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Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!
Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!
Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Chefarzt Dr. Holl 1775: Abschied von Christine
Notärztin Andrea Bergen 1254: Dein Kuss sagt mehr als tausend Worte
Dr. Stefan Frank 2208: Endlich bist du da!
Dr. Karsten Fabian 151: Wenn rote Rosen welken ...
Der Notarzt 257: In deinen Armen
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 578
Katrin Kastell, Hannah Sommer, Stefan Frank, Ulrike Larsen, Karin Graf
Die besten Ärzte 10 - Sammelband
Cover
Impressum
Abschied von Christine
Vorschau
Abschied von Christine
Dr. Holl und das Vermächtnis einer jungen Frau
Von Katrin Kastell
Seitdem Christine Rendlinger vor sieben Jahren ihr Elternhaus und Deutschland verlassen hat, hegen ihre Eltern einen tiefen Groll gegen sie. Als älteste Tochter sollte sie den elterlichen Gärtnereibetrieb übernehmen, und Hermann Rendlinger duldet es nicht, wenn sich jemand seinem Willen widersetzt.
Inzwischen sind die Rendlingers richtiggehend verbittert und wollen von Christine nichts mehr wissen. Selbst als sie erfahren, dass ihre Tochter zurückgekehrt ist und in der Berling-Klinik im Sterben liegt, können sie ihr nicht verzeihen. Und auch ihre entzückende kleine Enkeltochter Nella, die plötzlich vor ihnen steht, kann ihre Herzen nicht erweichen. Dabei hat Christine nur den einen Wunsch, in Frieden zu sterben und ihre Kleine bei ihrer Familie in guten Händen zu wissen.
Dr. Holl bemüht sich, eine Versöhnung zwischen Christine und den Eltern herbeizuführen. Doch wird ihm das gelingen? Viel Zeit bleibt nicht mehr …
Es war so still im großen Salon des Hauses Rendlinger, dass man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören. Ludovica Rendlinger hatte den Tisch mit strahlendweißem Damast decken lassen und das mit Gold geränderte Geschirr aus dem Schrank geholt. Die festliche Kerzendekoration schenkte keine Wärme. Die Atmosphäre war so unterkühlt, dass fast die Gefahr bestand, die dampfende Suppe in den Tellern würde in der nächsten Sekunde zu Eis gefrieren.
„Schmeckt es dir nicht, Friederike?“, erkundigte sich Ludovica Rendlinger spitz. „Du bist doch nicht etwa schwanger?“
Sie wedelte sich mit ihrer Serviette Luft zu.
„Mama, bitte!“ Ricky Grevener mochte es nicht, wenn ihre Mutter sie beim vollen Namen nannte. Und die Frage nach der Schwangerschaft konnte sie schon lange nicht mehr hören.
„Oh, verzeih, die Dame ist ja gleich gekränkt bei diesem Thema!“, entgegnete Ludovica in klirrendem Ton und klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch.
Robert Grevener warf seiner Frau einen beruhigenden Blick zu.
„Lass Ricky in Ruhe, Mutter. Du änderst nichts an den Gegebenheiten.“
„Und du hättest dich besser um Christine kümmern sollen“, gab Ludovica erbost zurück. „Dann hätten wir längst einen Enkel und Erben für die Gärtnerei!“
Hermann Rendlinger räusperte sich. „Lu, mein Engel, lass uns in Ruhe essen! Es ist dein Geburtstag.“ Er griff nach dem schillernden Weinglas und hielt es seiner Frau entgegen. „Ich möchte auf dein Wohl trinken!“
Er tat so, als säße seine Tochter nicht neben ihm, ja, als wäre Friederike gar nicht da.
So war es immer, dachte die junge Frau verbittert. Ihre Eltern hatten ihr nie verziehen, dass sie kein Junge war. Und Christine, ihrer älteren Schwester, dem geliebten Prinzesschen, hatte sie nie das Wasser reichen können. Zumindest nicht in den Augen der Eltern. Dass sich dann auch noch Robert in sie verliebt hatte, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Rendlingers hatten ihn als Ehemann für die ältere Tochter vorgesehen. Und im Hause Rendlinger zählten, so lange sie denken konnte, nur die Anordnungen des Hausherrn.
Ludovica klingelte mit dem kleinen Porzellanglöckchen.
„Wanda, bringen Sie bitte den Braten“, ordnete sie an, als die Haushälterin erschien. „Die Suppe bekommt meiner Tochter nicht!“
Friederike wartete, bis Wanda das Esszimmer wieder verlassen hatte.
„Du hättest Christine zuhören sollen, Mama, und du auch, Papa. Ihre Wünsche und Vorstellungen haben euch nicht interessiert. Es dürfte euch nicht wundern, dass sie weggegangen ist!“
Hermann Rendlinger schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Schluss jetzt! Wie redest du denn mit uns? Im Übrigen will ich den Namen dieser … dieser Dame nicht mehr hören!“
„Diese Dame ist ebenso deine Tochter wie ich“, hielt Ricky ihm entgegen und legte ihre Serviette zusammen. „Ich bin froh, dass ich keine Kinder bekommen kann. Es wäre für mich unvorstellbar, sie in dieses Haus zu bringen!“
„Friederike!“, kreischte Ludovica auf.
„Bitte, Robert, lass uns gehen!“
Das ließ Robert Grevener sich nicht zweimal sagen.
„Wir wünschen euch noch einen angenehmen Abend“, sagte er mit unterkühlter Höflichkeit und legte den Arm um seine Frau. Er nickte den verblüfften Schwiegereltern kurz zu und verließ mit Ricky das Haus, das seit vielen Jahren täglich mehr einem Eiskeller glich.
„Ich glaube, sie haben nicht mehr gelacht, seit Christine verschwunden ist“, sagte Ricky leise. „Es ist so traurig!“
„Das gibt ihnen aber nicht das Recht, dich so schlecht zu behandeln. Du bist schließlich auch ihre Tochter …“
„… die sie nie geliebt haben, weil sie kein Sohn war!“
„Ach, Liebling, ich wünschte, sie würden begreifen, welch eine wunderbare, kluge und großherzige Frau du bist!“
Robert gab sich Mühe, sich den Groll, den er hegte, nicht anmerken zu lassen. Er wusste, dass er schon immer der Wunsch-Schwiegersohn der Rendlingers gewesen war. Doch in den Augen seiner Schwiegereltern hatte er sich für die falsche Tochter entschieden.
Am liebsten wäre es dem Gärtnereichef gewesen, wenn Robert in seiner Firma eine Ausbildung gemacht hätte. Fast zähneknirschend hatte sich Hermann damit abgefunden, dass der junge Mann lieber studiert hatte und dann in die Steuerkanzlei seines Vaters eingestiegen war. Der alte Rendlinger hatte seit jeher nur seine eigenen Wünsche und Vorstellungen gekannt und sie stets durchzusetzen versucht.
Trotz aller Strenge und vielen Streitgesprächen oder Strafen hatte er bei seinen Töchtern versagt, wie er es nannte. Sie hatten ihren eigenen Kopf und völlig andere Lebenseinstellungen als die, die ihr Vater vorgegeben hatte.
Ricky und Robert hatten sich lange Zeit nur heimlich getroffen. Christine hatte ihnen geholfen und den Liebenden den Freiraum gegeben, den sie brauchten, um nicht entdeckt zu werden. Nachdem ihre große Schwester München verlassen hatte, hatten sich Friederike und Robert zu ihrer Liebe bekannt. Es war ein langer und steiniger Weg gewesen, bis sie endlich glücklich sein durften.
Glücklich? Ach, es war ein so zerbrechliches Glück!
„Ich werde noch mal zu Dr. Holl gehen“, meinte Ricky leise. „Ich habe zwar wenig Hoffnung, dass er uns helfen kann. Aber ich will nichts unversucht lassen …“
„Ich liebe dich, wie du bist“, erwiderte Robert mit fester Stimme. „Wir werden auch ohne ein eigenes Kind ein glückliches Leben führen!“
Er zog seine Frau in seine Arme und hielt sie so fest, dass ihr fast die Luft wegblieb.
***
„Es war so peinlich“, stellte Ludovica mit scheinbar versagender Stimme fest und nippte an ihrem Weinglas. Die Erinnerung nahm ihr fast die Luft zum Atmen. „Wir hätten diese Hochzeit verhindern müssen!“
Hermann seufzte unhörbar. „Wir konnten nichts tun, Lu“, erwiderte er endlich dumpf. „Friederike war bereits volljährig. Es war unerhört, was sie sich geleistet hat. In aller Öffentlichkeit! Sie hat uns schlichtweg vorgeführt. Ans Geschäft hat sie ja nie gedacht. Und nun müssen wir sehen, wie wir mit der Gärtnerei zurechtkommen. So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Ich möchte auch mal zur Ruhe kommen. Na ja, vielleicht hat der Lennart Interesse. Was meinst du?“
Lennart Kaluscha arbeitete schon mehrere Jahre beim Rendlinger und war längst dessen rechte Hand und sein Stellvertreter, mit dem der Chef sehr zufrieden war.
„Ich versteh’s nicht“, schluchzte Ludovica verzweifelt. „Unser Christinchen sollte dich beerben und sonst keiner!“
Dass sie sich so gehen ließ, war schon besorgniserregend. Ludovica Rendlinger hatte sich normalerweise immer im Griff und ließ sich keine Regung anmerken. Aber heute war ihr Geburtstag, da war sie besonders empfindlich. Sie fühlte sich schrecklich schutzlos und ausgeliefert und konnte sich gegen die immer wieder aufkeimenden Bilder und Sehnsüchte nicht wehren.
„Ach, was sollen wir mit der Gärtnerei, meine Liebe? Ich habe lange nachgedacht. Selbst wenn sie … nun, wenn Christine wiederkäme, wollte ich sie nicht mehr in meiner Nähe sehen, nach allem, was sie uns angetan hat.“
Ludovica hatte sich wieder ein bisschen beruhigt. Sie tupfte sich Augen und Nase mit einem Spitzentüchlein ab.
„Willst du nicht doch noch einmal mit Friederike reden? Sie könnte ganz gut in der Gärtnerei arbeiten, wo sie doch keine Kinder hat. Sie hat so schöne Sträuße gebunden, weißt du noch? Und der Robert kann sich um die Buchführung kümmern …“
„Nein!“, donnerte Hermann Rendlinger. „Das kommt nicht infrage!“ Er holte tief Luft und fuhr dann ruhiger fort: „Liebes, wenn die beiden tatsächlich auf unser Angebot eingingen, was ich beim besten Willen nicht glaube, so würden unsere Probleme damit nur hinausgeschoben.“
„Aber nach dieser unmöglichen Hochzeit erwarten die Leute doch, dass die Familie zusammensteht …“
Hermann hatte Mühe, einen neutralen Ton anzuschlagen, einen, dem man seine Empörung nicht anmerkte – Ludovica zuliebe. Sie hatte sich vom Verlust ihrer geliebten Tochter noch nicht erholt.
Dass Christine lebte und nur eben woanders wohnte – wo auch immer –, spielte dabei keine Rolle. Verlust war Verlust!
„Danach können wir uns nicht richten, Lu!“
„Wir hätten gar nicht erst hingehen sollen!“ Sie seufzte herzergreifend.
Hermann stöhnte. Die Erinnerung an die Hochzeit von Robert und Friederike setzte auch ihm immer noch zu.
„Dann hätte es noch mehr übles Gerede gegeben! Du weißt doch, wie die Leute auf dem Dorf sind. Wir hätten die Gärtnerei schließen können.“
Von Wut erfüllt dachte Ludovica an die Feier zurück. Sie schloss die Augen und sah ihre jüngste Tochter wieder vor sich, eine zauberhafte Braut mit glücklich strahlenden Augen, die sie ihr am liebsten ausgekratzt hätte, weil das Strahlen dem Mann galt, der für Christine bestimmt war!
Es war ja nicht so, dass Ludovica ihrer Jüngsten kein glückliches Leben gegönnt hätte. Irgendwie liebte sie Friederike, auch wenn sie es dem Mädel nie hatte zeigen können. Die Rendlingers hatten halt auf einen Erben gehofft. Die süße kleine Ricky hatte den Eltern nie das geben können, was sie erwarteten – einen halben Jungen. Sie war ein typisches kleines Mädchen gewesen, das mit Puppen spielte und von Autos oder anderem Jungenspielzeug nichts wissen wollte. Zu den Feiertagen, an denen Blumengeschäfte überrannt wurden, hatte Friederike ausgeholfen, wenn auch unter Zwang. Aber das war den Eltern zu wenig. Und außerdem hatten sie schon eine Erbin für die Gärtnerei: Christine.
Christine, die so gern sang und von einer Gesangskarriere träumte …
Wieder seufzte Ludovica tief. „Wenn ich doch noch ein Kind hätte haben dürfen – es wär bestimmt ein richtiger Bub geworden …“
„Und wenn Friederike ihrer Schwester nicht den Mann gestohlen hätte, hätten wir längst alles, was wir uns wünschen“, setzte Hermann grollend hinzu. „Du hast genug mit deiner Gesundheit zu tun, Liebling. Ich bin froh, dass ich dich habe behalten dürfen!“
Der alte Professor Berling hatte Ludovica Rendlinger bei der Geburt Friederikes zum Glück beigestanden. Um ein Haar wäre ihm die junge Mutter unter den Händen gestorben. Der Professor hatte sie mit Müh und Not retten können, was die Rendlingers ihm immer gedankt hatten. Bis heute ging jedes Jahr zu Weihnachten eine großzügige Spende für den Fond der Klinik ein, der dazu diente, die Geburtsstation immer wieder den modernen Maßstäben anzupassen und für Problemfälle die Kosten zu übernehmen.
Ludovica Rendlinger war auch mit dem Nachfolger des Professors, nämlich dessen Schwiegersohn Dr. Stefan Holl, zufrieden und hatte dafür gesorgt, dass ihre Töchter für ihre Vorsorgeuntersuchungen die Berling-Klinik aufsuchten.
„Wenn er doch der Friederike helfen könnte …“
„Wer?“, fragte Hermann irritiert.
„Na Doktor Holl!“
„Ja …“ Was sollte er darauf antworten? „Geh, liebste Lu, jetzt reicht’s mit dem Trübsal blasen! Über den Ärger können wir morgen immer noch reden. Heute ist dein Geburtstag. Jetzt trinken wir ein gutes Glas Sekt und machen Urlaubspläne!“
Resolut führte er seine Frau ins Wohnzimmer zu ihrem Lieblingssessel und reichte ihr das edle Kristallglas. Wanda, die Haushälterin, hatte rechtzeitig alles so vorbereitet, dass der Hausherr ihr zufrieden zunickte.
„Trinken Sie mit uns, Wanda! Auf den Geburtstag meiner Lu!“ Für einen Moment schoss es ihm bitter durch den Kopf: Es ist ja sonst niemand da! Doch dann hatte er sich wieder im Griff. „Auf dein Wohl, mein Herz! Und auf unseren Urlaub!“
***
Im Sprechzimmer des Chefarztes der Berling-Klinik war es bedrückend still. Selten tat es Dr. Stefan Holl so leid wie dieses Mal, als er wieder einmal eine traurige Mitteilung machen musste.
„Nun schauen Sie nicht so, Herr Doktor!“ Ricky Grevener versuchte, ihre Angst zu überspielen, und hielt sich am Arm ihres Mannes fest. „Es hat halt wieder nicht sein sollen. Ich weiß es ja schon!“
„Ich wünschte mir sehr, dass ich Ihnen helfen könnte …“, sagte Stefan Holl und sah seine Patientin mitfühlend an.
„Irgendwann wird es schon klappen“, warf die junge Frau scheinbar leichthin ein, doch der erfahrene Arzt hörte dennoch die Tränen in ihrer Stimme.
„Ich fürchte, dass es nicht so einfach ist.“
Erschrocken sah Ricky Grevener ihn an.
„An meinem Mann liegt es nicht. Er hat sich untersuchen lassen. Meine Eltern haben darauf bestanden.“
„Ich hab’s für dich getan, Liebes, für uns“, widersprach Robert Grevener leise.
„Ach, Robert!“ Ihre Stimme brach. Sie knetete ihre Finger und vermied es, den Klinikchef anzusehen. Sie hatte das Gefühl, als könnte er sonst bis in ihre Seele sehen.
„Ich weiß, wie sehr Sie sich ein Baby wünschen“, setzte Dr. Holl erneut an. „Mittlerweile haben wir alle nur möglichen Untersuchungen abgeschlossen. Sie waren sehr tapfer, Frau Grevener, und haben alle Tests durchgehalten.“
„Aber?“, warf Ricky fragend ein.
„Inzwischen kennen wir den Grund für Ihre Unfruchtbarkeit“, fuhr Dr. Holl sachlich fort. „Bei unserem letzten Gespräch haben Sie mir erzählt, dass Sie während eines Auslandsaufenthalts eine Eierstockentzündung hatten und mit Antibiotika behandelt wurden. Leider haben Sie mir diese Vorerkrankung zu spät mitgeteilt.“
„Ach, das war doch nichts. Ich habe mich damals rasch davon erholt“, meinte Ricky verwundert. „Ich habe mich brav ein paar Tage ins Bett gelegt, wie der Arzt es wollte, und meine Medikamente genommen, bis alles vorbei war.“
„So einfach ist das nicht. Eine Adnexitis ist nicht ungefährlich. Auch nach Jahren können noch Spätfolgen auftreten, wenn die Behandlung nicht gründlich genug durchgeführt wurde. Und damit haben wir es bei Ihnen leider zu tun.“
„Was sind das für Folgen?“, wollte Robert Grevener hastig wissen.
„Es tut mir unendlich leid: Die Krankheit kann zu Unfruchtbarkeit führen.“
„Aber ich habe doch alles getan, was der Arzt gesagt hat!“ Und dann war nur noch das leise Schluchzen von Friederike Grevener zu hören. Es dauerte eine Weile, bis sie sich ein wenig beruhigte und leise zu erzählen begann.
Eine ganze Weile war es ihr sehr schlecht gegangen. Sie hatte in England einen dreimonatigen Sprachkurs besucht. In dieser Zeit war sie erstmals erkrankt. Der englische Arzt hatte ihr eindringlich geraten, sich in Deutschland weiterbehandeln zu lassen.
„Ich hatte doch nichts mehr, und meine Mutter fand es albern, dass ich wegen des bisschen Bauchwehs zu Ihnen gehen wollte. Du stellst dich an, sagte sie. Du willst nur die Aufmerksamkeit auf dich lenken …“ Sie brach ab, putzte sich die Nase und fuhr dann fort: „Ja, ja, ich wusste ja immer schon, dass sich eine Rendlinger keine Blöße geben darf! Die Schmerzattacken haben sich dann noch ein paarmal wiederholt, bis endlich alles wieder gut war. Ich habe nicht mehr daran gedacht. Was ich wirklich hatte, wusste ich nicht.“
„Und jetzt?“, fragte ihr Mann fassungslos. „Kann man denn gar nichts mehr machen?“
„Nicht viel. Nachdem die Urin- und Blutuntersuchungen auf eine chronische Entzündung hinweisen, empfiehlt sich eine Spiegelung der Bauchhöhle, eine Laparoskopie, die in Narkose durchgeführt wird. Sie ermöglicht eine direkte Beurteilung der Eierstöcke und Eileiter sowie der benachbarten Organe. Auf diesem Weg kann ich auch einen Abstrich entnehmen und den Erreger nachweisen.“
„Wenn Sie das alles schon wissen, können Sie mir dann nicht Medikamente geben, damit diese ewigen Schmerzen aufhören?“, wollte Ricky wissen.
„Das habe ich mir fast gedacht, meine Liebe.“ Dr. Holl nickte mit bedauernder Miene. „Ihre Mutter hat Sie so sehr beeinflusst, dass Sie mir von Ihren Schmerzen nichts erzählt haben!“
„Das war nicht weiter schlimm … Ich meine, das war mehr so ein Druckgefühl …“
„Ein Zeichen dafür, dass die Adnexitis bereits chronisch ist“, stellte der Arzt fest. „Wir müssen praktisch von vorn anfangen und eine Behandlung mit einem Breitband-Antibiotikum beginnen. Im Anschluss daran werde ich ein auf Sie zugeschnittenes Antibiotikum auswählen. Zusätzlich erhalten Sie auch schmerzlindernde Medikamente.“
„Glauben Sie, dass ich dann doch noch mit einer Schwangerschaft rechnen kann?“, wollte Ricky mit banger Stimme wissen.
„Ich kann Ihnen keine Versprechungen machen, Frau Grevener. Aber ich werde alles daransetzen, um Ihnen beiden zu helfen!“
„Wichtig ist doch, dass du wieder gesund wirst“, sagte Robert und drückte die Hand seiner Frau. „Ich liebe dich, und es ist mir längst egal, ob du schwanger wirst oder nicht!“ Er wandte sich an Dr. Holl. „Warum konnten Sie erst jetzt feststellen, was meine Frau belastet?“
„Ihre Frau gehört zu den Patienten, die ihre Schmerzen sehr gut unterdrücken können. Dazu gehört jahrelange Übung. Ihr größtes Problem ist, dass sie sich nichts anmerken lassen will – und das auch schafft. Wenn eine chronische Krankheit ruht, ist sie nur sehr schwer festzustellen. Und wenn eine Patientin so stark ist wie Frau Grevener, stehen die Chancen noch schlechter, rechtzeitig einzugreifen.“
„Es tut mir leid“, schluchzte Ricky verzweifelt. Sie begriff erst jetzt, dass sie kaum noch eine Chance auf ein eigenes Kind hatte. „Wie ich meine Mutter hasse!“
Dr. Holl reichte ihr ein Päckchen Papiertaschentücher.
„Versuchen Sie, positiv zu denken, auch wenn sich das jetzt schrecklich anhört. Worte trösten nicht. Schauen Sie nach vorn und lassen Sie uns gemeinsam auf die Zukunft hinarbeiten. Für die Laparoskopie sprechen Sie bitte mit Frau Wolfram einen Termin ab. Erst danach werden wir über alle weiteren Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten reden.“
„Das haben Sie nett ausgedrückt, Herr Doktor“, sagte Friederike Grevener voller Bitterkeit. „Und Sie haben recht. Die Zukunft ist jetzt wichtiger als alles andere. Aber dennoch, was auch immer daraus wird, ich werde meiner Mutter nie verzeihen!“
Bedauernd sah Dr. Holl dem Paar hinterher. Er kannte Frau Rendlinger und wusste, wie sehr sie ihre Tochter unter Druck setzte. Sie hatte auch schon versucht, ihn entsprechend zu beeinflussen. Was er alles hätte tun sollen …
Er schüttelte den Kopf und seufzte, ehe er das aufdringlich klingelnde Telefon zur Kenntnis nahm und sich meldete.
Im nächsten Augenblick erblasste der gestandene Klinikchef, was ungeheuer selten vorkam.
„Das darf nicht wahr sein!“, stieß er entsetzt hervor. „Ich komme sofort!“
***
Dr. Holl gelang es, in aller Eile seine Termine für diesen Tag zu verschieben. Zum Glück standen weder eine Geburt noch eine Operation an. Und so machte er sich rasch auf den Weg nach Rottach.
Noch immer konnte er nicht fassen, was sein Schwager, Dr. Axel Lassow, ihm am Telefon gesagt hatte. Ins Ferienhaus der Holls war eingebrochen worden. Julia war von der Polizei informiert worden. Da sie ihren Mann nicht von seinen Patienten wegholen wollte, hatte sie ihren Schwager um Hilfe gebeten. Dr. Lassow, der Rechtsanwalt und rechtliche Vertreter der Familie, war umgehend mit Julia und dem Holl-Spross Chris nach Rottach gefahren.
Nun standen sie in dem fast völlig leer geräumten Haus, wütend, fassungslos, schockiert. Als Stefan Holl eintraf, verabschiedeten sich Alois Schieder, der Polizist, und seine Kollegin gerade.
„Wir haben alles aufgenommen und fotografiert, Doktor“, erklärte er mit tiefem Bedauern in der Stimme. „Jetzt müssen Sie noch eine genaue Liste machen von den fehlenden Sachen, die Sie dann der Versicherung übergeben. Es ist eine Schande, was hier in den letzten Monaten passiert!“
Dr. Holl brauchte einen Moment, ehe er seine Julia in die Arme schließen konnte. Wie hätte er sie trösten sollen? Was immer er sagte, es änderte nichts an den Geschehnissen. Auch der Hinweis, dass sie eine Versicherung hatten, die für den Schaden aufkam, half kein bisschen.
„Stefan, sie hatten ihre Finger in unseren Schränken“, sagte Julia so leise, dass man sie kaum verstehen konnte. „Es war fast alles hier, was wir im Urlaub brauchen …“
Es sollte der erste gemeinsame Urlaub der Holls seit Langem sein. Julia hatte bereits an den letzten Wochenenden regelmäßig Kleidung und Gebrauchsgegenstände, die ihr in Rottach wichtig waren, hingebracht. Offenbar wollte sie ihrem Mann auf diese Weise klarmachen, dass er sich auf gar keinen Fall vor den erholsamen Tagen dort drücken konnte. Eine größere Urlaubsreise ins Ausland wollten sie nicht planen, weil sie hofften, dass ihre beiden Großen, die inzwischen erwachsenen Zwillinge Marc und Dani, aus England zu Besuch kamen.
„So ein Chaos! Eine Katastrophe!“ Chris hatte gerade festgestellt, dass sein Tablet, ein Geschenk seines Großvaters, ebenso gestohlen war wie Jujus kleine Fototasche. Sie hatten beides am letzten Wochenende schlicht vergessen, wieder mitzunehmen.
„Am besten geht ihr gemeinsam von Zimmer zu Zimmer und macht eine möglichst genaue Aufstellung von dem, was fehlt“, schlug Axel Lassow vor und bemühte sich, sachlich zu sprechen. Doch auch ihn machte der Einbruch betroffen ebenso wie der Gedanke, dass Fremde alles angefasst und vielleicht sogar aus dem einen oder anderen Glas getrunken hatten.
„Dürfen wir denn schon aufräumen und alles durchsuchen?“, wollte Stefan wissen.
„Sowohl der Schieder als auch ich, wir haben alles fotografiert. Mehr kann man jetzt nicht tun“, erwiderte Axel Lassow.
„Und die Fingerabdrücke?“ Chris wollte sich gar nicht beruhigen.
„Die hatten wohl Handschuhe an, meinte der Schieder. An der Haustür und am kleinen Seitenfenster gibt es zwar Einbruchspuren, aber keine brauchbaren Fingerabdrücke. Da war alles mit Dreck verwischt. Den Rest von einem Baumwollhandschuh hat er vorsichtshalber mitgenommen.“
„Hoffentlich hat er ihn auch eingetütet“, murmelte Chris, der Krimis jeder Art liebte und daher genau Bescheid wusste, was zu tun war. Aber einen Krimi zu lesen oder im Fernsehen zu sehen, war etwas anderes, als ihn am eigenen Leib zu erleben.
Mit der Küche waren sie schnell fertig. Alle elektrischen Kleingeräte fehlten, Kaffeemaschine, Bügeleisen, Mixer, Toaster, Mikrowelle und so weiter.
„Ja mei, wie sollen Sie da kochen?“ Hermine Gruber, die Nachbarin, die seit vielen Jahren den Haushalt der Familie mitversorgte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und brach in lautes Schluchzen aus.
Sie war es, die den Einbruch entdeckt und gemeldet hatte. Am liebsten wäre es ihr gewesen, sie hätte alle Spuren verschwinden lassen können, ehe ihre Frau Doktor sie hätte sehen müssen.
„Gleich kommt die Marie vom Söller-Bauern und hilft, ein bisserl Ordnung zu schaffen. Wir putzen das ganze Haus, Frau Doktor, machen Sie sich net zu viele Sorgen!“, sagte sie und tätschelte Julias Wange.
Julia Holl war immer noch wie erstarrt. Sie konnte gar nicht klar denken. Wut, Entsetzen und Ekel beherrschten sie bis ins Innerste. Mit ungelenk staksigen Schritten ging sie ins Schlafzimmer. Auf dem alten Schaukelstuhl, einem Erbstück von Stefans Urgroßmutter, dessen Wert die Diebe glücklicherweise nicht erkannt hatten, brach sie zusammen.
So hatte Stefan Holl seine immer starke und tapfere Julia noch nie erlebt. Sie war untröstlich.
„Liebes, wir kriegen das wieder hin!“ Er zog sie zu sich hoch und nahm sie in die Arme. „Was immer dir fehlt, wir kaufen es neu!“
„Ach, Stefan, du kannst keine Erinnerungen kaufen. Diese Kerle haben meine silbernen Sandaletten mit den Perlen und den bunten Glassteinen mitgenommen, die du mir am Gardasee gekauft hast.“
„Dann fahren wir wieder dahin!“
„Mein neues Abendkleid, dein guter Anzug und die Seidenkrawatten aus Venedig …“
Julia begann, alles aufzuzählen, was in dem offen stehenden Kleiderschrank fehlte.
„Möchtest du ein leichtes Beruhigungsmittel haben?“ Stefan machte sich Sorgen um seine Frau. „Meine Arzttasche ist im Auto …“ Plötzlich starrte er erschrocken auf den kleinen Medizinschrank hinter der Türe, der vollkommen ausgeräumt worden war. „Das ist ja wohl …“
Julia folgte seinem Blick. „O Gott! Zum Glück hatten wir nichts anderes darin als das, was in einem normalen Erste-Hilfe-Schrank in jedem Haushalt steht. Starke Medikamente haben sie nicht gefunden.“
Auch wenn sie beide immer noch weiche Knie hatten und sehr unruhig waren, bemühten sie sich nun, rasch das offensichtlich Fehlende zu notieren. Einzelheiten, die ihnen später noch einfielen, konnten sie daheim hinzufügen.
Nach mehr als einer Stunde bot Axel Lassow an, seine Schwägerin wieder nach Hause zu bringen.
„In unseren Zimmern herrscht das Chaos“, seufzte Julia. „Wir hatten noch nichts hergebracht, sodass sie sich mit ein bisschen Bettwäsche und Handtüchern begnügen mussten.“
„Vielleicht sind die Diebe auch gestört worden“, überlegte Chris. „In meinem Zimmer fehlt nur das, was offen herumlag.“
„Was die bloß mit der Wäsche wollen“, überlegte die Gruberin empört. „Es ist eine Schande!“
„Lassen wir es dabei“, sagte Julia bestimmt. „Wir können nicht ergründen, wer was und warum getan hat. Ich fahre mit Axel zurück. Chris sollte bei dir bleiben, Stefan. Wir sind alle zu aufgeregt. Da ist es besser, nicht allein im Auto zu sitzen.“
Stefan hörte zwar die Tapferkeit in ihrer Stimme, sah aber auch die Tränen in ihren Augen.
„Liebes, mach dir keine Sorgen. Chris und ich fahren noch einmal bei der Polizei vorbei. Und das Haus überlassen wir der Gruberin und der Söller-Marie.“
Es war ein bitteres Gefühl, als sie das Haus, das so viele Jahre ihr sicherer Hort gewesen war, verließen. Niemand konnte sagen, wie lange es dauern würde, bis sie sich hier wieder so zu Hause und aufgehoben fühlen würden wie vor dem Einbruch. Dass sein Magen rebellierte, verschwieg der Klinikchef tunlichst.
Da er von Alois Schieder und seinen Kollegen nichts Neues erfuhr, machte er sich mit Chris auf den Heimweg.
„Wir schauen noch einmal beim Haus meines Schwiegervaters vorbei“, erklärte er zum Abschied. „Dann sind wir wieder in München zu erreichen!“
„Wir werden künftig noch öfter Streife fahren“, versprach der Schieder.
Ob das Stefan beruhigte, hätte er nicht sagen können. Er fühlte sich ausgebrannt und leer.
***
Im Auto seines Vaters fand Chris seine Sicherheit wieder. Das Erlebte schien weit fort, und je weiter sie sich von Rottach entfernten, desto unwirklicher erschien es ihm. Dennoch war der Sechzehnjährige so aufgewühlt, dass er ununterbrochen auf seinen Vater einredete.
„Chris, bitte“, stöhnte Stefan Holl, „ich muss mich konzentrieren!“
„Ja, klar“, erwiderte sein Sohn in nervösem Eifer. „Aber wir müssen doch darüber nachdenken, wie wir der Versicherung den Schaden präsentieren! Die wollen bestimmt einen schnellen Überblick über den Schaden haben!“
Sein Vater seufzte und schwieg.
Chris malte sich aus, wie eine Tabelle aussehen könnte, in der sie die Verluste aus den einzelnen Räumen übersichtlich auflisteten. Das klang alles ganz vernünftig.
Doch Dr. Holl versuchte, seine Ohren auf Durchzug zu stellen. Der Verkehr hatte zugenommen und verlangte seine ganze Aufmerksamkeit, und das war gut. So kam er nicht in die Verlegenheit, über den Einbruch nachzudenken.
„Papa!“, schrie Chris auf, als sein Vater plötzlich abrupt bremste und das Auto auf den Seitenstreifen zog, während vor ihm Blech auf Blech knallte und der Wagen hinter ihm in seinen ehemaligen Vordermann raste. Ein anderer hatte das gleiche Manöver versucht, aber nicht völlig abbremsen können. Er schubste den Wagen der Holls an, sodass dieser noch einen Satz nach vorn machte und an der Leitplanke landete.
„Alles okay, Chris?“, fragte Dr. Holl mit belegter Stimme.
„Ich ja, und du?“
„Ruf die Polizei an und dann deine Mutter“, bestimmte Stefan und griff nach seiner Arzttasche. „Schaffst du es, das Auto zu sichern? Und dann machst du einen Satz auf die andere Seite der Leitplanke!“
Er stieg aus und eilte nach vorn, wohin genau, das hätte er nicht sagen können. Aus den nächsten drei Autos erfuhr er, dass keine Hilfe nötig war.
„Bitte gehen Sie zu Ihrer Sicherheit hinter die Leitplanke!“, mahnte er und eilte weiter zu einem kleinen knallroten italienischen Auto, das völlig eingeklemmt war und in dem ein kleines Mädchen auf dem Rücksitz angstvoll weinte.
Es war, als bräche erst in diesem Augenblick das Chaos über Dr. Holl herein. Er nahm die Schreie der Verletzten überdeutlich wahr, spürte die Hilflosigkeit der Menschen und wünschte sich, mehr als nur zwei Hände zu haben, um allen helfen zu können.
Er konzentrierte sich auf den roten Fiat und versuchte, die Fahrertür zu öffnen, doch sie klemmte.
„Ich helfe dir“, sagte Chris knapp und versuchte sich an der Beifahrertür.
„Du solltest beim Auto bleiben …“
„Später!“ Chris hatte einen Stein mitgebracht, den er in sein Kapuzenshirt gewickelt hatte. „Lenk die Kleine ab!“
Dr. Holl lächelte das Kind im Auto an und klopfte an die Scheibe. Im selben Moment schlug Chris beherzt die Scheibe an der Beifahrertür ein und öffnete sie. Ein kleines weißes Hundeknäuel stürzte heraus und lief pfeilschnell davon.
„Peppi!“, schrie das kleine Mädchen verzweifelt.
Chris rannte hinter dem Hund her, während Dr. Holl sich um das weinende Kind und die bewusstlose junge Frau hinter dem Steuer kümmerte.
Fast gleichzeitig ertönten die ersten Martinshörner. Polizei, Feuerwehr und Krankenwagen bahnten sich ihren Weg durch die Blechruinen, die einmal Autos gewesen waren. Rettungshubschrauber kreisten. Landen konnten sie erst, als die Polizei die Gegenfahrbahn abgesperrt hatte. Eine Mammutaufgabe für alle.
Die junge Frau kam zu sich. Das kleine Mädchen war in haltloses Schluchzen ausgebrochen.
„Mammina“, rief es immer wieder und stieß die Hand des Arztes von sich.
„Alles gut, Bambina mia“, flüsterte die Verletzte mühsam. Dann wandte sie sich an Dr. Holl. „Bitte, ich möchte in die Berling-Klinik!“
Noch ehe der Arzt antworten konnte, verlor sie erneut das Bewusstsein. Er versuchte sie, so gut es in dieser misslichen Lage ging, zu untersuchen, und fand glücklicherweise keine größeren Verletzungen.
„Mammina ist krank“, jammerte das Mädchen herzzerreißend.
„Dann werden wir ihr helfen“, versprach Dr. Holl mitfühlend. „Magst du mir sagen, wie du heißt?“
„Nella.“ Suchend sah sich die Kleine um. „Ich will meinen Peppi!“
Ein Krankenwagen nach dem anderen fuhr über den Seitenstreifen vorbei, bis Dr. Holl endlich einen Wagen heranwinken konnte.
„Bringen Sie die Verletzte bitte in die Berling-Klinik. Sie hat keine offensichtlichen Verletzungen, wohl aber einen Schock. Sie war ansprechbar, ehe sie wieder das Bewusstsein verlor.“ Er gab noch genaue Anweisungen, welche Medikamente benötigt wurden, um Nellas Mutter beim Aufwachen zu unterstützen. „Ich rufe in der Klinik an. Dr. Falk wird die Patientin in Empfang nehmen.“
Während die Sanitäter die junge Frau vorsichtig aus dem kleinen Auto hoben, kümmerte sich Dr. Holl um Nella, die ihre Mama nicht allein lassen wollte.
Zum Glück bahnte sich Chris den Weg durch das Chaos. Er hatte den sich sträubenden Peppi auf dem Arm.
Nella stürzte sich auf ihn und weinte ihm ihr ganzes Leid in die plüschigen Öhrchen.
„Ich heiße Chris“, stellte sich der Sechzehnjährige vor. Seine Stimme klang so sanft, wie man es dem Jungen gar nicht zugetraut hätte. „Am besten kommst du mit Peppi mit zu uns nach Hause. Meine kleine Schwester Juju freut sich bestimmt. Und morgen gehen wir zu deiner Mama in die Klinik!“
„Dann wollen wir mal sehen, wie wir euch beide ins Doktorhaus bringen“, meinte Dr. Holl. „Ich werde hier bestimmt noch eine Weile gebraucht.“
„Wir packen Nellas Koffer in unser Auto und warten auf dich“, schlug Chris vor. Und Nella nickte bekräftigend.
Offenbar hatte das Mädchen Vertrauen zu dem Jungen gefasst, der ihr den geliebten Hund zurückgebracht hatte.
Dr. Holl nickte. „Aber das Steuer fasst du nicht an!“
„Nein, mach ich nicht. Der Mann im Auto hinter uns hat geholfen, den Weg für die Krankenwagen freizuräumen!“
Das hörte der Arzt nicht mehr. Er war schon davongestürmt zum nächsten Verunglückten, der seine Hilfe brauchte. Es gab noch viel zu tun.
Ein Lastwagen hatte seine Ladung verloren – leere Kartons. Damit hatte er den Massencrash verursacht. Dass es nur Verletzte und keine Toten gab, grenzte schlicht an ein Wunder.
Nach einer guten Stunde löste sich das Chaos auf. Die Gegenfahrbahn war wieder freigegeben worden. Die Krankenwagen mit den schwereren Verletzten waren längst unterwegs in die verschiedenen Krankenhäuser. Die Stunde der Abschleppwagen war gekommen. Die Polizei leitete die Fahrzeuge, die noch fahrbereit waren, um den zusammengefegten Berg der Kartons herum.
Dr. Holl ließ den zerbeulten Fiat in seine Werkstatt bringen, ehe er mit Chris, Nella und Hund Peppi nach Hause fuhr.
Es dauerte eine Weile, ehe ihm bewusst wurde, dass dieser Massenunfall die Geschehnisse in Rottach verdrängt hatte. An der Unfallstelle hatte er einfach nur funktioniert und Krach, Schreie, Entsetzen, Sorgen und persönliche Probleme ausgeschaltet.
„Was für ein Tag!“, seufzte er.
***
„Wo ist mein Kind?“
Dr. Holl trat an das Bett der jungen Frau, die ihn mit weit aufgerissenen, auffallend blauen Augen ansah. Er lächelte sie freundlich an.
„Ihrer kleinen Tochter geht es gut“, erwiderte er. „Sie hat keinen Kratzer abbekommen. Nella und ihr Hündchen sind bei meiner Familie gut aufgehoben.“
Sie seufzte erleichtert und schloss die Augen.
„Sie hatten Ihr Kind gut versorgt im Kindersitz auf dem Rücksitz“, fuhr der Klinikchef fort. „Zudem waren Sie geschickt genug, dass Sie nicht in voller Fahrt auf das Auto vor Ihnen aufgefahren sind.“
„Es war genug Platz“, stieß sie hervor, ohne die Augen zu öffnen, als wollte sie das Unglück noch einmal Revue passieren lassen. „Der Fahrer hinter mir war zu dicht aufgefahren …“
Sie brach ab. Dr. Holl ließ ihr Zeit, sich zu sammeln. Endlich schaute sie ihn an. Die blauen Augen waren zu dunklen Tränenseen geworden.
„Für mich ist es ja egal, aber Nella, meine Kleine …“
„Na, so dürfen Sie aber nicht sprechen!“, protestierte Stefan. „Zumindest auf den ersten Blick sind Sie doch auch gut davongekommen, bis auf ein paar Quetschungen.“
„Jaaa.“ Sie zog das Wort in die Länge, als wollte sie nicht daran glauben. „Bitte, wo bin ich hier?“
Der Klinikchef war irritiert. Hatte niemand der jungen Frau gesagt, wo sie sich befand? Hatte keiner nach ihren Personalien gefragt? Mit einem unhörbaren Seufzer wischte er sich über die Stirn. Es war wirklich ein fürchterlicher Tag für alle.
„Verzeihen Sie, gnädige Frau, Sie sind in der Berling-Klinik, wie es Ihr Wunsch war. Ich bin Dr. Stefan Holl.“
Ein Laut der Erleichterung kam über ihre Lippen, zart, kaum wahrnehmbar. Allein ihr Gesichtsausdruck ließ ahnen, was sie empfand.
„Bitte nennen Sie mich Cristina Segestini. So steht es auch in meinen Papieren …“ Erschrocken versuchte sie, sich aufzusetzen. Doch dafür fehlte ihr die Kraft, und sie sank wieder in die Kissen. „Mein Gepäck … meine Taschen …“
„Keine Sorge, Signora Segestini. Mein Sohn hat alles in unser Auto umgeladen, bevor Ihr Wagen in meine Werkstatt gebracht wurde.“ Dann setzte er zerknirscht hinzu: „Ich habe Ihre Handtasche und die blaue Aktentasche in meinem Auto vergessen. Später lasse ich Ihnen beides bringen.“
Zum ersten Mal stahl sich ein unmerkliches Lächeln in ihr blasses, ausgemergeltes Gesicht.
„Ist es zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, mich einfach nur Cristina zu nennen? Es gibt mir das Gefühl, zu Hause zu sein.“
Es war ein sehr nachdenklicher Blick, mit dem Stefan Holl die junge Frau bedachte. Nicht ihr Wunsch, sondern die Art, wie sie ihn vortrug, ließ sie mysteriös erscheinen.
„Gern, Cristina. Aber wollen Sie nicht ein bisschen mehr von sich erzählen?“
„Ich will Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. In meiner Aktentasche finden Sie alles, was Sie wissen müssen.“
Er schüttelte den Kopf. „Nichts da, meine Liebe! In Ihre Papiere schauen wir gemeinsam. Jetzt wüsste ich schon gern ein bisschen mehr über Sie!“
Es schien, als wollte sie lachen.
„Ein Findling am Straßenrand!“
„Der sehr viele Fragen offenlässt“, versetzte er und wartete fast ungeduldig auf eine Antwort.
Seine Patientin ließ sich ein wenig Zeit, ehe sie ihm direkt ins Gesicht sah.
„Ich habe Leberkrebs … im Endstadium.“
Die leisen Worte wirkten wie ein Urknall. Für einen Moment hielt der Arzt den Atem an.
„Und da sind Sie sicher?“, sagte er endlich mit belegter Stimme.
Nun liefen Tränen über ihr Gesicht. Wie kleine, nicht enden wollende Rinnsale benetzten sie die blassen Wangen und suchten sich ihren Weg, bis sie auf das Kopfkissen tropften.
„Die Ärzte in Palermo waren sehr offen. Die Befunde sind eindeutig.“ Ihre Worte kamen abgehackt, als müsste sie jedes einzelne gewaltsam aus ihrem Kopf holen. Bitter setzte sie hinzu: „Ich habe so lange gekämpft. Aber jetzt muss endlich Schluss sein. Wenn da nicht meine kleine Marinella wäre …“