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Dr. Peter Kersten ist oft Retter in letzte Minute. In der Unfallchirurgie der Sauerbruch-Klinik kämpft er Tag für Tag um das Leben von Unfallopfern. Fesselnde, moderne und packende Schicksale werden geschildert. Doch neben der hochmodernen Medizin kommt auch die Liebe nicht zu kurz.
Schauen Sie Dr. Peter Kersten über die Schulter und erleben Sie drei spannende Geschichten, die zu Herzen gehen.
Dieser Sammelband enthält die Folgen 257 bis 259:
257: In deinen Armen
258: Zu allem entschlossen
259: Ausritt ins Ungewisse
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 250 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 346
Karin Graf
Der Notarzt Sammelband 4 - Arztroman
Cover
Impressum
In deinen Armen
Vorschau
In deinen Armen
Wie Emma lernte, wieder zu vertrauen
Karin Graf
Eigentlich hatte die hübsche Notärztin Emma Forstner einen klaren Lebensplan: Sie wollte einen tollen Mann heiraten und gemeinsam mit ihm eine glückliche Familie gründen. Doch mittlerweile ist sie schon siebenunddreißig, und während um sie herum alle glücklich vergeben zu sein scheinen, sind ihre früheren Beziehungen alle gescheitert.
Als der neue Kollege Alex in der Notaufnahme der Sauerbruch-Klinik auftaucht, scheint sich Emmas Wunsch nach Liebe endlich zu erfüllen. Sie fühlt sich sofort zu dem attraktiven Mediziner hingezogen, und ihm scheint es anfangs nicht anders zu ergehen.
Dann aber fällt Emma etwas an dem Mann ihrer Träume auf – ein winziges Detail, das all ihre Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit Alex zunichte macht …
Ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Zeremonie, als das Paar sich vorn am Altar das feierliche Eheversprechen gab, begann das Handy in Dr. Peter Kerstens Manteltasche zu vibrieren.
Da sein Kollege und Stellvertreter, Dr. Thomas Jensen, ihm versichert hatte, ihn wirklich nur im äußersten Notfall von der Hochzeit abzuberufen, war dem Leiter der Notaufnahme an der Frankfurter Sauerbruch-Klinik sofort klar, dass die Lage sehr ernst sein musste.
Ein Blick auf das Display seines Smartphones bestätigte seine Vorahnung. Die Kurznachricht, die er erhalten hatte, verhieß nichts Gutes: „Großereignis! Gasexplosion in Hochhaus. Brauchen dringend Unterstützung!“
Zu dumm, dass die Kollegen nicht alle zusammen in einer Bank der kleinen Kirche Platz genommen hatten. Wie sollte er jetzt seine Mitarbeiter zusammentrommeln, ohne dabei für Unruhe zu sorgen?
Jens Jankovsky, den Sanitäter der Notaufnahme, zu verständigen, war relativ einfach, denn der fast zwei Meter lange junge Mann saß direkt hinter Peter. Dessen war er sich absolut sicher, denn Jens hatte Schnupfen, und die eiskalte Luft in der zugigen Kirche schien ihm nicht besonders gutzutun.
Das ständige „Hatschi!“, das der Sanitäter zu dämpfen versuchte, indem er seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger einklemmte und das dennoch wie Pistolenschüsse durch das hohe Gewölbe hallte, tönte seit einer halben Stunde in regelmäßigen Abständen an Peters Ohr.
Außerdem schob sich auch alle paar Minuten eine Hand fordernd nach vorn, und der Notarzt hatte nicht nur schon all seine Taschentücher hineingelegt, sondern schweren Herzens auch noch das weiße Einstecktuch geopfert, mit dem er seinen Anzug aufgepeppt hatte.
Ein Blick nach hinten und eine ruckartige Kopfbewegung zu dem wuchtigen Kirchenportal reichten völlig. Jens setzte sich umgehend in Bewegung und nahm auch gleich noch Schwester Trudi mit, die jenseits des Mittelgangs saß und von der Bank springen musste, weil ihre Füße, durch ihre geringe Körpergröße von nur einem Meter fünfzig, im Sitzen nicht bis auf den Boden reichten.
Schwieriger war es da schon, Oberschwester Nora zu verständigen, die – als gute Freundin der Braut – ganz vorn in der ersten Bankreihe saß.
Ausgerechnet die Braut, Schwester Kathrin, kam ihm dabei zu Hilfe. Als langjährige Mitarbeiterin der Notaufnahme deutete sie Jens’ und Trudis Abgang sowie Peters Zischlaute, mit denen er Nora Lechners Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, sofort richtig.
Sie unterbrach sich mitten in ihrem „bis dass der Tod uns scheidet“und scheuchte die Oberschwester mit einer unmissverständlichen Bewegung ihres Daumens auf.
In gebeugter Haltung und auf Zehenspitzen, um das laute Klackern ihrer Stöckelschuhe auf dem Steinboden zu vermeiden, huschte die Pflegerin durch den Mittelgang, tippte unterwegs Frau Dr. Emma Forstner auf die Schulter und zerrte sie, als diese nicht reagierte, mit sanfter Gewalt am Oberarm aus der Sitzreihe.
„Geschafft!“ Peter Kersten seufzte erleichtert auf, als das wuchtige Portal hinter der kleinen, festlich gekleideten Gruppe mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss fiel. Zum Glück lag die kleine Kirche ganz in der Nähe der Sauerbruch-Klinik.
„Tom meldet ein Großereignis. Gasexplosion in einem Hochhaus. Wir laufen durch den Park.“
„War ja klar!“, maulte Schwester Trudi. „Da ziehe ich ein einziges Mal im Leben Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen an, und dann soll ich damit durch den Park rennen und mir beide Beine brechen.“
Sie scheuchte Jens, der schon losgelaufen war und jetzt wieder umkehrte, um seiner Kollegin zu Hilfe zu kommen, mit einer energischen Geste von sich fort.
„Nicht doch! Nehmt bloß keine Rücksicht auf mich. Lasst mich ruhig irgendwo im Gebüsch liegen und verenden. Es gibt mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Welt, wer braucht da schon eine zu kurz geratene Trudi?“
„Na, dann …!“ Der Sanitäter wandte sich schulterzuckend ab und tat so, als wolle er wieder losrennen. Doch noch ehe er einen Schritt machen konnte, stoppte ihn ein energisches Rufen.
„Wehe, du lässt mich hier allein stehen, du Nichtsnutz von einem langen Lulatsch!“
Peter Kersten lachte laut auf, als Jens mit gesenktem Kopf umkehrte und der Pflegerin grinsend seinen Arm reichte, wobei er etwas in die Knie gehen musste, um den Größenunterschied von einem halben Meter ein wenig auszugleichen.
„Wir müssen ja nicht rennen, Leute“, sagte der Notarzt. „Ob wir nun fünf oder sechs Minuten brauchen, macht auch keinen großen Unterschied mehr. Alles in Ordnung, Emma?“, erkundigte er sich besorgt bei seiner Kollegin, die laut schniefend hinter der Gruppe hertrottete.
„Ach!“ Die attraktive Medizinerin machte eine wegwerfende Handbewegung, kramte in ihrer Handtasche, zog ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich lautstark.
„Als ob bei mir jemals irgendwas in Ordnung gewesen wäre“, brummelte sie verdrossen, und ein mitleiderregendes Schluchzen drang aus ihrer Kehle.
„Das war eine Hochzeit, Emma, keine Beerdigung. Sie ist ja nicht gestorben, sie hat bloß geheiratet“, tröstete der Notarzt seine hübsche Kollegin. „Nach den Flitterwochen kommt Frau Kiesling ja wieder zu uns.“
„Wer?“ Emma Forstner hob verwundert den Kopf. „Wer ist denn Frau Kiesling?“
„Schwester Kathrin!“, klärte die Oberschwester sie auf. „Aber jetzt heißt sie ja schon Gewohn.“
Nora lachte. „Sie wussten nicht mal, wie sie mit Nachnamen heißt und weinen um Kathrin, als hätten Sie Ihre siamesische Zwillingsschwester verloren?“
„Ach, wer weint denn um Schwester Kathrin?“ Die Ärztin knöpfte im Gehen ihren Mantel über dem beigen Kostüm zu und zog lautstark die Nase hoch. „Ich weine um mich und um mein sinnloses Dasein!“
„Wie jetzt?“, wollte Jens wissen und faltete das noch staubtrockene und blütenweiße Taschentuch auseinander, das die Oberschwester ihm freundlicherweise überlassen hatte. „Wieso sinnlos?“
„Geben Sie her, ich habe keine mehr!“ Emma schnappte ihm das Taschentuch aus der Hand und trocknete damit die Tränen, die aus ihren geröteten Augen perlten.
„Ich werde nie einen neuen Nachnamen bekommen!“, beklagte sie sich schniefend. „Ich werde niemals jemandem damit drohen können, dass ihn nur der Tod von mir befreit. Nie werde ich mich mit einer weißen Gardine verhüllen und darauf warten dürfen, dass mich vor dem Altar einer auspackt und mir sagt, wie schön ich bin. Brautsträuße, Hochzeitsnächte, Flitterwochen, Hochzeitsgeschenke, goldene Ringe und Polterabende – alle dürfen, bloß ich nicht!“
„Ähm … warum denn nicht?“ Peter sprang Jens zu Hilfe, der verzweifelt versuchte, Schwester Trudi, deren zehn Zentimeter langer Bleistiftabsatz sich in einen steinhart gefrorenen Schneeklumpen gebohrt hatte, vor einem schlimmen Sturz zu bewahren.
„Warum, warum, warum!“ Emma zog erneut die Nase hoch. „Weil mich nie einer fragt, ob ich will, darum! Ich bin siebenunddreißig, und mir hat noch nie einer einen Heiratsantrag gemacht! Bin ich denn so hässlich? Habe ich Mundgeruch? Bin ich unsympathisch, peinlich, blöd? Wirke ich irgendwie abstoßend? Oder was?“
„Du bist alles andere als dumm oder unsympathisch. Und schon gar nicht hässlich, Emma, und das weißt du auch“, beschwichtigte der Notarzt seine aufgebrachte Kollegin.
„Was ist es dann?“, fuhr ihn die Ärztin an. „Was? Hä? Es muss doch irgendeinen verdammten Grund dafür geben, dass wirklich jeder Deckel einen Topf kriegt, oder umgekehrt, nur ich nicht! Ich will auch einen Deckel haben!“
„Das bringt unser Beruf leider so mit sich, Emma.“ Peter seufzte erleichtert auf, als sie den Park verließen und nur noch eine Straße, ein breiter Grünstreifen und ein Parkplatz sie von der Sauerbruch-Klinik trennte.
Er sog zischend die Luft ein, als er den Konvoi sah, der aus vier oder fünf Rettungswagen bestand und sich heulend und blau blinkend auf die Klinik zubewegte.
„Wir arbeiten fast rund um die Uhr“, fuhr er mit seiner Erklärung fort, als die Gruppe vor einer roten Fußgängerampel anhalten musste.
„Du hast es ja eben erlebt, nicht mal bei der Trauung einer lieben Kollegin konnten wir bis zum Ende bleiben. Und wir haben nur selten an den Wochenenden frei. Wann also solltest du jemanden kennenlernen?“
„Aber ihr habt es doch auch irgendwie geschafft! Ihr habt doch auch alle jemanden gefunden!“ Die Medizinerin schniefte, kickte missmutig einen Stein aus dem Weg und folgte ihren Kollegen über die Straße.
„Ich nicht“, widersprach Schwester Trudi.
„Ha, ha!“ Emma lachte trocken auf. „Die ganze Klinik weiß Bescheid, dass Ihnen Oberarzt Moser mindestens hundert Heiratsanträge gemacht hat. Täglich einen!“
„Ja, schon, aber …“ Die füllige kleine Mittfünfzigerin schnaubte genervt durch die Nase. „Oberarzt Moser ist bestimmt ein äußerst fähiger Psychiater. Vermutlich deshalb, weil er selbst einen an der Waffel hat.“
„Kann schon sein, aber Sie sind wenigstens gefragt worden, Trudi“, grummelte Emma. „Mich aber wollte noch nicht einmal einer haben, der einen an der Waffel hat.“
„Wieso melden Sie sich nicht einfach bei einem Flirtportal an oder stellen ein Profil von sich bei einer Singlebörse ein?“, schlug Oberschwester Nora vor. „Ich glaube, so fangen heutzutage ohnehin ganz viele Partnerschaften an, weil kein Mensch mehr Zeit hat, ein normales Leben zu führen.“
„Okay, wie geht das?“ Emma Forstner zierte sich nicht lange. Sie war wild entschlossen, alles zu tun, um ihr einsames Dasein als derzeitiger Single und zukünftige alte Jungfer sofort zu beenden.
„Wir sind da!“ Peter Kersten gab der gläsernen Drehtür, die in die große Eingangshalle der Sauerbruch-Klinik führte, einen Stoß. „Können wir uns jetzt bitte auf unseren Job besinnen und alles andere später besprechen?“
***
Alexander Kramer hatte inzwischen mit Thomas Jensen, Schwester Annette und dem Assistenzarzt Elmar Rösner in der Notaufnahme die Stellung gehalten.
Der neununddreißigjährige Mediziner war erst seit drei Wochen als Notarzt an der Frankfurter Sauerbruch-Klinik angestellt und hatte Schwester Kathrin nicht gut genug gekannt, um das Bedürfnis zu haben, an ihrer Hochzeit teilzunehmen.
Er war gerade auf dem Weg zum OP, als die festlich gekleidete Gruppe eintraf.
„Gott sei Dank, da seid ihr ja!“, seufzte er erleichtert auf. „Ich dachte schon, ich müsse ganz allein eine Fußamputation durchführen!“
„Wie ist die Lage, Alex?“, erkundigte sich der Leiter der Notaufnahme, während er bereits aus seinem Mantel schlüpfte und diesen achtlos über eine Rolltrage warf, die im Flur der Notaufnahme an der Wand stand.
Aus einem Schrank nahm er sich einen frischen Kittel und krempelte nur seine Hemdsärmel auf, ehe er diesen überstreifte.
„Tom ist mit Schwester Annette und einem Anästhesisten aus der Chirurgie in Schockraum eins, Elmar rennt zwischen den Behandlungsräumen hin und her und verarztet alles, was nicht lebensgefährlich verletzt ist, und für dich müsste jeden Augenblick eine schwere Kohlenmonoxidvergiftung mit Verbrennungen dritten Grades eintreffen, Chef“, schilderte Dr. Kramer die aktuelle Situation.
„Wenn du mir Trudi oder Nora überlassen würdest“, fuhr er – mit einem Fuß bereits im Waschraum stehend – fort, „dann wäre ich dir sehr dankbar.“
„Nora!“, bestimmte Peter und musste lachen, als er sah, wie Schwester Trudi die Tür zur Damengarderobe aufriss und ihre hohen Schuhe direkt von den Füßen durch die offene Tür kickte.
„Tschüss!“, rief sie ihnen verdrossen hinterher. „Nie wieder! Wer so was freiwillig trägt, hat einen Vollknall!“
„Und Emma soll dir assistieren“, fügte Peter Kersten an Alexander Kramer gewandt hinzu. „Nicht, dass ich dir eine Amputation allein nicht zutrauen würde, Alex, aber wie es aussieht, ist es ja noch nicht ganz so weit, dass wir improvisieren müssen. Notfalls trommle ich ein paar Leute von oben zusammen.“
„Super, danke!“ Erleichtert verschwand der attraktive Arzt im Waschraum.
„Was ist eigentlich mit ihm?“, fragte Schwester Trudi die heiratswillige Ärztin und deutete mit einer Kopfbewegung zum OP. „Dr. Kramer ist ungefähr in Ihrem Alter. Nett ist er auch, er kann nicht flüchten, weil er hier angestellt ist, und er sieht phantastisch aus.“
„Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, Trudi! An ihn wäre nun wirklich jede Mühe verschwendet“, fuhr Emma die Pflegerin an, warf ihre Handtasche in die Garderobe und eilte hinter Alexander Kramer her.
Alex hatte sich bereits umgekleidet, stand jetzt am Waschbecken, seifte sich Hände und Unterarme ein und bürstete seine Fingernägel. Er senkte verlegen den Kopf, als Emma sich, keine drei Schritte von ihm entfernt, ihr elegantes Kostüm vom Leib riss und schließlich nur noch in Slip und BH neben ihm stand.
„Ähm … Dr. Forstner!“ Oberschwester Nora, die eine Schranktür weit aufgemacht hatte, um sich dahinter umzukleiden, hüstelte trocken.
„Was ist?“, fragte Emma unbekümmert, während sie passende OP-Kleidung aus einem der Schränke nahm. „Wir sind doch unter uns Mädels, nicht?“ Während sie das behauptete, blinzelte sie Alex grinsend zu.
Eigentlich war er ja ursprünglich der Auslöser für ihren gewaltigen Frust und ihre Torschlusspanik gewesen.
Als er vor drei Wochen hier aufgetaucht war, hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verguckt. Er entsprach so ziemlich genau dem Bild, das sie sich von ihrem Traummann machte: Groß, volles dunkles Haar, wunderschöne blaue Augen, sportliche Figur, intelligent, humorvoll und ziemlich cool. Außerdem war er wirklich ein äußerst fähiger Mediziner.
Am ersten Tag hatte sie auch tatsächlich das Gefühl gehabt, er sei nicht abgeneigt. Es hatte prickelnde Blickkontakte zwischen ihnen gegeben, und er hatte ein paarmal während einer Behandlung ihre Hand berührt, wobei ihr ziemlich heiß geworden war. Außerdem hatte er gleich am ersten Tag erwähnt, dass er allein lebe und völlig ungebunden sei.
Erst am zweiten Tag war ihr der kleine goldene Ohrstecker aufgefallen, den er trug.
Nicht, dass sie etwas gegen Männer gehabt hätte, die Ohrringe trugen. Keineswegs. Aber wenn es nur einer war, dann galt immer noch die alte Faustregel: „Links ist cool, rechts ist schwul.“
Und natürlich trug er seinen rechts! War ja klar! Die guten Männer waren entweder schon alle vergeben oder eben schwul.
In den ersten paar Tagen war sie so wütend auf ihn gewesen, dass sie ihm am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. Sie war ihm, wann immer es möglich gewesen war, aus dem Weg gegangen, hatte nur noch mit ihm gesprochen, wenn es sich nicht vermeiden ließ, hatte ihm schnippische Antworten gegeben und ihm giftige Blicke zugeworfen.
Inzwischen hatte sie sich mit der unabänderlichen Tatsache so halbwegs abgefunden und sah Alex als ihresgleichen an.
Sie besprach kosmetische Probleme mit ihm, schwärmte ihm vor, welche Männer sie toll fand, hatte ihm auch frei von der Leber erzählt, dass sie seit mindestens einem halben Jahr keinen Sex mehr gehabt hatte und dass sie sich ein Baby wünschte, es dafür aber vermutlich bald zu spät sein würde.
Und genau, wie es von schwulen Männern immer behauptet wurde, hatte er für alles Verständnis und reagierte weit verständnisvoller als so manche Frau.
Ja, klar, es war toll, so einen Freund zu haben, und sie hatte diesbezüglich auch absolut keine Vorurteile oder gar Berührungsängste. Es sollte jeder so leben, wie er wollte. Aber musste es ausgerechnet er sein? In Emmas Augen war das eine himmelschreiende Verschwendung.
„Ach Gott, noch so jung!“ Emma sog zischend die Luft ein, als sie jetzt den OP betrat und den höchstens zwanzig Jahre jungen Mann auf dem OP-Tisch liegen sah. „Ist es wirklich notwendig?“
„Mit viel Glück und einer längeren Operationszeit können wir den Fuß möglicherweise retten“, überlegte Alexander Kramer.
„Spricht irgendwas gegen eine etwa dreistündige Narkose, Kollege? Hat er sehr viel Kohlenmonoxid im Blut?“, erkundigte er sich bei Dr. Fischer, dem Anästhesisten, der gerade die Dosierpumpe programmierte, die während der Operation in regelmäßigen Abständen eine Dosis des Narkotikums in den Venenzugang des Patienten injizieren sollte.
„Nein, er hat keine Rauchgasvergiftung. Wie ich gehört habe, hatte er sich schon fast ins Freie gerettet, ehe das Haus über ihm zusammengekracht ist“, berichtete der Anästhesist. „Von mir aus spricht also überhaupt nichts dagegen.“
„Gut. Was meinst du, Emma?“
„Na, was wohl?“, gab sie flapsig zurück. „Mit zwei Füßen lebt es sich im Zweifelsfall besser als mit nur einem! Wir versuchen es!“
„Okay. Dann werden wir allerdings ein künstliches Sprunggelenk brauchen. Seines ist zu Knochenmehl zerbröselt.“
„Die Orthopädie soll uns eines herunterschicken.“ Oberschwester Nora ging zu dem Haustelefon, das an der Wand neben der Tür angebracht war.
„Danke, Nora!“ Alex und Emma machten sich Seite an Seite daran, den fast zu Brei zermatschten Fuß von Knochensplittern zu befreien und dann die Blutgefäße, Sehnen und Bänder, die noch zu gebrauchen waren, zu entwirren und zu präparieren.
„Und? Wie war die Hochzeit?“, wollte der Anästhesist nach einer Weile wissen.
„Sehr schön!“, erwiderte Nora Lechner.
„Grässlich!“, behauptete Emma gleichzeitig.
„Also, was jetzt? Sehr schön oder grässlich?“ Schmunzelnd säuberte Alex einen Hautlappen von Schmutz und Knochensplittern, klappte ihn nach oben und fixierte ihn mit einer Klemme.
„Na ja, schön war es schon irgendwie“, gab Emma seufzend zu. „Aber für mich echt frustrierend. Es hat mir wieder einmal vor Augen geführt, dass ich übrigbleiben werde. Ich bin auf dem besten Weg, als verbitterte alte Jungfer zu enden.“
Die Ärztin brachte die zarten Fußknochen wieder in die korrekte Position und fixierte sie mit Draht.
„Ich will aber auch ausgehen! Ich will auch verliebt sein! Ich will auch heiraten! Ich will das alles auch haben!“
„Geh doch mit mir aus, Emma“, schlug Alex vor, schob die beleuchtete Lupe über das Operationsgebiet und entfernte den stark beschädigten Abschnitt eines Blutgefäßes.
„Klar, jederzeit!“, erwiderte Emma. „Mit dir gehe ich sogar sehr gern aus, weil man mit dir echt viel Spaß haben und wunderbar reden kann. Aber mal ehrlich“, sagte sie lachend, während sie konzentriert weiterarbeitete. „Zum Verlieben hätte ich dann doch lieber einen richtigen Mann.“
„Autsch, das war nicht nett, gar nicht nett!“, flüsterte Dr. Fischer beinahe tonlos und hielt seinen Blick dabei starr auf die Bildschirme seiner Kontrollgeräte gerichtet.
„Also, wie geht das jetzt Schwester Nora, mit so einem Single-Dings im Internet? Was muss ich da machen?“, knüpfte Emma an das Gespräch von vorhin an.
„Nicht viel“, erwiderte die Pflegerin und reichte Alex ein mikrochirurgisches Nähbesteck. „Sie melden sich an, beschreiben sich möglichst ehrlich, stellen ein Foto von sich ein und warten ab, was kommt.“
„Möglichst ehrlich?“ Emma hob die Augenbrauen hoch. „Übriggebliebenes Mauerblümchen mit heftig tickender biologischer Uhr sucht barmherzigen Samariter zwecks Befruchtung. So was in der Art?“
„Ich denke nicht, dass man besonders barmherzig sein muss, um dich … ähm … befruchten zu wollen“, widersprach Alex, während er das durchtrennte Blutgefäß mit winzigen Stichen wieder zusammenfügte. „Du siehst sehr gut aus, bist intelligent und hast einen tollen Job. Und so heftig tickt deine Uhr nun auch wieder nicht. Heutzutage lassen die Frauen sich doch generell länger Zeit mit dem Kinderkriegen. Gerade bei Akademikerinnen sind vierzig Jahre und mehr absolut keine Seltenheit.“
„Vierzig? Dann hätte ich noch drei Jahre Zeit. Da könnte ich noch zwei Kinder schaffen, wenn ich mich sehr beeilen und spätestens in einem Monat anfangen würde, schwanger zu sein.“
Emma feilte die übriggebliebenen Knochenfragmente zurecht, an denen später das künstliche Sprunggelenk befestigt werden sollte.
„Denken Sie, bis dahin klappt das mit diesem Dating-Käse, Schwester Nora?“
„Kommt darauf an, wie wählerisch Sie sind“, erwiderte die Oberschwester schulterzuckend.
„Ich und wählerisch? Ha, ha!“ Emma stieß ein Geräusch aus, das irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen lag. „Im Moment habe ich so grässliche Torschlusspanik, dass ich alles andere als wählerisch bin. Ich würde vermutlich sogar Ja brüllen, wenn Kermit der Frosch mich fragen würde. Ihr wisst ja: In der Not frisst der Teufel Fliegen.“
„Und ich kann wohl nicht mal mit einem Frosch mithalten, oder?“ Alex grinste, als er diese Frage stellte. Es sollte wie ein Scherz klingen, war aber eigentlich keiner.
„Du bist kein Frosch, Schatz, du bist ein verzauberter Prinz“, erwiderte Emma schmunzelnd. „Aber leider bleibst du in Sachen Familiengründung für mich außen vor. Da geht gar nichts! Dann doch lieber Kermit.“
„Autsch, das war gar nicht nett“, wiederholte der Anästhesist, der vermutlich als Einziger bemerkt hatte, wie sich Alexanders Augen für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelt hatten.
***
„Okay, das wär’s!“ In Schockraum zwei seufzte Peter Kersten erleichtert auf, als sich die Vitalfunktionen der Patientin, die er eben behandelt hatte, endlich zu stabilisieren begannen.
Die vierunddreißigjährige Frau war zusammen mit ihrem sechsjährigen Sohn eingeliefert worden. Sie hatte sich, als es geknallt hatte, über ihr Kind geworfen und es mit ihrem Körper geschützt, während Mauerbrocken, brennende Trümmer und Glassplitter auf sie herabregneten.
Noch im Krankenwagen hatte sie den kleinen Jungen so fest umklammert, dass es der Rettungsmannschaft nicht gelungen war, die beiden voneinander zu trennen.
Erst in der Notaufnahme, als Peter die Patientin sediert hatte, hatte Jens es geschafft, den vermutlich nur leicht verletzten, aber sich heftig wehrenden Jungen aus den Armen der Mutter zu lösen und ihn in einen der Behandlungsräume zu bringen.
„Verbinden, auf die Intensivstation und mindestens bis morgen früh im Dämmerschlaf halten“, ordnete der Notarzt jetzt an, riss sich die Latexhandschuhe von den Händen, schleuderte sie in einen Mülleimer und eilte zur Tür hinaus.
Zur gleichen Zeit ging nebenan die Tür zu Schockraum eins auf.
„Intensiv! Mit reinem Sauerstoff beatmen, bis der CO² Gehalt im Blut auf ein normales Maß gesunken ist!“, rief Lutz Weidner, der medizinische Leiter der Sauerbruch-Klinik, über die Schulter zurück, schlüpfte aus seinem blutbesudelten Kittel, knüllte ihn zusammen und warf ihn in einen Wäscheschacht.
„Chefarzt! Danke, dass Sie aushelfen gekommen sind!“, rief Peter erfreut aus und schaute sich suchend um. „Was denn? Keiner mehr da?“
„Nur noch drei oder vier Leichtverletzte“, erwiderte Prof. Weidner. „Der Kollege Rösner kümmert sich um sie. Dr. Jensen operiert oben auf der Chirurgie, weil der OP hier unten ja blockiert ist.“
„Noch immer?“ Der Notarzt warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr. „Schon seit über zweieinhalb Stunden! Das ist aber ein bisschen lang für eine Amputation am Fußgelenk.“
„Na ja, vielleicht haben sich Komplikationen eingestellt“, mutmaßte der Chefarzt. „Aber ich denke, die Kollegen Kramer und Forstner sind beide erfahren genug, um damit fertig zu werden oder im Notfall Hilfe anzufordern.“
„Nein, nein, nein! Nein!“, tönte es laut und schrecklich schrill aus einem der Behandlungsräume.
„Was ist denn da drinnen los?“, wollte Peter wissen.
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Jens, der Sanitäter, kam völlig entnervt herausgestürmt, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und ließ sich mit einem dramatischen Stöhnen abwärts gleiten, bis er auf dem Boden hockte.
„Gebt mir eine dreifache Dosis Valium, erschießt mich oder macht sonst was, ich kann nicht mehr!“, jammerte er und ließ seine Stirn auf seine angewinkelten Knie fallen.
„Was ist los? Stimmt was nicht mit dem Jungen? Ist er doch schlimmer verletzt, als wir ursprünglich dachten?“, fragte Peter alarmiert.
„Was?“ Jens hob den Kopf und klopfte sich mit den Fingerspitzen auf beide Ohren. „Du musst schon etwas lauter reden, Chef! Ich höre nichts mehr. Mir wurde jetzt fünfzehn Minuten lang ohne Pause in die Ohren gekreischt. Ich glaube, meine Trommelfelle sind explodiert.“
„Ist der Junge schwer verletzt?“, fragte Peter mit doppelter Lautstärke und eilte mit großen Schritten besorgt auf den Behandlungsraum zu.
„Woher soll ich das wissen?“ Jens rappelte sich auf und folgte ihm. „Ich schaffe es ja nicht mal, ihn zu entkleiden. Er brüllt schon los, wenn man nur in seine Nähe kommt.“
„Starke Schmerzen und Angst!“, vermutete Lutz Weidner und schloss sich den beiden an.
Auf der Untersuchungsliege im Behandlungsraum kauerte ein kleiner Junge, hielt beide Hände auf seinen viel zu großen Bauch gepresst und blickte den drei Männern misstrauisch entgegen.
„Nein!“, kreischte er sofort wieder los, als Peter sich ihm näherte. „Nicht! Geh weg! Geh weg!“
„Was hast du denn, mein Freund? Niemand will dir wehtun“, redete der Notarzt beruhigend auf ihn ein. „Wir wollen doch nur nachsehen, ob du irgendwelche Verletzungen hast.“
Peter Kersten drehte den Kopf zur Seite und beugte sich unauffällig zu Lutz Weidner hinüber.
„Extrem aufgeblähtes Abdomen. Nicht gut!“, flüsterte er besorgt. Er streckte ganz langsam eine Hand aus, und sofort ging das Gebrüll wieder los.
„Nicht! Geh weg! Weg! Nicht anfassen! Seppi hat Aua!“
„Na, siehst du!“ Lutz Weidner schüttelte den Kopf, um das Klingeln aus den Ohren wegzubekommen, das sich aufgrund der schrillen Töne eingestellt hatte. „Und genau darum wollen wir uns kümmern, Junge. Wo tut es dir denn weh, Seppi?“
„Mir gar nicht! Und ich heiße doch nicht Seppi!“, kreischte der Junge und deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf seinen kugelförmigen Bauch. „Er heißt Seppi und hat Aua!“
„Aha!“ Der Professor nickte ernst. „Dein Bauch heißt also Seppi, und der tut weh. Dann lass uns jetzt bitte deinen Seppi anschauen, damit wir dir schnell helfen können.“
Der Junge legte den Kopf schief und starrte den Chefarzt mit gerunzelter Stirn an.
„Du bist aber nicht gerade besonders klug, was?“, fuhr er den Professor an. „Seit wann heißt denn ein Bauch irgendwie? Und herzeigen tu ich ihn sowieso nicht, weil ihr ihn mir bloß wegnehmen und ins Heim bringen wollt!“
„Sehen Sie irgendeinen tieferen Sinn in dieser Aussage?“, raunte Lutz Weidner Peter fragend zu.
„Nein, keinen.“ Der Notarzt schüttelte verwirrt den Kopf. „Vielleicht ist es der Schock. Er wird verwirrt sein. Ich denke, hier kommen wir mit gutem Zureden nicht weiter. Wir müssen handeln, denn falls er innere Verletzungen hat, wofür der aufgeblähte Bauch spricht, dann zählt jede Sekunde.“
Er nickte dem Sanitäter zu.
„Festhalten, Jens!“, ordnete er leise an.
Dem baumlangen Endzwanziger mit den langen braunen Haaren, die er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, war jede Form der Gewaltanwendung absolut zuwider. Deshalb versuchte er es noch einmal im Guten.
„Komm, mein Freund“, raunte er dem Jungen ins Ohr, während er sich hinter ihn stellte, mit beiden Händen unter seine Arme fuhr und sie sanft zurückbog. „Sei vernünftig. Der Doktor will doch nur gucken.“
Als Peter sah, dass der kleine Junge abgelenkt war, zog er mit einem Ruck dessen Pullover hoch. Seine Augen weiteten sich. Er starrte auf das, was darunter zum Vorschein kam, und stieß einen überraschten Schrei aus.
„Ach, das ist also Seppi“, stellte Prof. Weidner schmunzelnd fest und griff mit beiden Händen zu, ehe der braun-weiß gefleckte Beagle-Welpe von der Liege fallen konnte.
„Nicht ins Heim bringen! Bitte, bitte, bitte!“, schluchzte der kleine Junge, und dicke Tränen liefen ihm über die Wangen. „Er ist doch noch so klein!“
„Wir bringen ihn nirgendwohin“, versicherte Peter dem Kind. „Aber jetzt beruhigst du dich bitte und lässt dich untersuchen, ja?“
„Okay!“, schniefte der Junge. „Ist Seppi tot? Der bewegt sich gar nicht mehr.“
„Mal sehen.“ Lutz Weidner nahm sein Stethoskop, das er sich um den Hals gehängt hatte, stöpselte die Enden in seine Ohren und drückte das Kopfstück auf den Bauch des leblosen Hundes.
„Nein“, informierte er den Jungen. „Sein Herz schlägt. Ein bisschen langsam zwar, aber ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, in welcher Frequenz ein Hundeherz schlagen sollte. Pass mal auf, junger Mann …“ Lutz Weidner ging zu einem der Schränke und nahm eine Schaumstoffauflage heraus. „Wie heißt du denn überhaupt?“
„Ich? Johannes. Was machst du denn jetzt?“
Der Professor legte die Matte auf einen kleinen Beistelltisch und bette den Welpen darauf.
„Wenn du dich jetzt brav von Dr. Kersten untersuchen lässt, Johannes, dann sehe ich mir inzwischen den Seppi an“, versprach er und begann, die Wirbelsäule, die Rippen und die vier Läufe des Hundes behutsam abzutasten.
„Ich bin zwar kein Tierarzt“, murmelte er dabei, „aber ein Hund … ist ja schließlich auch … nur ein Mensch … oder so …“
„Das linke Bein ist gebrochen“, stellte Peter inzwischen fest.
„Dem Seppi seines?“ Erneut brach Johannes lautstark in Tränen aus.
„Nein, deines“, stellte der Notarzt schmunzelnd richtig. „Hast du das denn gar nicht gemerkt? Das muss doch wehtun!“
„Ah ja, jetzt, wo du es sagst …“ Keine einzige Sekunde lang wandte der kleine Junge den Blick von seinem Hund ab. „Es ziept ein bisschen.“
„Tapfere Familie!“, grinste Jens. „Der Junge wirft sich über den Hund, die Mutter wirft sich über den Jungen, und beide kümmern sich nicht die Bohne um die eigene Sicherheit.“
„Mama? Wo ist meine Mama?“, schluchzte Johannes auf, und seine Augen weiteten sich vor Angst.
„Sie wird noch eine ganze Weile schlafen, Johannes, aber sie wird wieder ganz gesund werden“, versicherte der Notarzt dem Kind und stellte erleichtert fest, dass bis auf den Beinbruch, ein paar Blutergüsse und Abschürfungen keine weiteren Verletzungen vorhanden waren.
„Seppi scheint völlig okay zu sein“, gab nun auch der Chefarzt die erlösende Entwarnung.
„Ich denke, er hat nur einen gewaltigen Schrecken abgekriegt und ist in eine Art Schockstarre gefallen. Ich versuche es mal mit einer winzigen Dosis Dopamin, um seinen Kreislauf wieder anzukurbeln, und gebe ihm reinen Sauerstoff. Das müsste reichen.“
Er brach die gläserne Spitze von einer Ampulle ab, zog die Hälfte des Inhalts in eine Spritze auf und starrte dann ein bisschen ratlos auf den haarigen kleinen Körper. „Ähm … tja … wo …?“
„Warten Sie, Professor!“ Jens kam dem Klinikchef zu Hilfe. „Ich hatte auch mal einen Hund, als ich noch ein Junge war.“
Mit Daumen und Zeigefinger hob er eine Hautfalte auf dem Rücken des Welpen hoch und hielt sie fest.
„So hat der Tierarzt es immer gemacht, wenn mein Hund eine Spritze bekommen musste. Einfach hier rein, Chefarzt.“
„Ah, sehr gut! Ihre Mitarbeiter sind vielseitig verwendbar, Kollege Kersten“, scherzte Lutz Weidner und injizierte das Medikament. Dann griff er zu einer Sauerstoffmaske, sah, dass sie für die kleine Hundeschnauze viel zu groß war und hielt sie dem Sanitäter fragend entgegen.
„Haben Sie auch dafür eine Idee?“
„Hmm … Mal überlegen …“ Jens schaute sich suchend um. Dann holte er einen der kleinen Plastikbecher, die üblicherweise für Harnproben verwendet wurden, aus einem der Schränke, bohrte mit einer spitzen Schere ein kleines Loch in den Boden, drückte den Schlauch des Sauerstoffgeräts hindurch und befestigte ihn mit einem Klebestreifen. „So, das müsste jetzt passen.“
„Und wie das passt!“ Der Chefarzt zeigte sich begeistert. „Sie sind ein äußerst erfinderischer junger Mann!“
„Ich war früher mal Pfadfinder“, erwiderte Jens lachend. „Da lernt man unter anderem das Improvisieren.“
„Großartig! Jetzt stellt sich nur noch die Frage: Wohin mit dem Hund?“ Lutz Weidner wandte sich an Johannes. „Du weißt doch, dass Tiere in einer Klinik verboten sind, oder?“
„Nicht ins Tierheim! Bitte, bitte, nicht ins Tierheim!“, flehte der Junge, und seine Unterlippe begann schon wieder, verdächtig zu zittern. „Dann denkt der Seppi doch sicher, dass ich ihn nicht mehr lieb habe!“
„Nein, nicht ins Tierheim“, versprach Prof. Weidner. „Gibt es denn irgendjemanden, der ihn abholen und so lange betreuen kann, bis du und deine Mutter wieder gesund seid?“
„Nur meinen Papa gibt es noch.“ Johannes schniefte. „Aber der ist ganz weit fort auf Dienstreise. In Amerika. Der kommt erst in einer Woche wieder.“
„Eine Woche …? Na ja, dann müssen wir …“
„He, da hinten wedelt schon etwas!“, fiel Peter dem Chefarzt lachend ins Wort. Und tatsächlich, der dünne lange Schwanz des Welpen zuckte zaghaft hin und her.
Lutz Weidner ließ die improvisierte Sauerstoffmaske los und beugte sich über den Welpen, um eines seiner Augenlider hochzuheben. Plötzlich fuhr ihm eine nasse Zunge quer übers ganze Gesicht.
„Oh, das nehme ich mal als ein Dankeschön“, sagte Lutz Weidner grinsend und wischte sich mit dem Ärmel seines Kittels die Hundespucke von der Nase.
„Seppi!“, schrie Johannes erleichtert und überglücklich.
„Wirst du wohl liegenbleiben!“ Peter konnte den Jungen, der von der Liege springen wollte, gerade noch zurückhalten. „Mensch, dein Bein ist gebrochen!“ Er nickte dem Sanitäter zu. „Jens, einen Rollstuhl bitte, und dann ab mit ihm zum Röntgen!“
„Und mein Hund? Ohne Seppi gehe ich nirgendwohin!“
„Also gut!“ Lutz Weidner gab sich einen Ruck. „Dein Hund kann solange oben in meinem Büro wohnen, und Frau Hoppe, meine Sekretärin, soll sich um ihn kümmern. Sobald du wieder ein bisschen laufen kannst, kannst du ihn dort besuchen. In Ordnung?“
„In Ordnung!“, erwiderte Johannes seufzend und ließ sich willig von Jens in den Rollstuhl verfrachten.
***
„Okay, das war’s!“ Im OP ließ Alexander Kramer das letzte Nähbesteck klirrend in die nierenförmige Auffangschale fallen.
„Blutsperre lösen?“, fragte Emma und kaute unter dem Mundschutz nervös an ihrer Unterlippe. Drei Stunden lang hatten sie und Alex jetzt konzentriert gearbeitet. Wenn sich nach dem Lösen des Staubands herausstellte, dass der Fuß nicht richtig durchblutet wurde, dann wäre die ganze Arbeit umsonst gewesen, und sie müssten doch noch amputieren.
„Wartet noch, ich spritze ihm vorher eine Dosis Heparin.“ Dr. Fischer, der Anästhesist, nahm eine Ampulle von dem Tablett, auf dem er sämtliche Medikamente vorbereitet hatte, die eventuell während der Operation nötig sein könnten, brach die Spitze ab und zog den Inhalt in eine Spritze auf.
„Macht euch nicht ins Hemd, sieht doch wirklich gut aus“, munterte er die beiden auf, während er das Medikament in den Venenzugang des Patienten injizierte. „So, jetzt könnt ihr das Teil fluten“, gab er kurz darauf grünes Licht.
Mit spitzen Fingern und pochendem Herzen lockerte Emma die stramme Manschette. Gebannt starrten alle Anwesenden auf den Fuß, der eben noch schneeweiß und blutleer gewesen war und sich jetzt langsam blassrosa zu färben begann.
„Ich glaube, wir haben es geschafft“, flüsterte Alex so leise, als hätte er Angst, ein zu lauter Ton könnte irgendetwas Schlimmes auslösen.
„Klar habt ihr es geschafft!“, rief der Anästhesist, der Emma und Alex mit seinen mittlerweile fast sechzig Jahren einiges an Erfahrung voraus hatte, laut und energisch. „Das war eine reife Leistung! Nur nicht so zaghaft! Darauf könnt ihr wirklich stolz sein!“
„Braucht ihr Hilfe, Kollegen?“
Peter Kersten und Prof. Lutz Weidner betraten in diesem Augenblick den OP, um nachzusehen, was denn hier so lange dauerte.
„Wir sind fast fertig.“ Alexander richtete sich stöhnend auf und streckte seinen schmerzenden Rücken durch. „Emma und ich haben uns dann doch gegen eine Amputation entschieden, und wie es aussieht, war es eine gute Entscheidung.“
„Ob er jede einzelne Zehe irgendwann wieder genauso bewegen kann wie vorher, das steht noch in den Sternen, aber wenn sich keine Komplikationen einstellen, dann müsste der Fuß bald wieder voll einsatzfähig sein“, fügte Emma hinzu.
Sie zerrte sich die klebrigen Latexhandschuhe von den Händen, warf sie in den Eimer für kontaminierten Müll und drückte sich stöhnend die Handballen auf die Augen, die völlig ausgetrocknet waren, weil sie beim Vernähen der haardünnen Nerven und Sehnen nicht einmal zu blinzeln gewagt hatte.
„Soll ich ihn verbinden, oder wird er eingegipst?“, wollte Schwester Nora wissen, während sie den Fuß, der mit seinen zahlreichen schwarzen Nähten wie ein Ersatzteil aus Dr. Frankensteins Labor aussah, noch einmal gründlich mit Desinfektionslösung einpinselte.
„Darf ich mal sehen?“ Der Chefarzt drängte sich bis an den OP-Tisch vor, warf einen Blick auf den noch nicht verbundenen Fuß und sog scharf die Luft ein. „Das ist ja … ganz große Kunst, Kollegen!“, rief er anerkennend aus. „Sie sind ein geniales Team. Was meinen Sie, Kollege Kersten? Das hätten wir beide nicht besser hingekriegt, oder?“
„Das sehe ich genauso, Professor“, bestätigte Peter. „Das ist wirklich eine Meisterleistung. Ich habe die Bilder gesehen und weiß, in welchem Zustand der Fuß vorher war. Die meisten Ärzte hätten nicht lange nachgedacht, sondern sofort amputiert. Alle Achtung!“
„Ich würde übrigens zu einer Kunststoffschiene raten“, schlug Lutz Weidner vor. „Somit kann man den Verband täglich wechseln und einer möglichen Infektion oder etwaigen Durchblutungsstörung rechtzeitig vorbeugen.“
„Kuckuck!“, tönte es da plötzlich hinter ihnen. Mit einem asthmatischen Röcheln öffnete sich die pneumatische Schiebetür zum Waschraum, und knallrot im Gesicht und schwitzend tauchte der Verwaltungsdirektor der Sauerbruch-Klinik dahinter auf.
Emil Rohrmoser hatte eine schwere Bürde in Form von mindestens vierzig Kilo Übergewicht zu schleppen, und man konnte ihm ansehen, dass der Weg von der Direktionsetage im obersten Stock bis hinunter in die Notaufnahme eine gigantische sportliche Leistung für ihn gewesen sein musste.
Keuchend und breitbeinig blieb er in der offenen Tür stehen und tippte mit seinem wurstähnlichen Zeigefinger auf das Schild, das darauf hinwies, dass Unbefugten der Eintritt strengstens verboten war.
„Das da, das gilt nicht für mich, oder? Schließlich habe ich alles bezahlt, was hier herumsteht!“
„Schon gut, Direktor!“, entgegnete der Chefarzt seufzend. „Die Operation ist ohnehin bereits abgeschlossen.“
„Aha!“ Emil Rohrmoser vermied den Blick auf die blutigen Gewebefetzen und Tupfer, die noch zu sehen waren. „Haben Ihre Leute hier für mein teures Geld irgendetwas Nennenswertes geleistet, Weidner?“, verlangte er zu wissen.
„Ähm … wie bitte, Direktor?“ Prof. Weidner schüttelte irritiert den Kopf.
„Gasexplosion! Pressekonferenz! In zehn Minuten!“, keuchte der gewichtige Mann.
Er zerrte ein riesiges kariertes Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn.
„Was soll ich denen zum Fraß vorwerfen, Weidner?“, grummelte er missmutig. „Sie wissen ja, diese Journalisten wollen entweder Sensationen oder ein Buffet. Wenn sie beides nicht kriegen, dann saugen die sich aus purer Bosheit lauter garstige Sachen aus den Fingern.“
„Ach so, eine Pressekonferenz anlässlich der Gasexplosion!“ Der Chefarzt zeigte auf den OP-Tisch, wo Emma Forstner und Oberschwester Nora gerade dabei waren, den Fuß des Opfers zu verbinden.
„Hier, das können Sie erwähnen, Direktor. Das ist das absolute Glanzstück des heutigen Großeinsatzes. Den begnadeten Ärzten der Notaufnahme ist es in einer fast vierstündigen Operation gelungen, einen von herabfallenden Trümmern völlig zermalmten Fuß zu rekonstruieren und somit zu retten.“
„Ha, ein Fuß! Ein Fuß macht doch nichts her, Weidner!“, nörgelte der Verwaltungsdirektor weinerlich. „Ein Fuß lockt heutzutage keinen Hund mehr hinterm Ofen hervor. Haben Sie nichts Besseres? Irgendwo habe ich gelesen, dass man neulich einen alten Mann wiederbelebt hat, der seit drei Tagen tot war. So etwas geht ans Herz, das wollen die Leute lesen!“
„Drei Tage tot?“ Lutz Weidner runzelte die Stirn, schnaubte verächtlich durch die Nase und schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich!“
„Doch, das habe ich auch gelesen“, unkte der Anästhesist mit unterdrücktem Gelächter. „Lazarus hieß der. Steht in der Bibel.“
„Na also!“ Emil Rohrmoser nickte Dr. Fischer dankend zu. „Da haben Sie es, Weidner, es stimmt! Und dann gehen Sie her und brüsten sich mit einem läppischen Fuß!“ Er verdrehte genervt die Augen. „Da wirft man Ihnen die Millionen nur so in den Rachen, kauft Ihnen die teuersten Spielsachen, und das ist der Dank dafür? Wie stehe ich denn jetzt da, Weidner?“
Der Verwaltungsdirektor stampfte so fest mit dem Fuß auf den Boden, dass sein schwammiges Dreifachkinn heftig ins Schwanken geriet.
„Gut stehen wir da, würde ich sagen, Direktor.“ Der Chefarzt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich arbeitete er seit dreißig Jahren mit Emil Rohrmoser Seite an Seite.
Gemeinsam hatten sie es geschafft, ein unbedeutendes, heruntergewirtschaftetes Krankenhaus zu einer der größten und modernsten Kliniken des Landes aufzubauen, und das war Grund genug, großzügig über die Macken des Direktors hinwegzusehen.
„Wir haben wie immer die kompliziertesten Fälle bekommen und dennoch keinen einzigen Patienten verloren“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.
Doch auch damit war Rohrmoser nicht zu beeindrucken.
„Als wäre das auch schon was!“, brummelte er schulterzuckend. „Maier-Finkel von der Städtischen hatte wenigstens zwei tragische Todesfälle, mit denen er morgen früh sicher auf sämtlichen Titelseiten steht!“