle meine Eltern dazu und mein Onkel erzählte Ihnen von seinem Plan.
Mein Vater sagte: „Jabari, das können wir nicht annehmen. Du hast selber Deine Familie, für die Du sorgen musst.“
„Mach Dir da mal keine Sorgen, Tesfaye, die werden schon nicht zu kurz kommen. Du musst keinerlei schlechtes Gewissen haben.“
Mein Eltern berieten sich kurz und schließlich sagte mein Vater: „Okay, wenn Du drauf bestehst, nehmen wir Dein Angebot an.“
Ich jubelte los und nahm alle nacheinander feste in die Arme.
Als ich davon Tamrat erzählte, fragte der ebenfalls bei seinen Eltern nach. Diese führten ein Haushaltswarengeschäft und ihnen ging es finanziell etwas besser als meinen Eltern. Aber auch sie konnten das Geld nicht mit vollen Händen ausgeben. Sie sahen aber auch, wie sehr sich auch Tamrat wünschte, einmal Profiläufer zu werden. Und dementsprechend sagten Sie Tamrat auch zu, für die begrenzte Zeit eines Jahres ihn zu unterstützen, mit der Absicht, dass auch er einen Sponsor finden würde. Wir beide waren überglücklich ob dieser Entscheidung und waren positiv gestimmt. Wir wussten, dass es nicht einfach werden würde, in der Menge guter und sehr guter Läufer herauszustechen, aber wir würden alles dafür tun, dass unser Traum wahr würde.
Aber davor standen seinerzeit noch die Abschlussprüfungen in der Schule. Auch hier machten Tamrat und ich gemeinsame Sache und lernten nun, da die Prüfungen noch drei Wochen entfernt waren, jeden Nachmittag zusammen. Wir mussten beide Prüfungen in Mathematik, Englisch und der Landessprache Swahili ablegen und sollte es mit der Karriere als Profiläufer nicht klappen, so war es schon wichtig, eine gute Abschlussprüfung abzulegen. Und so gingen wir beide nun gut vorbereitet in die Prüfungen an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Die Prüfungen waren zwar anspruchsvoll, aber ich denke, wegen unserer guten Vorbereitung konnte ich die gestellten Aufgaben gut erfüllen und hatte ein entsprechend gutes Gefühl. Dies bestätigte sich auch: Ich bekam die Abschlussnote B, was in Deutschland einem Gut entspricht, und war damit vollends zufrieden. Tamrat war eine Kleinigkeit besser, er hatte eine B+.
Eine Woche nach Bekanntgabe der Noten gab es eine kleine Abschlussfeier an der Schule, zu der auch die Eltern eingeladen waren. Diese Feier war sehr schön, der Direktor hielt eine tolle Rede und einer der Abschlussschüler spielte einige Lieder auf einem Klavier. Die Schüler wurden dann einzeln auf die Bühne gerufen und ihnen wurde feierlich das Abschlusszeugnis überreicht.
Zwei Tage nach der Abschlussfeier fuhren Tamrat und ich nach Kaptagat, um dort im Athletencamp vor Ort ein Zimmer zu mieten. Leider sagte uns der Vermieter der Zimmer und Apartments im Camp, dass er derzeit leider überhaupt kein Zimmer mehr frei hatte, aber er gab uns den Tipp, dass einige Kilometer außerhalb des Camps ein größerer Komplex mit einfachen zu vermietenden Zimmern war. Dort wohnten viele der Nicht-Top-Athleten und die Miete war dort auch sehr viel günstiger als im Camp selbst. Und so machten Tamrat und ich uns zu Fuß auf der relativ unbefestigten Straße auf zu diesem Wohnungskomplex und erreichten ihn nach ca. 15 Minuten. Ganz in der Nähe gab es auch eine kleine Einkaufszeile, wo Güter des täglichen Bedarfs verkauft wurden. Wir fragten in einem der Geschäfte nach dem Vermieter der Wohnungen, die man uns beschrieben hatte. Zufällig hatte dieser auch sein Büro in einem der Geschäfte. Als wir nun in sein Büro eintraten, war vor uns augenscheinlich noch ein weiterer Läufer, der das gleiche Anliegen hatte. Als Tamrat und ich unseren Wunsch nach einem kleinen Zimmer äußerten, nahm dieser uns alle drei mit und zeigte uns die noch freien Zimmer. Diese waren sehr spartanisch eingerichtet: mit einem Bett, einem kleinen Kleiderschrank und einer kleinen Kochecke. Badezimmer und Toilette waren auf dem Flur. Tamrat und ich waren zwar nicht begeistert von den Zimmern, aber was blieb uns anderes übrig. Die Unterkunft war für uns auch eher sekundär. Wichtig war, dass wir mit den Athleten aus dem Sportscamp zusammen trainieren durften und so hoffentlich von ihrer Erfahrung profitieren konnten. Außerdem waren die Zimmer günstig mit jeweils 15 US-$ im Monat und somit im Budget, was mein Onkel Jabari und Tamrats Vater uns mitgegeben hatte. Somit besiegelten wir anschließend den Mietvertrag per Handschlag. Jetzt konnte unser Abenteuer beginnen, von dem keiner wusste, wie es ausgehen würde.
Am nächsten Tag packte ich also ein wenig Kleidung. Da es in dem Wohnkomplex in Kaptagat keinerlei Waschmaschine gab, blieb mir nichts anderes übrig, als meine Kleidung auf der Hand zu waschen wie es auch die anderen Athleten taten. Zeit dafür würde ich tagsüber ja genug haben. An Laufkleidung hatte ich leider auch nur sehr wenig zu bieten: da waren gerade mal zwei Läufershirts und zwei Sporthosen. Im Wechsel konnte ich diese ebenfalls dann vor Ort auf der Hand waschen, sodass ich immer eine frische Garnitur hatte. Auch meine Laufschuhe waren schon alt und recht verschlissen, aber meine Familie hatte leider kein Geld für ein neues Paar und so musste dieses es wohl noch einige Zeit tun.
Als wir am nächsten Tag wieder nach Kaptagat fuhren und uns im Camp schlau machten, wann die Trainingsläufe stattfinden würden, gab es für uns beide einen kleinen Schock.Man sagte uns, dass die Läufergruppe sich regelmäßig pünktlich um 6:00 Uhr auf den Weg machte.Da Tamrat und ich vorher noch ca. 15 min. von unserer Unterkunft ins Camp brauchen würden, bedeutete das, dass wir spätestens um 5:30 Uhr aufstehen mussten, eine Zeit, die für uns beide bislang noch tiefste Nacht bedeutete.Aber wir waren bereit, sehr viele Opfer zu bringen und dies war halt eines davon.Als wir am kommenden Morgen um kurz vor 06:00 Uhr am Treffpunkt erschienen, hatten sich schon ca. 50 Läufer dort versammelt. Die Spitzenläufer kamen jeweils mit Autos an, da sie im weitläufigen Camp etwas außerhalb in separaten Apartments untergebracht waren. Schnell wurde Tamrat und mir klar, dass es hier wohl doch eine Zweiklassengesellschaft gab. Da waren einerseits die Spitzenläufer, die sich mit Sponsorenunterstützung den einen oder anderen "Luxus" leisten konnten und da waren auf der anderen Seite die sogenannten Outsider, die mehr oder weniger geduldet wurden, denen aber keiner der Spitzenläufer große Beachtung schenkte. Es war halt eine Mär von der großen und homogenen Läuferfamilie in Kenia. Obwohl es auf der anderen Seite wohl auch in anderen Ländern ebenfalls undenkbar wäre, dass Amateure zusammen mit Profis trainieren.Ich war an diesem Tag schon relativ nervös vor unserem ersten gemeinsamen Lauf. Insbesondere wie der Leistungsstand der Gruppe und das angeschlagene Tempo sein würden. Die Ansage war, dass an diesem Tag eine Strecke von ca. 20 km gelaufen werden würde. Nach dem Loslaufen zog sich das Feld auch sogleich schnell auseinander. Die Spitzenläufer schlugen von Anfang an ein sehr flottes Tempo an. Es war nicht im Traum daran zu denken, dass Tamrat und ich da folgen könnten. Und so sortierten wir uns im hinteren Drittel des Feldes ein. Dort war das Tempo ungefähr so hoch wie bei unseren bisherigen Trainingsläufen. Es wurde zumeist auf Straßen gelaufen, die aber wie üblich in Kenia unbefestigt und mit Schlaglöchern übersät waren. Man musste praktisch bei jedem Schritt darauf achten, wohin man seinen Fuß setzte, wenn man sich nicht verletzen wollte. Als wir dann nach ca. 1 h und 25 min. wieder am Camp ankamen, waren die Spitzenläufer allesamt schon fertig mit den Stretching und stiegen gerade in ihre Autos.Tamrat und ich waren ziemlich erschöpft, wir waren selten zuvor eine solche Strecke in diesem Tempo gelaufen. Die dünne und sauerstoffarme Luft in der Höhe von Kaptagat waren wir ebenso wenig gewohnt. Anschließend vollführten wir auch das übliche Stretching, welches wir vorher meist vernachlässigt hatten. Wir schauten uns die Übungen bei den anderen Athleten ab. Als wir uns nach dem Programm für den Folgetag erkundigten, sagte man uns, dass der Dienstag reserviert war für Intervalltraining auf der nahegelegenen Aschenbahn. Eine Kunststoffbahn mit Tartanbelag gab es in Kaptagat nicht.
Sehr erschöpft setzten wir uns anschließend im langsamen Trab wieder in Bewegung auf dem Rückweg zu unseren Apartments. Wir waren etwas ernüchtert, aber wir sagten uns, dass es wohl etwas Zeit brauchen würde, um uns an die Verhältnisse hier in Kaptagat zu akklimatisieren. Den restlichen Tag verbrachten wir mit ein paar anderen Athleten der Nachbarapartments in einem Gemeinschaftsraum, den wir kostenfrei nutzen konnten und wo wir z.B. auch selbst zubereitetes Essen zu uns nehmen konnten. Die anderen Athleten berichteten uns, dass es Ihnen ebenso ging wie uns, als sie im Camp angefangen hatten. Wir sollten uns da nicht zu viele Gedanken drum machen.
Am nächsten Morgen waren Tamrat und ich pünktlich an der Laufbahn. Über Nacht hatte es ein heftiges Gewitter gegeben, sodass die ganze Erde aufgeweicht war. Deshalb erklärte man uns auch, dass sich die heutige Trainingseinheit um einige Stunden verschieben würde, bis der Untergrund einigermaßen abgetrocknet war. Es blieb uns nichts anderes übrig, als an der Laufbahn zu warten, da uns keiner eine konkrete Uhrzeit nannte. Diese war in dem Fall wie die gesamte Trainingsplanung ein Geheimnis der Spitzenläufer sowie ihrer Trainer. Nach zwei Stunden erschienen dann auch die Topathleten. Zuerst gab es hier ein reichliches Warm-Up. Wir liefen ca. 8 Runden in einem auch für uns gemütlichen Tempo. Danach folgte das Stretching im Innenraum. Bevor es an die Intervallläufe ging, wechselten die Topläufer ihr Schuhwerk auf Spikes. Der Boden war immer noch sehr durchgeweicht vom nächtlichen Regen. Viele Läufer so wie Tamrat und ich besaßen natürlich keine Spikes, aber es war klar, dass wir sowieso mit den Stars nicht mithalten konnten. Dementsprechend wurde auch im Vorfeld die Gruppe schon geteilt.Die Ansagen der Intervallläufe kamen für beide Gruppen von Patrick Sang, Eliuds Trainer. Es gab abwechselnde Einheiten aus sehr schnellen Runden, eher gemütlichen Runden und einigen Abschnitten, bei denen wir gehen konnten. Das Tempo von Eliud während der schnellen Runden mit Kilometerzeiten von unter 2:50 min / km war schon beeindruckend. Das hätten Tamrat und ich auch mit den besten Spikes niemals geschafft.
Leider konnten wir auch in der langsameren Gruppe bei den schnellen Intervallen nicht mithalten. Dementsprechend kürzer waren natürlich die darauffolgenden Erholungsphasen. Das führte dazu, dass wir am Ende des Trainings fast genauso erschöpft waren wir am Vortag und lange verschnaufen mussten, während die Topläufer locker flockig das Stretching begonnen hatten, ohne dass man ihnen irgendwelche Strapazen ansah.
Wieder reichlich frustriert machten wir uns anschließend auf den Nachhauseweg und als wir dann tagsüber die beiden Trainingseinheiten nochmal Revue passieren ließen, kamen uns doch arge Zweifel, ob unsere physischen Voraussetzungen wirklich ausreichten, um hier mittelfristig zumindest an das durchschnittliche Niveau der anderen Läufer heranzukommen. Aber wir nahmen uns die Worte der anderen Athleten vom Vortag zu Herzen und verdrängten solche Gedanken erstmal.
Die nächsten zwei Tage standen wie am ersten Tag jeweils ein mittellanger Lauf von ca. 20 km auf dem Programm, während für den Freitag eine lange Einheit mit ca. 30 km geplant war. Während wir die mittellangen Einheiten an den Folgetagen überraschend gut verkrafteten, graute Tamrat und mir ein wenig vor der langen Einheit am Freitag. Und unsere Erwartungen erfüllten sich leider auch: Ab km 25 hatte ich den Eindruck, dass man mir sämtliche Energiereserven entzog. Mit Müh und Not und weit abgeschlagen von der hinteren Läufergruppe schleppten wir uns über die letzten Kilometer. Aber wir hatten immerhin so viel Willen, nicht ins Gehen überzugehen. Als wir wieder am Camp eintrafen, trafen wir nicht mehr viele Athleten an, die noch mit Stretchübungen beschäftigt waren. Die anderen waren schon lange fertig mit der Einheit.
Den Nachhauseweg gingen Tamrat und ich dann aber, unsere Beine fühlten sich schwer an wie Blei. An diesem Tag schliefen wir viel, aber dennoch fühlten wir uns am Abend weiterhin sehr erschöpft.
Am Samstag gab es glücklicherweise nur eine lockere kurze Einheit von 10 km. Zu Beginn dieser Einheit spürten wir noch die vom Vortag sehr schweren Beine, aber das besserte sich während der zweiten Hälfte der Strecke etwas. Als wir dann wieder zurückkamen in unsere Unterkunft, packten wir sogleich unsere Sachen und machten uns mit Bus auf den Weg zu unseren Eltern in Kapsisiywa. Sonntags war generell ein freier Tag, das handhabten auch die Spitzenläufer so. Als ich zuhause ankam, sahen meine Eltern mir sofort an, dass meine vorherige Begeisterung für das Sportscamp verflogen und einer Ernüchterung gewichen war. Ich befürchtete irgendwelche oberlehrerhaften Worte im Sinne von „Das haben wir Dir ja sofort gesagt…“, aber erstaunlicherweise war das Gegenteil der Fall. Sie ermutigten mich, nicht nach den ersten Rückschlägen sofort aufzugeben, sondern mir die Sätze der anderen Athleten zu Herzen zu nehmen, die die gleichen Erfahrungen am Anfang gemacht hatten. Das baute mich in der Tat ein wenig auf.
Und so gingen Tamrat und ich mit neuem Mut die nächste Woche an. Am Montag stand entsprechend eine mittellange Einheit von ca. 20 km auf dem Programm. Und es schien, als hätte uns der Sonntag an Regeneration geholfen. Wir liefen zwar weiterhin im hinteren Drittel des Feldes, aber es fühlte sich nicht ganz so anstrengend an wie in der Vorwoche und nach 2-3 Minuten zurück am Startpunkt war die erste Anstrengung gewichen und unser Puls normalisierte sich relativ schnell wieder.
In den nächsten Tagen stießen zwei Engländer zur Gruppe. Wir nannten Weiße in unserer Muttersprache Swahili „Muzungu“. Sie sagten, sie würden gerne eine Autobiographie über Eliud schreiben und wollten sich aus erster Hand einen Eindruck auch vom Athletencamp verschaffen, in dem er trainierte. Sie schlossen sich den Trainingseinheiten an, aber konnten natürlich auch das Tempo der Spitze nicht mitgehen. So sortierten sie sich ebenfalls im hinteren Drittel ein. Und in einigen Gesprächen kamen wir uns auch näher und sie versprachen, in ihrer Geschichte auch uns sog. „Outsidern“, also den „Mitläufern“ ein eigenes Kapitel zu widmen. Was ganz toll war: Sie hatten auch einige Paare gebrauchter Laufschuhe mitgebracht, die sie unten den Athleten im Camp verteilten. Auch Tamrat und ich ergatterten dadurch jeweils ein Paar in unserer Größe. Es war ein ganz anderes Gefühl, in diesen Schuhen zu laufen. Sie hatten noch eine funktionierende Dämpfung, was u.a. dafür sorgte, dass bei den langen Einheiten unsere Fußgelenke nicht so schmerzten und sie auch sonst das Laufen sehr erleichterten.
Die beiden Reporter verbrachten auch einige Zeit im Athletencamp und baten uns, zwei Tage mit dort verbringen zu dürfen. Es war sehr interessant, vor Ort mit dem einen oder anderen Läufer ins Gespräch zu kommen. Einige wohnten dort schon mehrere Jahre, aber hatten ihren Traum von einer Läuferkarriere noch nicht aufgegeben, getreu dem Motto "Die Hoffnung stirbt zuletzt".
Die Reporter verstanden nicht so recht, warum Eliud Kipchoge in Kaptagat seine Zelte aufgeschlagen hatte. Etwa 50 km von Kaptagat, in Iten, gab es nämlich ein sehr viel komfortableres Läufercamp, ebenfalls auf einer Höhe von ca. 2500 m. Dort gab es angeblich eine viel bessere sportliche Infrastruktur mit Physiotherapeuten und modernen Trainingsstätten. Ich denke, es war irgendwo Eliuds persönliches Geheimnis, aber wohl auch das Geheimnis seines Erfolges, warum er sich ausgerechnet das doch eher spartanische Kaptagat als Trainingsstätte ausgesucht hatte. Die beiden Reporter sprachen ebenfalls lange mit uns sog. Outsidern. Als das Gespräch auf die generelle Aktivität des Laufens in Kenia kam, bemerkte einer der anderen Athleten, in Kenia würde niemand nur aus Spaß laufen. Eine Erkenntnis, die für uns Kenianer logisch war, aber für die beiden Reporter in letzter Konsequenz doch etwas erschreckend. Denn jeder, der lief, hatte das Ziel, mit dem Laufen den Kreislauf der Armut zu durchbrechen.