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Die sich langsam entwickelnde Alltagsroutine in der Dreierbeziehung wird jäh durch den Tod von Wilmas mütterlicher Freundin Victoria unterbrochen. Für Wilma bricht eine Welt zusammen und in einem verzweifelten Moment versucht sie ihrem Leben ein Ende zu setzen, was Gustav und Michelle glücklicherweise verhindern. In den Tagen voll Trauer erweisen sich Gustav und Michelle als liebevolle Stütze für Wilma, ohne zu ahnen, dass sich ihr Leben bald von Grund auf verändern wird. Mit dem überraschenden Angebot zum Absolvieren einer Ausbildung gerät Wilma in einen Strudel von widersprüchlichen Gefühlen, zumal eine Zusage gleichbedeutend damit wäre, dass sie über Monate aufgrund der Entfernung mit Gustav und Michelle eine Wochenendbeziehung führen müsste. Mit dem endgültigen Entschluss Wilmas, sich auf die Ausbildung einzulassen, läutet sie unbewusst eine neue Ära in ihrer Beziehung zu Gustav und Michelle ein. Beim langersehnten Wiedersehen konfrontiert Wilma Gustav dann mit einer Nachricht, mit der keiner gerechnet hat.
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Seitenzahl: 460
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„Prolog“
„Almelo“
„Olymp“
„Victoria“
„Flehende Augen“
„Kopfschmerzen“
„Stop. Politie“
„Durst. Hunger.“
„Besuchszeit“
„Nähe“
„Beautiful“
„Koude Schotel“
„Die Sicherung“
„Kibbeling“
„Grabrede“
„Reserve“
„Noch einmal schlafen“
„Rand. Band.“
„Sex. Sklave.“
„Zärtlichkeit Null. Trieb Eins“
„Michelle feiert“
„Zwarte Piet“
„Frevel“
„Fett“
„Knopfloch“
„Wissen. Schaft“
„Deja Vu“
„Fahrschule“
„Orga“
„Der Parkplatz“
„Hoorn“
„Finger“
„Flashback“
„Fünfunddreissig“
„Spass und Spiel“
„Schsch …“
„Zwolle“
„Verheizt“
„Psycho-Onkel“
„Naturtalent“
„Leichensack“
„Dünensand“
„Bierschaum“
„Plappermäulchen“
„Kein Ersatz“
„Trübe Suppe“
„Handstand“
„Teilchen“
„Kusshand“
„Voorweg“
„Symbolik“
„Kadett“
„Grösse M“
„Halsansatz“
„Der Hirte“
„Bettwäsche“
„Riechen“
„Finger weg. Sonst tot.“
„Die Kündigung“
„Gulasch“
„Betörend“
„Kinderdijk“
„Gefühlte Kälte“
„Bessen Jenever “
„Fleur“
„Theorie“
„Mesh“
„Für dich“
„Wildkatze“
„Geschwafel“
„Delft. Blau.“
„Bestanden“
„Epilog“
Wir waren recht früh losgefahren. Für mein Zeitverständnis eher „beizeiten“, für Michelle war es aber eher früher. Wir hatten Sonntag. Keinen wirklichen Zeitdruck. Mussten nicht zu einer vorgegebenen Zeit an einem bestimmten Ort sein. Aber ich wollte schon noch etwas von der Gegend sehen in der wir uns befanden. Von Enschede hatte ich, bis auf den Statdtbummel und dem Spaziergang im Park gestern relativ wenig gesehen. Kannte also nicht viel mehr als vor unserer Reise.
„Wollen wir irgendwo unterwegs frühstücken?“ Nur kurz unterbrach Michelle das Einpacken unserer Klamotten. Rief ihre Frage die Empore herunter.
Am Couchtisch sitzend war ich bereits dabei die Reiseroute zu studieren. Wir mussten, wie auch immer, zurück. Unser Kurzausflug ging dem Ende entgegen. Denn auch die gut 260 Kilometer die uns von Rockanje trennten mussten ja erst einmal bewältigt werden.
„Trägst du die Taschen bitte zum Auto?“
Das war anscheinend der Startschuss. Michelle stand jetzt am Gelände des Obergeschosses. Fertig mit ihrer „Arbeit“. Kurz sah ich zu ihr herauf. „Du hättest dir aber ruhig Unterwäsche anziehen können“. Der Blick von hier unten landete direkt unter ihrem kurzen Kleid. Auf ihrem nackten Unterleib.
„Jetzt habe ich alles schon eingepackt“ schmunzelte sie. „Ja, nur dich nicht“.
Michelle kam langsam die Treppenstufen herunter. „Stört dich das? Soll ich einen Slip anziehen? Sieht man denn so viel?“
Das Glockenkleid das sie trug hatte eine zartrosa Farbe, kurze Ärmel mit Manschetten, einen V-Ausschnitt. Die gewickelte Vorderseite war an der Taille mit einem Bindegürtel versehen. Auf ihrem Brustbein glitzerte die Kette, die ich ihr geschenkt hatte.
Eigentlich eine sehr züchtige Erscheinung. Wenn man nicht, so wie ich gerade eben, unter ihr stand. Zu ihr herauf, ihr unter den Rock sehen konnte.
„Ne, passt schon. Du siehst übrigens sehr hübsch aus“.
Bei Tess erkundigte ich mich noch was denn „in der Nähe“ sehenswert wäre. Und was mehr oder minder auf unserer Strecke lag.
„Also ein Abstecher nach Almelo lohnt sich immer. Wenn ihr nicht schon da wart. Sie schaute zu Michelle. „Wohl eher weniger, oder? Wenn ihr hier quasi euer Honeymoon verbracht habt. Eure Hochzeitsnacht“.
Michelles Spruch war anscheinend hängen geblieben. „Ach ja, hier ist eure Rechnung. Bezahlt ist ja alles. Vielleicht brauchst du die ja“.
Den Zettel den Tess mir über den Tresen schob hatte Michelle schneller gegriffen als ich überhaupt registrieren konnte was Tess gerade gesagt hatte. „Uff, das war aber ganz schön teuer“ entfuhr es Michelle.
Das war es in der Tat, aber mangels Alternative hatte ich mich ja so entschieden. „Ja, aber doch deutlich besser als auf einer Parkbank. Oder im Auto zu schlafen, findest du nicht? Ausserdem war das doch sicher das geeignete Ambiente für deine Hochzeitsnacht. So ein Flitterwochenhotel muss wohl seinen Preis haben, oder?“
Michelle grinste breit. „Das ist zur Vorbereitung. Auf das was danach auf dich zukommt“. „Was genau meinst du mit danach auf mich zukommt?“ „Na, an Kosten. Eine Frau ist ja nicht unbedingt günstig im Unterhalt. Da musst du schon so einiges investieren“.
Irgendwie konnte ich Michelle nicht folgen. Wovon redete sie? Kosten? Unterhalt? Diese Begriffe brachte ich eher mit einem Auto in Verbindung. Aber nicht mit einer Frau.
Michelle fasste an meine Schulter. „War das denn nur für mich eine Hochzeitsnacht? Hast du es nicht auch genossen?“
Mit Schwung warf ich unsere Taschen in den Kofferraum. Michelle beugte sich leicht vor. Tat so als ob sie irgendetwas noch aus einer ihrer Tasche nehmen wollte. Wollte sie aber nicht. Sie hielt mir einfach nur aufreizend ihren Hintern entgegen. „Das hast du doch auch genossen, oder? In meinem Hintern“.
„Ja Süsse, habe ich. Sehr sogar. Das hat aber doch nichts mit dem Preis zu tun. Oder doch?“
Oder meinte sie das jetzt doch? Dass ich in irgendeiner Form doch für ihren Körper zu zahlen habe? Zwar nicht unmittelbar. Auch nicht unmittelbar für Sex. Aber irgendwie dann doch?
„Was genau meinst du denn jetzt damit, dass Frauen teuer sind?“ Michelle lachte. „Na weil wir einfach länger leben als Männer. Weil die Klamotten auf die du so abfährst nicht billig sein. Auch wenn du irgendwie auf billig stehst ist es das ganz und gar nicht. Darum“.
Kurz bevor wir auf die Autobahn, die A35 auffuhren legte ich einen kleinen Stopp ein. Tanken. Konnte nie verkehrt sein.
„Also. Wollen wir denn nach Almelo? Dort frühstücken? Und noch ein wenig durch die Stadt bummeln?“ wollte ich von Michelle wissen.
Die Fahrt führte durch grüne Polderlandschaften, nett anzuschauen. Dafür schien aber Almelo selbst noch zu schlafen. Hier war ja wirklich nichts los. Lag es daran, dass es noch zu früh für Leben war? Oder dass es Sonntagvormittag war? Oder beides?
In einer absolut ruhigen Strasse fanden wir dann ein Café das bereits geöffnet hatte. Auf Fensterflächen, die mit milchiger Folie abgeklebt waren stand „De Tuin“. Neben dem Eckhaus war ein grosser Parkplatz. Direkt gegenüber einer Kirche. Auf einer kleinen Hinweistafel war „Sint Georgiusbasiliek“ zu lesen. Darunter die Zeiten des Gottesdienstes.
Um zu beichten war es eindeutig zu früh. Und was hätte ich beichten sollen? Entweder nichts, oder aber ich hätte den Pfarrer für mindestens einen Tag in Beschlag nehmen müssen. Mindestens. Wenn nicht sogar länger.
Ausserdem war nicht einmal klar ob es sich bei der Kirche hier um eine katholische oder evangelische Kirche handelt. Die Protestanten kennen die Beichte in der Form wie sie mir aus der katholischen Kirche bekannt war nicht. Protestanten vergeben ohne zu beichten. Beichtstühle sucht man in evangelischen Kirchen vergebens, aber die Beichte selbst ist natürlich auch hier möglich. Was natürlich einleuchtend erscheint, ist das Bekenntnis von Sünde und Schuld und die zugesprochene Vergebung Gottes Teil des christlichen Glaubens.
Wie hatte dieser Herr Jesus vor einigen Jahren bereits gesagt? „Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, so sind sie ihm vergeben". Ausserdem sollte das Bekenntnis von Sünde, Schuld und Scheitern immer freiwillig erfolgen, also nicht so wie bei den Katholiken üblich.
Und so wirklich bringen würde eine Beichte sowieso nichts. Durch die Beichte wird man zwar mit Gott versöhnt, allerdings muss man für begangene Schuld auch weiterhin geradestehen, beispielsweise bei einer Straftat.
Von daher war mir sowieso nicht klar was genau ich hätte beichten sollen.
Dass ich heute Morgen, direkt nach dem Aufwachen, meine Morgenlatte in Michelle gesteckt hatte? Dass sie mich dabei freudig und „sündig“ angelächelt hatte? Mich dabei mit ihren Beinen und Armen so sehr umklammert hatte, dass sie förmlich einige Zentimeter über der Matratze schwebte während ich in sie hineinstiess? Ich sie zärtlich mit „schmutzigen Liebkosungen“ wörtlich bedacht hatte?
Und war das überhaupt ein Grund zu beichten? War das denn Sünde? Sich den körperlichen Freuden hinzugeben?
Dieser Herr Gott, der Schöpfer, die Schöpferin, die Schöpfung – je nach Weltanschauung - musste sich doch was dabei gedacht haben Männer und Frauen erschaffen zu haben? Also generell, männliche und weibliche Geschöpfe, auch in der gesamten Tierwelt. Waren weibliche Geschöpfe nicht bewusst mit Brüsten ausgestattet? Um uns frisch Geborene daran säugen zu lassen? Zur Nahrungsaufnahme? Und dann später – um uns einfach daran zu erfreuen Brüste in den Mund zu nehmen? Irgendwie wieder in die kindliche Geborgenheit zurück zu kehren?
Und auch dass Frauen mit einem Schlitz ausgestattet waren? So wie alles wo man etwas reinstecken konnte. So wie Briefkästen oder Münzfernsprecher. Nicht umsonst nannte man die Scheide hier in Holland ja auch umgangssprachlich „Slits“. Ja, selbst der Name Scheide rührte doch daher. Man steckte sein Schwert in eine Scheide.
Die Entscheidung für „nichts“ fiel mir eindeutig leichter. Also einfach frühstücken. Kaffee trinken. Eine erste Zigarette rauchen. Dann etwas essen.
Ein ausgiebiges Frühstück wurde uns serviert. Mit allem was man für einen Start in den Tag benötigt. Gebackener Speck, Rührei, reichlich Käse, süsse Aufstriche und frisch gebrühter Kaffee.
Meine Gedanken daran, wie ich noch vor kurzen mit Michelle geschlafen hatte liess mir einen wohligen Schauer durch den Körper laufen. Ich musste es ihr jetzt auch unbedingt sagen. „Du warst toll vorhin. Es war toll mit dir zu schlafen. „Du warst so warm, so liebevoll. So hingebungsvoll“. Michelle lächelte mich hinreissend an. „Und dein Schwanz war so hart. Musst du sonst nicht morgens immer erst einmal pinkeln?“
„Dein Körper hat mich so angemacht. Ich glaube deshalb hatte ich so einen Ständer“ hörte ich mich sagen.
Gleichzeitig stellte ich mir die Frage ob es tatsächlich so war, dass meine Morgenlatte aus sexueller Erregtheit resultierte? Nicht durch meinen Harndrang verursacht wurde? Und wenn dem so sei – würde ich dann jeden Morgen an Sex denken? Noch bevor ich erwachte? Musste ich eigentlich gar nicht pinkeln? Sondern wollte lediglich fickend meinen Tag beginnen?
Michelle riss mich aus meinen Überlegungen heraus. „Es war einfach ein tolles Wochenende“. „Was genau meinst du? So viel haben wir doch nicht erlebt? Gesehen? Die meiste Zeit waren wir doch in der Pension. Nur mal kurz …. Bei deiner Shopping-Tour“.
Mit leuchtenden Augen sah Michelle mich an. „Na was meine ich wohl? Genau das meine ich. Das wir in der Pension waren. Dass wir miteinander geschlafen haben. Dass ich so viele Orgasmen hatte. Selbst gestern, als du in meinem Hintern warst. Ich glaube, dass du von hinten meinen G-Punkt triffst“.
„Deinen was?“ „Na meinen G-Punkt. Du weißt schon. Diese Stelle in meinem Unterleib der mich so was von abgehen lässt. Nur …“
Michelle sah mich an. „Nur wenn du deinen Schwanz wieder aus meinem Hintern heraus ziehst finde ich das ein wenig unangenehm. Das fühlt sich irgendwie an als müsste ich fett kacken“.
Sie lachte. „Fürchtest du nicht, dass dann auch mal etwas Scheisse an deinen Pimmel kommt?“
Mit klirrendem Geräusch liess ich mein Besteck auf den Tisch fallen. „Och Michelle. Musst du das jetzt erzählen? Ich frühstücke gerade“. Mein Frühstück war beendet.
Mein Blick streifte durch das Café. Warum wohl trug es seinen Namen? Hier war weit und breit kein Garten zu sehen. Der Blick aus den Fenstern endete direkt auf geplasterten Gehwegen oder asphaltierter Strasse. Von einem kleinen Tisch, der neben der Verkaufstheke stand, holte ich mir eine Tageszeitung. Dabei fiel mir ein kleines Heftchen auf. „Almelo - Van het verleden naar het heden“. Eine Schwarzweiss-Fotografie zierte den Titel.
Nachdem ich die Schlagzeilen in der Tageszeitung „überflogen“ hatte widmete ich mich dem historischen Heftchen. Michelle ass sowieso genüsslich weiter. Hatte sich von meinem Einwand ganz und gar nicht abhalten lassen. Vielleicht war es für sie auch ja gar nicht so „unappetitlich“ wie es mir erschienen war.
Grösstenteils ging es in dem Text um „Huize Almelo“. Im so genannten Rogmanspark gelegen. Dass hier früher die Textilindustrie allgegenwärtigen war. Insbesondere bezog sich die Schilderung auf eine Dampfweberei - Ten Bruggencate & Zn, die den Park als Bleichplatz für Rohbaumwolle nutzte. Lediglich der Name einer Kirche - Bleekkerk oder einfach De Bleek – erinnerte noch an die vergangenen Zeiten.
Und dieser Herr Rogmans beherrbergte wohl während des zweiten Weltkrieges jüdische Bürger in Gefahr in Huize Almelo - in der Hoffnung, dort ein sicheres Versteck zu finden. Leider kam dieses Geheimnis jemandem zu Ohren, der mit den Besatzern im Bunde war und Rogmans und die jüdischen Versteckten verriet. Allesamt wurden verhaftet und über Vught ins Konzentrationslager Dachau transportiert.
Paul Rogmans starb 1965 im Alter von 64 Jahren. Er hatte gerade einen Plan für den Bau eines Parks auf den Weg gebracht, um zu verhindern, dass Bauträger diesen schönen Teil von Almelo kommerziell ausbeuten. Er erlebte die Verwirklichung nicht mehr.
Die Geschichte interessierte mich so sehr, dass ich sie nicht nur Michelle noch einmal brühwarm servierte, sondern auch diese „Huize Almelo“ besuchen wollte.
Michelle sah von ihrem Frühstück auf. „Das habe ich mir gedacht. Schon als du das Heftchen mit an den Tisch gebracht hast. Das ist doch genau dein Ding. Sowas willst du doch genauer wissen“.
„Warum denn nicht. Gestern hattest du dein Shopping-Erlebnis. Jetzt bin ich mal dran. Ausserdem hat ein wenig Kultur noch keinem geschadet“.
„Das ist schon okay. Ich bin dabei. Aber das Shopping ist ja nicht nur für mich alleine. Du hast doch auch deinen Spass an den Klamotten, oder?“
Über den Tisch griff ich zu Michelles Hand. „Insbesondere wenn ich sie dir wieder ausziehen kann. Wenn ich deinen Körper betrachten kann“.
Michelle grinste. „Naja, betrachten … Du meinst wohl eher …“
Mit dem Auto zu fahren machte keinen Sinn. Zumal man mir im Café auf Nachfrage erklärt hatte, dass „Huize Almelo“ maximal zehn Minuten Fussweg entfernt war.
Das Schloss – „Huize Almelo“ war bereits aus einiger Entfernung auszumachen, lag in bebautem Gebiet. Leider stellte sich schnell heraus, dass das Schloss selbst nicht zu besuchen war. Anscheinend wohnten da irgendwelche Menschen drin. Nur der umliegende Park war für die Öffentlichkeit zugänglich. Ebenso wie das angrenzende „Landgut Almelo“. Ein grosser Wald, der Nijrees-Wald, begrenzte das Areal.
Das hatte ich mir dann ein wenig anders vorgestellt.
Nach einem ausgedehnten Spaziergang liessen wir uns auf einer Parkbank nieder. Rauchten noch eine Zigarette. „Was meinst du? Wollen wir dann einfach fahren? Nach Hause?“
Mein Bedarf an Almelo war gedeckt. Und je länger wir unsere Zeit hier vertun würden umso später würden wir dann natürlich auch in Rockanje ankommen.
Michelle stimmte mir zu. „Dann lass’ uns unser Wochenende hier beenden“.
Das erste Stück der Strecke fuhren wir „über Land“. Über Deventer bis nach Apeldoorn. Erst dort auf die Autobahn.
Unsere Unterhaltung drehte sich um alle möglichen Themen. Auch mal ganz kurz um die Frage, die ich stellte, ob Michelle wirklich in einem Krankenhaus arbeiten wolle. Das hatte sie ja neulich erwähnt.
Sie wolle aber dann lieber in ihrem Pflegeberuf weiterarbeiten. Das erschien ihr sinnvoller.
„Gib’s zu. Es ist wohl eher deswegen, weil du dich nicht beherrrschen kannst wenn du so, wie diese Arzthelferin - wie hiess die gleich noch? –dann ständig irgendwelche Pimmel in die Hand nehmen kannst“.
Michelle lachte laut auf. „So ein Blödsinn. Nein. Ich möchte dann doch lieber älteren Menschen etwas Gutes tun“. Breit grinste sie zu mir herüber. „Du bist echt ein Blödmann. Du tust gerade so als müsste ich jeden Pimmel den ich sehe auch haben wollen“.
„Echt? Du kannst jeder Versuchung widerstehen?“ Michelle beugte sich zu mir herüber, lehnte sich an meine Schulter. „Also nachdem was ich bislang von dir mitbekommen bist du doch derjenige auf den das wohl eher zutrifft“.
Das stimmte – zum grossen Teil jedenfalls. Nur zu oft hatte ich mich in solche Situation hineinmanövriert. War Versuchungen erlegen. „Naja, früher ganz bestimmt. Jetzt nicht mehr. Nicht mehr so“.
Denn das war mir klar - Ohne Versuchung kann es nichts Gutes auf der Welt geben. Waren die sogenannten Versuchungen nicht das Salz in der Suppe? Selbst wenn sich dadurch das Leben komplizierter gestaltete oder gar verkürzte? Und war das nicht immer schon so?
Schon auf dem Olymp oder in Walhalla wurde geschlemmt, verschwendet, sich den körperlichen Genüssen hingegeben, gelogen und betrogen. Und warum sonst sollte schon vor mehr als einem Jahrhundert die „Reizwäsche“ erfunden worden sein? Schwarze Dessous und Korsagen.
Während das „niedere“ Volk sich in Enthaltsamkeit und Keuchheit üben sollte trieben es die „oberen“ Zehntausend doch ungeniert miteinander. Das ist ja bis heute in zahlreichen Romanen nachzulesen. Mit Hingabe wurden darin die Spielarten der körperlichen Liebe beschrieben.
In Waddinxveen legten wir eine erste Pause ein. Rauchen – auch so eine Versuchung – wollte befriedigt werden. Auch ein paar Schritte gehen, sich ausstrecken konnte nicht schaden. Längere Strecken in dem Ford Escort zu absolvieren war dann doch schon ein Unterschied zu dem luxuriösen und entspannten Reisen im Mercedes.
Und da gab es noch den Unterschied was Reisen, unterwegs sein mit Michelle deutlich vom Reisen mit Wilma unterschied. Das wollte ich zur Sprache bringen. „Hast du nicht mal daran gedacht einen Führerschein zu machen? Ein Auto haben zu wollen?“
Michelle sah mich erstaunt an. „Und wovon soll ich das bezahlen? Ich habe weder Geld für einen Führerschein, noch für ein Auto. Ausserdem … Ausserdem habe ich ein bisschen Angst vor Autofahren“. Sie blickte mich an. „Also wenn ich fahren würde“.
„Was ist das denn jetzt für ein Blödsinn? Dazu geht man ja in eine Fahrschule. Um zu lernen wie man Auto fährt. Das ist doch ziemlich einfach“.
Michelle kam einen Schritt auf mich zu. „Und normal ist das doch auch nicht, oder? Warum wohl haben wir Beine? Doch zum Gehen, oder?“
Ich zog sie an mich heran. „Also du hast deine Beine garantiert nicht nur zum Laufen. Du sollst damit Männer betören“. Michelle schmunzelte. „Ja … und ab und zu auch breit machen … wie du selbst gesagt hast“. „Aber ganz genau“ musste ich grinsend bestätigen.
Wir würden schon bald in Rotterdam einfahren. Nur noch an Nieuwekerk aan den IJssel vorbei, dann begann auch schon die „Randstad“. Mit dem Stadtteil Prins Alexander. Hier war das Möbelhaus in dem ich zuletzt für Michelle Einrichtung gekauft hatte.
Jetzt würde es fix gehen. Sicherlich lagen noch einige Kilometer vor uns. Aber die Strecke war mir so bekannt, dass sie gefühlt viel schneller abzufahren war. Schiedam, Pernis, dann Spijkenisse. Der Rest war ein Katzensprung.
„Freust du dich auf zuhause? Freust du dich auf Wilma?“ wollte Michelle wissen. „Ja. Auf beides. Sehr“. Mein Blick ging zu ihr. „Nicht falsch verstehen. Es war super mit dir. Es hat mir total gefallen. Aber … Aber ich freu’ mich auch total auf Wilma. Du nicht auch?“
„Sicher. Ich auch. Aber … Eine Frage … Fährst du noch mal mit mir weg? Wir beide?“ Mit der rechten Hand drehte ich den Innenrückspiegel so dass ich jetzt Michelle „über Umwege“ anschauen konnte. „Ja. Aber die nächste Zeit bestimmt nicht. Als nächstes steht ja dann euer Ausflug an. Also deiner mit Wilma“.
Je mehr wir uns Rockanje näherten umso aufgeregter wurde ich. Es war keine Aufgeregtheit im Sinne von Aufregung. Es war Freude Wilma wiederzusehen. Sie in meine Arme nehmen zu können. Michelle spürte das. „Du kannst es kaum noch erwarten, oder?“ „Ja. Sie hat mir schon gefehlt. Es ist ganz komisch. Wenn sie nicht da ist … Also wirklich anwesend … Dann sehne ich mich nach ihr“. Michelle drehte ebenfalls am Rückspiegel. „Selbst wenn du mit mir zusammen bist? Und wenn du mit mir schläfst? Dann auch?“
Was sollte ich drumherumreden. „Ja. Aber wenn ich mit Wilma zusammen bin ist es genauso. Dann fehlst du. Ja, auch wenn ich mit dir schlafe. Aber auch wenn ich mit Wilma schlafe. Ich will einfach mit euch beiden zusammen sein“.
Meine Freude war jetzt kurz davor aus mir heraus zu platzen. Wir fuhren in Rockanje ein. Es war etwa drei Uhr. Also noch wirklich ausreichend Zeit für einen gemeinsamen Sonntag. „Wir gehen nachher schön zusammen essen. Wir alle drei. Was meinst du meine Schöne?“
Die Haustüre war offen, also nicht abgesperrt. Michelle betrat das Haus, ich folgte ihr. Hätte sie aber beinahe über den Haufen gerannt. Sie war einfach stehen geblieben. „Jetzt geh’ mal rein. Was bleibst du denn jetzt einfach stehen?“
Sie ging aber nicht weiter. Liess die Taschen aus ihren Händen fallen. Drehte sich um. „Was ist denn hier los? Schau’ dir das mal an“. Sanft schob ich Michelle an der Schulter zur Seite. „Was soll das denn? Geh’ doch mal rein“.
Dann ging es mir so wie ihr gerade. Als hätte man mich urplötzlich am Fussboden festgetackert. Wie angewurzelt schaute ich in unser Wohnzimmer. „Was ist denn das für Chaos?“
Alles was um den Couchtisch herum platziert war – ursprünglich zumindest – war auf dem Fussboden verstreut. Blumen, Zeitungen, Dekofirlefanz. Einfach alles lag auf dem Boden. Dazwischen unzählige leere Bierflaschen. Ganz kurz musste ich grinsen. „Sieht wie nach einer fetten Party aus“.
Michelle war jetzt auch in das Wohnzimmer gekommen. Hatte es von der anderen Seite, durch die Küche kommend betreten.
Ihre Ausdrucksweise unterschied sich deutlich von meiner. „Spinnt die? Wie sieht es denn hier aus? Wo ist die überhaupt?“
Wilmas Renault stand in der Hofeinfahrt. Die Haustüre war unverschlossen. Also musste sie ja irgendwo rumturnen. „Wilma. Schatz. Wir sind zurück“ rief ich laut durch’s Haus. Keine Antwort. Keine Reaktion.
Urplötzlich wurde ich sehr nervös. „Wo ist die denn? Verflucht noch eins“. Leicht und leise vor mich hin fluchend ging ich nach oben. Öffnete die Türe zu Wilmas Zimmer. Sie lag im Bett. Schlief aber nicht. Lag einfach nur da. Vollgesoffen. Bis zum Anschlag. Auch hier, in ihrem Zimmer das totale Durcheinander. Und leere Flaschen. Bier und Schnaps.
„Hey. Was ist hier los?“ fragte ich laut. Ging an ihr Bett. „Schatz. Wir sind zurück“.
Wilmas Reaktion war heftiger als an Tagen wenn sie einfach durchgesoffen hatte. „Verschwinde. Raus aus meinem Zimmer. Verschwinde. Hau’ ab. Raus hier“.
„Verdammt. Hast du ein Rad ab? Was ist hier los? Was hast du veranstaltet? Wieso liegen hier die ganzen Pullen rum? Wieso hast du dich so zugesoffen?“ „HAU AB. DU SOLLST ABHAUEN“ schrie sie mich an.
„Das mach’ ich nicht. Du sagst mir jetzt was los ist. Hast du mich verstanden“. Ich ging gleichzeitig mit meinen Worten an ihr Bett. Sie war einfach total besoffen. Absolut verlottert. Haare wild durcheinander. In ihrem schlabbrigen Jogginganzug lag sie im Bett.
„Mann. Steh’ mal auf. Ich lüfte mal ein wenig. Warum hast du dich so besoffen?“
Langsam und behäbig versuchte Wilma sich aufzurichten. Aus dem Bett aufzustehen. Fiel mir aber förmlich in die Arme. Und das nicht aus Wiedersehensfreude. Nein, sie war nicht einmal in der Lage einfach stehen zu bleiben. „Meine Fresse. Bist du dicht“.
Wilma sah mich kurz an, legte sofort ihren Kopf an meine Schulter. „Victoria ist tot. Victoria ist tot. Die ist einfach gestorben“. Mit ihren zu Fäusten geballten Händen schlug sie gegen meinen Brustkorb. „Wo warst du? Wo waren wir als Victoria uns gebraucht hat? Du bist so ein Arschloch. Du hast mich hier einfach allein gelassen. Ich hasse dich. Ja. Ich hasse dich“.
Ich musste mich setzen. Nicht nur um Wilma weiter zu stützen. Mir war als würde man mir den Boden unter den Füssen wegziehen. Dass meine gesamte Beinmuskulatur gegen Pudding ausgetauscht wurde. Und zwar innerhalb einer Sekunde.
„Was? Was redest du da?“ Wilma weinte. „Victoria ist tot. Meine Victoria ist tot“.
Michelle war in’s Zimmer gekommen. Hatte wohl schon einen Moment zugehört. „Oh nein. Das ist ja furchtbar. Was … Was ist denn jetzt?“
Mit einem Arm fasste ich Wilma unter den Kniekehlen, legte ihren Arm um meinen Hals. Hob sie vom Bett hoch. „Geh’ mal vor. In die Dusche“ befahl ich Michelle. Anders konnte ich den Tonfall den ich jetzt drauf hatte nicht beschreiben.
Vorsichtig trug ich Wilma nach unten. „Dreh’ mal bitte die Dusche auf. Wilma muss klar werden“. Wie in Trance lief bei mir jetzt alles ab. Wer weiss wie viel sie schon gesoffen hatte. Und wie lange. Sie musste klar werden.
Mit einer Hand hielt ich Wilma. Dass sie bloss nicht stürzte oder in sich zusammensackte. „Hilf mir mal ihre Klamotten auszuziehen“. Das Duschwasser prasselte auf Wilma und mich hernieder. Michelle stand wie erstarrt im Türrahmen. „Na los. Hilf mir“ herrschte ich sie wieder an.
Michelle zog den kleinen Hocker heran, der neben der Toilettenschüssel stand. Normalerweise nutzen die beiden Frauen den, wenn sie sich die Beine rasierten. Oder was auch immer sie im Bad machten. Das war im Moment aber alles so was von Scheissegal was sie hier trieben.
Mit festem Griff zog ich Michelle mit unter den Brausestrahl. „Jetzt hilf mir endlich. Verfluchte Scheisse“. Wilma weinte. Ohne Unterlass. Und schrie. „Das ist kalt. Das Wasser ist zu kalt. Verschwinde endlich. Du verdammtes Arschloch“.
Es kostete mich einige Mühen Wilma auf den Hocker zu setzen. „Du hältst sie jetzt fest. Dass sie bloss nicht umkippt. Ich hole Handtücher und Klamotten“. Michelle nickte. Sie hatte jetzt auch endlich begriffen, dass ich es verdammt ernst meinte. Alles.
Patschnass lief ich nach oben. Zog irgendetwas an Klamotten aus Wilmas Schrank. Nahm ein paar Handtücher mit.
Meinen Versuch sie abzutrocken quittierte Wilma damit, dass sie auf mich einschlug und mich ohne Unterlass beschimpfte. Kurzerhand hob ich sie mitsamt Hocker hoch, trug sie aus der Dusche in’s Wohnzimmer.
„Jetzt reicht es aber. Du lässt dich jetzt abtrocknen. Du musst trockene Klamotten anziehen. Und dann beruhigst du dich mal“. Ich sah sie an. „Wenn es dir hilft dann beschimpf’ mich ruhig weiter. Nur hör’ auf mich zu schlagen. Ich möchte dir helfen. Ich bin für dich da“.
„Setz’ dich bitte zu ihr“ bat ich Michelle. „Ich mach’ jetzt Suppe“. „Aber ich bin doch klatschnass“. Ich sah an Michelle herunter. Ja, das war sie. Ihre Haare tropften. „Das interessiert jetzt genau wen? Pass’ bitte auf Wilma auf. Bleib’ bei ihr sitzen. Sprich mit ihr“.
Noch einmal schaute ich Michelle an. „Zieh’ deine Klamotten aus. Ich bring dir trockene Sachen. Und Wilma trinkt nichts mehr“.
Bevor ich für Michelle Klamotten aus ihrem Zimmer holte trocknete ich mich selbst ab, zog mich selbst um.
Handtücher und Kleidung für Michelle legte ich auf dem Esstisch ab. Zeigte mit einer Hand auf die Wäsche. „Ich komm’ sofort. Ich mach’ schnell eine Dose Hühnersuppe warm“ Sah zu Michelle. „Und danke“.
Michelle sprach zu Wilma. Hörte ihr zu. Hielt sie im Arm. Liess sie in ihre Brust schluchzen.
„Fuck. Fuck. Fuck. Fuck. Fuck“. Immer wieder fluchte ich in mich hinein. „Was ist das für eine verdammte Scheisse?“
Stellte einen Teller dampfende Hühnersuppe auf den Tisch. „So mein Schatz. Du isst jetzt etwas. Und dann werden wir das alles lösen. Wir sind wieder da. Bei dir“.
Michelle begleitete Wilma an den Tisch, wich nicht von ihrer Seite. Bevor ich nach draussen ging setzte ich die Kaffeemaschine an. „Weißt du eigentlich was du da für eine Scheisse von dir gibst?“ fragte ich mich selbst. „Weißt du überhaupt was du hier gerade machst?“
Nein. Ich hatte keine Ahnung. Nur dass Wilma irgendwie klar werden musste. Woher sollte ich wissen wie viel - wie lange sie jetzt schon gesoffen hatte? In jedem Fall mehr als ihr gut tat. Gut getan hatte.
Aufgeregt eine Zigarette rauchend lief ich im Garten auf und ab. „Denk’ nach. Denk’ nach“. Aber worüber? Irgendwie musste ich Zugang zu Wilma bekommen. Und zwar so dass sie sich mitteilen konnte. Mitteilen wollte. Ohne auf mich einzuprügeln.
Ich ging wieder in’s Haus. Blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Was für ein Anblick. Mir trieb es die Tränen in die Augen. Michelle sass neben Wilma, sprach ihr Trost zu und führte ihr mit einem Löffel immer wieder von der heissen Suppe in den Mund. Was war sie doch für ein guter Mensch.
Still setzte ich mich zu den beiden. Meine Augen wanderten zwischen beiden Gesichtern hin und her. Wilma so desolat zu sehen bereitete mir körperliche Schmerzen.
„Weißt du denn irgendwas anderes als nur Victoria ist tot?“ schaute ich Wilma an.
Sie war schon ein wenig „beigekommen“.
Ihre Chefin habe sie angerufen. Sie davon unterrichtet. „Mehr weiss aber auch nicht“. Wilma schlug mit der Hand auf den Tisch. „Aber was muss ich sonst noch wissen? Sie ist tot. Hörst du? Victoria ist tot“.
Für einen kurzen Moment stand ich auf, ging in die Küche. Mit einem Handzeichen bat ich Michelle zu mir zu kommen. „Kannst du mal bitte bei euch im Büro anrufen? Vielleicht ist da jemand? Vielleicht erfährst du etwas? Ist ja auch deine Chefin“.
Hilflos, sehr hilflos sah ich Michelle an. „Was machen wir denn jetzt?“ Sie griff zu meiner Hand. „Wir machen gar nichts. Ich mach’ das. Wenn du das aushältst lass’ Wilma sich einfach an dir austoben. Ihre Wut und ihre Schmerzen müssen raus. Schaffst du das?“
Stumm nickte ich. Drückte fest Michelles Hand.
„Wir machen einen kleinen Spaziergang. Frische Luft wird dir guttun.“ Mehr – und vor Allem besser wusste ich es im Moment auch nicht. War erleichtert als Wilma nickte. „Ja“. Michelle holte eine Jacke für Wilma. Und Schuhe. Half ihr sich anzukleiden. „Ich komm’ dann gleich nach“. Michelle gestikulierte mit ihren Händen, gab mir zu verstehen, dass sie telefonieren wolle.
„Möchtest du reden? Mit mir reden?“ Wie auch immer wollte ich Wilma dazu animieren zu reden. Wollte endlich mehr erfahren. Mehr als das was ich wusste. Nämlich, dass sie sich aus Schmerz und Trauer betrunken hatte. Wie gut konnte ich das nachvollziehen. Dass man einfach alles vergessen wollte. Einfach alles hinter sich lassen wollte. Aber ebenso wusste ich davon, dass Schmerz einen immer wieder einholt.
Immer wieder bekam Wilma einen Heulkrampf. „Wieso warst du nicht da? Wieso hast du mich allein gelassen?“ Verdammt. Was sollte ich antworten. Das was eben war. Dass ich mir mit Michelle ein schönes, vergnügtes Wochenende gemacht hatte? Ganz sicher nicht.
Fest drückte ich Wilma an mich heran. Strich über ihre Haare. „Wenn es dir hilft schlag’ mich. Aber bitte nicht mehr in’s Gesicht“.
Wilma schaute zu mir. „Ich weiss, dass es nicht deine Schuld ist. Es tut mir leid“.
„Wilma. Und es ist auch nicht deine Schuld. Überhaupt nicht. Victoria war einfach alt. Sie hat ihr Leben gelebt. Und du warst doch immer da. Für sie da. Hör’ bitte auf dich verantwortlich zu machen“.
Wir waren gerade erst am Zugang zum Strand angekommen. Ziemlich ausser Atem hatte Michelle zu uns aufgeschlossen. Berichtete von ihrem Telefonat. Dass Victoria „sanft entschlafen“ sei, wie man ihr versichert hatte. Und dass Wilma erst einmal nicht zum Dienst erscheinen müsse.
Es war eine Mischung aus Lachen und Weinen die Wilma herauspresste. „Warum auch? Und zu welchem Dienst? Zu Victoria ja wohl nicht mehr? Was soll ich da jetzt noch?“
Michelle quetschte sich zwischen Wilma und mich. Drehte sich zu mir. „Ich übernehm’ jetzt wieder“. Nahm Wilma an die Hand. „Komm’ mein Schatz“.
Wie gottverdammt einfühlsam sie war. Was hätte ich wohl gemacht, wenn Michelle nicht zur Stelle gewesen wäre?
Wir hatten uns auf der Terrasse des Badlust einen Tisch gesucht. Kaffee bestellt. Für alle. Logischerweise fiel Schnaps oder Bier aus. Mit welcher Argumentation hätte ich klar machen sollen, dass Wilma klar werden sollte und ich mir im gleichen Atemzug einen Schnaps trinken wollte. Da brauchte ich nicht einen Gedanken dran verschwenden.
Wilma stierte durch die gläserne Ballustrade auf’s offene Meer. Unbeholfen legte ich ihr meine Jacke um. Nicht unbeholfen im Umlegen der Jacke, sondern unbeholfen was zu tun sei. Wie konnte ich ihr Trost spenden? Konnte ich das überhaupt?
Und ich war froh dass Michelle da war. „Erzähl’ mir doch mal ein bisschen von Victoria? Wie war sie?“ begann sie Wilma zu einem Gespräch zu bewegen.
Und Wilma erzählte. Mehr und mehr. Was für ein toller Mensch Victoria war. Wie gebildet sie war. Wie einfühlsam. Wie viel sie von der Welt gesehen hatte. Welche Weitsicht sie an den Tag legte. Welch eine enorme Menschenkenntnis sie hatte. Was für ein liebenswerter Mensch sie war.
Wilma griff meine Hand. „Mein Schatz. Du hast sie doch auch kennen gelernt. Ist es nicht so? War Victoria nicht ein ganz besonderer Mensch?“
Dass Wilma mich jetzt so in das Gespräch einbezog rührte mich. Auch dass sie mich jetzt mit „Mein Schatz“ anredete. Und nicht mit „Gottverdammtes Arschloch“.
Von unseren Spaziergängen und Ausflügen mit Victoria erzählte ich. Wie sie sich gefreut hatte, dass ich sie auf Händen getragen hatte. Und wenn es nur bis zu ihrem Rollstuhl war. Wie sehr sie mich gelesen hatte. Wie feinfühlig sie war.
„Ja. Victoria war ein besonderer Mensch. Ich bin sehr froh, dass ich sie kennen lernen durfte“.
Wilma sah mich an. „Weißt du noch, dass sie dir gesagt hat du sollst mich heiraten? Und ich konnte ihr jetzt nicht einmal sagen, dass ich ein Baby bekomme. Von dir“.
Wilma flossen die Tränen über die Wangen.
Das was ich hätte sagen wollen verkniff ich mir. Dass sie, Wilma, noch nicht einmal schwanger war. Also von Baby bekommen noch lange nicht gesprochen werden konnte. Ausser dem Wunsch – und der Vorfreude gab es doch noch gar nichts zu diesem Thema zu sagen.
Wilma war kurz zur Toilette, in den Gastraum gegangen. Die Gelegenheit nutzte ich um mich bei Michelle zu bedanken. Für ihre Unterstützung. Dass sie meine kopflose Hilflosigkeit so souverän gemeistert hatte. „Du spinnst doch. Unsere Frau braucht uns jetzt.
„Unsere Frau?“. „Ja. Genau wie du für Wilma und mich unser Mann bist ist sie für uns beide unsere Frau“. Michelle sah mich fest und eindringlich an.
„Wolltest du nicht mit uns essen gehen? Da wird wohl nichts draus. Ich koche nachher für uns. Einer von uns beiden sollte jetzt immer bei Wilma sein“. Erneut sah sie mich an. Nein, sie fixierte mich mit ihren Augen. „Hast du das verstanden?“
Die Dämmerung begann hereinzubrechen. „Wir sollten uns auf den Weg machen“ entschied Michelle. „Zurück nach Hause“.
Wie sie es angekündigt hatte begann Michelle mit den Essensvorbereitungen. Geschickt verstand sie es Wilma einzubinden. „Hilfst du mir mein Schatz?“
Die beiden hatten eine eher deftige Mahlzeit zubereitet. Erwtensoep. Ein dicker Eintopf. Grüne Spalterbsen, Schweinefleisch, Sellerie, Zwiebeln, Lauch, Karotten, Kartoffeln. Dazu Toast. Und auch dazu hätte ich mir nur zu gerne ein Bierchen reingepfiffen.
Nach dem Essen setzten wir uns noch zusammen, redeten weiter. Wilma griff zur Dope-Dose. „Aber einen Joint rauchen können wir doch, oder? Das mit dem Trinken habe ich verstanden. Und auch wie gut ihr beiden es mit mir meint. Ich bin so verdammt froh euch zu haben“.
„Wir sollten schlafen gehen“. Ich sah zu Michelle. „Wir müssen morgen früh raus. Und du musst dich ausruhen. Gönn’ dir Ruhe. Versuch’ ein wenig abzuschlafen“. Sanft gab ich Wilma einen Kuss. Unsere erste zärtliche Annäherung seit unserer Rückkehr.
Ein wenig gezwungen lächelte Wilma. „Ich hab’ ja frei“. Richtig glücklich klang das allerdings nicht. Sie drückte sich aus der Couch hoch.
„Kann ich bei dir schlafen?“ Sie sah zu Michelle, dann zu mir. Michelle stellte sich neben Wilma. „Du schläfst bei uns. Wir schlafen alle in einem Bett“. Sah mich an. „So wie wir das bei dir gemacht haben. Wir geben uns Nähe und Geborgenheit. Das ist das was unsere Liebe ausmacht. Einfach zusammenhalten“.
„Und ihr erzählt mir wie euer Wochenende war. Was ihr gemacht habt. Was ihr erlebt habt“.
Eine gewisse Unsicherheit überkam mich. Ob das so gut wäre Wilma zu erzählen, dass wir zwei „Hochzeitsnächte“ verbracht hatten? Von unseren Gesprächen zu erzählen? Würde das wirklich hilfreich sein? In Wilmas aktueller Gemütsverfassung?
Michelle hatte wieder das Kommando übernommen. „Wir gehen dann in mein Zimmer. Bei dir räumen wir morgen erst mal auf. Was meinst du mein Schatz?“ Das war eindeutig an Wilma gerichtet. Mein Zimmer war aufgeräumt.
„Ich mach’ frische Bettwäsche auf mein Bett. Ich geh’ schon mal nach oben“. Michelle verzog sich aus dem Wohnzimmer.
„Wenn ihr hier gewesen wäret, dann …“ Ich unterbrach Wilma. „Versuch’ an etwas anderes zu denken“.
Aus meinem Zimmer wollte ich noch meinen Wecker
holen. Michelle kam kurz zu mir. Dachte sie genau so wie ich? Ich sagte einfach was ich im Kopf hatte. „Bitte erzähl’ nichts von unserem Gespräch. Deinem Babywunsch. Bitte. Nicht jetzt. Nicht heute“.
Wilma hatte sich ein weites T-Shirt übergezogen, sich bereits in Michelles Bett gelegt. Schnell ging ich nochmals in mein Zimmer. Holte ein T-Shirt aus dem Schrank. Reicht es Michelle an. „Willst du das anziehen?“ Auch ich behielt T-Shirt und Boxershirt an. Wilmas Vorgabe war ganz klar.
Ein Kissen in den Rücken geschoben hatte sich Wilma aufrecht an die Rückwand des Bettes gelehnt. „Jetzt seid ihr dran. Mit erzählen“. Und Michelle erzählte. Wie es ihre Art war. Quasselte drauf los. Wie schön die Pension war. Dass es eine alte Schule war. Dass wir so gut wie nichts erlebt hatten. „Nur mal kurz shoppen. Sonst waren wir nur im Bett“.
„Und weißt du was? Ich hab’ ihn sogar in meinen Hintern gelassen“. Oh nein. Hatte Michelle das jetzt wirklich gesagt? Wilma sah mich an. „Dann hast du …? Hast du dir was in deinen Hintern stecken lassen? Du wolltest das doch nicht. Auf keinen Fall hast du doch gesagt“.
Das war für mich ein Moment in dem ich Michelle am liebsten den Hals umgedreht hätte.
Wilma fasste Michelles Handgelenk. „Und wie war das? Für dich?“ Sah kurz zu mir. „Dich brauch’ ich ja gar nicht fragen.“.
So war es. Ausserdem hatte ich sowieso keine Chance irgendetwas zu sagen. Gehörte Michelle doch zu den wenigen Menschen auf diesem Planeten, die keine Luft holen brauchten. Einfach nur weiterreden konnten.
„Das war so … als hätte ich ’ne fette Kackwurst im Darm. Nur dass die nicht rauskam, sondern immer tiefer in meinen Darm rein ging“. Michelle grinste mich an. „Und ich hab’ ihn das am nächsten Abend direkt noch mal machen lassen. Da hat er aber volle Pulle in mich reingespritzt“.
Inständig bat ich darum, dass Michelle in meinen Augen lesen konnte was ich dachte. „Wenn du weiterredest hau’ ich dir eine rein“.
Michelle und ich waren unterwegs. Zur Arbeit. Nur zu gerne hätte ich sie angebrüllt. Verkniff mir das aber. Zumindest hatte sie nicht von unserer Diskussion erzählt. In der es um „ihr“ Baby ging. Ich hätte sie wahrscheinlich dann doch töten müssen.
Am Hartelpark hielt ich an. „Ich lass’ dich hier raus. Und hol’ dich heute Abend wieder ab“. „Das machst du doch jeden Tag“. „Ja. Aber fahr’ gleich wieder zurück. Ich nehm’ mir frei. Fahr’ nur schnell zur SHELL rüber und bitte Kees mir frei zu geben. Ich will zurück. Zu Wilma“.
Genau so schilderte ich Kees mein Anliegen. Der mich erstaunt ansah. „Warum bist du nicht umgezogen?“
„Ich möchte frei bekommen. So zwei oder drei Tage. Meiner Freundin geht es nicht gut. Ich muss mich um sie kümmern. Bitte Kees. Ich MUSS“.
„Und in zwei Tagen ist alles okay wieder? Oder drei?“ Kees sah von seinem Schreibtsich auf. Ich war direkt in sein Büro gegangen, gar nicht erst abgewartet bis alle in der Werkstatt versammelt waren.
„Weißt du was? Du nimmst dir einfach die Woche frei. Kümmer’ dich um deine Frau. Oder Freundin. Hau’ schon ab“.
Keine dreissig Minuten später war ich zurück in Rockanje. Zuhause. Bei Wilma. Die natürlich mehr als erstaunt war. „Was machst du hier?“ „Na was wohl? Mich um dich kümmern“. Musst du nicht arbeiten?“ Nein. Es gibt nur eine Sache die mir wichtig ist. Das bist du“.
Mehr als einmal fragte Wilma ob sie sich ein Bier trinken könne. Oder sonst was. Hauptsache Alkohol.
„Nein. Alkohol ist nicht. Das Einzige was du bekommen kannst ist meine Aufmerksamkeit, meine Liebe. Alles andere fällt aus. Wir können spazieren gehen. Oder was immer du möchtest. Und genau deshalb bin ich auch hier. Um auf dich zu achten“.
Unser Spaziergang führte uns zum Strand. Der leichte Wind war wie gemacht um den Kopf frei zu blasen. Wilma hatte sich bei mir untergehakt. „Warum machst du das? Und gehst nicht einfach zur Arbeit? Ich komm’ schon klar. Das musst du nicht“.
Einen Arm legte ich um Wilma’s Hüfte. „Ich weiss, dass ich das nicht muss. Ich mach’ es aber. Für dich. Weißt du was du alles für mich getan hast? Wieviele Tage, wieviele Wochen du für mich da warst. Mich gehegt und gepflegt hast? Alles hast du für mich getan. Deswegen mach’ ich das. Weil du es wert bist. Weil du es mir wert bist. Ohne dich wäre ich nicht hier“.
Wilma sagte nichts. Also fuhr ich einfach fort mit meiner Erklärung. „Und du hast noch viel mehr für mich getan als nur da zu sein. Du hast mich wieder in die Spur gebracht als ich gar nicht klar kam mit Willekes Tod. Warum zur Hölle sollte ich das nicht für dich tun?“
Wilma lächelte mich an. „Weißt du noch wie ich dich gewaschen habe? Und du einen Steifen bekommen hast?“ Sie grinste jetzt breit. „Und es hat mir Spass gemacht deinen Pimmel zu waschen. Zu sehen wie der gross wurde“. „Aha. Deswegen hast du mich gewaschen?“ „Ne, natürlich um dich zu waschen. Du konntest dich doch kaum bewegen“.
Wilma drückte mich. „Aber auch um deinen Pimmel in der Hand halten zu können. Du weißt doch, dass ich immer auf dich gestanden habe“. „Ja, das weiss ich. Und ich bin mehr als froh, dass du so hartnäckig geblieben bist“.
Sie nahm meine Hand. „Schläfst du gleich mit mir?“ Die Frage erstaunte mich. „Ne Wilma. Und das habe ich auch von dir. Wie oft hast du mir gesagt, dass man seinen Schmerz nicht wegvögeln kann? Wie oft? Und wie oft wollte ich mit dir schlafen in der Zeit?“
Wilma grinste. „Ja. Du warst echt penetrant. Hast nichts unversucht gelassen“. „Siehst du mein Hase. Dann weißt du ja wovon ich rede“.
Fest drückte ich sie an mich. „Und mit Michelle läuft auch nichts. Dafür werde ich schon sorgen“.
Wilma blieb stehen. „Sag’ mal wie das für dich war. Sie zum ersten Mal in den Arsch zu ficken. Es scheint ihr echt gefallen zu haben. So wie Michelle gestern davon erzählt hat“.
„Wilma. Auch jetzt. Nicht unser Thema. Du bist wichtig. Sonst nix“. Wieder grinste sie mich an. „Also hat dir gefallen“.
Fast den gesamten Strandabschnitt waren wir entlanggelaufen. Mein Hungergefühl, das ja von der SHELL auf eine feste Essenszeit eingestellt war, signaliserte mir „Gleich Mittag“.
„Wollen wir etwas essen? Im Badlust vielleicht? Wo wir doch sowieso schon fast da sind?“
Wir setzten uns auf die Terrasse. Bestellten Kaffee. „Und zwei grosse Pommes, bitte“. Mit einem Augenzwinkern zu Wilma ergänzte ich „Und extra Mayonnaise. Viel Mayonnaise bitte“.
„Und was du eben gesagt hast … was du eben gefragt hast … ob ich mit dir schlafe … ich werde auch nicht mit Michelle schlafen. Versprochen“.
„Echt? Ich hab’ mich eben nicht getraut dir diese Frage zu stellen“.
Nach unserem Imbiss verliessen wir den Strand. „Wollen wir noch zum Friedhof?“ wollte Wilma wissen. Eigentlich hatte ich das nicht vor. „Ich wollte mich etwas vom Friedhof fernhalten. Mehr zu dir kommen“.
„Das ist lieb, dass du das sagst. Aber ich glaube ich verstehe jetzt besser was bei dir immer so abgelaufen ist. Wie es ist einen geliebten Menschen zu verlieren. Natürlich, nicht so wie bei dir. Ich hatte ja nichts mit Victoria. Aber wir waren doch jeden Tag zusammen. Magst du mich begleiten?“
Wir sassen lange wortlos auf einer Friedhofsbank. Erst nach einer langen Zeit begann Wilma mit ihrer Frage. „Was wird wohl jetzt aus meinem Job? Meinst du ich muss jetzt auch in so ein Pflegeheim wie Michelle?“ „Wie meinst du Pflegeheim?“ „Zum Arbeiten. Jetzt wo ich nicht mehr zu Victoria gehe?“
Woher sollte ich das wissen? Wie sollte ich die Planung ihrer Chefin kennen? „Wenn du magst fahren wir morgen mal in’s Büro deiner Firma. Nach Brielle“.
Wilma wollte unbedingt noch im Dorf vorbei. „Ich möchte mir irgendetwas in der Apotheke holen. Ich hab’ so wahnsinnige Kopfschmerzen“. Schelmisch schmunzelte sie. „Normalerweise sagt man ja die könne man wegvögeln … aber das läuft ja jetzt nicht“.
Mir gefiel, dass sie Scherze machte. „Machen wir. Aber dann auch nach Hause. Ich muss ja auch Michelle abholen“.
Ich geh’ schnell die Schmerztabletten holen. Wartest du kurz?“ Nach ein paar Minuten war Wilma zurück. Warf eine Packung Thomapyrin in die Höhe.
Zurück zu Hause drückte sie eine Tablette aus dem Aluminiumstreifen heraus. Nicht viel später ging sie auf ihr Zimmer. Mit der Ansage sie wolle sich ein wenig hinlegen.
Mir blieb noch eine gute Stunde, dann musste ich schon los. „Kann ich mich für einen Moment zu dir legen?“ fragte ich nach, als ich Wilmas Zimmer betrat. Sah mich um. „Besser du legst dich in mein Bett. Hier müssen wir noch klar Schiff machen. Das machen wir nachher, wenn ich zurück bin“.
Wilma kam mit in mein Zimmer. Aus Michelles Zimmer holte ich mir meinen Wecker. „Ich muss ja gleich wieder los. Nicht dass ich jetzt voll abratze“. Stellte die Weckzeit ein.
Wilma hatte begonnen sich auszuziehen. „Du könntest auch mit mir schlafen, nicht nur bei mir. Dann bleibst du garantiert wach“. „Nein Wilma. Nein“. „Ganz sicher?“
Ich musste schmunzeln. „Nein. Überhaupt nicht. Aber das sollten wir echt lassen“. Egal wie verlockend sie auch war.
Wilma war eingeschlafen. Richtig. Ich selbst hatte mehr oder minder vor mich hingedöst. Tagsüber zu schlafen war echt nicht mein Ding. Oder ich musste schon richtig „im Eimer“ sein. Dann war das etwas anderes.
Leise drehte ich mich aus dem Bett, nahm meine Kleidung mit nach unten. Kurz darauf sass ich bereits im Auto. Michelle musste abgeholt werden.
Mir kam meine Frage wieder in den Sinn. Ob Michelle nicht einen Führerschein machen wolle? Das wäre in einer Situation wie der jetzigen natürlich sehr hilfreich. Aber so war es nicht. Also machte auch das Grübeln darüber wenig Sinn.
Bereits einige Minuten bevor Michelle an der Eingangspforte des Pflegeheims erschien war ich angekommen. Rauchte mir an’s Auto angelehnt eine Zigarette. Sah den Menschen zu, die das Gebäude verliessen. Einige ebenso wie Michelle in Weiss gekleidet. Andere in Zivilkleidung. Scheinbar Besucher oder Familienangehörige, die ihre Liebsten besucht hatten. Oder Mitarbeiter, die sich bereits umgekleidet hatten.
War das hier überhaupt möglich? Gab es so was wie eine Umkleide bei uns auf der SHELL auch hier für die Mitarbeiter? Und wenn ja, warum nutzte Michelle diese dann nicht? Sondern marschierte komplett „Dienstbereit“ in ihrer Kluft zur Arbeit?
Bereits wenige Meter vor der Eingangstüre erkannte ich Michelle in der grossen Eingangshalle. Das ansonsten, für ihre Arbeit so streng zusammengebundene blonde Haar war „geöffnet“. Fiel über ihre Schultern.
Sie stach ein wenig aus den anderen Menschen hervor. Wegen ihre Körpergrösse.
Und auch wenn sie jetzt eine Hose trug stellte ich mir für einen Bruchteil einer Sekunde ihre Beine vor. „Mein Gott, was hat sie doch für tolle Beine“ seufzte ich leise in mich hinein.
Mit der Begrüssung wollten wir uns gar nicht lange aufhalten. „Steig’ bitte ein“ hielt ich die Beifahrertüre auf. Sehr schnell waren wir nach den ersten Fragen „Wie geht es dir?“ beim Thema das ja jetzt dominierte. „Wie geht es Wilma? Habt ihr was zusammen unternommen?“
Von unserem Tagesablauf berichtete ich Michelle. Spaziergang, ausgiebige Gespräche. Und dass Wilma sich zum Schlafen hingelegt hatte als ich losgefahren war. Das meiste von dem was Michelle mir erzählte flog an einem Ohr in meinen Kopf – und zugleich auch zum anderen wieder heraus.
Selbst als ich angesetzt hatte um mich erneut bei ihr für ihre Unterstützung zu bedanken wiegelte Michelle das sehr schnell ab. „Mann. Das ist doch wohl selbstverständlich. Dafür musst du dich gar nicht bedanken. Dafür sind Freunde doch wohl da“.
„Wilma. Schatz. Wir sind zurück“ rief ich in dem Moment als ich die Haustüre öffnete. Stieg sofort die Treppen hinauf in’s Obergeschoss. Mein Zimmer war leer. Im gleichen Moment hörte ich Michelle rufen. „Wilma ist hier unten. Im Wohnzimmer“.
Immer gleich zwei Stufen nehmend ging ich zurück nach unten. Wilma lag auf der Couch. Angezogen. Anscheinend hatte sie ihren Schlaf unterbrochen, sich angekleidet, und dann einfach auf der Couch weiter gepennt. Sie lag seitlich auf der Couch, das Gesicht zur Rückenlehne gedreht.
„Hallo mein Schatz. Wir sind zurück“ wiederholte ich meine Begrüssung. Wilma rührte sich aber nicht. Leicht streichelte ich über ihre Wange. Michelle riss mich am Arm. „Die hat irgendwas“.
Ihr rechter Arm baumelte bis fast auf den Fussboden herab. Mindestens drei leere Bierflaschen standen auf dem Couchtisch. Daneben eine umgekippte, auf der Seite liegende Flasche „Carlos Primero“, ein spanischer Brandy.
„Oh nein. Wir müssen sofort etwas tun“ schrie mich Michelle laut an. Fuhr mit einer Hand durch einige Medikamentenpackungen die auf dem Tisch lagen.
Thomapyrin, das kannte ich. Weil Wilma es ja vorhin erst in der Apotheke gekauft hatte. Weil sie, wie sie gesagt hatte, über Kopfschmerzen klagte. Michelle hob einige Packungen hoch. „Und das hier? Und das? Was ist das alles?“
Sie beugte sich zu Wilma herunter, tätschelte leicht ihre Wange. „Wilma. Schätzchen“. Aber auch darauf reagierte Wilma nicht. In keinster Weise.
Michelle warf die Medikamentenverpackungen auf den Tisch. „Wir müssen was tun. Wenn sie das alles genommen hat … Und den Schnaps … Wir müssen sofort einen Notarzt rufen“.
Weil ich ja erst selbst vor kurzem im Krankenhaus war, im Medical Center in Spijkenisse, wusste ich, dass das zu lange dauern würde. Bis der Rettungswagen erst bei uns war – und dann wieder zurück nach Spijkenisse musste …
„Setz’ dich ins Auto. Wie fahren selbst. Sofort“.
Schnell hob ich Wilma von der Couch. Michelle hielt mir Haustüre und Autotüre auf. Langsam liess ich Wilma auf den Rücksitz. „Setz’ dich zu ihr. Setz’ dich zu Wilma“.
In rasendem Tempo fuhr ich los. Aber nicht wie sonst erst über Polderwege bis nach Brielle, sondern direkt auf die Schnellstrasse, die vom Haringvlietdam an Vierpolders vorbei nach Zwartewaal führte.
„Fahr’ doch nicht wie Geisteskranker“ hörte ich Michelle. „Halt’ einfach die …“ So gerade eben noch konnte ich vermeiden den Satz zu Ende zu sprechen. „Lass’ mich in Ruhe. Mach’ lieber was“. „Du Arsch. Was soll ich denn machen?“ „Irgendwas Michelle. Irgendwas. Mach’ dass sie wach wird. Gib’ ihr eine Ohrfeige. Oder zwei. Mach’ irgendwas“.
Gerade war ich auf den „Groene Kruisweg“ aufgefahren, der Brielle mit Spijkenisse verband. Durch meine Tränen hindurch erkannte ich verwässert das an uns vorüberziehende Blaulicht eines weissen VW-Bus, der sich direkt vor uns setzte. Mich ausbremste. An seiner Heckklappe blinkte „Stop. Politie“.
Zu beiden Seiten stiegen Beamte aus dem VW-Bus aus. Einer kam zur Fahrerseite, der zweite „sicherte“ auf der Beifahrerseite stehend, mit der rechten Hand sein Pistolenholster haltend, die Kontrolle ab.
„Sind sie wahnsinnig? Hier so zu rasen?“
„Mann. Lass’ mich fahren. Ich muss in’s Krankenhaus“. Unbeeindruckt sah er mich an. „Und da glauben Sie, dass sie einfach hier mit eingeschalteter Warnblinkanlage hier in einem Affenzahn rasen können?“
„Klootzak. Vuile Klootzak. Rot op. Verdomme“. Unvermittelt, sowohl für ihn als auch mich selbst, fuhr ich aus der Haut, brüllte den Beamten an. „Ich muss in’s Krankenhaus. Sofort. Geh’ mir aus dem Weg. Sofort“.
Michelles Stimme, die vom Rücksitz nach vorne drang, „Bitte. Das ist ein Notfall“, machte den Beamten aufmerksam. Er sah zur Rückbank. Registrierte, dass Michelle Wilmas Kopf im Schoss hielt. Natürlich nicht, dass es Wilmas Kopf war. Sondern eben der Kopf einer anderen Frau, die auf der Rückbank lag.
„Sind Sie Ärztin?“ Diese Frage war sicherlich dem Umstand geschuldet, dass Michelle ihre weisse Kluft trug. „Ja. Doktor De Boer“ log Michelle in an.
Mit einer Handbewegung wies er seinen Kollegen an in den VW-Bus zu steigen. „Sie fahren jetzt hinter uns her“. Eilte zum VW-Bus. Fuhr los. Mit Blaulicht und Tatü-Tata. Sofort „klebte“ ich den Ford Escort an seine Heckstossstange. So als ob ein dicker Magnet uns jetzt an dem VW-Bus festhielt.
Vor dem Medical Center eilte einer der beiden sofort zur Notaufnahme. Kam mit einigen Personen und einem mobilen Bett wieder heraus. Zwei dieser Personen hievten Wilma aus dem Escort heraus. Michelle begann sofort mit einem anderen zu reden. Zog die Medikamentenpackungen aus ihrer Jackentasche.
Der Typ fragte auch gar nicht weiter. Schob Michelle in den Pulk hinein. Alle verschwanden durch eine sich automatisch öffnende Glastüre. Ich blieb mit den beiden Beamten der Rijkspolitie zurück. Erst jetzt forderten sie mich auf meine Ausweis- und Fahrzeugpapiere zu zeigen.
Während einer der beiden emsig Notizen machte war der, der zuvor an mein Fenster getreten war, an meine Seite gekommen. „Das gibt eine Anzeige. Wegen überhöhter Geschwindigkeit. Mindestens. Wenn nicht sogar mehr“. Regungslos sah ich ihn an, während er sich von seinem Kollegen meine Papiere aushändigen liess. „Sie melden sich morgen auf der Wache. In Rockanje. Ist das klar?“
Eine Hand legte er auf meine Schulter. „Gehen Sie rein … Und das mit dem vuile Klootzak habe ich einfach mal überhört“.
Weder „Danke“ noch sonst irgendetwas konnte ich ihm entgegnen. Auch sein Hinweis auf „Das gibt eine Anzeige“ war mir so was von egal.
Die automatische Türe zur Notaufnahme öffnete sich zwar, eine Person in Weiss verweigerte mir aber sofort den Zugang. „Warten sie in der Empfangshalle. Da kommt dann jemand zu Ihnen“.
„Das ist meine Freundin …“ stammelte ich. „Warten Sie bitte am Empfang. Es kommt jemand zu Ihnen“ wiederholte die Person.
Wie in einem sehr nebligen Film lief ich in die grosse und hell ausgeleuchtete Rezeption des Medical-Centers. Bat am Empfangstresen um Informationen. Konnte aber nichts Konkretes zur Klärung beitragen. Nicht einmal ob die Person die mich angewiesen hatte hier zu warten männlich oder weiblich war.
„Wenn man Ihnen gesagt sie möchten hier warten, dann kommt auch jemand zu Ihnen. Haben Sie einen Moment Geduld“.
Das war aber genau das was ich gerade nicht hatte. Geduld. Auf jede in Weiss gekleidete Person die die Halle betrat ging ich direkt zu. Aber ausser Achselzucken bekam ich keine Reaktion. Maximal den sicherlich nett gemeinten Hinweis „Haben Sie Geduld. Das dauert noch ein wenig“.
Gefühlt hatte ich bereits die Strecke Spijkenisse – Rockanje mehrfach in der Empfangshalle abgeschritten. Es war mir unmöglich „Ruhig“ zu bleiben. Dann – endlich kam ein in Weiss gekleideter Mann auf mich zu. Neben ihm Michelle, die direkt auf mich zu lief. „Es geht ihr gut. Wilma ist okay“. Mein Tränendamm brach auf. Ergoss sich über mein Gesicht.
Der Mann stellte sich als „Doktor soundso“ vor. Erklärte, dass man Wilma den Magen ausgepumpt hatte, ihr irgendwas gegeben hatte.
Was genau er sagte kam nach „Es geht ihr gut“ sowieso nicht mehr bei mir an.
„Sie können dann hoch gehen. Auf Station 251. Dort bringen wir ihre Freundin dann. Sie muss auf jeden Fall hierbleiben. Zur Beobachtung. Bis sie wirklich stabil ist“.
Mit einer Hand schob er Michelle leicht vor, grinste. „Frau Doktor … Schwester … Frau De Boer bleibt bei Ihnen“.
Bevor er sich verabschiedete drehte er sich noch einmal zu Michelle. „Gut, dass Sie da waren. Gut, dass Sie sofort reagiert haben“.
Michelle griff meine Hand. „Ich muss jetzt unbedingt mal eine rauchen. Lass’ uns mal nach draussen gehen. Wir können sowieso nichts machen. Ausser warten“.
Vor dem Eingang liess ich meinen Tränen, meiner Erleichterung freien Lauf. Presste mein Gesicht in Michelles Hals. „Danke. Dass du das alles gemacht hast. Dass du mit reingegangen bist. Dass du den Polizisten belogen hast“. Michelle hob meinen Kopf an. Lachte mich an. „Du überschwemmst mich ja fast“. Wischte mit einer Hand meine Tränen von ihrer Schulter. Fasste mein Gesicht in ihre Hände, küsste meine Tränen auf. „Es ist alles gut. Das haben wir gemeinsam geschafft. Nicht ich. Wir beide“.
„Verdammt. Warum hat sie das gemacht? Was soll die Scheisse?“
„Schsch. Alles ist gut. Es ist alles in Ordnung. Wilma geht es gut“. Michelle nahm mich in den Arm. „Wenn wir nachher zu ihr dürfen bist du einfach nur nett zu ihr. Machst ihr keine Vorwürfe. Oder bist böse. Gar nichts. Du bist einfach nur nett“. Sie sah mich an. „Hast du die Frau Doktor verstanden?“ „Ja Frau Doktor De Boer“. Michelle grinste.
Vor dem Haupteingang waren rechts und links Sitzbänke. Michelle führte mich dort hin. „Meine Fresse. Das waren jetzt echt zwei anstrengende Tage, oder?“ Michelle legte eine Hand auf mein Bein. „Du zitterst volle Pulle. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“