Dichotomie - Gustav Knudsen - E-Book

Dichotomie E-Book

Gustav Knudsen

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Beschreibung

Inmitten der wunderschönen Landschaft Norwegens bereiten sich Gustav, Michelle, Wilma und Ingrid auf ihr erstes Weihnachtsfest auf dem eigenen Hof vor. Der überraschende Besuch Willems, Gustavs Arbeitskollegen aus den Niederlanden, wirbelt nicht nur die festlichen Vorbereitungen durcheinander, sondern verwandelt auch Wilmas anfängliche Skepsis in lodernde Leidenschaft. Innerhalb kürzester Zeit entschließt sich Willem dazu, seine Zelte in den Niederlanden abzubrechen und ganz nach Norwegen überzusiedeln. Äußerst begeistert von diesem Entschluß, bietet ihm Wilma ein Zimmer in ihrem Haus an, bemerkt dann aber schnell, dass Willem massive Schwierigkeiten hat, Nähe zuzulassen. Schnell kommt es zu Spannungen in der Beziehung. Mit therapeutischem Geschick versucht Ingrid, Willems Schatten der Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Währenddessen blüht Michelle in ihrer Rolle als Bäuerin richtig auf und entdeckt ihre Leidenschaft für die Käseherstellung. Gustav wiederum kommt mit seiner Arbeit bei Shell, den anfallenden Aufgaben auf dem Hof und seinem Sprachkurs an seine Grenzen. Die attraktive Kristina hingegen, die Gustav im Sprachkurs kennenlernt, macht keinen Hehl daraus, dass sie Gefallen an ihm gefunden hat. Wird es Willem gelingen, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen und geht von Kristina eine ernsthafte Bedrohung für die Beziehung von Michelle und Gustav aus?

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Inmitten der wunderschönen Landschaft Norwegens bereiten sich Gustav, Michelle, Wilma und Ingrid auf ihr erstes Weihnachtsfest auf dem eigenen Hof vor.

Der überraschende Besuch Willems, Gustavs Arbeitskollegen aus den Niederlanden, wirbelt nicht nur die festlichen Vorbereitungen durcheinander, sondern verwandelt auch Wilmas anfängliche Skepsis in lodernde Leidenschaft.

Innerhalb kürzester Zeit entschließt sich Willem dazu, seine Zelte in den Niederlanden abzubrechen und ganz nach Norwegen überzusiedeln.

Äußerst begeistert von diesem Entschluß, bietet ihm Wilma ein Zimmer in ihrem Haus an, bemerkt dann aber schnell, dass Willem massive Schwierigkeiten hat, Nähe zuzulassen.

Schnell kommt es zu Spannungen in der Beziehung.

Mit therapeutischem Geschick versucht Ingrid, Willems Schatten der Vergangenheit auf die Spur zu kommen.

Währenddessen blüht Michelle in ihrer Rolle als Bäuerin richtig auf und entdeckt ihre Leidenschaft für die Käseherstellung.

Gustav wiederum kommt mit seiner Arbeit bei Shell, den anfallenden Aufgaben auf dem Hof und seinem Sprachkurs an seine Grenzen.

Die attraktive Kristina hingegen, die Gustav im Sprachkurs kennenlernt, macht keinen Hehl daraus, dass sie Gefallen an ihm gefunden hat.

Wird es Willem gelingen, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen und geht von Kristina eine ernsthafte Bedrohung für die Beziehung von Michelle und Gustav aus?

Inhaltsverzeichnis

„Prolog“

„Schnalle“

„Prächtig. Sichtbar.“

„Iiieeks“

„Watte“

„Bolero“

„Tova“

„Nerven“

„Brotkörbchen“

„Mönch“

„Liiillliii“

„Lichtlein“

„Klogriff“

„Thriller“

„Bettfein“

„Zwart. Wit.“

„Mama. Meine Mama.“

„Veveriet“

„Kolhusvatnet“

„Haarig“

„Vater, Mutter, Kind“

„Gamle Vossebanen“

„Mylady Arnora“

„Kaksi“

„Aus dem Rennen“

„Rollig“

„Hiob“

„Norlender“

„Wunderschön“

„Utopie“

„Das Messer“

„Vollblöd“

„Doppelfuck“

„Expres. Piemel.“

„Erbarmen“

„Løk, poteter, urter.“

„Nach nur einem Tag“

„Die Mandel“

„Erlaubnis. Erteilt.“

„Psychologie im Bett“

„Wandersmann“

„Ledermontur“

„Schnittblumen“

„Zwei Hände“

„Der Rest“

„Ernst“

„Ein Baby. Ein Kind.“

„Frollein“

„Zippo“

„Deal?“

„Kumpel“

„Nutzlos“

„Hey Kollege“

„Babyfon“

„Versuchsanlage“

„Bebauung“

„Wunder der Natur“

„Klaatsch“

„Blind“

„slemme søstre“

„Kietelen“

„Sparsam. Bekleidet.“

„Plumeau“

„Porzellan“

„Sprachlos“

„Dørhåndtak“

„Blind“

„Walkie-Talkie“

„Psychisches“

„Quim“

„Awesome“

„Belästigend“

„Ebenbild“

„Numero Uno“

„Getuschel“

„Ekel“

„Spikes“

„Da unten“

„Gjerdeanker“

„Verpeilt“

„Wetten“

„Mieter“

„Snakker“

„Total“

„Sauer“

„Paket“

„Disco“

„Kleinholz“

„Trinity“

„Kein Rennen“

„Leopold“

„Basta“

„Sonst nichts“

„Der Bettler“

„Kristina“

„Einzelbett“

„Lesbike“

„Einmal? Zweimal?“

„Präsentdreieck“

„Epilog“

Gustav Knudsen

„Prolog“

Was für ein Scheisswetter. Es nieselte schon seit einigen Stunden. Die Strassen waren glatt und rutschig. Wie mit Schmierseife eingerieben. Mit Schmierseife, die leicht angefroren war. Der Ford Escort rutschte mehr als er fuhr, schlingerte mit dem Heck wie ein leicht rolliges Tier, das versuchte einen anzulocken. Nur wen wollte der Wagen anlocken? Den hinter mir fahrenden? Ihn auffordern, doch endlich in das Heck zu krachen? Was aber gar nicht möglich war, hinter mir fuhr niemand. Auch vor mich nicht. Nicht einmal auf der anderen Fahrspur kam mir jemand entgegen, die Strassen waren leergefegt. Weihnachten. Alle Norweger schienen zuhause zu sein. Vor dem wärmenden Kaminfeuer zu sitzen. Im Kreis ihrer Lieben, ihrer Familie. Das hatte ich in der kurzen Zeit hier festgestellt, Norweger waren Familienmenschen.

Alles hatte geschlossen, Bars und Restaurants – Geschäfte und Supermärkte sowieso. Lediglich die ESSO-Station in der Nähe des Haukeland Hospital hatte geöffnet, die Gelegenheit wollte ich nutzen. Tanken. Ein wenig den Dreck von den Scheiben wischen. Neben der Zapsäule stand ein kleiner Eimer mit Putzwasser. Der aber mehr an ein grosses Eis-am-Stiel erinnerte. Der Gummiwischer war in dem Wassereimer festgefroren. Durchbrach nach einigen Handbewegungen die dünne Eisoberfläche. Bei der Scheibenreinigung ging mein Blick herunter zum Hafen von Bergen, dann auf der anderen Seite den Berghang hinauf. Bedeckt mit Schnee sahen die farbigen Holzhäuser noch gemütlicher aus - die Stadt wirkte noch idyllischer und friedlicher. Wegen des wenigen Tageslichts konnte ich gut durch die Fenster der nahegelegenen Häuser blicken. Menschen beim Backen oder Essen beobachten. Die Stimmung war trotz Kälte irgendwie wohlig und warm, half mir sehr zur Ruhe zu kommen. „Jepp, die letzten Wochen waren turbulent satt“ warf ich den Gummiwischer zurück in den Wassereimer.

„Schnalle“

Das letzte Stück bis zu Wilmas Arbeitsstelle, dem Pflegeheim, ging es leicht bergauf. Durch dicht bewaldetes Gelände schlängelte sich die Strassen den Hang empor. Genau wie dieser Juuhuu Häkkimäkki – oder wie auch immer der von Ingrid genannte Rallyefahrer hiess – hatte ich die volle Beleuchtung eingeschaltet. Normales Fahrlicht, zusätzlich die vier grossen Hella-Scheinwerfer. Hier war kein Schwein unterwegs, also auch kein Schwein das mir entgegenkam, das ich blenden konnte. Dafür war meine Sicht umso besser. Liess die Fahrfreude noch einmal deutlich zunehmen. Sogar den „Handbremsentrick“, den ich von Ingrid abgeschaut hatte, probierte ich ausgiebig, wenn es um eine enge Kurve ging. „Ja, verdammt, macht echt Spass“ zog ich ein ums andere Mal an dem Hebel, warf den Wagen um die Ecke.

Noch im Auto sitzend hatte ich mir eine Zigarette gedreht, die ich vor der Eingangstüre des Pflegeheims rauchte. Ziemlich dicht an die Hauswand gedrückt, um mich vor dem immer noch anhaltenden Nieselregen zu schützen. Ob das wirklich so eine gute Idee war? In die regenreichste Stadt Norwegens zu ziehen? In irgendeinem Buch - oder war es ein Reiseführer – hatte ich mal was gelesen von etwa 250 Regentagen. Also in verständlichen Worten ausgedrückt – neun von zwölf Monaten regnete es. Und mindestens zwei Monate lang war es irgendwie latent dunkel.

Eine junge Frau, vermutlich auch Pflegepersonal, kam aus der Eingangstüre, schaute mich an. „1Venter du på noen? Hvorfor kommer du ikke inn?“ Sie anlächelnd entgegnete ich ihr „Sorry. Only English“. Fügte noch „Wilma“ hinzu. Sie hielt mir die Türe auf. „2Why don't you come in? I'm Solveig. But without cigarette“.

Ein langer Gang schloss sich an die Haustüre an, zur rechten Seite öffnete sich ein grosser Saal, aus dem ein Stimmenwirrwarr herausdrang. Solveig wies mit der Hand in den Raum hinein. „3There's Wilma at the back. At the table in front of the window“.

Je näher ich mich Wilmas Tisch näherte, umso heftiger winkte sie mit einem Arm in der Luft umher. Scheinbar war gerade Mittagszeit, einige in weisse Kittel gekleidete Frauen räumten Geschirr von den Tischen ab, tauschten es gegen Kaffeetassen. Eine brachte auf hübsch dekorierten Tellern Gebäck, stellte die Teller mittig auf jedem Tisch ab. Ein wenig unsicher … verunsichert … haderte ich zwischen Umarmung oder Kuss für Wilma. Entschied mich für das unverfängliche Küsschen links, Küsschen rechts. Wilma bat mich, mich zu ihr und drei älteren Damen zu setzen. Nannte drei Namen, die aber im Prinzip kamen und gingen. An einem Ohr rein, am anderen raus. „4Så dette er mannen din“ schaute eine der Damen fragend zu Wilma. Begleitete ihre Fragestellung mit einer leichten Ohrfeige für mich. Die aber garantiert nicht als eine solche gemeint war, sondern eher dem Umstand geschuldet, dass ältere Menschen ihre Motorik nicht mehr komplett im Griff hatten. Was sie auch unterstrich als ihre Hand dann auf meiner Wange ruhte und sie mir - doch verdammt zärtlich - darüberstrich. Ich spürte jede Falte ihrer alten Handfläche. „5Ikke mannen min. Kjæresten min. Min partner“ erwiderte Wilma ihr. Nahm meine Hand. „Gus. Gustav. Min venn. Min beste venn“. Schaute mich an. „Stimmt doch, oder? Du bist doch mein bester Freund?“ In die Damenrunde blickend nickte ich „6Ja, akkurat. Det stemmer. Gustav. Hyggelig å treffe deg“. Etwas norwegisch war dann doch bei mir hängengeblieben. Was man halt so an Höflichkeitsfloskeln raushaute.

Eine der Damen hob ihre Hand in die Luft, rief einer Bedienung „7Kan du hente en kopp til, kjære?“ zu. War das überhaupt eine Bedienung? Es war ja kein Café oder kein Bistro hier, sondern der Essenssaal des Pflegeheims. Wie mochte der korrekte Begriff für das junge Ding heissen? So wie ich sie sah, während ich sie musterte? Mittelgross, vielleicht Einmetersiebzig, mittellanges blondes Haar, schmale Hüften, mittelgrosse Titten, hübsches Gesicht, freundliches Lächeln. „Verdammt heisse Schnalle“. Wilma stiess mir mit dem Ellenbogen leicht in die Seite. Grinste mich dabei an. „Du änderst dich wohl nie“.

Vor Wilma standen auf dem Tisch einige Päckchen, bunt verpackt, mit kleinen Schleifen. Das seien Geschenke, die sie erhalten habe. Von ein paar Heimbewohnern. „Zu Weihnachten“. Wandte sich dann aber wieder den Damen zu. Nur einmal kurz noch zu mir. „Du hast doch ein bisschen Zeit? Ich kann jetzt nicht einfach so abhauen“. Hatte ich, Zeit. Nahm ich mir einfach. Und auch Gebäck. Wartete geduldig auf Wilma. Naschte anständig von den Leckereien. „Hassirzei“ nuschelte ich mit vollem Mund zu Wilma. Die mich aber nur fragend anschaute. „Lass‘ dir Zeit. Ich nehm‘ mir einfach noch einen Keks“. Winkte die „verdammt heisse Schnalle“ an unseren Tisch. „8En kaffe til, takk“.

Wie schnell – und wie sehr sich Wilma in ihrem neuen Job eingefunden hatte wurde mir schnell klar. Das war einfach ihr Ding. Sich um Menschen kümmern. War es immer schon. Die Art und Weise wie die älteren Damen auf sie reagierten war so gar nicht „Pflegerin und zu Pflegende“, sondern einfach wie Freundinnen. Nur eben mit einem gewissen Altersunterschied. Von der Seite betrachtete ich Wilma, mümmelte dabei einen weiteren Keks. Sprach in mich hinein „Du bist ein guter Mensch. Du hast so ein verdammt grosses Herz“.

1 Wartest du auf jemanden? Komm' doch rein.

2 Komm' doch rein. Ich bin Solveig. Aber ohne Zigarette.

3 Da hinten ist Wilma. An dem Tisch. da vor dem Fenster.

4 Das ist also dein Mann.

5 Nicht mein Mann. Mein Freund. Mein Partner.

6 Ja genau. Stimmt. Gustav. Freut mich.

7 Schätzchen, bringst du uns noch eine Tasse bitte.

8 Noch einen Kaffee, bitte.

„Prächtig. Sichtbar.“

Wilma hatte meine Geräuschkulisse richtig gedeutet. Ziemlich offensichtlich klimperte ich mit der Kaffeetasse auf dem Unterteller. Mittlerweile war ich pappsatt, hatte mich an dem Gebäck genüsslich ausgelebt. War aber auch jetzt lange genug nur einfach neben ihr sitzendes – und wartendes Beiwerk. „9Så, mine kjære. Jeg drar av gårde nå. Vi ses i det nye året. Fremfor alt, hold dere friske“ erhob sie sich vom Stuhl, umarmte eine jede ihrer Damen. „10Og tusen takk for de fine gavene dine“. Packte die bunten Päckchen vom Tisch. Schaute mich an, nickte mit dem Kopf kaum sichtbar in Richtung der Damen. Sichtbar genug für mich – und verständlich genug für mich. „11Farvel. God jul“ reichte auch ich jeder zum Abschied die Hand.

Von der leicht erhöhten Lage des Pflegeheims bot sich ein idyllischer Blick auf Bergen. So als würde man auf eine Postkarte schauen. Die erleuchteten Fenster der Häuser setzten kleine Punkte in die Dunkelheit. Besser gesagt, in die hereinbrechende Dämmerung. Der Übergang war eher fliessend. Zwischen Tagesanbruch, Dämmerung und Abend. Es war irgendwie immer latent Dunkel. Eine treffendere Umschreibung für die Tageszeit war „Es wird heller, noch heller, dann auch schon wieder dunkel. Die innere Uhr bei mir schlief, mich an der Sonne zu orientieren war kaum möglich. Lediglich einen Anhaltspunkt gab es noch. Mittag – wenn der grösste Hunger aufkam. Den ich aber jetzt mit Gebäck gestillt hatte.

Wilma lud ihre Geschenke auf die Rücksitzbank, setzte sich in den Ford Escort. „Was ist? Worauf wartest du noch?“ schaute sie zu mir. „Gleich. Ich rauch‘ mir noch eine“. Wilma verzog die Mundwinkel. „Gut, dass ich dieses Laster abgelegt habe“. Das war in jedem Fall ein positiver Effekt, den sie aus unserer Beratung bei Ingrid mitgenommen hatte. Nicht einmal direkt durch Ingrids psychologische Beratung, mehr durch Ingrids Partner Haakon. Wobei das auch nicht so ganz stimmte. Haakon war ja nicht Ingrids Partner, nicht einmal Geschäftspartner. Sie teilte sich lediglich ein Büro mit ihm. Das kleine Techtelmechtel zwischen Wilma und Haakon lief zwar nicht gerade zur Zufriedenheit der beiden – aber Haakon hatte sie zumindest von ihrer Zigarettensucht befreien können. „Wenigstens etwas Positives hatte das dann schon, deine Liaison mit Haakon“. Aus Wilmas leichtem Grinsen wurde ein breites Lachen. „Das war aber auch schon alles. Sonst war das mit Haakon doch der Griff ins Klo für mich. Wieder mal. Einmal mehr“.

Wilma rutschte auf dem Beifahrersitz ein wenig hin und her. Als suche sie die perfekte Sitzposition. „Bin ich aber selber schuld, dass ich so oft den Falschen ausgewählt habe. Habe einfach zu oft meine Augen vor der Realität verschlossen. Temporäre Verblödungsphase könnte man das nennen. Würde Ingrid wahrscheinlich sagen. Mir hat einfach was gefehlt … ich habe einfach was gesucht … Anerkennung. Lob. Geborgenheit. Oder sowas. So wie du das immer gemacht hast … Machst. Dass du mir … uns allen … all deinen Prinzessinnen sagst, dass wir die Schönsten auf der Welt sind. Klar, wissen wir zwar, dass das nicht so ist – nicht stimmen kann – aber wir hören es trotzdem gerne“.

Meine Zigarettenkippe trat ich auf dem Boden neben der Fahrertüre aus, setzte mich zu Wilma. „Bist du ja auch … seid ihr ja auch. Die schönsten Frauen der Welt“. Wilma lächelte mich an. „Siehst du, genau das meine ich. Du bist ein Charmeur“.

Ganz leicht legte ich meinen Kopf gegen ihren Oberarm. „Ne, stimmt doch. Ich meine ja wirlich schön … also nicht hübsch … hübsch anzusehehen … natürlich auch … aber ihr seid Schön. So vonwegen eurer Seele … eurer Strahlkraft. Habe ich doch gerade gesehen. Wie die Omas dich in ihr ihr Herz geschlossen haben. Nach nur ein paar Wochen. Das wie du bist … was du ausstrahlst … das macht dich zu einer schönen Frau“. Streichelte mit meinem Handrücken über ihre Wange. „Der Rest … alles andere … dein Körper natürlich auch. Aber das meine ich mit Hübsch. Du siehst toll aus …“. Wilma griff zu meiner Hand. „Dann lass‘ uns jetzt fahren, okay?“

Auf meine Frage hin – ob sie denn sowas wie ein Fazit ziehen könne, nach nun fast einem Monat im Job – erzählte Wilma. Von ihren Aufgaben, von ihren Anforderungen, Herausforderungen. Vor allem, wie sie das alles meistere. „Es macht mir Spass. Weißt du doch. Mir liegt was an Menschen“. Ganz kurz schaute sie seitlich zu mir. „Ich habe eine Aufgabe. Eine sinnvolle Aufgabe“. Streute noch ein paar beschreibende Worte ein. Sowas wie „Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs der Patienten - Organisation der Pflege - Überwachung und Sicherstellung der Qualität medizinischer Versorgung - Diagnostik und Patientenüberwachung - Medikamente vorbereiten und verabreichen - Infusionen vorbereiten - Blut abnehmen“. Ganz kurz griff ich zu ihrer linken Hand. „Also sowas wie eine Krankenschwester?“ Wilma lachte. „So ungefähr. Ja. Aber das Wichtigste, zumindest für mich, ist die Empathie, die ich den Menschen gegenüber bringen kann. Zeigen kann. Zeigen darf. Denen meine Gefühle, meine Anteilnahme zu zeigen. Mich in deren Gefühle und Bedürfnisse hineinzuversetzen. Aber vor Allem sie zu verstehen“.

Aus ihrer Handtasche kramte sie einen Zettel hervor. „Hier schau‘ mal. Das habe ich von Peer, einem ziemlich alten Heimbewohner bekommen. Faltete das Papier auseinander, hielt es mir zur Ansicht hin. „12Hvis du trenger noe, uansett hva, så kom til meg. Kanskje bare en ekte mann. Som virkelig tilfredsstiller deg.“. Von dem Zettel blickte ich auf, zu Wilma herüber. „Das ist aber nett von diesem Peer“. Wilma grinste breit. „Du verstehst kein Wort was da steht, oder?“ Faltete den Zettel zusammen. „Der bietet mir an, mich zu ficken. Süss, oder? Peer ist bestimmt Neunzig Jahre alt, oder noch älter“.

Mit grossen Augen schaute ich zu Wilma. „Das findest du süss?“ Wilma steckte den Zettel in ihre Handtasche. „Irgendwie schon. Ist doch süss. Schafft der sowieso nicht mehr. Bestimmt kriegt der keinen mehr hoch. Oder kriegt einen Herzinfarkt, wenn dem einer abgeht. Aber süss finde ich das schon. Mir was zu sagen. Was zu schreiben. Bestimmt meint er etwas ganz anderes. Aber so sind Männer wohl. Die haben es nicht so mit echten Gefühlen. Reden lieber von Ficken statt von Liebe“. Mit dem Handrücken strich sie mir über die Wange. „Du bist doch auch so ein Mann. Was dich wirklich bewegt schreibst du doch in deine Kladde …“.

„Strahlend“ empfing uns der Weihnachtsbaum auf dem Hof. Durchbrach mit seinen kleinen glitzernden Lämpchen die schon wieder leichte Dämmerung. Nicht mehr lange und es würde schon wieder richtig dunkel sein. Nach dem Aussteigen blieben wir gemeinsam einen Moment davor stehen, betrachteten die in den Himmel zeigenden Lichtkegel. Lichtkegelchen. Wilma lehnte sich an meinen Oberarm. „Richtig schön hier bei uns. Ich fühle mich echt zuhause“. Mein Arm legte sich um ihre Schulter. „Willkommen zuhause, meine liebe Wilma“. Sah sie von der Seite an. „Schön, dass du da bist. Schön, dass du das mit zu unserem Zuhause gemacht hast“.

Mit einer Drehung löste Wilma sich aus meiner Umarmung. „Ich zieh‘ mich schnell um. Ein bisschen festlich. Ich komm‘ gleich zu euch rüber. Dann machen wir doch sicher Bescherung. Oder sowas in der Art. Wie auch immer wir das nennen wollen“. Zwinkerte mir zu. „Geschenke meine ich“.

Eine wohlige Wärme schlug mir beim Betreten des Hauses entgegen. Nicht nur von dem knisternden Kaminfeuer. Auch die Begrüssung durch Ingrid und Michelle trug ihren Teil dazu bei. In gebührendem Abstand hatte sie es sich auf einer Decke gemütlich gemacht. Mit einigen Kissen, auch zur Sicherung für Torid, kuschelten sie vor den aufzüngelnden Flammen auf dem Boden mit der Kleinen. Spielten mit ihr. Unterhielten sie. Bespassten sie. „Schau‘, da ist der Papa wieder“ hob Michelle Torid an ihren Oberkörper. Drehte sie so, dass sie mich anschauen konnte. Ihr Gesicht erhellte sich, ein Lächeln belohnte mich.

Im Hintergrund lief leise weihnachtliche Musik. Von Cassette. Norwegische Weihnachtsmusik. In der Wohnung war alles weihnachtlich. Kerzen brannten. Dekoschmuck war auf den Tischen verteilt. „Da wart ihr aber schon ganz schön fleissig“ konnte ich die beiden nur loben. So wie alles blinkte und blitzte. Alles geputzt. Die beiden, Ingrid und Michelle, hübsch gekleidet. Ja, festlich war die richtige Umschreibung für das gesamte Ambiente.

Direkt hockte ich mich zu den drei Prinzessinnen auf die Decke, bat Michelle mir Torid in den Arm zu legen. „Wie hübsch du anzuschauen bist. Und wie du dich veränderst. Von Tag zu Tag. Ein richtiger Mensch wird aus dir. Ein hübscher Mensch“. Torid hing mir ihren kleinen Äuglein an meinen Lippen, lauschte meinen Worten. „Ja, du bist gemeint, meine kleine Torid. Meine Tochter“ spielte ich mit einem Finger auf ihrem Brustkorb.

Michelle erhob sich sehr schnell. „Dann bist du jetzt dran, ich habe Pause“. Was ich einerseits lebhaft nachvollziehen konnte, zum anderen mir aber auch sehr willkommen war. Zeit für mein Kind und mich. Konnte mich mit ihr befassen. Sie beobachten. Die Veränderungen an Torid beobachten. Die auch deutlich sichtbar waren. Und spürbar. Sie wuchs – täglich. Veränderte sich täglich. Entwickelte sich. Prächtig. Sichtbar.

9 So, meine Lieben. Ich mach' mich jetzt auf den Weg. Wir sehen uns dann im neuen Jahr. Bleibt vor allem gesund.

10 Und vielen Dank für eure lieben Geschenke.

11 Auf Wiedersehen. Frohe Weihnachten.

12 Wenn du mal etwas brauchst, egal was, komm' zu mir. Vielleicht auch nur einen echten Mann. Der dich so richtig befriedigt.

„Iiieeks“

Torid – meine Tochter - anzuschauen war schon etwas Besonderes. Eigentlich natürlich unsere Tochter, Michelles und meine Tochter. Meine Tochter – so würde es wohl erst später heissen. „Deine Tochter“ wäre irgendwann die Einleitung zu einer negativen Betrachtung. Zumindest kannte ich es so aus meiner eigenen Kindheit. „Deine Söhne“ oder „Dein Sohn“ leitete meine Mutter ihr Beklagen bei meinem Vater über was auch immer für Fehlverhalten ein. Der mit „Ja sicher, meine Söhne, alles Negative haben sie von mir“ darauf reagierte. Würde sich das bei mir wiederholen? Anzunehmen, irgendeiner musste ja immer schuld sein. Am Liebsten der andere, man selbst lieber nicht.

„Legst du mir bitte ein paar Sachen für Torid heraus, ich möchte mit ihr spazieren gehen, es hat gerade aufgehört zu nieseln. Wenigstens ein bisschen an die frische Luft“ bat ich Michelle noch um passende Kleidung für unser Baby. „Dann hast du auch richtig Ruhe, Zeit für dich“. Sicherlich auch ein ganz netter Nebeneffekt. Der bei meiner Entscheidung aber gar so nicht so sehr im Vordergrund stand. Nein, ich wollte einfach raus. Ich selber war lieber draussen als in der Wohnung. Vielleicht konnte ich so Torid ja schon was mit auf den Weg geben – dass sie bloss keine Stubenhockerin würde. Ihr Interesse für die Natur wecken. Immerhin lebten wir inmitten der Natur. Der schönsten Natur, die ich zumindest bislang gesehen hatte. Lediglich die aus Nederland bekannten Strände fehlten mir ein wenig. Aber – kann man alles haben? Haben wollen schon. Nur bekommen ist ja die andere Frage. Gab es das überhaupt? Mitten im Wald leben? Von Bergen umringt – und dann nur wenige Meter bis zum nächsten Strand? Wohl eher weniger. Also einfach mit dem zufrieden sein was man hat, oder?

Während ich Torid mit dem von Michelle bereitgelegtem Strampler anzog, dachte ich über Zufriedenheit nach. Was war das überhaupt? Zufriedenheit? Wo kam der Ausdruck her? Abgeleitet von „Zufrieden sein“? Oder von „zu Frieden finden“? Was bedeutete Zufriedenheit für mich persönlich? War ich zufrieden? Dass ich in unzähligen „Sitzungen“ mit Ingrid über dieses Thema gesprochen hatte kam mir jetzt zugute. Machte es einfacher für mich zu einer Antwort zu kommen. Eine Psychologin als Mitbewohnerin zu haben war schon was Feines. Was hatte sie mir nicht alles gesagt, mitgeteilt. Mich animiert meine Sichtweise in eine bestimmte Richtung zu lenken. Nach vorne. Oder in mich hinein. Nicht an anderen orientieren. Reflektieren. „Ständige Vergleiche machen dich unzufrieden. Es bringt nichts, deine Laune vom eigenen Glück abhängig zu machen. Wenn du immer auf der Jagd nach dem Glück bist, kommst du nie zur Ruhe“. Das hatte sie mir unter anderem gesagt. „Zufreidenheit hängt nicht nur von den Dingen ab, die du erreicht hast, sondern vor allem von deiner inneren Einstellung“.

Ingrid hatte das mit einer psychologischen Weisheit angereichert - Zufriedenheit bezeichnet den Zustand, in dem das Handlungsergebnis die Erwartungen erfüllt oder übersteigt. Wenn du jedoch die Erwartungen nicht erreichst, bist du unzufrieden. Und dann noch ganz nebenbei die Feststellung abgesondert „Wer nichts erwartet kann auch nicht enttäuscht werden. Genau betrachtet ist es deine individuelle Einschätzung, die dich zum zufriedenen Menschen macht. Akzeptiere und liebe dich selbst. Hör‘ auf, dich zu vergleichen. Denn dann vergisst du das Original, das du bist".

Eigentlich war es ja ganz einfach – das was ich jetzt sah, machte mich glücklich. Zufrieden. Das Lächeln und Strampeln meiner Tochter. Die sich darüber freute, dass ich mich an ihrem Anblick erfreute. Genau das war es doch - Familie und Freunde sind gut für mich. Erzählen, Zuhören, Diskutieren – das alles macht eine starke Freundschaft aus. Und in einer solchen Freundschaft, einer solchen Umgebung lebte ich doch gerade. In Zufriedenheit.

„So, Maus. Dann Abmarsch. In die Natur“ hob ich Torid von der Couch, legte sie in den Kinderwagen. „Wir sind dann mal los. Bis später“. Winkte an der Haustür Ingrid und Michelle zu.

Schon nach wenigen Metern entschied ich das Kinderwagenverdeck herunterzuklappen. Ein Cabrio für Torid. So konnte sie mehr von ihrer Umgebung sehen, hatte freiere Sicht – und auch ich konnte mehr von ihr sehen. Ihre Äuglein scannten mich genau. Fokussierten sich auf mein Gesicht, auf meinen Mund, meine Lippen. Die ihr reichlich erzählten. Von meinen Gedanken. Ich hatte jemanden, der mir zuhörte, dem ich erzählen konnte. Kein Selbstgespräch, so wie oft, wenn ich unterwegs war, wenn meine Gedanken sich zwar in Worte umwandelten. Aber nur in meinem Kopf zu „hören“ waren, jetzt aber als gesprochenes Wort auch an – und in meine Ohren drangen. Erst dann im Kopf ankamen.

Meine Gedanken hinsichtlich Zufriedenheit hatte ich wieder aufgenommen. War es nicht Quatsch zu denken, dass mir etwas fehlte? Dass ich etwas versäumte? Irgendwas zu kurz kam? Sollte ich nicht besser über das erfreut sein, was ich hatte? Statt zu beklagen was mir fehlte? Aber was fehlte mir denn? Fehlte mir überhaupt irgendwas? So gesehen könnte ich natürlich mein ganzes Leben lang dem Glück und der Zufriedenheit nachjagen – was aber nicht gleichbedeutend mit dem Erreichen war. Zufriedenheit und Glücklichsein lag doch einzig und alleine in mir. All die ganzen Fragen nach „Ich sollte... Ich müsste ... Was auch immer - mehr Spaß haben, mehr Geld haben, glücklicher, schlanker, besser sein ... – alles Kappes, ich hatte alles. Eine Familie, Freunde, ein Zuhause, einen Job.

„Was meinst du meine kleine Maus? Mehr geht doch gar nicht. Du schenkst mir dein Lächeln, ich kann dich in die Arme nehmen“. Bückte mich zur Wiese herunter. „Ich kann sogar, einfach so, Blumen für dich pflücken“. Der ganze materielle Sccheiss war doch genau das – materieller Scheiss. Dinge können keine innere Leere füllen. Dinge geben uns, wenn überhaupt, nur ganz kurz eine Zufriedenheit und Befriedigung. Sie können verloren und kaputt gehen oder gestohlen werden. Am Ende meines Lebens würde ich maximal auf schöne Momente in meinem Leben, die Menschen, die ich geliebt habe, zurückblicken können. Nicht auf die Dinge, die ich angehäuft haben würde. Und wie schnell ein Leben zu Ende sein könnte, wusste ich aus schmerzhafter Erfahrung. „Was soll also diese Grübelei?“ beugte ich mich zu Torid in den Kinderwagen hinab. Eine Antwort erwartete ich nicht. Zumindest nicht aus ihrem Mund. Da kamen nur vergnügte Laute heraus. Weil sie sich freute, dass ich sie unterhielt, ja förmlich vollquasselte. „Du hast Recht, mein Engel. Ich sollte einfach nur dankbar sein. Für unsere Familie, für unsere Freunde, für unsere Gesundheit, für die Schönheit der Natur, für die Wolken, durch die immer wieder die Sonne hindurchscheint“.

Mit einer Hand bewegte ich einen kleinen Ast beiseite, der in den Weg hineinhing. Einige Wassertropfen fielen von der Tanne hinunter. In den Kinderwagen. Auf Torid. Für sie schien das aber mehr als einige Tropfen zu sein. Mehr eine unerwartete, eiskalte Dusche. Entsprechend war ihr erstauntes Geschrei. Lautstark liess sie wiessen wie Scheisse sie das jetzt fand. Klar, für mich vielleicht nur ein paar Tropfen. Für Torid aber ein echter Schwall. Unerwartet. Erschreckend. Schockierend. Ich hob sie aus dem Kinderwagen. An meinen Oberkörper. Versuchte sie zu beruhigen. „Du hast Recht, schon wieder. Der Papa ist ein Idiot. Dir so einen Schock zu verpassen“. Verstand sie was ich sagte? Konnte sie „Papa“ schon irgendwie zuordnen? Ihre Gesichtszüge erhellten sich schnell wieder, das Lächeln war zurück.

Ein ganzes Stück waren wir schon in den Wald hineingegangen. Also ich. Gegangen. Torid in meinen Armen tragend. Den Kinderwagen hatte ich stehen lassen. Ein Schieben war mittlerweile doch ganz schön anstrengend. Die Lichtverhältnisse hatten sich verändert. Nur hier und da fielen ein paar Sonnenstrahlen durch die Baumwipfel. Die Beleuchtung unseres Weihnachtsbaums – unser Hof - war schon lange nicht mehr zu sehen. Torids Köpfchen stützend hob ich sie an ein paar Äste heran, liess sie die Tannennadeln befühlen. Sowas ähnliches wie „Iiieeks“ gab Torid von sich. Was mich grinsen liess. Solche Laute des Erstaunens liess auch gelegentlich Michelle hören. „Das hast du aber von Mama“ lächelte ich Torid an, die mit ihren kleinen Fingerchen in der Luft versuchte nach den feuchten Tannennadeln zu greifen. Hob sie höher, dichter an einen Ast. Einige Wassertropfen fielen auf sie herunter. Torid zuckte zusammen. Aber ohne Entsetzen. Zumindest ohne akustischen Ausdruck des Erstaunens.

„Gefällt es dir im Wald?“ schaute ich sie an. Was sie mit Patschen in mein Gesicht beantwortete. Das deutete ich einfach mal als „Ja“. Blies meine Wangen auf, liess mit hörbarem Geräusch die Luft heraus. Zwischen meinen Lippen durchgepresst. Mit einem quietschenden Geräusch. So als würde man eine Vollbremsung mit dem Auto hinlegen. Sehr zur Belustigung von Torid.

Lange dauerte es nicht, nachdem ich Torid wieder in den Kinderwagen abgelegt hatte, bis sie einschlief. Während ich sie zudeckte bestätigte ich mir meine Überlegungen mit „Was machst du dir überhaupt einen solchen Schädel? Es ist doch alles gut. Glücklicher, zufriedener als jetzt gerade kannst du doch gar nicht sein. Was willst du mehr? Schau‘ doch nur auf das kleine Wesen. Sie gibt dir doch alles. Kriegst du für kein Geld der Welt. Besser noch, das ist komplett gratis. Das gibt sie dir einfach so“.

Langsam kam unser Hof – samt weihnachtlicher Beleuchtung - wieder näher. Aus den Schornsteinen unserer Wohnhäuser stiegen leichte Rauchwolke in die einsetzende Dämmerung empor. Fast wie im Märchen. Bei Hänsel und Gretel. Nur ohne Knusperhäuschen.

„Watte“

Auf den letzten Metern hatte es wieder angefangen zu nieseln. Wurde aber schnell sichtbar – und spürbar – mehr. Noch an der Haustür stehend wollte ich Torid aus dem Kinderwagen heben. Wilma kam mir zuvor, war vor die Türe getreten. „Lass‘ sie schlafen. Wir nehmen den Kinderwagen mit rein“. Gab mir mit einem Kopfnicken ein Zeichen, ich solle ihr helfen den Kinderwagen nach drinnen zu tragen. Ingrid war in der Küche zugange, wies mit einer Hand zur Treppe. „Michelle ist oben, schläft ein bisschen. Ruht sich aus“. Sie hätten besprochen, dass wir nachher zusammen essen, vorher sowas wie eine Bescherung, Beschenkung machen. „Noch ist ja Julefest. Erst Geschenke, dann Essen. Dann machen wir es uns koseiig – also so richtig gemütlich“. Sie, Ingrid, müsse ja am frühen Abend aufbrechen. „Zu Bestemor“. Das habe sie ihren Eltern versprochen. Sich um ihre Grossmutter zu kümmern, während ihre Eltern für einen Kurzurlaub nach Barcelona waren. Hatte wohl versucht telefonisch Bestemor zu überzeugen, dass sie doch zu ihr kommen solle. Also Ingrid sie abholen wolle. Um zu uns zu kommen. Was Bestemor aber abgelehnt habe, mit dem Hinweis sie habe Tiere zu versorgen, könne nicht „mal eben“ ihren Bauernhof verlassen.

Wie sehr noch „Julefest“ war, war nicht nur daran festzustellen, dass Ingrid es erwähnte. In der Wohnung brannten Kerzen, reichlich. Verteilt auf einigen Tischen und Sideboard. Leise spielte Musik. Zum Glück nicht wieder diese norwegischen Weihnachtsliedchen. Richtige Musik. Von Schallplatte. Torid stand im Kinderwagen nicht weit vom Kamin entfernt. So dass ich bei Bedarf sofort zu ihr konnte. Hatte mich an den grossen Esstisch gesetzt, die Einladung Wilmas auf einen Kaffee gerne angenommen. Konnte sie jetzt richtig anschauen. Sie sah gut erholt aus. Das Nickerchen, ihr Power-Napping hatte ihr gutgetan. Geduscht, geschminkt. Nach allen Regeln der Kunst geschminkt. Die Lippen mit rotem Lippenstift leuchteten. Farblich dazu passend rot lackierte Fingernägel. Hübsch und aufreizend gekleidet. In ihr braunes, knöchellanges geknöpftes Strickkleid. Mein Lieblingskleid. Also nicht meins persönlich. Ich trug keine Kleider. Das was ich an ihr am liebsten sah. Das ihre Figur und ihre Rundungen so toll betonte. Ein festlicher Augenschmaus sozusagen. Wilma wusste das ebenso. Strich mit ihren Handflächen ihre Hüften entlang. So als würde sie das Kleid glattziehen. Falten herausstreichen. Was es aber gar nicht hatte, sondern durch die Straffung des Stricks ihre Brüste noch besser zur Geltung kamen.

„Was für Granaten-Titten“ entfuhr es mir sehr leise. Einen Kaffeebecher schob sie zu mir herüber, setzte sich mit einem weiteren zu mir an den Tisch. „Gefalle ich dir?“ Klimperte mich mit einem Wimpernaufschlag an. „Du hast sensationelle Titten“ bewegten sich zwar meine Lippen, liessen aber keinen Ton hören. „Bis zum zweiten Januar habe ich jetzt Urlaub. Kurzurlaub. Danach geht es dann in die Spätschicht“. Schaute mich lächelnd an. „Früher sind wir zu solchen Gelegenheiten immer weggefahren. In Kurzurlaub. Du und ich“.

Daran erinnerte ich mich gerne. Sei es irgendwo in Nederland, oder zu einem Städtetrip. Mit Wilma in Urlaub zu fahren hatte mich immer mit Glück erfüllt. „Wenn du magst kannst du gerne mitkommen. Wir machen ja auch kleine Ausflüge. Michelle hat Arnora versprochen, dass wir was unternehmen. Komm‘ einfach mit“. Wilma trank einen Schluck von ihrem Kaffee ab. „Ne, macht ihr mal. Ich bleib‘ schön zuhause. Ganz für mich. Mal so richtig ankommen. Ich mach‘ Urlaub in meinem Zuhause. So richtig habe ich ja nicht einmal alles eingeräumt. Auch nicht eingerichtet. Das werde ich jetzt alles nachholen“.

Ingrid kam zu uns an den Tisch. In einer Hand balancierte sie Teller. Obenauf lag Besteck. Mit der anderen Hand schob sie einige von den kleinen Geschenkpaketen weg, die Wilma über die Tischplatte verstreut hatte. Die Präsente die sie im Pflegeheim bekommen hatte. Hübsch verpackte Kleinigkeiten. So war anzunehmen. Was sich in den Paketen befand war nicht zu sehen. Also alles reine Vermutung. Ebenso schob Ingrid die kleinen Schokoladentafeln beiseite. Immer in Fünferblöcken, kreuzweise übereinandergestapelt. Jedes „Täfelchen“ vielleicht Drei mal Einen Zentimer gross. In bunte Alufolie gewickelt. Wahrscheinlich mehr Verpackungsmüll als letztendlich Schokolade. Aber hübsch anzusehen. Mit einem dünnen, glitzernem Band gehalten.

Wenn ich wolle, solle ich doch Michelle aufwecken, denn, so Ingrid in ihrer Erklärung, in Kürze wäre das Essen fertig. Und sie habe auch nicht mehr sooo wahnsinnig viel Zeit bevor sie zu ihrer Grossmutter aufbrechen wollte. „Aber schon noch zusammen essen, ein paar Geschenke auspacken, etwas zusammensitzen“. Das würde ihr gutgefallen. Denn danach würden wir uns ja ein paar Tage nicht sehen. Von Norheimsund, wo ihre Bestemor wohne, sei es ja nicht gerade ein Katzensprung bis zu uns nach Hylkje. Gute sechzig Kilometer, was aber auch knapp zwei Stunden Fahrtzeit bedeutete.

Bevor ich das Treppenhaus nach oben ging, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Um den erleuchteten Tannenbaum im Hof tanzten einige Schneeflocken. Der Nieselregen von vorhin hatte sich in Schneefall geändert. Passend zur Weihnachtszeit. Gut, dass ich mit Torid, die noch immer friedlich im Kinderwagen schlummerte, zeitig zurück war. Auch wenn ich den Anblick mittlerweile kannte – nicht dran gewöhnt – es kannte, dass es schneite, drückte ich mein Gesicht an die Fensterscheibe. Der Schnee zauberte irgendwie – und immer, und zwar direkt, eine friedvolle Atmosphäre. Alles war leiser als ohnehin schon. Gedämpfter. Wie in Watte eingepackt. Oder eben in Schnee. Der wie Watte vom Himmel fiel.

Leise öffnete ich die Türe zu unserem Schlafzimmer. Blickte auf Michelle. Die, ähnlich wie Dornröschen, in einer Art Dämmerschlaf war. Zu einem Kuss beugte ich mich herunter. Wie der Prinz im Märchen.

„Bolero“

Für einen Moment kuschelte ich mich neben Michelle. Ihre Bettwärme strömte mir entgegen. Michelle schlug die Augen auf. Kurz. Erwiderte meinen Kuss. „Ist jemand bei Torid? Wilma? Ingrid?“ Mit einer Hand strich ich durch ihr Haar. „Ja. Beide. Sind beide unten. Die Maus schläft sowieso noch. Ich glaube, das tut ihr richtig gut, an der Luft zu sein. Ausgedehnter Spaziergang. Jedenfalls schläft sie. Schon die ganze Zeit“. Michelle rutschte etwas nach oben, stopfte sich das Kopfkissen in den Rücken. „Bist du … seid ihr denn schon lange zurück? Habe ich lange geschlafen? Wie spät ist es überhaupt?“ Schaute zum Fenster. Um sich die Frage selbst zu beantworten? Was aber an den Lichtverhältnissen nicht auszumachen war. Irgendwie war es ja immer dunkel. Dämmerig. „Gegen Sechs Uhr. Ingrid hat gekocht. Wir warten eigentlich nur auf dich“.

Rollte mich über die Seite wieder aus dem Bett. „Zieh‘ dir was Hübsches an, wir machen Geschenkeverteilen. Nach dem Essen“. Über die Schulter blickte ich im Türrahmen stehend zurück. „Unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest. Also … nicht nur unser, sondern unser. Unser aller erstes gemeinsames“. Mit der Hand zeigte ich zum Fenster. „Mit Schnee. Mit Weihnachtsbaum. Dem ganzen Zipp und Zapp. So wie wir es noch nie hatten“.

Michelle erhob sich aus dem Bett. „Wieso unser erstes Weihnachtsfest? Letztes Jahr waren wir doch bei Wilma. Da habe ich dir doch gesagt, dass ich schwanger bin. War das nicht ein tolles Geschenk?“ Mit einem Schritt war ich zurück bei Michelle. „Doch. Das war … das ist ein tolles Geschenk … eigentlich nicht zu toppen … jetzt schläft dein Geschenk unten im Kinderwagen … aber das war nicht Weihnachten. Das gibt es doch nicht in Nederland. Das war Sinterklaas“. Schloss Michelle in meine Arme. „Danke für dein Geschenk. Das schönste Geschenk ever“.

Schon im Treppenhaus schlug mir eine angenehme Wärme entgegen. Nicht nur Temperaturmässig. An jedem Fenster leuchteten Sterne, auf den Tischen standen Kerzen. Alles glänzte und glitzerte. Überwiegend in Rottönen gehalten. Das war Norwegen. Die Menschen in Norwegen machten es sich Zuhause in der Weihnachtszeit so richtig gemütlich. Und gerade in der dunklen Jahreszeit wurde mit Licht und Kerzen nicht gegeizt. Für mich als „Ausländer“ noch ein wenig seltsam anzusehen – garantiert konnte man die erleuchteten Häuser, gefühlt zumindest - auch aus dem Weltraum sehen.

„Das habt ihr jetzt alles in der kurzen Zeit gemacht? In der ich oben bei Michelle war?“ Ingrid schmunzelte. „Wir? Wir haben nichts gemacht. Das war Julenisse“. Das war natürlich Blödsinn, dafür war mir aber eines umso klarer - der Lebenszweck der Norweger schien darin zu bestehen, es sich gemütlich zu machen.

Kurz nachdem Michelle auch nach unten gekommen war trug Ingrid das Essen auf. Wilma übersetzte – für mich – das, was Ingrid anpries. „Auf dem Speiseplan stehen Stockfisch, eingelegter Hering, geräucherter Schinken und eine als Julepølse bezeichnete Wurstspezialität“. Hungrig griff ich zu, beschnupperte insbesondere die Wurst. Schnitt ein erstes kleines Stück herunter. Eine Fleischmasse aus Schweinefleisch, Kartoffelmehl, Salz, Dextrose und verschiedenen Gewürzen - Muskatnuss, Pfeffer, Koriander und Zwiebel konnte ich herausschmecken. Ähnlich wie „grobe Bratwurst“, wie ich sie aus Deutschland kannte. Nur eben weihnachtlicher gewürzt. Und geräuchert. Dazu hatte Ingrid eine Flasche Julebrus auf dem Tisch platziert.

Der erste Gang sah gar nicht aus wie Fisch. Was ich unter Fisch verstand. Eher wie Mett. Mett aus Fisch. Eine feingehackte Masse aus Stockfisch, Zwiebeln, Petersilie. Vermengt mit Öl und etwas Zitronensaft. Ingrid schob einen Brotkorb in die Tischmitte. „In leichter Snack vorweg. Stockfischsalat. Brotaufstrich“.

Aus einer Tasche auf der Vorderseite ihrer Kochschürze zog sie Salz- und Pfefferstreuer heraus. „Würzen nach eigenem Geschmack. Vorher probieren. Der Stockfisch ist voll salzig“. Gut, dass sie das noch gesagt hatte. Der erste Fingerstipp, den ich in die „Mettmasse“ machte, war als wenn ich mit dem Finger ins Meer gestippt hätte. Und dann die Finger abgeleckt. „Jepp, sehr salzig“.

Gegen meine anfängliche Skepsis dem Fischsalat gegenüber leckte ich sogar noch beim Wegräumen des Geschirrs die Schüssel mit einem Finger aus. Wollte Ingrid noch ein wenig zur Hand gehen. Michelle kümmerte sich um Torid, die aufgewacht war und unmissverständlich klar machte, dass sie gerne eine frische Windel hätte. Und bei der Gelegenheit auch direkt essen wollte. An Michelles Brust wollte. „Was willst du mir helfen? Wobei zur Hand gehen? Es gibt Kartoffeln. Die müssen nur gekocht werden. Der Hering ist fertig. Eingelegt. Schinken und Julepølse auch. Sonst gibt es nichts zu tun“.

Mit geöffneten Armen trat ich Michelle entgegen. „Dann gib mir die Kleine. Ich mach‘ das mit der Windel und so“. Was sich Michelle nicht zweimal sagen liess. Übergab mir das kleine stinkende Wesen. Grinsend. „Die kann ganz schön abstinken“. Setzte sich wieder an den Esstisch, legte ihr schwarzes Bolero-Jäckchen ab, das sie über einem weissen Top trug. Trägerlos. Bis etwa mittig ihres Bauchs reichte das Teil. Eigentlich ein elastischer Schlauch, der nur knapp über ihre Brüste reichte. Diese auf extrem aufreizende Art und Weise zusammenpresste. Ein optisch verlockender Schlitz lugte oben hervor. Um den Hals trug sie eine Kette. Ein Geschenk von mir. Kurz griff ich zur Kette, liess meine Finger aber direkt zwischen ihre Brüste gleiten. „Weißt du was ich mir wünsche?“ Michelle lächelte mich an. „Wünschen kannst du dir viel, ob du es bekommst ist eine andere Sache“. Fasste meine Hand, hielt sie fest. Aus ihrem Lächeln wurde ein breites Grinsen. „Warst du denn auch artig?“

„Tova“

Wilma hatte bereits begonnen einige ihre Weihnachtspräsente aus dem Pflegeheim auszpacken – aufzureissen. Eigentlich schade um die, zum Teil recht liebevoll vorbereiteten Päckchen. Als erstes hielt sie ein kleines Büchlein empor. Das habe sie von der Leitung des Pflegeheims erhalten. Blätterte ein wenig darin, erklärte uns, um was es ging in der Lektüre. „Nützliches Wissen“ schmunzelte Wilma. „Absaugen, Infusionen, Injektionen, Transfusionen, Magensonde, Notfall und Reanimation, Prophylaxen und Positionierung, Wunden und Verbandswechsel“ waren nur einige Punkte die sie vorlas. Schob das Büchlein Michelle über die Tischplatte zu, die sich mittlerweile mit Torid befasste. Hatte sie in ihre Armbeuge gelegt, an ihre Brust angelegt.

Spontan wechselte Michelle die Armbeuge, um Torid an ihrer rechten Brust trinken zu lassen, um in dem Büchlein zu blättern. „Was ist eigentlich mit dir?“ wollte Wilma wissen. „Wirst du … willst du später wieder in der Pflege arbeiten?“ Michelle sah kurz auf, zu Wilma. „Frühestens wenn Torid in den Kindergarten geht. Das ist ja noch was hin. Klar, arbeiten schon. Aber eigentlich als Bauersfrau. Hier auf dem Hof. Im Pflegeheim hat mir schon Spass gemacht. War ein toller Job. Aber eines … ist das bei dir nicht auch so Wilma …? Ich möchte nicht mehr mit dem Tod arbeiten. Weißt du, wie viele in der Zeit in Spijkenisse gestorben sind? Um die ich mich … um die wir uns gekümmert haben? Irgendwann sterben die doch einfach. Weil sie alt sind. Ne, ich will lieber was mit Leben machen. Mit Tieren. Mit Kindern. Das will ich machen. Das können wir doch hier. Wir haben doch jetzt einen Bauernhof. Wir sind doch eine Gemeinschaft. Lieber kümmere ich mich um sowas“.

Michelle streichelte Torid sanft über den Kopf, lächelte sie an, schaute zu mir. „Ist der Stall eigentlich soweit? Nächste Woche kommen … könnten unsere Tiere kommen. Hast du noch viel zu machen? Klappt das?“

Wilma hatte eine weitere Verpackung aufgerissen, lachte laut auf. „Das ist ja witzig“. Hielt einen Beutel, eine Blutkonserve hoch. Las von dem Etikett ab. „Duschgel. Duftnote Blutorange“.

„Du willst nicht mehr arbeiten gehen? Nur noch zuhause bleiben?“ Michelle machte grosse Augen auf meine Frage hin. „Nur noch zuhause bleiben? Ich habe … wir haben ein Kind. Ein Baby. Was heisst da nur noch? Meinst du nicht das ist Arbeit satt? Mich um Torid kümmern. Du gehst demnächst einfach wieder arbeiten. Bist den ganzen Tag weg. Einer muss ja wohl für sie da sein. Und das bin ich dann. Ich bleib‘ also nicht einfach zuhause. Ich habe eine Aufgabe, eine Verantwortung. Ja, ich bleib‘ zuhause. Aber nicht einfach. Es gibt genug zu tun. Schon vergessen? Ich will auch noch Tiere. Habe ich doch gerade zu Wilma gesagt – ich werde Bauersfrau“.

Naja, weg. Was hiess das schon? Ich war … wäre dann ja nicht weg, sondern arbeiten. Geld verdienen. Irgendwo und irgendwie musste ja weiter Kohle herkommen. Ohne die lief nicht viel, nicht lange. Wollte Michelle meine Betrachtungsweise jetzt aber nicht in der Form wiedergeben. Wie ich sie generell nicht mit dem Thema Geld belasten wollte. Das war meine Aufgabe, das zu regeln. Meine mir selbst auferlegte Aufgabe. „Ich weiss, mein Schatz. So war das auch nicht gemeint“.

Ingrid stellte den Kochtopf mit Kartoffeln auf den Tisch, auf einem Küchenhandtuch als Untersetzer, dazu Porzellanteller mit Hering, Schinken und Wurst. „So, zweiter Gang. Und dann gibt’s Geschenke“. Holte aus der Küche noch schnell einen Korb mit aufgeschnittenem Brot. „God appetitt“.

Wir unterhielten uns über die kleinen Geschenke und Anerkennungen, die Wilma weiterhin auspackte. Sich auch so ziemlich über jedes enorm freute. Mit einer Erklärung begleitete. „Das sind nicht nur Geschenke, das ist sowas wie eine Anerkennung von den Patienten, den Heimbewohnern. Natürlich nicht nur für mich. Meine Kollegen haben ja auch etwas bekommen. Das motiviert noch mal extra. Bestätigt mich in dem was ich tue, einfach das Beste für diese Menschen zu geben“.

Besondere Freude machten ihr die „selbstgemachten“ Dinge, die sie nach und nach auspackte. Weihnachtsplätzchen, nett verpackt - dazu ein persönlicher Weihnachtsgruß. Oder ein Glas selbstgekochte Weihnachtsmarmelade, gestrickte Socken. „Damit zeigen dir deine Patienten nicht nur wie sehr sie dich mögen, sondern auch wie sehr sich dich schätzen. Dich und deine Arbeit“ wusste Ingrid das von der Warte der Psychologin zu erklären. Griff zu Wilmas Unterarm. „Du machst das gut. Und du bist gut. Du tust Gutes. Das ist voll wichtig“. Schaute zu Michelle herüber. „Selbst wenn die – wie du sagst – einfach sterben, Wilma gibt ihnen noch eine gute Zeit bis dahin. Das zählt doch“.

Die salzigen und geräucherten Fleischwaren „bettelten“ förmlich danach mit niederländischen Saucen verfeinert zu werden. Meine jedenfalls. Aus dem Kühlschrank entnahm ich einiges an Aufstrichen, stellte die Gläser auf den Tisch. Erklärte Ingrid auch sogleich was das ein oder andere war. „Belgische Pickles – eine Mischung aus Perlzwiebeln, Blumenkohl, kleinen Gewürzgurken, Essig, Curry, Kurkuma – eingelegt im scharfen Senf. Musst du probieren“. Wilma war schneller, griff sich sofort das Glas. „Das liebe ich, gut, dass du das alles mitgebracht hast. Was gibt es noch?“ Mit beiden Händen schob ich das Sortiment an „Heinz-Aufstrichen“ zu Wilma herüber. „13Gewoon alles. Wilt u een kijkje nemen?“ Das Nederland-Gefühl wollte ich komplettieren. Stand vom Tisch auf. „14Flesje bier? Grolsch?“ machte ich mich auf den Weg nach draussen. Zum Schuppen. Dort stand, gut gekühlt, unser Bier. Also richtigtes Bier, nicht so ein norwegisches Weihnachtsgebräu. Ingrid schob auch ihren Stuhl zurück. „Dann hol‘ ich schnell ein paar Sachen bei mir“.

Mit einem dunklen Ton schlugen die eiskalten Bierflaschen gegeneinander. Der Klang des aufpoppenden Bügelverschluss verursachte schon ein wenig Speichelbildung in meinem Mund. „Gezondheid lieverd“ reichte ich Wilma die geöffnete Flasche an, stiess mit ihr an. Nahm selber einen grossen Schluck aus meiner Pulle. Glas war nicht nötig. Wie das zischte. Eiskalt – naja, nicht eiskalt – aber extrem gut gekühlt. Mit feinherbem Pilsgeschmack. Wie ein Grolsch eben. Meine Beherrschung nicht laut einen Rülpser zu lassen war gar nicht angebracht, Wilma tat das für mich. So satt und tief klingend. Das kam von ganz unten aus ihr heraus. „15Verdomme, wat een heerlijk bier. Het ontbreekt al hier in Noorwegen. Ze weten er niets van“. Wilma reckte erneut ihre Flasche empor. „16Gezondheid lieverd. Je bent mijn favoriete persoon om mee te drinken. Ik heb er altijd van genoten“. Michelle schmunzelte. „Darin wart ihr euch immer schon einig. Saufen und feiern. Das könnt ihr einfach“.

Ingrid hatte die Arme voll. Mit Präsenten. Nicht sonderlich hübsch eingepackt. Es sah eher so aus als hätte sie das mal eben „auf die Schnelle“ bei sich gemacht. Schlichtes hellbraunes Paketpapier um irgendwas gewickelt. Mit rotweiss gestreifter Kordel umwickelt. Eher schludrig. Hektisch dahingeferkelt.

Und so als wolle sie meinen Gedankengang bestätigen legte sie die Ladung auf dem Tisch ab. „Ihr zerreisst das ja sowieso. Egal wie hübsch was eingepackt ist. Habe ich doch eben bei Wilmas Geschenken gesehen“. Schob einem jeden von uns ein Päckchen herüber. „Ist nicht viel. Könnt ihr aber bestimmt gut gebrauchen“.

„Wie? Nicht viel? Kommt doch von deinem Herzen. Also ist es doch auch verdammt viel. Weil persönlich“ lächelte Wilma sie an. „Danke Ingrid, mein Schatz“. Ungestüm, wie Ingrid es gerade noch gesagt hatte, zerfledderte Wilma das Packpapier, zog einen Karton hervor. „Oh. Danke. Das ist so lieb. Und ob ich das gebrauchen kann. Danke Ingrid“ stand sie auf um Ingrid zu umarmen. Öffnete den Karton, hob Hausschuhe heraus. So wie die, die Ingrid trug. „Die sind von Tova“ grinste Ingrid. „Super warm. Super bequem. Echte Handarbeit. Echt Norwegen“.

Michelle hatte Torid schon vor einiger Zeit in die Babytrage gelegt, neben sich auf einem Stuhl stehend. Tat es jetzt Wilma gleich, riss ihr Geschenk auf. „Oh, für mich auch? Auch Hausschuhe?“ Ingrid schob mir das letzte Paket herüber. „Ja, für jeden von euch. Dann hat das mal ein Ende mit dem Schuhe ausziehen, Socken suchen“.

Ich freute mich sehr über das Geschenk. Mehr noch sogar darüber, dass Ingrid für mich ein Modell ausgewählt hatte das niederländischen „Klompen“ ähnlich war. Keine knöchelhohen Schuhe wie für Michelle und Wilma, sondern an der Ferse offene Schuhe. Zum bequemen und schnellen reinschlüpfen. Und auch ohne diese hellblaue Schleife, die die „Damenmodelle“ verzierte. Das würde garantiert ein wenig schwul an Männern aussehen. Warm hin oder her. Also an den Füssen. „Handarbeit. 100 Prozent Merinowolle. Sohle aus Rindsleder“ pries Ingrid die Schuhe an. Sofort schlüpfte ich in die Hausschuhe, knüllte das Packpapier zusammen. „Also jetzt Geschenke? Und Essen? Gleichzeitig?“

Stand vom Tisch auf, drehte eine kleine Runde durch die Wohnung. Bis zum Sideboard. „Ich habe auch was für euch. Für euch zusammen“.

13 Einfach alles. Wenn Sie mal schauen wollen?

14 Fläschen Bier? Grolsch?

15 Verflucht, was für ein leckeres Bier. Das fehlt hier schon in Norwegen. Da haben die keine Ahnung von.

16 Prost mein Schatz. Mit dir trinke ich am liebsten. Habe ich immer schon gerne gemacht.

„Nerven“

Schon vor Wochen hatte ich die Karte, die ich jetzt aus einer der Schubladen im Sideboard hervorkramte, besorgt. Immer wieder woanders deponiert. Damit sie bloss nicht „vorzeitig“ Michelle in die Hände fiel. Denn das war mir klar – seit ich selber diesen Helikopterflug mit Tjorben gemacht hatte. Über Norwegen „schweben“ durfte. Genau das sollten die drei – Michelle, Wilma und Ingrid – auch erleben. Einen Helikopterflug. Von oben auf diese faszinierende Landschaft schauen. Sich überwältigen lassen. So wie es mich überwältigt hatte. Die imposante Schönheit. Die Wildheit. Die beeindruckende Natur. Alles mit und durch die Augen aufsaugen. Und dann ins Hirn einbrennen lassen.

In Bergen war ein Büro und Stützpunkt von „Pegasus Helikopter“, dort hatte ich einen Rundflug für drei Personen gebucht. Mit frei wählbarem Termin. Personenrundflüge - das war nur eine Sparte von Pegasus, weitere Services wie Lastentransporte, Waldarbeiten oder Löscharbeiten gehörten genauso zum Portfolio.

Zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände liess ich die Karte gleiten. Erinnerte mich nur zu gut wie der Flug auf mich gewirkt hatte. Hier hatte ich im Prinzip meinen Entschluss gefasst – meinen Entschluss für Norwegen. Hier wollte ich leben. Nicht sterben, wie man es manchmal sagt – nein, hier wollte ich leben. Hoffentlich ging es Michelle und Wilma ebenso. Ingrid konnte ich bei der Überlegung aussen vorlassen – sie lebte ja sowieso hier, war Norwegerin, brauchte wohl keine Entscheidungshilfe. Aber – hatte sie eine Vorstellung davon wie ihr zuhause „von oben betrachtet“ aussah? Welche Gewalt dieses Land hatte? Wie gewaltig das Land war? Wie gross es war? Mal abgesehen davon, dass man im Auto Stunden, zuweilen halbe Tage unterwegs war, um von A nach B zu kommen?

„Das ist für euch meine Prinzessinnen. Für euch gemeinsam. Ich hoffe, dass es euch gefällt. Dass ich euch eine Freude damit machen kann“ legte ich die Karte, den Gutschein langsam auf die Tischplatte. Schaute erwartungsvoll in die Runde. In Erwartung ihrer Reaktionen.

Ingrid nahm sich zuerst die Karte und ein kleines Prospekt das dazu gehörte. Begann vorzulesen. Was mir bekannt war, weil es mir bei der Reservierung erklärt wurde. „17Gjør deg klar til å fly opp i luften om bord i vårt toppmoderne helikopter. Mens vi svever over Hardangerfjorden, vil du være vitne til et panorama av fantastiske fjorder, pittoreske landsbyer og frodige, grønne daler. Nyt den fantastiske Folgefonna-breen, en enorm iskappe som glitrer i sollyset, og den ikoniske fjellformasjonen Trolltunga, og få minner for livet“.

Langsam senkte sie die Karte, schaute mich an, schob die Karte zu Michelle und Wilma herüber. „Ich werd‘ bekloppt. Wir fliegen über unser Zuhause. Über den Hardangerfjord, über Trolltunga, über Skjervefossen, über Steindalsfossen, über Folgefonna“. Meine Überraschung schien geglückt, ich setzte mich zu den dreien. „Du kannst sogar deiner Bestemor zuwinken. Bei Steindalsfossen“.

Michelle umarmte mich. „Danke Liebling. Das war bestimmt teuer, oder?“ „Ja. Nein. Für euch ist mir nichts zu teuer. Ihr seid jede Kroner wert“. Wollte aber, auch auf beharrliches Drängen nach dem Preis, nicht sagen, dass das Geschenk mal eben um die 20.000 Kroner gekostet hatte. Denn, genau wie ich es gerade gesagt hatte, war es ja – „Ihr seid jede Kroner wert“.

Wilma war absolut begeistert. „Mensch, das haben wir beide doch schon einmal zusammen gemacht. Ein Flug über die Inseln. Auf Texel. In so einem kleinen Flugzeug. Das war so ziemlich das Geilste was ich mit dir erlebt habe“. Schmunzelte kurz. „Also ausserhalb von einem Bett“.

Ingrid nahm sich erneut das Prospekt. „Bestemor wird staunen, wenn ich ihr davon erzähle. Dass wir über ihren Bauernhof fliegen werden“. Rutschte plötzlich mit ihrem Stuhl etwas vom Tisch ab. „Bestemor …verflucht, ich muss los“. Drehte sich zu Michelle. „Hast du unser Geschenk? Hier unten? Griffbereit?“

Mit einem schnellen Griff nahm Michelle ihre Handtasche, zog einen gefalteten, farbigen Karton hervor. „Das ist für dich mein Schatz. Von uns allen vieren. Von Ingrid, Wilma, Torid und mir“. Auf dem „Deckblatt“ war die Landkarte, der Umriss von Norwegen. Beklebt mit reichlich Fotos. Aus Zeitungsausschnitten. Oder Reisebroschüren. Von Sehenswürdigkeiten. Mittig die norwegische Flagge. „Klapp‘ auf“ drängelte Michelle.

Eingelegt war ein DIN-A-4-Blatt. „Folkeuniversitetet Bergen“. Michelle begann sogleich zu erklären „Das ist dein Sprachkurs. Du lernst norwegisch“. Hob Torid aus ihrer Babaytrage. „Dann hat der Papa keine Ausrede mehr. Und er wird dich auch verstehen … und mit dir reden können“.

Während sie redete schüttete sie den gesamten Inhalt der Handtasche auf der Tischplatte aus. „Und wo wir gerade dabei sind … Geschenke zu verteilen … das ist deine Tasche Wilma. Du hast sie mir zwar gegeben … als Geschenk … als Erinnerung … als du nach Willemstad gegangen bist. Aber es ist deine. Ich brauche keine Erinnerung an dich. Ich habe dich doch bei mir. Ausserdem … die war doch auch bestimmt teuer. Nimm sie wieder zurück. Es ist deine Tasche“.

Wilma war unschlüssig zur Tasche zu greifen. „Ähm … aber …“. „Nix, kein Aber. Ich weiss, dass du die Tasche von Gus bekommen hast. Genau wie die Kette, die er dir hinterhergebracht hat. Und Geschenke, die man bekommen hat, darf man eigentlich nicht an andere weiterverschenken“. Womit sie nicht unrecht hatte. Mit allem. Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, an dem Wilma sich diese Burberry-Handtasche aussuchen konnte. Ich sie ihr als Geschenk machte. Dennoch war ich sehr erstaunt, dass Michelle erst jetzt, nach Monaten, eine solche Betrachtungsweise an den Tag legte. „Ganz sicher?“ griff Wilma zur Handtasche. „Ja, deine Tasche. Dein Geschenk“. Michelle schob auffordernd die Handtasche zu Wilma herüber.

Im Gegensatz zu gestern abend war es so richtig nicht festlich – weihnachtlich. Eher so ein schnellles Austauschen von Geschenken. Die auch gar nicht so richtig wirken konnten. Auf den Beschenkten. Kaum Raum für Emotionen liess. Lag es daran, dass Ingrid „auf dem Sprung“ war? Los musste? Zu ihrer Grossmutter. Vorher alles „erledigt“ sein sollte? Gut, verständlich – es sollte sich nicht hinziehen, das hatte Ingrid ja mehr als einmal betont. Sie hatte noch gute zwei Stunden Autofahrt vor sich. Durch das winterliche Umland von Bergen. Bis hoch nach Norheimsund. Schon bei gutem Wetter eine echte Gurkerei. Jetzt – mit dem Schneefall, der sich richtig „eingeschneit“ hatte - bestimmt nochmals extra anstrengend.

Oder lag es daran, dass wir so gar keine Vorstellung von Weihnachten hatten? Michelle und Wilma sowieso nicht – in Nederland wurde Weihnachten nicht gefeiert. Grundsätzlich nicht. Woher also wissen was Weihnachten war? Was es bedeutete? Ich selber hatte das ja die letzten Jahre auch nicht gefeiert. Weil ich auch in Nederland lebte. Und meine Erinnerungen reichten nur einige Jahre zurück. Bis in meine frühe Teenie-Zeit. Oder als Kind. Da lief das bei uns zuhause anders ab. Feierlicher. Geheimnisvoller. Wir Kinder durften immer erst unser Wohnzimmer betreten, wenn unsere Eltern den Weihnachtsbaum geschmückt hatten und die Geschenke platziert waren. Meine Mutter läutete dann immer mit einem Glöckchen, begleitet von den freudigen Worten „Kinder, das Christkind war da. Kommt mal schauen“.

Was natürlich Quatsch war. Christkind – das war reine Phantasie – das wussten wir natürlich damals schon. Stellten uns aber dumm, stiegen auf die Zeremonie ein. Mussten dann aber noch lange am Esstisch ausharren – vorher gab es das Weihnachtsessen. Für uns Kinder hiess das in der Abfolge – Baden, saubere und feine Kleidung anziehen, Haare kämmen – Seitenscheitel war Vorgabe - bloss nichts mehr einsauen, also am Besten einfach auf irgendeinem Stuhl stillsitzen.

An diesem Abend, an den Weihnachtstagen prinzipiell, war mein Vater zuständig für Kochen und Menuauswahl. Meist anständige Portionen Fleisch. Was sonst eben nicht üblich war. Meine Eltern hatten deutlich weniger Geld zur Verfügung als ich in der aktuellen Situation. Dazu noch insgesamt vier Kinder zu ernähren, zu beschenken, glücklich zu machen. Das kostete. Nicht nur Geld, garantiert auch reichlich Nerven. Uns Kinder natürlich auch. Gab es doch nichts wichtigeres als Geschenke auspacken. Aber davor war erst einmal ewig langes „stillsitzen“ angesagt. Dann erst gab es Geschenke. Zuerst für unsere Eltern. Von uns Kinder. Für meine Mutter war das immer gleich – entweder eine „Sammeltasse“ von irgendeinem Porzellanhersteller oder steckbare Kerzenständer von WMF. So ein modulares System, das im Laufe der Jahre erweitert wurde und in die Höhe wachen konnte. Nach dem Auspacken aber ziemlich direkt in einen Schrank wanderte und dort auf bessere Zeiten wartete.

Erst dann hiess es „Geschenke auspacken“. Meist ein grosses Teil, Spielzeug. Carrera-Bahn oder Märklin-Eisenbahn – oder Teile dafür. Und etwas „Kleines“. Ein Buch oder ein Puzzle. Und natürlich – obligatorisch sowas wie Strümpfe oder ein anderes Kleidungsstück. Das bestimmt schon vor Monaten von meinen Eltern gekauft wurde.

Später – als ich schon Teenie war – durften wir sogar irgendetwas im TV anschauen. Nachdem wir ein solches Gerät hatten. Als Kind gab es das nicht. Also das TV-Gerät. Nicht nur für uns nicht – für viele andere auch nicht. Wegen Geldmangels.

17 Machen Sie sich bereit, an Bord unseres hochmodernen Hubschraubers in die Lüfte zu steigen. Während wir über den Hardangerfjord schweben, werden Sie Zeuge eines Panoramas aus atemberaubenden Fjorden, malerischen Dörfern und üppig grünen Tälern. Genießen Sie den atemberaubenden Folgefonna-Gletscher, eine riesige Eiskappe, die im Sonnenlicht glitzert, und die ikonische Felsformation Trolltunga, und schaffen Sie Erinnerungen, die ein Leben lang halten.

„Brotkörbchen“

Wilma hatte schon eine ganze Weile ihre Handtasche – jetzt wieder ihre -mit beiden Händen an ihren Oberkörper gedrückt. Fast wirkte es so, als würde sie sie an sich kuscheln. Sie liebkosen. Eine Tasche. Dass eine Handtasche für eine Frau mehr bedeutete als für einen Mann, für mich, war mir schon länger bekannt. Genau wie bei Schuhen. Bei mir war es ähnlich, nur mit anderen Dingen. Mit Werkzeugen oder Werkzeugmaschinen zum Beispiel. Oder mit Autos. Das - diese Leidenschaft - konnten Frauen, in dem Fall Wilma und Michelle nicht mit mir teilen.

Ingrid schien meinen fragenden Blick – und gleichzeitig Wilmas strahlende Augen, mit denen sie Michelle anschaute, richtig zu deuten. „Die Größe, Farbe, die Art und Weise, wie Frauen ihre Taschen tragen, transportieren Charaktereigenschaften, einen Teil des weiblichen Unausgesprochenen“. Schaute in die Runde. „Nur mal so, als Psychologin. Theoretisch. Ich habe ja keine Handtasche. Meine Umhängetasche. Nur so einen Beutel“. Wilma sah sie an. „Aber du bist doch auch eine Frau. Nur ohne Handtasche. Und ohne Schminke und so. Aber sonst bist du doch auch eine Frau“. Ingrid schmunzelte. „Jepp, bin ich. Je glänzender oder heller die Tasche ist, desto mehr Aufmerksamkeit wird sie auf sich ziehen. Das kann Mode sein … oder praktische Notwendigkeit. Meist ist es jedoch die Persönlichkeit der Trägerin, die hervorgehoben wird. Eine eher introvertierte Person … so wie du Wilma … will alle ihre Sachen mitnehmen … braucht eine große Tasche … das ist deine vorausschauende Seite … das Bedürfnis, durch all das, was du darin transportierst beruhigt und beschützt wirst“.

Michelle kiekste auf. „Wilma und introvertiert. Das ich nicht lache. Weil sie so introvertiert ist haut sie dir … und Gus ihre Klauen in den Rücken, wenn sie mit euch im Bett ist. Hahaha, da hast du als Psychologin mal schön ins Klo gegriffen. Wilma ist alles, nur nicht introvertiert“.

Wilma öffnete ein wenig ihre Handtaschenumarmung. „Mit Handtaschen ist es ein bisschen wie mit Männern. Ich würde gerne mein ganzes Leben mit einem einzigen verbringen, wenn es nur die perfekte wäre“. Schaute in die Runde. „Nur eins ist anders. Männer kann man betrügen. Den Friseur und die eigene Handtasche niemals“. Wilma fasste an meinen Unterarm. „Soll nicht heissen, dass ich das gemacht habe … dich betrogen … als wir zusammen waren. Kann man … könnte man … also Frau“. Eine Hand legte ich auf Wilmas, die auf meinem Arm ruhte. „Soso. Und wie nennst du das, als du nach Willemstad abgehauen bist? Und zuvor Michelle deine Tasche vermacht hast? Und deine Kette abgelegt hast? Da hast du dann also deine Tasche betrogen? Und was war mit mir?“

Ingrid erhob sich. „Ich muss los. Streitet euch nicht“. Umrundete den Tisch, drückte einen jeden fest. Küsste uns. „Wir sehen uns in ein paar Tagen“. Michelle hielt sie einen Moment. „Grüss‘ Bestemor. Fahr‘ vorsichtig. Pass‘ auf dich auf. Und ruf‘ an, wenn du angekommen bist“. Ingrid beugte sich zu Torid in der Trageschale herunter, gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. „18Vi ses snart, min lille engel“. Michelle schaute zu mir, dann zu Wilma „Ihr habt gehört, was die Chefin gesagt hat? Kein Streit, keine Diskussion“.

„19Au da. Er du dum? Kan du ikke banke på? Idiot. Din dumme idiot