Der Mann, der einen Esel kaufte und ins Kloster ging - Rüdiger Schneider - E-Book

Der Mann, der einen Esel kaufte und ins Kloster ging E-Book

Rüdiger Schneider

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Beschreibung

Was geschieht, wenn man sich in einer gutbürgerlichen Siedlung einen Esel in den Garten eines Reihenhauses stellt? Jakob Korff rettet eine Eselin vor dem Abdecker und wagt es. Recht bald beginnt der Ärger mit dem Nachbarn, der Polizei und der eigenen Frau, die ihn vor die Alternative stellt: "Der Esel oder ich!" Korff sieht keine andere Möglichkeit, als mit Coco, der Eselin, aufzubrechen und den Rhein entlang zu wandern. Ein unvermutetes Abenteuer beginnt, in dessen Verlauf sich Korff wandelt. Aber auch seine Frau steht vor ganz neuen Herausforderungen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

1

An diesem Morgen war alles anders. Korff verließ das Haus, um wie immer zur Arbeit zu gehen. Aber dieses Mal nahm er nicht den direkten Weg von der Haustür nach rechts, sondern entschloss sich zu einem kleinen Bogen nach links. Er kam an einer Tankstelle vorbei, zögerte einen Moment, ging hinein und kaufte sich eine mittelgroße Flasche Jägermeister. Mit der Flasche in der Jackentasche schlug er den Weg zu den Duisdorfer Feldern ein, wanderte etwas weiter als gewöhnlich, setzte sich auf eine Bank, zündete sich eine Zigarette an, schraubte den Verschluss der Flasche auf, nahm einen ersten guten Schluck. So saß er da in Anzug und Krawatte, blickte über die Felder und Wiesen hinüber zur Rochusstraße, wo die Bonner Ministerien lagen, die noch nicht nach Berlin umgezogen waren. Heute sollte sein letzter Arbeitstag sein, eine kleine feierliche Verabschiedung stand bevor. Korff hatte sein Rentenalter erreicht. Als Sachbearbeiter in einer Registratur hatte er Mitteilungen zu lesen, zu ordnen und zu archivieren nach den Kategorien ‚geheim‘, ‚streng geheim‘, ‚confidental‘ und ‚restricted‘. Die Akten brachte er dann in einen Panzerraum, zu dem nur er die Zahlenkombination kannte und Zugang hatte. Der Panzerraum war alarmgesichert. Einen Alarm aber gab es fast nie. Nur einmal war das passiert. Da hatten ihn nachts die Feldjäger aus dem Bett geholt, hatten mit Maschinenpistolen im Anschlag und zusammen mit ihm die Tür zum Panzerraum aufgesucht. Er tippte die Kombination ein, öffnete die Tür. Eine Hummel kam herausgeflogen. Das war sozusagen das einzige aufregende Ereignis in Korffs Arbeitsleben. Sonst nichts? Er überschlug die Anzahl der Akten, die er im Laufe seines Arbeitslebens zu lesen, zu registrieren und aufzubewahren hatte. Er schätzte die Seiten, die ihm in fast vierzig Jahren unter die Augen gekommen waren, und kam auf die stattliche Zahl von 900 000. Kopfschüttelnd stellte er fest, dass er sich nicht mehr an den Inhalt auch nur einer Seite erinnerte. Leer, wie weggeblasen war alles.

Er sah auf die Uhr. Es war zehn nach acht. Ein schöner Mittwochmorgen Anfang Mai. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Normalerweise saß er immer Punkt acht an seinem Arbeitsplatz. Vierzig Jahre hatte er um fünf vor acht sein Haus verlassen, war nach rechts gebogen in den Lärm der Rochusstraße, um dann sogleich nach ein paar Metern das Wachhäuschen zu passieren. Korffs Grundstück grenzte unmittelbar an das von Gittern umzogene Gelände des Ministeriums. Am Wachhäuschen nickte er jeden Morgen einen freundlichen Gruß, zeigte seinen Ausweis und war nur zwei Minuten später in der Registratur, die im Parterre des Gebäudes lag, verschwunden. So war es gewesen. Mit gewohnter Regelmäßigkeit Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Die Zeit schien ein konstantes Kontinuum zu sein, das sich mit Beginn eines neuen Jahres nur durch eine veränderte Ziffer zu zeigen schien. Dass man mit den Jahren älter wurde, hatte Korff kaum bemerkt. Morgens beim Rasieren blickte ihm aus dem Spiegel immer noch das altvertraute Gesicht entgegen, das er bereits von gestern kannte und am nächsten Morgen wiedererkennen würde. Nur wenn man dieses Gesicht mit Fotos aus früheren Tagen verglich, waren die Veränderungen bemerkbar. Ein paar Falten waren hinzugekommen, die Haare weniger geworden, der Blick der Augen etwas müder mit einer Spur von Langeweile darin. Von gesundheitlichen Problemen war er verschont geblieben. Die Mandeln waren noch da, der Blinddarm, alle Zähne bis auf die der Weisheit. Nie hatte es einen Bruch gegeben. Weder den eines Armes oder Beines noch den der Leiste oder des Nabels. Allergien kannte er nicht. Nicht die gegen Hunde und Katzen, auch nicht gegen Nahrungsmittel oder die im Frühjahr fliegenden Pollen der Natur. Selbst Grippe oder Schnupfen hatten ihn nur selten heimgesucht und wenn, dann höchstens für ein paar belanglose Tage. Dieser Gesundheitszustand war verwunderlich, da Korff rauchte und sich jeden Abend, wenn er von der Arbeit heimgekehrt war, ein Glas Whisky einschenkte. So stand es mit der Gesundheit seines Körpers. Über die psychische Seite dachte er nicht nach. Auch da schien alles normal, selbst wenn es ab und zu Schwankungen der Stimmung gab. Diese Schwankungen gehörten einfach dazu. Sie kamen und gingen und waren wie das Wetter, das nicht immer dasselbe war. Und möglicherweise hingen Stimmungen auch vom Mond ab, der mal als Sichel am Himmel stand, als Drittel, Halbkreis oder gar voll und manchmal überhaupt nicht zu sehen war. Die Hauptsache, solche Veränderungen waren konstant, verliefen periodisch, kehrten zu den vertrauten Bildern zurück, waren stabil, ließen sich berechnen und ängstigten deswegen nicht. Genauso wie auch morgens die Sonne aufging, am Abend verschwand und tags darauf verlässlich wiederkehrte.

An diesem Morgen aber schnürte Korff irgendetwas die Kehle zu. Das Herz schlug plötzlich schneller, mit einem Taschentuch wischte er sich Schweißperlen von der Stirn, nahm einen weiteren Schluck Jägermeister, schraubte den Verschluss auf die Flasche, schob sie in die Jacketttasche, drückte die Kippe auf dem Boden aus, zerrieb sie mit der Schuhsohle, stand auf, blickte sich um. Am südwestlichen Horizont zeigte sich die Linie des Vorgebirges. Eine Bahn rauschte vorbei. Ein Schwarm Krähen kreiste aufgeregt über den Feldern. Die noch jungen Halme wiegten sich im Wind, der in sanften Wellen über sie hinwegstrich. Um halb neun könnte er in der Registratur sein. Die Verspätung, die ihm zustand, würde man ihm nicht übelnehmen. Es war ja ein besonderer Tag, nämlich sein letzter. Zu arbeiten hätte er nicht mehr, nur zu warten auf die Verabschiedung am Nachmittag. Er hatte sich die im allerkleinsten Kreise erbeten. Nur keine feierlichen Reden, kein Händeschütteln von Vorgesetzten, die man ansonsten selten sah. Sein Nachfolger war eingearbeitet, der Schreibtisch von privaten Dingen befreit, die es nie gegeben hatte, abgesehen von einem schlichten, mattblauen Kaffeebecher, der ihm nun seit vierzig Jahren als Trinkgefäß diente. Man würde ihm seine Verspätung nachsehen, Verständnis haben, dass es ein besonderer Tag war. Seltsam, dass der einmal kommen musste. Alles konnte der Mensch anhalten, gestalten, regulieren. Nur die Zeit nicht. Auch die Zukunft würde kommen und irgendwann vorbei sein. Eigentlich hatte er sich auf den Ruhestand gefreut, auf die freie Zeit, mit der man Sinnvolles anfangen konnte. Täglich, nicht nur am Wochenende, über die Messdorfer Felder gehen, Theater besuchen, Erkundigungsgänge durch die Bonner Museumsmeile, Vergnügungsfahrten auf dem Rhein, mit dem Rad von Bonn nach Koblenz fahren. Und wenn er einmal etwas länger und etwas öfter an der Theke seiner Stammkneipe saß, so konnte ihm das niemand verübeln. Er hatte keine Rücksicht zu nehmen auf den nächsten Arbeitstag.

Langsam wanderte Korff auf das Ministerium zu. Aber an einem Pfad, der an umzäunten Wiesen vorbeiführte, bog er noch einmal ab, um seine Ankunft zu verzögern. Außerdem war er neugierig. Denn dort, wo der Pfad vom Feldweg zu den Wiesen hin abbog, stand ein Geländewagen mit einem Anhänger für Viehtransport. Die Klappe hinten war geöffnet und als Rampe auf den Boden geschwenkt. Korff warf einen kurzen Blick hinein. Der Anhänger war leer. Wahrscheinlich hatte jemand Schafe oder Ziegen gebracht, um sie auf einer der Parzellen weiden zu lassen. Korff freute sich darüber. Das bedeutete ein Stück Leben in einer eher langweiligen Umgebung. Als er nach hundert Metern an ein Gatter kam, wurde es gerade geschlossen. Ein Mann in einem blauen Overall und mit Gummistiefeln an den Füßen zog es zu, wobei die Latten über den Boden schrammten. Zum Schluss legte er eine Drahtschlinge um einen Pfosten. Mitten auf der Wiese, wie eine reglose Skulptur, stand ein Esel, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte in den Himmel.

„Guten Morgen!“ sagte Korff. „Da hat man beim Spaziergang ja endlich etwas Gesellschaft.“

Der Mann, der etwa fünfzig, vielleicht auch sechzig Jahre alt sein mochte, blickte kurz auf und knurrte: „Nicht für lange.“ Er rüttelte am Gatter, prüfte, ob es gut verschlossen war und schien nicht zu einer längeren Unterhaltung aufgelegt zu sein. Er drehte sich um, wollte an Korff vorbeistapfen, um auf dem Pfad zu dem Geländewagen zurückzugehen.

„Warum nicht für lange?“ fragte Korff. Der Mann mochte ein Bauer aus der Umgebung sein, wahrscheinlich aus Lessenich oder Dransdorf. Sein Overall roch nach Stall.

„Weil das Vieh zum Abdecker muss. Ist alt und macht nur Probleme. Verträgt sich nicht mit den Pferden.“

„Zum Abdecker?“ wiederholte Korff und sah auf den Esel, der immer noch reglos in den Himmel starrte.“

„Wohin denn sonst? Da gibt’s für das Vieh wenigstens noch etwas Kohle.“ Der Mann warf jetzt einen längeren, prüfenden und zugleich spöttischen Blick auf Korff, der im Anzug und mit Krawatte vor ihm stand. „Eselswurst kennen Sie wohl nicht.“

Korff schüttelte den Kopf, blickte wieder zu dem Esel, der sich nicht rührte, als wolle er gegen seine Abschiebung vom Hof protestieren. Es war ein schönes lavendelgraues Tier mit hellen Partien an Mähne und Widerrist. Es war kleiner als ein Muli, hatte gerade mal die Größe eines Ponys.

„Wieviel zahlt denn der Abdecker?“ fragte Korff.

„Ein Euro das Kilo. Macht bei dem hier hundertfünfzig.“

„Ich gebe Ihnen dreihundert“, sagte Korff.

„Dreihundert?“ Der Mann warf wieder einen prüfenden Blick auf ihn. „Haben Sie überhaupt Ahnung, wie man mit so einem Tier umgeht?“

„Natürlich“, log Korff. „Ich bin auf einem Bauernhof in der Eifel aufgewachsen.“

„Gut“, sagte der Mann. „Ich will das nicht nachprüfen. Sie kommen zu mir nach Lessenich, in den Alten Heerweg. Da finden Sie den Schmiedehof. Nummer drei. Finden Sie’s nicht, fragen Sie nach dem Schmiedebauern. Mich kennt hier jeder. Sie bringen das Geld mit, unterschreiben den Kauf. Sind Sie nicht bis heute Abend da, kommt der Abdecker. Der Esel ist übrigens eine Eselin. Da haben Sie weniger Scherereien mit. Sie können Ihre Freundin zunächst hier auf der Wiese stehen lassen.“

Der Mann nickte kurz wie zum Abschiedsgruß, drehte sich um und stapfte auf dem Pfad seinem Geländewagen entgegen.

Korff sah ihm eine Weile nach, wandte sich dann dem Graukittel zu. Der Esel hatte den Kopf gedreht, blickte mit hochgestellten Ohren zum Gatter hin. Jetzt sah Korff die hübschen weißen Ringe um die Augen. „Seltsam“, dachte er, „mein Herzklopfen ist verflogen. Ich freue mich.“ Und so wanderte er rasch auf dem Pfad weiter, der sich vom Ministerium entfernte, nach ein paar hundert Metern in die Rochusstraße mündete, von wo aus es nur noch eine kurze Strecke zur Sparkasse war.

2

Elisabeth Korff rollte den Stuhl vom Schreibtisch weg, stand auf, ging nachdenklich auf und ab. Die Zwischentür zum Sekretariat hatte sie geschlossen, um bei der Vorbereitung für die Konferenz am Nachmittag nicht gestört zu werden. Als Direktorin des Edith-Stein-Gymnasiums plante sie akribisch jedes Detail, beugte, soweit es möglich war, allen Eventualitäten vor. Sie hatte ihr Haus im Griff, beherrschte die Kunst der Balance und Diplomatie. In ihrer Position geriet man leicht zwischen alle Stühle, hatte zu vermitteln zwischen Kollegen, Schülern, Eltern und einem Dezernenten, der als oberste Aufsicht nichts von Scherereien wissen wollte. Sie liebte ihren verantwortungsvollen Beruf, war sich bewusst, dass man sie mit einer respektvollen Vorsicht behandelte und dass die Formel ‚Prima inter Pares‘, Erste unter Gleichgestellten, nicht ganz stimmte. Neben den Verwaltungsaufgaben hatte sie sich noch mit acht Stunden pro Woche am Unterricht zu beteiligen und kannte keinen Ärger mit der Disziplin der Schüler. Es war mäuschenstill in den Klassen. Über Lärm und Respektlosigkeit konnte sie sich nicht beklagen. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen und Kolleginnen, die vom Tinnitus oder morgendlichem Zittern befallen wurden und sich nicht selten vorzeitig in die Pension retteten. Wieder andere überlebten nur, weil sie ein Fläschchen Melissengeist in der Schultasche hatten. Aber auch diese waren, wenn sie die Altersgrenze erreicht hatten, fürs Weiterleben und den Genuss des Ruhestandes ruiniert.

Auf und ab wandernd im Büro überlegte sie. Der dritte Tagesordnungspunkt, abgekürzt TOP 3, machte ihr Sorgen. Beförderungen standen an. Fünf männliche Kollegen hatten sich zu einem Protestkreis zusammengefunden und Klage eingereicht am europäischen Gerichtshof gegen die Quotenregelung, salopp auch als ‚Stock und Rock‘ bezeichnet. Was nichts anderes hieß, als dass Behinderte und Frauen bevorzugt wurden. Die Klage an sich war nicht das Problem. Das hatten die Juristen zu lösen. Sie aber musste mit einer vergifteten Atmosphäre im Kollegium fertigwerden. Für das Ende des Schuljahres hatte der Dezernent hierzu eine Maßnahme angeordnet. Ein ganzes Wochenende war in einer Jugendherberge zu verbringen, um in Arbeitskreisen Konfliktlösungen zu erarbeiten. Ein Referent und Moderator war vom Dezernenten schon vorgesehen worden. Auf Freude stieß die Veranstaltung gewiss nicht. Das Kollegium würde sie schweigend entgegennehmen.

Sie trat ans Fenster und sah hinaus. Hier hatte sie einen Ausblick über die Messdorfer Felder bis hin zum Vorgebirge. Ihr Blick ging über den Sportplatz der Schule, der an die Felder grenzte und durch einen meterhohen Maschendrahtzaun abgetrennt war. Dicht am Zaun, zwischen Feldern und Sportplatz, verlief ein Pfad, der bald darauf in eine Anliegerstraße mündete, die dann weiter zur Rochusstraße führte. Vom Fenster bis zum Pfad waren es gut zweihundert Meter. Den Mann, der gerade den Pfad entlangeilte, konnte sie nicht genau erkennen. Er war gekleidet wie Jakob. Aber er konnte es nicht sein. Jakob war normalerweise langsam, schlenderte lustlos, als wüsste er nicht, wohin er seine Schritte lenken sollte. Dieser Mann aber ging beschwingt. Und außerdem war es halb neun. Da war Jakob im Ministerium. Er feierte seinen letzten Tag. Sie war jetzt 63, hätte den in zwei Jahren. Sie mochte gar nicht darüber nachdenken. Aber Jakob würde die neue Lebensphase guttun. Abends vor dem Fernseher war er immer, wie er es selber ausdrückte, von einer „furchtbaren Müdigkeit ergriffen“. Er schlief auf dem Sofa ein, schnarchte, was den Genuss eines Films oder einer Reportage minderte. Sie musste den Apparat dann stets lauter, übermäßig laut stellen. Vielleicht würde sich ihr Mann endlich ändern. Gespräche waren selten. Er erzählte nichts von seiner Arbeit, berief sich darauf, dass sie geheim sei. Von ihrer wollte er auch nichts wissen. Schon bei dem Wort ‚Schule‘ verfinsterte sich seine Miene und er verzog den Mund. Auch die finanziellen Verhältnisse würden sich etwas ändern. Mit dem Ruhestand gab es weniger Geld. Aber verglichen mit anderen Schicksalen war Jakobs Rente ja gar nicht so mager. Hier zahlte sich aus, dass er vierzig Jahre durchgehalten hatte. Außerdem war ein Ausgleich möglich. Die polnische Haushaltshilfe konnte entlassen werden. Was die Arbeit in Haus und Garten betraf, hätte Jakob ein paar Zugeständnisse zu machen. Zeit genug hatte er ja ab Morgen. Einkaufen ging er ja schon. Aber das tat er nur, wenn er unterwegs in der ‚Hopfenstube‘ einkehren konnte.

3

Jakob Korff hob tausend Euro von seinem Konto ab. 300 für den Esel, dann eine Anzahlungssumme für eine noch ungewisse jährliche Pacht, die der Bauer für die Wiese verlangen würde. Viel konnte es nicht sein. Die Größe der Parzelle schätzte er auf 20 mal 30 Meter. Es war einfach nur ein kleines Wiesenstück, nicht größer als der eigene Garten. Weiter kämen noch Kosten für Baumaterial hinzu. Die Eselin brauchte einen Stall. Zurzeit war zwar strahlendes Sonnenwetter mit warmen Temperaturen, aber das konnte sich rasch ändern. Korff war froh, dass er und Elli getrennte Konten hatten. So würde sie von dem fehlenden Geld nichts merken. Die Sache mit dem Esel würde er ihr schonend beibringen, sie damit überraschen. Sie hatte sich ja schon immer einen Hund gewünscht. Da sie beide berufstätig gewesen waren, hatten sie darauf verzichtet. Gut, ein Esel war größer als ein Hund. Aber was machte das schon. Den Graukittel würde auch Elisabeth als neues Familienmitglied willkommen heißen. Mit eigenen Kindern hatte es nicht geklappt. Sie hatten sich damit abgefunden. Elisabeth tröstete sich mit dem Spruch: „Meine Kinder sind die Schüler.“ Er selbst litt nicht darunter, wollte auch nicht nachforschen, woran das Fehlen von Nachwuchs lag. Es war einfach ein Schicksalswink der Natur. Ansonsten schien Korff die Ehe weitgehend in Ordnung. Man lebte zusammen, kannte sich, hatte sich aneinander gewöhnt. Es kribbelte zwar nicht mehr im Bauch so wie am Anfang. Aber das war der normale Lauf der Dinge. Ebenso, dass sie zwei getrennte Schlafzimmer hatten. Weil er schnarchte, gelegentlich Schnappatmung hatte und im Schlaf brabbelte. Das war ihr bei ihrem anstrengenden Beruf nicht zuzumuten. Überdies hatte sich die Libido mit den Jahren gelegt, der Testosteronspiegel sich gesenkt. Man fiel nicht mehr übereinander her, sondern machte es sich vor dem Fernseher gemütlich. Auf außereheliche Affären hatte Korff verzichtet. Nicht weil es an Gelegenheiten mangelte, sondern weil er die Probleme vermeiden wollte, die eine Entdeckung mit sich brachte. Treue aus Liebe konnte man das nicht nennen, sondern eher eine Entscheidung der Vernunft.

Auch der wirtschaftliche Vorteil war nicht zu verachten. Elisabeth konnte in vier Minuten zu Fuß ihren Arbeitsplatz erreichen. Er brauchte für seinen nicht viel mehr. Ein Auto war überflüssig. Trotzdem stand für alle Fälle in der Garage ein rotes Smart-Cabrio. Mit dem Geld, das durch die zwei Gehälter zusammenkam, konnten sie gut leben, sich teure Reisen leisten, zum Beispiel nach Neuseeland, auf die Seychellen oder eine Kreuzfahrt durch die Karibik. Im Laufe der Jahrzehnte hatten sie nahezu die ganze Welt erkundet. Nur in die USA hatte Korff im Gegensatz zu seiner Frau nicht gewollt. Er mochte den ‚American Way of Life‘ nicht, das Hollywood-Getue und den Größenwahn. So war Elisabeth einmal ohne ihn nach New York geflogen, um, wie sie sagte, die bedeutendste Stadt der Welt endlich kennen zu lernen.

Es war neun Uhr, als Jakob Korff die Rochusstraße entlang nach Hause eilte. Er wollte den Kauf in trockene Tücher bringen, hatte Bedenken, dass sich der Schmiedebauer die Sache noch einmal überlegen könnte. Elli würde von allem nichts mitbekommen. Er wusste, dass sie den ganzen Tag in der Schule verbrachte. Eine Konferenz stand an. Die dauerte in der Regel bis um acht am Abend. Korff war froh, dass er nicht Lehrer geworden war. Eine Konferenz jagte die andere. Und das schrille Geschrei vom Schulhof war manchmal noch bis ins Korffsche Haus zu hören. Als er den Wagen aus der Garage holte, um nach Lessenich zu fahren, fiel ihm ein, dass er ja eigentlich ins Ministerium musste. Aber heute war ein besonderer Tag. Wenn er zur Verabschiedung erscheinen würde, war das früh genug.

4

„Technik hat auch etwas Gutes“, dachte Korff. Er tippte die Adresse des Schmiedebauern in den Navi, fuhr los. Nach nicht einmal zehn Minuten landete er im Alten Heerweg, hielt vor einem Torbogen aus dunkelroten Klinkersteinen, entzifferte auf einem verwaschenen Emailleschild die Hausnummer, passierte den Bogen in einen Hof hinein, der ihm etwas verwahrlost und runtergekommen vorkam. Von den Stalltüren blätterte die Farbe. Die Scheiben waren schmutzig und blind. Nach ein paar Metern stand er vor einem Backsteinbau, dessen Tür angelehnt war. Er klopfte, wartete, hörte Schritte, die Tür wurde aufgezogen.

„Also doch!“ sagte der Schmiedebauer. „Ich dachte schon, Sie hätten sich’s anders überlegt. Man weiß nie, welche Launen die Leute haben. Das ändert sich ja wie das Wetter. Kommen Sie mit in die Küche.“

Sie setzten sich an einen Tisch. Korff hatte seinen Personalausweis vorzulegen. „Sicher ist sicher“, meinte der Bauer. „Manche legen sich ein Tier zu, haben dann keine Lust mehr und lassen es einfach laufen oder binden es irgendwo an. Alles schon vorgekommen. Ein Esel ist keine Katze. Der kann schon einiges anrichten.“

Der Schmiedebauer trug die Daten in einen vorbereiteten Kaufvertrag ein, der Jakob Korff als neuen Besitzer auswies, der von nun an verantwortlich war für alles, was der Esel mit ihm oder er mit dem Esel anstellte. Korff unterschrieb, zählte dreihundert Euro auf den Tisch.

„Wie heißt die Eselin eigentlich?“ fragte er.

„Die hat keinen Namen. Da hätte ich viel zu tun, wenn ich jedes Schwein und jede Kuh persönlich anreden würde.“

Der Bauer steckte das Geld ein, sagte: „So, Sie können den Esel noch drei Tage auf der Wiese lassen. Dann muss er weg.“

„Drei Tage?“ fragte Korff. „Sie sagten doch, ich könnte ihn auf der Wiese lassen.“

„Ich habe ‚zunächst‘ gesagt. Was heißt ‚zunächst‘? Das bedeutet doch nicht, dass er für immer da bleiben kann. Sie haben vielleicht Vorstellungen!“

„Ich zahle Ihnen eine Pacht für die Wiese“, versuchte Korff einem sich anbahnenden Dilemma zu entkommen.

Der Schmiedebauer schüttelte den Kopf. „Geht nicht. Wird Bauland. Am Montag wird vermessen.“

„Und die Parzellen daneben? Ist doch alles leer.“

„Werden auch vermessen. Da kommen Bürokomplexe hin. Das ganze Land wird verkauft. Von der Landwirtschaft kann doch niemand mehr leben. Sie haben doch keine Ahnung, wie wir von Brüssel geknechtet werden. Die schreiben einem den Krümmungsgrad der Gurke vor. Geht alles den Bach runter. Jeden Tag erlassen die fünfzig neue Vorschriften. Da soll man noch Lust auf Ackerbau und Viehzucht haben. Demnächst wohnen die Schweine komfortabler als wir selbst. Macht keinen Spaß mehr, mein Herr.“

Der Schmiedebauer sah in ein ratloses Gesicht und meinte begütigend: „Wenn Sie noch hundert Euro drauflegen, gebe ich Ihnen noch ein paar Sachen mit, die Sie brauchen können. Hufkratzer, Bürsten, Führungsseil mit Karabiner und Panikhaken. Halfter, Packsattel mit Taschen, Bauchgurt bekommen Sie auch. Alles aus bestem Leder. Da haben Sie eine komplette Ausrüstung. Ich kann das Zeug ja nicht mehr brauchen. Im Stall gegenüber der Haustür ist noch ein Heuballen. Den können Sie mitnehmen.“

„Panikhaken?“ fragte Korff.

„Müssten Sie doch kennen. Den können Sie auch unter Zug leicht öffnen, wenn der Esel scheut und Sie mitschleifen will. Oder hatten Sie auf Ihrem Hof in der Eifel nur fromme Tiere?“

„Das ist alles lange her“, redete Korff sich heraus. „Da ist sowas nie passiert.“

„Wird auch nicht“, beschwichtigte der Bauer. „Seien Sie froh, dass es eine Eselin ist. Bei einem Hengst könnte ich für nichts garantieren. Wenn der eine Stute wittert, egal ob Esel oder Pferd, geht der auf und davon. Der ist dann durch nichts mehr zu halten.“

Korff strich sich mit der rechten Hand über den Kopf, atmete durch, überlegte. Der Kauf war nicht mehr rückgängig zu machen. Blamieren wollte er sich nicht, nicht eingestehen, dass er gelogen und von nichts eine Ahnung hatte. Er zog seine Brieftasche aus dem Jackett, legte zwei Fünfziger auf den Tisch. „Wie alt ist die Eselin eigentlich?“ wollte er wissen.

„25. Da haben Sie noch ein paar Jahre Freude dran. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie ist gesund, war erst vor drei Monaten beim Veterinär und beim Hufschmied.“

„Und ihre Lieblingsspeise?“

„Eigentlich alles. Aber mit Brot, Haferflocken und Möhren machen Sie ihr eine besondere Freude.“

Der Schmiedebauer stand auf. „Ich hole Ihnen jetzt die Sachen. Wie gesagt, Sie haben drei Tage Zeit. Dann muss der Esel weg. Geht nicht anders.“

Er stand auf, ging auf den Hof, kam nach ein paar Minuten wieder, legte Halfter, Haken, Führungsseil, Gurt, Packsattel und Taschen auf den Tisch. Dazu ein paar Bürsten und einen Hufkratzer.

„Gehört jetzt alles Ihnen. Und denken Sie auch an das Heu. Nur Gras fressen ist für das Tier nicht gut. Sie können einen Ballen mitnehmen. Den schenk ich Ihnen.“

Korff bekam zum Abschied die Hand gereicht. Die Tür, die zuvor noch angelehnt war, schloss sich. Ihm war, als vernähme er aus dem Haus ein leises Lachen. Er verstaute alles im Wagen. Um das Heu transportieren zu können, musste er das Dach des Cabrios öffnen und den Ballen von oben einschieben. Der nahm die Hälfte des Fahrersitzes ein und ragte weit über das Dach hinaus.

Eingezwängt zwischen Heu und Lenkrad fuhr er langsam los.

5

Im Smart war noch etwas Platz. Korff suchte einen Supermarkt auf, kaufte Haferflocken, Brot und Möhren, fuhr die Rochusstraße entlang, bog in den Wirtschaftsweg, der zu den Messdorfer Feldern führte. Er parkte den Wagen dort, wo der Schmiedebauer gehalten hatte, nahm eine Tüte mit Möhren, ging die weiteren Meter auf dem Pfad bis hin zur Wiese.

Vor dem Weidengatter setzte er sich ins Gras, legte die Tüte mit den Möhren neben sich. Er blickte zu der Eselin, die mitten auf der Wiese stand, sich nicht rührte, den Kopf hochgereckt hatte und in den Himmel starrte, als zeige sich dort ihr ungewisses Schicksal. Korff hatte Scheu, das Gatter zu öffnen und sich dem Tier zu nähern, für das er nun die Verantwortung trug. Er hatte noch nie ein Wesen dieser Größe gestreichelt, in früher Kindheit höchstens eine Katze oder einen Hund. Aber von allem, was diese Ausmaße überschritt, hatte er sich ferngehalten, nie den Wunsch verspürt, diese ihm fremden vierbeinigen Existenzen zu berühren. Elisabeth hatte auf manchen Spaziergängen mal ihre Hand über einen Draht gehalten, ein Schaf gestreichelt oder ein Pferd getätschelt. Er selbst war dabei abseits geblieben, hatte ihr zugesehen, und wenn sie ihn aufforderte, es ebenso zu tun, hatte er nur den Kopf geschüttelt. Dann hatte sie ihn als Angsthasen verspottet und einmal gemeint, er fühle sich nur bei seinen Akten sicher. Ihm waren diese bleckenden Mäuler mit den Riesenzähnen nicht geheuer. Man konnte ja nie wissen, was so ein Tier im Schilde führte. Und jetzt stand da dieser Esel auf der Wiese und gehörte ihm.

„Wie nenn ich dich bloß?“ murmelte Korff. „Du musst doch einen Namen haben.“

Ihm fiel nichts ein. Was waren typische Eselsnamen? Er wusste keinen. Durfte man einen Esel wie einen Menschen benennen? Die Stute mit einem Mädchennamen versehen? Herlinde, Helene, Hannelore? Kater hießen Paul oder Peter, Hundedamen Lucie oder Steffi, Wellensittiche Max oder Egon. Alles was lebte, konnte einen Namen haben. Da musste es keine Klassifizierung geben zwischen Mensch und Tier. Schließlich betitelte man Menschen auch als ‚blöden Hund’ oder ‚dumme Kuh’. Und er kannte jemanden, der sogar den Sachen Namen gab. Das Auto, ein Peugeot, hieß Jean, der Schreibtisch Fritz und der Computer Bastian. Warum einem Esel also nicht einen normalen Menschennamen geben? Korff ging das Alphabet durch. Von A für Andrea bis Z für Zarah. Aber all das gefiel ihm nicht und erschien ihm unangemessen. Auch Namen, die aus Märchen stammten, passten nicht. Dornröschen war albern, Schneewittchen genauso und ebenso Gretel.

Er nahm die Tüte mit den Möhren, stand auf, öffnete das Gatter, zog es beiseite, bemerkte am Rand des Zauns eine alte Badewanne mit Wasser. Wenigstens war dafür schon einmal gesorgt. Langsam schritt er zur Mitte der Wiese. Mit einer Möhre in der ausgestreckten Hand ging er auf die Eselin zu. Die hatte den Kopf gesenkt und blickte ihm entgegen. Korff blieb einen Meter vor ihr stehen, hielt die Möhre hoch. Da bewegte sie sich, kam näher, schnupperte. Die breiten Lippen schoben sich über die Karotte und sie zermahlte sie zwischen den Zähnen. Nun verfütterte Korff auch die restlichen Möhren, bis die Tüte leer war. Während die Eselin die Karotten zermalmte, streichelte Korff ihr vorsichtig den Hals.

„Hübsch bist du“, sagte er. „Liebenswert. Du hast schönes, weiches Fell.“

Wie sie ihn bei diesen Worten aus ihren dunkelbraunen, von einem weißen Kranz umgebenen Augen ansah, murmelte er: „Jetzt weiß ich es. Ich nenne dich Coco.“

Er erinnerte sich an eine Jugendliebe. Da war er gerade 14 Jahre alt gewesen, hatte mit den Eltern über Weihnachten einen Skiurlaub verbracht und im Hotel eine zwei Jahre ältere Französin kennengelernt. Zum ersten Mal war er da von diesem seltsam drängenden Gefühl des Verliebtseins überfallen worden. Aus der Geschichte war nichts geworden. Ein paar Spaziergänge hatte es gegeben, einen Kuss im Schnee. Nach dem Urlaub gingen noch ein paar Briefe hin und her. Dann verebbte alles. Aber von der süßen Coco besaß Korff immer noch ein Foto.

„Wo lass ich dich nur?“ sagte er zu der Eselin. „Hier darfst du nicht bleiben. Wenn es regnet, kannst du dich nirgendwo unterstellen. Und wie öde muss es sein, nachts alleine auf dieser Wiese zu stehen!“

Während sie die leere Tüte beschnüffelte, strich Korff ihr mit der Hand über das Fell. „Morgen ist Donnerstag“, sagte er. „Da komme ich wieder. Dann kommst du in dein neues Heim. Elli muss vor Tatsachen gestellt werden.“

6

Gegen Mittag war Korff im Ministerium. Er entschuldigte sich nicht für die Verspätung. Man sagte auch nichts. Zu Hause hatte er rasch die Brote und die Tüten mit Haferflocken und Möhren auf die Küchentheke gelegt. Spätestens um sechs wäre er wieder da und könnte sie, noch bevor Elli kam, in einem der Schränke verstauen. Den Heuballen hatte er im Keller bei einem Weinregal gelagert. Elisabeth ging selten in den Keller. Der Smart stand in der Garage. Er musste noch die Heuspuren auf den Sitzen beseitigen. Das hatte Zeit. Elli benutzte den Wagen kaum.

An seinem Schreibtisch im Ministerium saß schon sein Nachfolger, hatte diskret, aber sichtbar, Korffs blaue Kaffeetasse an den Rand geschoben, damit er sie nicht vergessen würde. Korff wanderte durch die Abteilungen, unterhielt sich mit den Kolleginnen und Kollegen, wurde beneidet und hörte sich stets dasselbe an.

„Du hast es gut. Ich habe noch zwölf Jahre.“ – „Ach, wie schön, wenn man lange schlafen kann.“ – „Haha, jetzt beginnt der Unruhestand. Rentner haben ja nie Zeit.“ – „Lass dich ab und zu mal blicken. Wir vermissen dich.“ – „Zum Ausflug nach Königswinter kommst du doch bestimmt mit.“

So verging bis vier Uhr die Zeit. Dann versammelte man sich in der Cafeteria. Der Chef hielt eine kleine Abschiedsrede, lobte Korffs Fleiß und Zuverlässigkeit. Die Belegschaft hatte sich nicht lumpen lassen. Es gab ein Buffet mit belegten Broten, Orangensaft und ein Glas Sekt. Zum Abschied bekam er einen Gutschein für ein Wellness-Wochenende in Zingst an der Ostsee. Der Gutschein war für zwei Personen. Die Fahrt hätte er allerdings selbst zu bezahlen. Pünktlich um fünf verliefen sich alle, und Korff schickte sich an, nach Hause zu gehen.

Er nahm aber nicht den direkten Weg, sondern wanderte noch einmal zu den Messdorfer Feldern, um nach Coco zu sehen. Als er am Gatter stand, kam die Eselin mit grazilen Schritten angetrippelt, streckte den Kopf über die Holzpfosten, rieb ihren Schädel an seinem Jackett. „Ja, ja, ich weiß, was du willst“, sagte Korff. „Aber Möhren gibt es erst Morgen wieder. Und Brot und Haferflocken und Heu“, fügte er hinzu. „Bis dahin musst du dich noch mit Gras begnügen.“

Er blickte zum Himmel. Ein paar dunkle Wolken waren aufgezogen. Es sah nach Regen aus. Die Vorstellung, Coco würde nachts alleine in der Nässe stehen, behagte ihm nicht. Dagegen hätte er etwas zu unternehmen. Im Garten war ein Faltpavillon aus Polyester, drei mal drei Meter, Marke ‚Sahara‘, wo Elisabeth und er an lauschigen Sommerabenden saßen. Man konnte an den Seiten Vorhänge zuziehen, so dass die Eselin vor Wind und Wetter geschützt war. Den Tisch und die Stühle würde er im Keller verstauen. Der Pavillon war rasch abgebaut, zusammengerollt und verstaut. Ließ er bei dem Smart das Dach offen, wäre der Transport kein Problem. Er sah auf die Uhr. Es war halb sechs. Er hatte also noch Zeit, bis Elli aus der Schule kam. Was würde sie sagen, wenn der Pavillon fehlte? Bei einem Blick in den Garten würde sie das sofort bemerken. Ihm fiel keine Ausrede ein. „Der Pavillon ist im Keller. Er muss repariert werden.“ Das war zu fadenscheinig. Wenn sie in den Keller ging, würde sie das merken, fragen: „Ja, wo ist er denn?“ Zu behaupten, er sei gestohlen worden, nähme sie ihm auch nicht ab. Dazu war der Zaun um den Garten zu hoch. Und das Tor neben der Garage, wo man Zugang zum Garten hatte, war massiv und oben am Rand durch Stacheldraht geschützt. Überhaupt, wer machte sich die Mühe einen Pavillon zu klauen? Es gab nur eine Lösung. Von dem Geld, das er abgehoben hatte, waren noch 580 Euro übrig. Er musste in den Baumarkt fahren, einen zweiten kaufen. Auf zweihundert Euro mehr kam es jetzt auch nicht an. Cocos Wohlbefinden hatte Vorrang.

Korff eilte nach Hause, holte den Smart aus der Garage, fuhr in den Baumarkt. Den Pavillon gab es in verschiedenen Farben. Zu Hause hatten sie einen weißen. Für Coco schien ihm Grün geeigneter. Der Kauf war rasch erledigt. Nur beim Verstauen kam Korff ins Schwitzen. Das Gestänge ragte über das Dach weit nach hinten heraus. Er nahm seine Krawatte ab, schnürte sie um das Ende des Stangenbündels, um es sichtbar zu markieren und fuhr auf Schleichwegen zurück zu den Messdorfer Feldern. Hier baute er auf der Wiese den Pavillon auf, drückte die Schnüre mit den Heringen in den Boden, zog an drei Seiten die Vorhänge zu. Die ganze Arbeit war in nur einer halben Stunde erledigt. Coco war dieses Mal nicht nähergekommen, hatte auch nicht den Kopf an seinem Jackett gerieben, sondern ihm aus ein paar Metern Entfernung neugierig zugesehen. Zum Abschied ging er zu ihr, streichelte sie, fuhr mit der Nase durch ihr weiches Fell, sagte: „Bis Morgen, meine Liebe!“ Um sieben Uhr, früh genug, würde er zu Hause sein.

7

Die Konferenz dauerte weniger lang als erwartet. Bei TOP 3 gab es, wie sie zunächst befürchtet hatte, keine langen Diskussionen. Das Kollegium nahm die von oben verhängte Maßnahme schweigend und ohne zu murren entgegen.

Um sechs Uhr war sie Hause, freute sich auf den Abend mit Jakob und ging, kaum hatte sie die Haustür hinter sich geschlossen, in den Keller, um eine Flasche Sekt zu holen und sie im Kühlschrank kalt zu stellen. Schließlich gab es einen besonderen Tag zu feiern. In Rente ging man nur einmal im Leben. Als sie zu dem Regal kam, wo neben dem Wein auch ein paar Flaschen Sekt lagerten, wunderte sie sich über den Heuballen, der dort lag. Sie war lange nicht mehr im Keller gewesen. Wann und wozu hatte Jakob Heu herangeschafft? Sie überlegte eine Weile, fand keine Erklärung. Kopfschüttelnd ging sie mit der Flasche Sekt nach oben in die Küche, sah die Theke vollgestellt mit Möhren- und Haferflockentüten. Drei Brote lagen auch dort. Sie zählte die Tüten. Zwanzigmal Haferflocken und neunzehnmal Möhren. Sie stellte den Sekt in den Kühlschrank, ging ins Wohnzimmer. Jakob war noch nicht da. Wahrscheinlich dauerte der Umtrunk zur Verabschiedung länger als er ursprünglich gedacht hatte. Vom Wohnzimmer aus trat sie auf die Terrasse, blickte zum Himmel, wo sich ein paar dunkle Wolken versammelt hatten. Aber es war warm. Sie würden im Pavillon sitzen können, den Sekt trinken, vielleicht noch eine Flasche Wein öffnen. Sie ging ins Haus, um den Tisch im Pavillon vorzubereiten. Das Windlicht bekam eine neue Kerze, die Sektgläser wurden bereitgestellt, im Garten schnitt sie ein paar Tulpen, steckte sie in eine Vase, die mitten auf den Tisch kam. Wo war Jakob? Wann und wozu hatte er diesen seltsamen Einkauf gemacht? Seit wann hatten sie Heu im Haus? Sie fand keine Erklärung. Auch dass er drei Brote gekauft hatte, war seltsam. Normalerweise hatten sie Mühe auch nur ein Brot zu verbrauchen, bevor es vertrocknet war. Kopfschüttelnd ging sie wieder zur Küchentheke, zählte noch einmal. Hatte sie sich verzählt? Warum zwanzig Tüten mit Haferflocken, aber nur neunzehn mit Möhren? Es blieb bei der Zahl zwanzig für die Haferflocken und neunzehn für die Möhren. Wollte Jakob Notzeiten vorbeugen, alles einfrieren? Er hatte ihr vor ein paar Wochen erzählt, dass neben dem Ministerium ein Generatorenhäuschen gebaut wurde. Um unabhängig zu sein, wenn bundesweit einmal der Strom ausfiel. Die Welt war computergesteuert. Terroristische Hacker lagen auf der Lauer. Man konnte Wasser und Strom lahmlegen. Es würde zu einem großen Chaos kommen. Jakob hatte ihr das erklärt. Dann funktionierte nichts mehr. Die Türen der Supermärkte waren verschlossen, die Geldautomaten ließen sich nicht mehr bedienen, man konnte kein Benzin mehr tanken und sogar das eigene alarmgesicherte Haus nicht mehr betreten. Sie hatten sich ja das moderne System angeschafft, das einen Schlüssel überflüssig machte. Auf ein Display neben der Haustür tippte man mit dem Zeigefinger, der Fingerabdruck wurde gescannt und erkannt. Ohne Strom funktionierte nichts mehr. Aber wie um Himmels Willen kam Jakob ausgerechnet auf Möhren und Haferflocken? Warum nicht Fischdosen, Eintöpfe und andere Konserven? Mit den Haferflocken, das ging ja noch. Die hatten ein langes Haltbarkeitsdatum. Aber Möhren konnte man nicht einfrieren. Hatte Jakob das nicht gewusst? Außerdem würde bei fehlendem Strom auch die Kühltruhe ausfallen. Und so groß war die Kühltruhe gar nicht. Da passten nicht alle Tüten mit den Möhren hinein. Elisabeth Korff suchte nach Erklärungen. War es vielleicht nicht die Vorsorge für Notzeiten? Wollte ihr Mann sich ein neues Hobby zulegen, eine Kaninchenzucht betreiben? Zeit hatte er ja jetzt. Aber dann, verflixt noch mal, baute man zuerst den Stall, schaffte die Kaninchen an, kaufte danach das Futter. Und nicht umgekehrt. Oder hatte er schon etwas gebaut und sie hatte nichts davon bemerkt. Sie ging noch einmal in den Garten, schritt über den Rasen bis zum Zaun hinten, blickte nach links und rechts. Aber da war nichts. Kein Kaninchenstall. Woher auch? Ihr Mann hatte zwei linke Hände. Der klopfte sich eher auf den Daumen, als dass er einen Nagel ordentlich in die Wand brachte. Ein von ihm gezimmerter Kaninchenstall würde aussehen wie eine vom Sturm gebeutelte Bretterbude. Jakob gab ihr Rätsel auf. Noch nie hatte sie so ungeduldig darauf gewartet, dass er nach Hause kam. Sie ging in ihr Arbeitszimmer, das ebenerdig lag und von wo aus man den Vorgarten und den Weg zur Haustür beobachten konnte. Hier wartete sie am Fenster.

8

Gut gelaunt tippte Korff mit dem Zeigefinger auf das Display neben der Haustür. Er war sogar so gut gelaunt, dass er ein Lied vor sich hinsummte, das er von früher her kannte. „Wir lagen vor Madagaskar.“ Die Tür sprang auf. Im Flur erwartete ihn Elli. „Hallo Jakob!“ sagte sie betont freundlich, wobei sie das ‚a‘ seines Vornamens ungewöhnlich dehnte. Das bedeutete, wie er aus Erfahrung wusste, nichts Gutes. Er räusperte sich, antwortete mit „Hallo Elisabeth! Die Konferenz ist schon vorbei?“ Die Frage war blödsinnig. Denn Elisabeth stand vor ihm und ohne sie gab es keine Konferenz.

„Jakob, was soll das?“ fragte sie. „Was sollen wir mit den Möhren und Haferflocken anfangen? Und dann drei Brote, wo eins doch oft schon zu viel ist.“

„Ach so“, antwortete er ausweichend und winkte ab. „Die drei Brote gab es für eins. Sonderangebot. Eins war genauso teuer wie drei. Also nehme ich alle drei mit. Und die Haferflocken, die Möhren…“

Er blickte zur Flurdecke, legte die Stirn in Falten, rieb sich mit der rechten Hand über das Kinn. „Ja, weißt du, das ist so: Ich werde meine Ernährung umstellen, gesünder leben. Und billiger. Jetzt wo ich kein volles Einkommen mehr habe. Du weißt ja, wie mager die Renten sind. Die Tüte Haferflocken kostet nur 39 Cent. Die Möhren sind zurzeit auch billig. Da kann man sich einen Vorrat anlegen.“

„Muss ich mir Sorgen machen, Jakob?“ Elisabeth Korff sah ihren Mann forschend an. „Was soll das? Deine Rente ist hoch genug und schließlich bin ich auch noch da. Du musst hier nicht hungern.“

„Ja, weiß ich. Es geht mir doch mehr um die Gesundheit. Ich will mich nicht nur von Möhren und Haferflocken ernähren. Natürlich nicht. Aber ich wollte mich zwingen, das nicht nur für einen Tag auszuprobieren, sondern wenigstens so lange, bis der Vorrat aufgebraucht ist. Was ich gekauft habe, muss ich auch verbrauchen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Dann müsstest du ja den ganzen Tag Möhren futtern. Die halten doch nicht lange. Trocknen, schrumpfen, verschimmeln.“

„Daran habe ich nicht gedacht“, redete er sich heraus.

Sie sah ihn wieder besorgt an. Waren das die Anzeichen einer beginnenden Senilität? Ältere Leute machten ja manchmal komische Sachen. Aber so etwas! So kannte sie Jakob noch nicht. „Und was ist mit dem Heu?“ fragte sie. „Willst du Vegetarier werden, deine Mahlzeit damit bereichern? Oder denkst du an eine Zucht von Champignons im Keller?“

Sie hatte also das Heu entdeckt. Hoffentlich hatte sie noch nicht den Smart untersucht, wo hinter den beiden Sitzen in dem kleinen Kofferraum die Ausrüstung für Coco lag. „Ach was!“ antwortete er. „Mit dem Heu polster ich das Regal aus. Das ist gut für die Lagerung der Weinflaschen. Die Winzer machen das so.“

„Wusste ich nicht“, meinte sie. „Habe ich noch nie gehört. Wo hast du das überhaupt her?“

„Habe ich gelesen.“

„Nein, nein, ich meine, wo du das Heu herhast. So einen großen Ballen.“

„Ach so, ja. Die Gärtner waren heute in der Grünanlage am Ministerium. Das Heu graben sie als Dünger unter. Da habe ich ihnen für ein paar Euro einen Ballen abgekauft.“

Bevor sie weiter fragen konnte, griff Jakob in die Innentasche seines Jacketts, holte ein Kuvert heraus, öffnete es, zog eine Karte heraus, hielt sie seiner Frau entgegen. „Sieh mal“, sagte er, „das haben sie mir zur Verabschiedung geschenkt. Ein Wellness-Wochenende in Zingst an der Ostsee. Für zwei Personen.“

Sie sah nicht genau hin, wollte die Karte auch nicht lesen. Sie nickte nur, hatte die Stirn gerunzelt. „Komm!“ sagte sie. „Lass uns deine Verabschiedung feiern. Ich habe den Sekt schon kaltgestellt.“

Irgendetwas stimmte nicht. Was, das würde sie noch herausfinden. Der Sekt und ein Fläschchen Wein danach würde ihren Mann gesprächiger machen. So trottelig, wie er sich gab, konnte er gar nicht sein.

9

Sie saßen im Pavillon, hatten ein Glas Sekt vor sich. Elli, obwohl es noch nicht dunkel war, hatte die Kerze im Windlicht angezündet. „Wie fühlst du dich?“ fragte sie. „Jetzt, wo dein Arbeitsleben beendet ist.“

„Weiß nicht“, meinte Jakob, „komisches Gefühl, wenn das auf einmal vorbei ist. Vierzig Jahre. Einfach weg.“

„Fühlst du dich jetzt nutzlos?“

„Nein, nein!“ Er schüttelte energisch den Kopf.

„Als du gekommen bist, hast du sogar ein Lied gesummt. Das hast du noch nie gemacht. Es geht dir also gut?“

„Ja. Ich will mich nicht beklagen. Das Leben muss doch weitergehen.“