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Die unschuldige Zoe spürt immer mehr, wie sie Licht in die Welt tragen will - sie droht jedoch am etablierten Schulsystem regelrecht zu zerbrechen. Mit einem sie zart verehrenden Freund kann sie auf die Waldorfschule wechseln. Dort aber werden die Fragen nur noch existenzieller. Immer mehr muss sie sich verweigern - bis sich ein Lehrer in sie verliebt. Zum ersten Mal fühlt sie sich verstanden, doch nun kulminieren die Probleme.
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Seitenzahl: 692
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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.
Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...
Sie hatte so viel Glück gehabt. Als es ihr so schlecht gegangen war wie noch nie, in der achten Klasse, vor fast einem Jahr. Als sie den Bio-Test leer abgab, nicht leer, aber mit den darauf geschriebenen Worten, dass dieses Fragen nach totem Wissen das Leben selbst töte. Als sie selbst fast sterben wollte – nicht einmal wollte, sondern nur noch konnte, zu können meinte. Als sie das Gefühl hatte, sich auflösen zu müssen, aufgelöst zu werden, von allem um sie herum...
Sie hatte so viel Glück gehabt. Denn da war Tom gewesen. Tom, vor dem sie so lange geflüchtet war, dann wieder vertrauend, wieder enttäuscht werdend, bis sie spürte, wie sehr er sie liebte; wie sehr er alles versuchte ... sie zu verstehen. Und vor allem ihre Oma. Tom hatte rechtzeitig ihre Oma angerufen, war zu ihr gefahren, denn er hatte ihre Adresse ja gestohlen, aus ihrem Ranzen, weil er sie liebte... Sie musste lächeln, als sie daran dachte. Und ihre Oma ... ja, sie war dann die Rettung gewesen. Weil sie alles verstand. Und weil sie sogar wusste, was man tun konnte. Weil sie ihr Kraft gegeben hatte. Viel Kraft. Ihre eigene Kraft ... von der sie nicht gewusst hatte, dass sie in ihr war. Dass sie sich dem Toten entgegenstellen konnte. Das Tote selbst mit Leben durchdringen, ihrem Leben... Und es hatte geholfen... Sie hatte es gekonnt...
Aber nun hatte das neue Schuljahr begonnen – die ,Oberstufe’, wie alle sagten. Und alles war wieder viel schlimmer geworden. Sie hatten neue Lehrer bekommen. Die Lehrer hatten gleich gesagt, was in der nächsten Zeit ,anstünde’ ... und dass die ,Leistungsanforderungen’ jetzt nochmals deutlich steigen würden. Und ihr war schon in diesen ersten Stunden schlecht geworden. Innerlich seelisch zutiefst schlecht und hundeübel – und auch physisch. Einmal hatte sie hinausgehen müssen, auf die Toilette, dort hatte sie eine halbe Stunde lang gesessen und manchmal fast das Gefühl gehabt, wirklich keine Luft mehr zu bekommen...
Und so war es gewesen. Die Lehrer hatten keine Beziehung zu ihnen. Sie waren einfach Lehrer und sie machten einfach ,Stoff’, und sie verteilten einfach Aufgaben, jeden Tag, jede Woche, jedes Mal neue, jedes Mal mehr, jedes Mal schwerer, jedes Mal ... jedes Mal mehr Tod... Tod und Ballast... Gewichte... Es war wie ein Fließband... Es musste bewältigt werden, und es blieb nicht stehen, und es führte in eine namenlos dunkle Schlucht. Und die Schlucht hieß ,Abitur’. Aber in Wirklichkeit war es der Tod. Danach war man tot. Oder schon davor. Sie würde lange davor sterben... Sie hatte längst das Gefühl zu ertrinken...
Dabei waren die Sommerferien noch so schön gewesen. Sie hatte die zwei Wochen mit ihren Eltern ertragen ... die sich ja auf ihre Weise Mühe gaben mit ihr ... und sie im übrigen sogar in Ruhe ließen, in Bezug auf ,Schule’, weil das letzte Schuljahr dann doch noch ,so gut gelaufen’ war... Und dann war da die eine Woche mit ihrer Oma gewesen. Glück ohne Ende. Geborgenheit. Verständnis. Ermutigung. Kraft. Ausblick. Hoffnung. Vertrauen. Sicherheit...
Und dann die drei Wochen mit Tom. Gemeinsam unendlich lange Spaziergänge und Wanderungen im Wald, auch einmal weiter weg. Aber sie musste eigentlich gar nirgendwohin – wenn sie im Wald war, war sie glücklich, wunschlos. Sogar der Gesang der Vögel war ein wenig zu ihr zurückgekehrt. Der Gesang der Vögel ... die Seele des Waldes ... und sie hatte doch so sehr befürchtet, dass sie das alles verlieren würde, längst verlor ... und jetzt konnte sie wieder glauben, dass es so war, wie ihre Oma gesagt hatte: Es verändert sich alles, aber es wird in noch größerer Tiefe wiederkommen. Bei ihr wird es das ... hatte sie gesagt. Und jetzt konnte sie es vorsichtig wieder glauben... Als sie Hand in Hand mit Tom durch den Wald ging, konnte sie es glauben ... weil es so war ... der Gesang der Vögel kehrte zu ihr zurück... Sie erlebte wieder ... das große Mysterium... Wie Oma es einmal nannte.
Und Tom war so wunderbar gewesen. Er war seit all diesen Geschehnissen ein echter Freund ... gewesen, geworden und war es. Der Freund... Der, den sie sich immer gewünscht hatte, obwohl sie sich nie einen Freund gewünscht hatte ... aber das Herz weiß es ja immer besser, sagte Oma. Das eigentliche Herz. Das, an das man selbst fast nicht glaubt. Oder von dem man eben wirklich eigentlich noch nichts weiß... Und trotzdem ist es schon da. Und Tom war auch dagewesen. Und hatte so viel falsch gemacht. Und so viel richtig... Und am Ende hatte das ganze Richtige alles Falsche einfach geheilt... Aufgelöst... Es war auf einmal nicht mehr vorhanden. Hatte sich sogar als Illusion erwiesen. Zumindest als unwichtig. Denn wichtig war ... am Ende nur eines... Es blieb immer nur eines übrig. Ob man zusammenpasste... Und das war noch zu wenig gesagt ... denn es ging darum, ob man füreinander bestimmt war. Man musste mit jeder Faser seiner Seele fühlen, dass ... dass etwas Unaussprechliches existierte... Ein ,Alles-Stimmen’. Wenn alles stimmte... Wenn nichts falsch war... Wenn etwas vollkommen so war, wie es sein sollte...
Sie wusste ja, dass die Welt ,nicht so war’ – und alle sagten ihr das immer wieder, vor allem ihre Eltern, vor allem ihr Vater. Und sie wusste auch, dass es zwischen Tom und ihr nicht immer so war ... aber wenn etwas nicht stimmte, dann ertrug sie es eben nicht... Das war nicht das, wofür alles es hielten. Es war etwas völlig anderes. Aber sie konnte es auch nicht ausdrücken ... und sich auch nicht verteidigen... Sie hatte keine Gegenwehr, wenn andere es doch für etwas hielten, was es nicht war... Nur ihre Oma konnte sie verstehen. Und vielleicht Tom... Ja, auch er verstand es... Und deswegen war sie so glücklich... Deswegen waren diese Sommerferien so unglaublich schön gewesen... Mit Tom durch den Wald gehen... Gar nichts sagen müssen... Und am Ende doch so viel sagen ... gemeinsam ... einfach gemeinsam glücklich sein...
Und nun war da also die Oberstufe ... und hatte wie ein gefräßiger Rachen alles zerstört. Brutal. Gleich am Anfang. War mächtiger gewesen als alles, was sie erwartet hatte. Mächtiger als alles, was ihre Oma ihr als Hilfsmittel gegeben hatte. Hatte sie einfach überwältigt. Sie war chancenlos gewesen... Sie hatte es gleich nach den ersten Stunden erkannt. Und jetzt hatte es auch ihr Vater mitbekommen. Und er hatte gesagt, heute, wenn er von der Arbeit komme, wolle er einmal mit ihr reden. Und deswegen saß sie nun hier, in ihrem Zimmer, und ging nicht mit Tom durch den Wald, ihre einzige Erlösung, sondern wartete ... auf die Anklage...
*
Und dann fand sie sich auch schon mit ihrem Vater im Wohnzimmer wieder. Und er setzte sich auf seine ,erwachsene’ Weise hin, die sie auch schon so gut kannte ... wie alles ... und jetzt würde es losgehen...
„Na, Zoe? Du weißt doch, warum wir heute einmal reden wollen, oder?“
„Ich will ja nicht reden...“
„Ja, das war ja klar! Aber wir müssen noch einmal – besser gleich.
Nicht, dass es wieder ... na, ich beschwöre es mal lieber nicht herauf. Also dieser Mathe-Test. Eine Fünf. Es war ja nur ein Test, nicht wahr? Keine Klausur. Und trotzdem eine Fünf. Gleich am Anfang des Schuljahres, der Oberstufe. Hast du nicht gelernt, oder was war da los?“
„Ich habe es nicht verstanden.“
„Wie, nicht verstanden?“
„Ich verstehe es nicht.“
„Und das wusstest du vorher?“
Sie schwieg.
„Zoe, wusstest du vorher, dass du ... es nicht können würdest? Dass du den Test ,verhauen’ würdest?“
„Ja.“
„Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen? Das ist jetzt die Oberstufe, Zoe! Und du hast noch fünf Jahre vor dir! Wenn du was nicht kannst, musst du das sagen. Dann können wir dir Hilfe besorgen. Oder du fragst Tom. Oder was weiß ich – aber nichts zu tun, ist da wohl das Dümmste, was man machen kann!“
Sie konnte wieder nur schweigen. Sie wusste ja, dass sie ,dumm’ war...
„Hast du dazu gar nichts zu sagen?“
„Ich weiß ja, dass ich dumm bin...“
„Zoe! Darum geht es doch gar nicht. Außerdem bist du nicht dumm – du bist ganz und gar nicht dumm. Du tust nur so – manchmal.
Aber das geht jetzt in der Oberstufe nun einmal nicht mehr. Da muss man schon mal ,ranklotzen’ – auch wenn dir das nicht gefällt.
,Das Leben ist kein Ponyhof’, heißt es – und das ist nun mal auch so. Von nichts kommt nichts. Und ,wer den Groschen nicht ehrt, ist des Talers nicht wert’. Du musst jetzt die Grundlagen für einen guten Abschluss legen, Zoe – es hilft alles nichts.“
„Einen Abschluss, ja...“, sagte Zoe leise.
„Was hast du gesagt?“
„Einen Abschluss...“
„Ja – wieso? Was ist jetzt wieder?“
„Nichts...“
„Was ist mit ,Abschluss’, Zoe? Wie stehst du dazu? Warum ist dir das alles so gleichgültig? Ich habe ja schon wieder das Gefühl, ich rede gegen eine Wand. Was reitet dich jetzt wieder...?“
„Nichts...“
„Ich will jetzt was von dir hören, Zoe. Du musst jetzt mal Stellung beziehen. Du kannst nicht eine Fünf im ersten Test schreiben, noch fünf Jahre vor dir haben ... und einfach nur irgendetwas in dich hineinmurmeln. Ich will jetzt wissen, wie du dir die nächsten fünf Jahre vorstellst.“
„Gar nicht... Ich stelle sie mir gar nicht vor. Ich werde sie nicht schaffen...“
„Zoe, das ist – – das ist einfach kompletter Unsinn, Zoe! Natürlich wirst du sie schaffen. Bis jetzt hat noch jeder, der so intelligent wie du ist, das Abitur geschafft – sogar ohne alle Schwierigkeiten. Ich begreife nicht, war–“
„Es gibt eben immer Ausnahmen, Papa. Es gibt die großen Versager. Es gibt die, die nicht dafür gemacht sind. Es gibt ... es gibt mich. Ich bin ... ich kann es nicht. Und ich weiß es. Und du weißt es nicht, aber ich weiß es. Ich weiß, dass ich es nicht kann. Ich weiß auch, dass ich es gar nicht will – aber das kannst du ja sowieso nicht akzeptieren. Aber ich weiß auch, dass ich es nicht kann. Es ist ... es ist auch nicht die Intelligenz... Es ist ... ich kann es einfach nicht!“
Ihr Vater war kurzzeitig völlig überwältigt. Dann fragte er entgeistert:
„Wenn es nicht die Intelligenz ist – wie kann man es dann nicht können?“
„Das versteht ihr eben nicht!“
„Dann erklär’ es uns doch bitte.“
In Zoe formte sich ein unhörbarer Hilfeschrei... Wie oft stand sie schon vor solchen Situationen. Etwas Glasklares und im Grunde Offenbares ... nicht erklären zu können. Weil es keine Worte dafür gab. Weil die anderen Menschen, alle anderen, es sowieso nicht verstehen würden. Weil sie das nicht konnten...
„Ihr könnt das nicht – und ich kann das nicht. Nur dass mein Nicht-Können ein Verbrechen ist...“
„Was ... was können wir nicht?“
„Verstehen... Das verstehen... Mich verstehen...“
„Da ist ja auch nichts zu verstehen, Zoe!“, sagte ihr Vater aufgebracht. „Was ist da zu verstehen, wenn ein intelligentes Mädchen, das alles könnte, sagt, es könne etwas nicht, aber es liege nicht an der Intelligenz? Da ist nichts zu verstehen! Es ist einfach nicht zu verstehen – denn es ist sinnlos. Es macht einfach keinen Sinn. Es ist nur – was weiß ich... Störrische Naivität oder irgendwas in der Art. Aber du verspielst deine Zukunft, Zoe!“
Hilflos sagte Zoe:
„Es ist ja meine...“
„Gott, das darf doch nicht wahr sein! Du bist ja noch naiver, als ich dachte, Zoe. Ist es dir etwa so egal, was aus dir wird, dass du nicht mal deinen Grips, den du ja ohne Frage hast, jetzt mal zusammennimmst, um dann die übrigen Jahre, dein ganzes, langes Leben damit keine Sorge mehr zu haben? Musst du jetzt deine ganzen kleinen Aufstände machen, weil dein ... ich sag es mal hart, Zoe:
Weil dein Weltschmerzprojekt dir so gut gefällt, dass du einfach nicht begreifst, wie sehr du dir damit ins eigene Fleisch schneidest?
Dass du innerhalb von einem halben Jahr tatsächlich den Anschluss verlieren wirst – und dann nur noch auf die harte Tour irgendwann das Abitur machen könntest, wenn du dich schließlich doch noch dafür entscheidest? Nämlich über die Abendschule oder so was? Willst du das? Willst du jetzt weiter das unglückliche, unverstandene Mädchen spielen, nur weil es das Einfachste ist? Obwohl es dir die meisten Probleme machen wird? Nur weil du dich so wohlfühlst in deinem ganzen Leid, das du dir die ganze Zeit künstlich aufbaust ... dass du nicht siehst, was für ein Irrsinn das ist? Aber gut – ich rede ja gegen eine Wand. Wir müssen doch die Psychologin einschalten, Zoe. Ich sehe einfach keine andere Möglichkeit mehr. Ich dachte, ich könnte mit dir heute noch einmal einfach ganz normal reden. Aber ,normal’ gibt es bei dir ja gar nicht.
Du brauchst einfach professionelle Hilfe. Und die werde ich dir besorgen. Und du wirst sie nehmen, Zoe. Du wirst sie in Anspruch nehmen. Wenigstens das wirst du tun!“
Ihr Vater stand auf. Das Gespräch war damit beendet.
„Zoe, das wirst du tun. Ja? Klar? Lass dir helfen. Wenigstens von einem... Ich werde mich gleich morgen darum kümmern. Du musst dann nicht mit mir reden. Du kannst auch sehen, ob du mit der Psychologin zurechtkommt. Wir können mehrere ausprobieren. Du kannst dann entscheiden. Nur mach es... Ja? Okay?“
Sie konnte nur schweigen...
„Es wird schon, Zoe. Du wirst sehen. Es ist jetzt einfach auch das schwierigste Alter. Irgendwann bist du da auch wieder raus... Und so schlecht machst du es doch gar nicht... Hab einfach etwas mehr Vertrauen zu dir – und dann ist die ganze Schule doch ein Kinderspiel... Hmm?“
Wenn ihr Vater so gemütvoll ,ankam’, wurde ihr der Widerstand fast übermenschlich schwer. Wie gern würde sie ihm Recht geben!
Wie sehr sehnte sie sich nach einer Harmonie, in die nichts hineintrüben konnte! Aber ihr Herz wusste doch jedes Mal, dass es eine geköderte Eintracht war... Dass an der Angel das Gift steckte ... und er einfach nur nicht wusste, mit was er eigentlich hantierte.
Hilflos schwieg sie ... um ihrem Vater die erhoffte Zustimmung nicht zu nehmen ... und doch wusste sie, dass es kein Verstehen geben würde. Sie kannte den Ausgang längst ... und nur er hoffte weiter auf etwas, was einfach nicht möglich war...
*
Sie lief fast zum Nachbarhaus, um endlich in ihren geliebten Wald zu kommen, die einzige ,Reinigung’ nach diesem belastenden Gespräch, das sie sonst auch wiederum erdrückt hätte, wenn es den Rest des trostlosen Tages ausgefüllt hätte, allein, übermächtig, es füllte ja schon jetzt wie eine dunkle Wolke alles aus – aber sie brauchte wenigstens einen schmalen Streifen Horizont, etwas Freiheit, etwas Luft zum Atmen... Immer wieder hatte sie das leise Gefühl, innerlich zu ersticken – und wenn die anderen es besonders ,gut’ meinten, war es fast noch schlimmer...
Wenn Tom neben ihr ging, wenn sie seine Hand fühlte, ihre Hand in der seinen ... dann war für kurze Zeit alles gut. Dann war alles gut. Und so müsste es immer sein. Diese Momente waren immer ihre Rettung. Und dann begann der Wald... Und hier, immer wenn sie hier war, war sie sicher...
„Und...?“, fragte Tom vorsichtig. „Was hat er gesagt?“
Zoe schwieg. Am liebsten hätte sie gar nicht darüber gesprochen.
Wollte es auch jetzt nicht. Sie wollte sich aus der großen, dunklen Wolke doch ins Licht retten...
„Wie immer...“, sagte sie leidvoll.
Tom schwieg nun auch. Er verstand sie ja... Und das machte sie inmitten allen Leides doch leise ... friedvoll. Ein leidvoller Friede breitete sich vorsichtig in ihr aus.
„Ich kann dir helfen, Zoe...“, sagte Tom nach einer Weile. „Ich kann dir ,Nachhilfe’ geben...“
Wieder dieses Bedrohliche. Angst. Die Angst, nicht verstanden zu werden. Von niemandem.
„Ich kann es nicht, Tom...“, sagte sie leise.
„Aber ... ich weiß, d–“
„Nein! Ich kann es nicht!“, unterbrach sie, in die Enge getrieben.
„Nicht, weil ich es nicht kann, sondern weil ich es nicht kann!
Vielleicht könnte ich es verstehen, ja, eine Weile, ich weiß nicht, wie lange noch... Aber ich kann es einfach nicht!“
Und weil sie begriff, dass Tom es verstehen musste, um sie zu verstehen, musste sie doch Worte dafür finden. Andere Worte.
„Es ist ... wie eine Mauer. Ich kann es nicht. Ich könnte vielleicht, aber es würde mich kaputtmachen. Anders als bei dem Bio-Test.
Oder vielleicht auch genauso. Ich weiß es einfach nicht. Ich weiß nur, dass ich es nicht kann. Es würde mich kaputtmachen, Tom.
Ich kann es nicht...“
Und weil Tom nicht widersprach, sondern nur mitfühlend schwieg, kehrte wieder dieser zerbrechliche Friede des Vertrauens in ihre Seele ein. Des Vertrauens, dass er sie verstand. Dass er sie akzeptierte – wie sie nun einmal war... Dass er sie liebte ... wie sie war ... und nicht so, wie sie nicht sein konnte...
„Ich kann es nicht, Tom...“, wiederholte sie leise. „Es fühlt sich wie ein Gift an... Es ist dunkel ... und ich ersticke ... und ich kann mich nicht verteidigen, weil alle anderen es ja können! Nur ich nicht. Für niemanden scheint es so zu sein. Kein Gift. Aber für mich ist es Gift... Ich weiß es nicht nur, ich spüre es doch! Ständig... Ständig ist es da ... und ich kann nichts tun. Wenn ich mehr davon begreifen würde, würde ich sterben, ich weiß es. Ich muss Fünfen schreiben... Ich werde das Abitur auch nicht schaffen. Ich werde nicht einmal die Oberstufe schaffen, Tom. Ich weiß nicht, was ich machen soll...“
„Wir müssen deine Oma fragen, Zoe. Wir fahren einfach am Wochenende wieder zu ihr.“
„Ja...“, erwiderte sie leidvoll.
Etwas anderes blieb gar nicht übrig. Nur ihre Oma würde ihr helfen können. Irgendetwas würde sie wissen...
Traurig fühlte sie das ganze zarte Glück eines einsamen Verständnisses.
„Wieso kann nicht jeder so sein wie du, Tom...“, fragte sie leise.
Tom versuchte, sie aufzuheitern. Liebevoll sagte er:
„Dann hättest du die Qual der Wahl, und ich hätte nicht mehr so gute Chancen...“
Schmerzlich verwirrte sie diese Antwort, denn so eine Welt wollte sie ja auch nicht...
„Das war eine Art ,Witz’, Zoe...“, sagte Tom warm.
„Ich weiß... Aber für mich ist alles gerade so schwer ... und ich nehme alles so ernst ... obwohl mein Vater meint, ich nehme gar nichts ernst... Wenn alle so wären wie du, Tom ... dann wäre die Welt in Ordnung ... dann dürfte jeder so sein, wie er wirklich ist...
Und man würde sich verstehen ... und ... man müsste nicht nur Abitur machen... Es gäbe auch andere Wege... Im Wald gibt es doch auch viele Wege...“
„Ja...“
„Und überhaupt darf hier jeder so sein, wie er ist. Groß, klein, stark, schwach, hoch oben, tief unten, für jeden sichtbar, ganz versteckt ... stark und einflussreich ... oder schwach und unwichtig...“
„Im Wald ist doch nichts unwichtig, Zoe...“
„Eben... Das meine ich ja...“
Durch die Straßen des Örtchens ihrer Oma zu gehen und schließlich bei ihr vor dem Haus zu stehen, war für Zoe immer wie ein Nach-Hause-Kommen. Nur der Wald war dem vergleichbar. Es war wie Sonne und Mond, nur wusste sie nicht, was die Sonne war ... eigentlich war es wie zwei Sonnen. Zwei Sonnen ihres Lebens. Das eigentlich wärmende Licht, der eigentliche Rückhalt, der sanfte, eigentlich tragende Boden...
„Hallo, Zoe! Hallo Tom!“
Die alte Frau begrüßte sie beide herzlich.
„Na, ihr habt ja herrliches Wetter mitgebracht! Ich habe gerade ein bisschen draußen im Garten gesessen und deswegen die Klingel fast nicht gehört – aber eigentlich ist es jetzt schon fast zu heiß zum Draußensitzen...“
Zoe war im Grunde sehr froh darüber, dass sie drinnen bleiben würden, denn hier war erst wirklich ein ganz eigenes Reich. Das alte Sofa mit all seinen Decken und den alten Möbeln drumherum, der tickenden Standuhr, den kleinen Stickereien überall und der ganzen Atmosphäre, die sie schon seit der Kindheit ganz in sich aufgesogen hatte... Nur hier konnte man wirklich über alles reden.
Im Grunde war das Sofa so etwas wie ein magischer Ort...
Als dann eine Karaffe und zwei Gläser mit kühler Kräuterbowle und ein paar Kekse auf dem niedrigen Tisch standen und sich ihre Oma in den einen Sessel gesetzt hatte, wobei immer, wenn man hier entlangkam, kurz der sehr altmodische Geschirrschrank mit seinen Glasschiebetüren zitterte, fragte die alte Dame:
„Wie geht es euch denn? Als Paar, meine ich? Mein Gott, ich habe Tom ja nun schon bald acht Wochen nicht mehr gesehen – und wie groß wird so ein Junge in nur zwei Monaten ... es ist ja nicht zu fassen! Ich habe selten so ein wunderschönes Paar gesehen... Könnt ihr euch das vorstellen...?“
„Daran haben Sie ja ziemlichen Anteil...“, sagte Tom in wohlwissender Bescheidenheit, ja Dankbarkeit.
„Ach...“, sagte die alte Frau. „Man ist auch nur stiller Helfer des Schicksals. Es wäre doch schade gewesen, wenn nicht zusammenfindet, was zusammenfinden musste... Oder?“
„Ja“, sagte Zoe leise. „Es musste...“
„Zoe“, sagte ihre Oma nun, „wärst du mir noch böse, wenn ich dir nicht immer gesagt hätte, wann ich auch mit Tom geredet habe, weil er mich anrief oder zu mir kam?“
„Oma... Ich wäre dir doch nie böse wegen irgendetwas. Ich weiß ja, dass du immer alles so machst, wie es sein muss. Ich könnte mir nicht vorstellen, wenn es ohne dich schiefgegangen wäre... Ich bin so froh ... dass ... auch Dinge passiert sind, die ich nicht weiß...
Geheimnisvolle Dinge ... die geheimnisvoll richtig waren...“
Ihre Oma lächelte. Sie kannte ihre Enkelin so gut!
„Und sonst, Zoe...?“
Der mitfühlende Klang in der Stimme ihrer Oma zeigte dem Mädchen sofort, dass sie auch jetzt alles sah ... sah, dass es ihr nicht in allem gut ging... Überhaupt nicht...
„Und sonst ist gar nichts gut, Oma... Gar nichts ist gut...“
„Dann erzähl einfach mal, mein Kind...“
Zoe spürte, dass es bei ihrer Oma egal sein würde, wie alt man war, denn man würde sich immer geborgen fühlen und würde es nie ,blöd’ oder gar schlimm finden, manchmal noch ,Kind’ genannt zu werden.
„Die Oberstufe ist furchtbar, Oma...“, sagte Zoe nur leise.
Und dann öffnete sie ihr Herz.
„Ich habe überhaupt keine Freude mehr... Alles, was du mir vor einem Jahr noch so schön gesagt hast, hilft nicht mehr. Der Stoff ist anders... Die Lehrer sind anders... Alles ist anders... Sie haben gesagt: Jetzt beginnt die Oberstufe. Und sie haben gesagt, jetzt wird es anders, und jetzt müsse man ,was tun’. Und mein Vater hat das auch gesagt. ,Ranklotzen’ hat er gesagt. Und: Das Leben sei kein Ponyhof. Aber alle verstehen ... nicht ... was ich nicht kann...
Im ersten Mathe-Test habe ich jetzt eine Fünf geschrieben...
Nicht, weil ich faul wäre ... du weißt, wie fleißig ich immer war, Oma ... sondern ... es geht nicht! Es geht einfach nicht! Selbst wenn ich will, kann ich nicht. Es ist wie damals bei dem Bio-Test. Nicht genauso, aber fast. Und ich merke, mit den anderen Fächern wird es jetzt genauso. Alles, was die Lehrer gesagt haben, hat ... hat nur ... um meinen Hals eine Schlinge gezogen ... die immer weiter zugeht... Ich habe schon zu Tom gesagt: Es ist wie Gift, Oma... Ich kann nichts dagegen machen. Alles in mir wehrt sich. Kann man nicht nach acht Jahren aufhören mit Schule? Gibt es so eine Möglichkeit nicht?“
Zoes leidvolle Frage stand im Raum.
„Leider nein, Kind... Die Schulpflicht beträgt mindestens zehn Jahre, und wenn man danach keine Berufsausbildung macht, sogar volle zwölf oder eben dreizehn Jahre.“
„Aber das halte ich nicht durch, Oma.“
„Dann ... musst du eben doch auf die Waldorfschule, Zoe.1 Dort wird man dir nicht in dieser Weise solchen Druck machen...“
„Das wird Papa nie erlauben.“
„Das wird er auch diesmal wieder müssen, wenn er sieht, dass kein Weg daran vorbeiführt.“
„Aber warum muss man denn überhaupt so lange in die Schule gehen?“
„Nun, im allgemeinen natürlich, um jedem Kind wirklich ausreichende Bildungschancen zu ermöglichen.“
„Siehst du das denn auch so?“
Die alte Frau seufzte.
„Ich sehe, dass die meisten Kinder natürlich sehr wohl Bildung brauchen. Zoe, du machst dir keinen Begriff davon, wie unzählig viele Jugendliche ,abhängen’, nur weil sie keine Lust haben – und so aus ihrem Leben absolut nichts machen und es dann auch absolut nicht ,auf die Reihe kriegen’. Natürlich sind auch das bereits Folgen dessen, wie unsere Gesellschaft grundsätzlich funktioniert oder eben nicht funktioniert. Aber dass Bildung – jetzt erst einmal unabhängig von der Frage, welche – grundsätzlich etwas Gutes ist, das kann ich nicht bezweifeln...“
„Das tue ich ja auch nicht...“, erwiderte Zoe leidvoll.
„Nein – ich weiß, mein Kind“, sagte ihre Oma warm. „Das Problem ist nicht lösbar, denn es liegt bereits im System selbst. Wir haben nun einmal die falsche Bildung. Und darum bleiben gerade
Mädchen wie du auf der Strecke – und alle anderen fahren mit dem Zug in die falsche Richtung...“
„Und was soll ich jetzt machen, Oma?“
„Wollen wir erst einmal kurz über die Mathematik reden?“
„Wenn du meinst...“
„Was ... ist es, was dich da belastet, Kind?“
„Ich hab es doch schon gesagt, Oma. Für mich ist es furchtbar...“
„Wie Gift...“
„Ja...“
„Ja, ich verstehe... Weil es wieder völlig tot unterrichtet wird. Als bloße Anforderung daherkommt, als Stoff, als sinnloser Stoff, von dem man nicht einmal weiß, wozu es gut sein soll, richtig?“
„Ja.“
„Ja...“, sagte nun auch ihre Oma nachdenklich. „Und bei dir ist es dann nicht einfach abstrakt sinnlos, wie bei so vielen anderen Jugendlichen, die sich auf ihre Weise auch verweigern, sondern bei dir geht es bis ins Existenzielle hinein, weil deine Seele ganz aus Lebenskräften besteht ... und dieses Tote dann einfach wie ein Meteorit hineinrast, um Katastrophe über Katastrophe anzurichten...“
„Ja, so fühlt es sich an...“, sagte Zoe hilflos.
„Die Lehrer haben einfach keine Ahnung, Kinder... Denn natürlich ist die Mathematik eigentlich reinste Geistigkeit. So, wie auch die Biologie reinste, tiefste Weisheit ist, so ist dies auch die Mathematik. Es sind weise Gesetzmäßigkeiten, die man sich innerlich klarmachen kann, um darüber staunen zu können ... um darüber wachsend begeistert sein zu können und gleichsam ein Erleben von Lichtqualität zu haben – es ist lichtvoll, Zoe. Mathematik ist eigentlich das Gegenteil von Last, es ist Licht, es ist etwas rein Geistiges. Was macht ihr denn gerade?“
„Der Test war über Sinus, Kosinus, Dreiecke... Und jetzt haben wir aber auch schon mit Pa– –“
„Parabeln“, ergänzte Tom.
„...damit angefangen...“, schloss Zoe leidvoll.
„Aha. Weißt du, Zoe ... eigentlich gibt die ganze Mathematik ein wunderbares Erleben von Wahrheit ... und von Stimmigkeit. Es lebt darin eine unendliche Harmonie. Denn alles, was ist, muss so sein. Es ist gesetzmäßig, wunderbar gesetzmäßig. Wenn du bei einem rechtwinkligen Dreieck eine Seite und einen Winkel hast, dann muss die andere Seite so-und-so-lang sein. Die Dinge gehören zusammen – es ist nicht beliebig, sondern es fügt sich nach den immer gleichen Gesetzmäßigkeiten. Die Blumen nähren sich von Licht, Luft und Wasser. Die Mathematik lebt in lichtvollen und wasserklaren Gesetzmäßigkeiten. Du hast eine Seite und einen Winkel – und schon blüht gesetzmäßig und wunderbar das ganze Dreieck auf... Und bei der Parabel ist es genauso. Man hat die Gesetzmäßigkeit der Steigung und kann aus der Gleichung ihre Lage, ihren Scheitelpunkt und so weiter vor dem geistigen Auge geradezu sehen. Es erschließt sich, weil es dem Geist nicht fremd ist, sondern urverwandt – es ist Geist... Es ist sonnenheller, weisheitsvoller Geist, Zoe...“
Zoe schwieg. Schließlich sagte sie kleinmütig und leise:
„Vielleicht habe ich ja keinen Geist, Oma...“
„Das ist ausgeschlossen, Kind. Du hast mehr als alle anderen. Für dich muss es sich nur überall mit Liebe verbinden... Das ist eigentlich der einzig wesentliche Punkt...“
„Wozu braucht man das alles, Oma?“, klagte Zoe weiter. „In der Natur gibt es nirgendwo Parabeln, nirgendwo Sinus und Kosinus, nirgendwo Dreiecke...“
„Das vielleicht nicht, Zoe... Aber auch die Natur ist von dieser Weisheit durchzogen und durchwoben. Man kann fast sagen: Es ist ihre Weisheit... Die Fallgesetze in der Physik sind wirklich. Die Bahn der Planeten besteht aus unglaublich harmonischen Parabel-Bahnen. Die Strömungen des Wassers folgen auch Sinus-Schwingungen. Die Hebelgesetze unserer Gelenke und Kraftausübungen, wenn wir mit der Hand irgendetwas tun, haben auch mit dem Kathetensatz zu tun. Und auch das Leben selbst folgt mathematisch weisheitsvollen Gesetzen. Du siehst Pflanzen mit gegenständigen Blättern, mit kreuzgegenständigen Blättern, immer abwechselnd in die andere Himmelsrichtung. Du siehst Blüten, die von der Vierzahl, der Fünfzahl geprägt sind. Das unglaublich schöne Spiralmuster der Kiefernzapfen folgt der Gesetzmäßigkeit der sogenannten Fibonacci-Reihe...“
„Was ist denn das?“, erkundigte sich Tom.
„Wenn die jeweils nächste Zahl immer die Summe der beiden vorherigen ist – also Eins, Zwei, Drei, Fünf, Acht... Auf diese Weise entstehen kunstvolle Spiralmuster. Die Natur ist gerade in ihrer kunstvollen Regelmäßigkeit so schön. Aber diese Schönheit ist beides, Zoe – sie ist reines Leben, und sie ist weisheitsvolles Leben, voller geheimnisvoller Gesetzmäßigkeiten. Nur deshalb ist sie so wunderschön. Wie auch die Schneeflocken: jede ist einzigartig, aber jede von gesetzmäßiger Schönheit.“
„Aber ein Baum streckt seine Äste doch nach allen Seiten! Und eine Ameise läuft doch, wo sie will. Dafür braucht es doch keine Gesetze!“
„Dieses ,nach allen Seiten’ ist eben auch ein Gesetz, Zoe. Wo kein Widerstand ist, da geht das Leben hin – also erst einmal nach allen Seiten. Das ist das Gesetz des Lebens... Auch die Sonne scheint nach allen Seiten. Eine Welle eines ins Wasser geworfenen Steinchens breitet sich nach allen Seiten aus. Aber wenn die Sonne im Norden gar nicht scheint, gibt es dort auch etwas weniger Blätter, und ihre Flächen richten sich dorthin, wo die Sonne scheint. Auch das ist eine Gesetzmäßigkeit. Der Lauf der Sonne folgt wieder einer gesetzmäßigen Bahn. Die Ameise folgt auch Duftstoffen und orientiert sich so weisheitsvoll und gesetzmäßig. All diese Gesetzmäßigkeiten erfüllen die Natur mit Harmonie und mit Sinn. Der Baum lebt nur, weil er mit seinen Kapillargefäßen das Wasser bis in die Krone saugen kann – das wiederum hat zu tun mit der Verdunstung der Blätter, der Enge der Gefäße, die eng sein müssen, damit die Wassersäule nicht reißt ... und so weiter und so weiter.
Man könnte immer weitergehen und würde immer auf weisheitsvoll-heilige Gesetzmäßigkeiten stoßen, ohne die das Leben gar nicht möglich wäre. Das Leben ist die Schönheit der Gesetzmäßigkeiten ... und dessen, was daraus hervorblüht...“
Zoe verstummte wie besiegt.
„Was sagst du denn, Kind...“, fragte die alte Frau warmherzig.
„Daran habe ich so noch nicht gedacht, Oma...“
Tom schöpfte die dankbare Hoffnung, dass ihre Oma es wieder geschafft hatte, Zoe zu retten.
Aber plötzlich begann das Mädchen neben ihm zu weinen.
Und während ihr die Tränen über das Gesicht liefen, brachte sie unter Schluchzern hervor:
„Du – – immer erklärst du die – Sachen so wunderschön – – und gibst dir – – solche Mühe! – – – Und eigentlich müsste ... und eigentlich – – ich weiß selbst nicht, was mit mir los, ist, Oma – – –!“
Tom war völlig bestürzt und konnte nur hilflos ihren Rücken streicheln. Aber nun kam auch ihre Oma und setzte sich auf die andere Seite neben sie, wofür Zoe hilflos etwas rücken musste, um danach in ihrem Arm und an ihrer Schulter verzweifelt weiterzuschluchzen... Er selbst suchte hilflos die Augen ihrer Oma – aber sie schüttelte nur leise den Kopf: Er, sie mussten ihr jetzt einfach Zeit geben...
Als Zoe sich etwas beruhigt hatte, nun aber erst recht nur noch ein Häufchen Elend zu sein schien, sagte ihre Oma leise, in warmen, tröstenden Worten:
„Ach, Mädchen... Ich habe es ja schon einmal gesagt, Zoe... Dein Weg ist nicht mein Weg. Ich weiß es ja ... und du weißt es auch...
Ich hatte gehofft, dass dir die Mathematik vielleicht auch so lieb werden könnte wie mir. Zumindest ein Lichtblick. Nichts Fremdes mehr – sondern das Gegenteil. Aber ... ich weiß auch, dass mir das Reich des Denkens viel vertrauter ist als dir. Und dass du viel, viel mehr im Fühlen lebst. Dass dies dein Reich ist... Und dass ,die Wege des Herrn unergründlich’ sind ... denn Er ist ja der Herr des Schicksals, Kind... Jeder Mensch ist einzigartig – und jeder Mensch hat seine Aufgabe. Niemand weiß das besser als ich, Zoe. Und niemand hat mir das, stets, tiefer offenbart als du – all diese Jahre lang...
Und wir leben in einer Welt, die das Denken – und zwar das tote Denken – zur absoluten Maxime erhoben hat. Und all die Denker haben in dieser Zeit keine Probleme, und auch die Willensmenschen nicht, denn der Egoismus oder überhaupt das ,Tatkräftige’ ist heute auch furchtbar angesagt. Aber die Gefühlsmenschen – die, die vor allem im Herzen leben ... denen geht es an den Kragen...
Ihnen, ihnen fehlt sogar fast schon die Luft zum Atmen. Und du, Kind, du bist mehr als alle anderen so ein Mensch, so eine Seele...“
Noch einmal musste Zoe nachschluchzen.
Dann sagte sie jenes Wort, das Tom damals, als sie es das erste Mal gesagt hatte, fast das Herz zerrissen und ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte:
„Eine Fehlplanung...“
„Ja ... so fühlt man sich dann“, erwiderte die alte Frau, „weil man nicht anders kann, wenn die ganze Welt einen dies empfinden lässt ... weil die ganze, die gesamte übrige Welt wie eine Fehlplanung funktioniert...“
Noch immer schien Zoe so zerbrechlich wie nur irgendetwas.
„Ich könnte mit dir üben, Zoe... Wir könnten es versuchen... Ob du nicht vielleicht doch auch eine Liebe für die Mathematik entdeckst.
Einfach, weil dein Wesen sowieso aus Liebe besteht... Ich glaube noch immer, dass das möglich ist...“
„Ich glaube auch, dass das möglich ist, Oma...“, erwiderte das Mädchen leidvoll.
„Aber?“
Zoe sann lange nach. Schließlich sagte sie leise:
„Als ich ganz klein war, hast du mal gesagt, es kann nicht gleichzeitig Sommer und Winter sein...“
Ihre Oma musste fast lachen.
„Daran erinnerst du dich noch!?“
Zu Tom gewandt sagte sie:
„Zoe hatte gefragt, warum nicht alle Jahreszeiten gleichzeitig da sein könnten, weil sie alle so lieb hätte... Das war Zoe...“
Dann wurde sie wieder still-ernst und sagte nach kurzer Pause wie zu sich selbst:
„Ja... Du kannst nicht ein ,gemischter König’ werden...“
„Was ist das?“, fragte Tom vorsichtig.
„Ach nichts...“, erwiderte ihre Oma. „Das ist nur eine Figur aus Goethes ,Märchen’...“
„Was rätst du mir, Oma?“, fragte Zoe jetzt leise.
„Ich weiß nicht, was ich dir jetzt noch raten kann, Kind ... wenn du deinen Weg selbst so sicher spürst... Ich kann dich höchstens immer wieder stärken... Wie siehst du denn deine Zukunft...? Ist da ein Bild...? Siehst du da etwas...?“
Tom hatte das Gefühl, dass Zoe noch einen Hauch mehr in sich zusammensank.
„Nein, Oma... Ich kann die Welt ja sowieso nicht verändern... Ich würde mir nur wünschen, dass niemand so leiden muss wie ich ... aber das ist ja fast schon dasselbe... Wenn die Welt so bleibt ... wird es ja auch immer so weitergehen...“
„Wenn nicht irgendwann die Seelen aussterben, Zoe ... die Seelen, die so sind wie du... Noch wirkliche Seelen...“
„Dann ... wäre ich am liebsten ,Seelenretterin’... Aber das gibt es ja nicht... Und ich kann ja nicht mal mich selbst retten...“
„Das tust du doch bereits, Kind! Du tust doch bereits seit einem Jahr und eigentlich schon dein ganzes Leben lang nichts anderes...
Und du hast es doch sogar bis jetzt erfolgreich geschafft. Zoe ... du hast die gerettet, die du bist ... all die Jahre...“
„Aber jetzt hat die Oberstufe angefangen...“, sagte Zoe in leidvollem Sarkasmus. „Jetzt werden ,andere Saiten aufgezogen’...“
„Deswegen ist mir eines ganz deutlich, Mädchen. Du musst auf die Waldorfschule. Alles andere ist jetzt einfach Irrsinn. Vielleicht hast du dort Glück mit den Lehrern. Vielleicht hast du kein Glück. Vielleicht kannst du dort wieder ein wenig aufblühen – vor allem aber wirst du dort durchhalten können. Die Zeit überstehen. Das ist sicher. Ich werde dir dabei helfen.“
„Du meinst so etwas wie ... überwintern...?“
„Ja ... im schlimmsten Fall so etwas in der Art...“
*
Sie sprachen noch lange über verschiedene Dinge, die nicht mehr ganz so schwerwiegend waren, die Hauptfrage war entschieden, und allein das nahm Zoe ein wenig die übergroße Last von ihren so zarten, zerbrechlichen Schultern.
Als sie Hand in Hand wieder zum Zug gingen, war Zoe noch immer einsam, aber das war ja ihr Grundwesen – in gewisser Weise.
Tom spürte, dass diese Einsamkeit im Moment nicht mehr über ihre Kräfte ging ... und schon dafür war er ihrer Oma einmal mehr unendlich dankbar...
Nur um überhaupt etwas zu sagen, weil Tom sie die ganze Zeit so treu begleitete und auch sie dafür unendlich dankbar war, sagte sie:
„Mein Vater wird die Psychologin so oder so ,organisieren’.“
Tom hörte einfach still zu, und auch dafür war sie dankbar, und so ließ sie ihrer leidgeprüften Seele einfach still freien Lauf...
„Es ist mir eigentlich auch egal... Ich werde mir eine ,aussuchen’, wie er verlangt ... und dann werde ich einfach so oft hingehen, wie ich muss... Es wird sein, wie es Oma mir damals mit den Testfragen erklärt hat: Es wird bedeutungslos sein...“
Tom wusste, dass er gar nichts sagen musste, damit Zoe sich verstanden fühlte und spürte, dass ihr zugehört wurde.
„Das einzige, was Bedeutung hat, sind du, Oma und der Wald...
Das ist ... auch so was wie ... ein Dreieck...“
Hand in Hand ging er dann vom Bahnhof mit ihr nach Hause.
Kurz bevor sie wieder an ihrem Gartentor angekommen waren, fragte er leise:
„Was ist, wenn die Waldorfschule uns jetzt nicht mehr nehmen will?“
Wieder schwieg Zoe eine Weile – nichts war ihm vertrauter. Es war selten, dass sie einmal sofort antwortete oder sogar unterbrach, letzteres eigentlich nur, wenn sie in die Enge getrieben war und man etwas furchtbar falsch machte. Ihr Schweigen gab ihm längst meistens Sicherheit...
„Oma sagt: Man soll sich nicht um ungelegte Eier kümmern...“
Und wenn Zoe so etwas sagte, war das keine Zurechtweisung, sondern eine sanfte Antwort, die wieder alles enthielt, was ihr Wesen war: Harmonie... Sehnsucht nach Harmonie...
Auf eine rätselhafte Weise hatte sich die Gewohnheit herausgebildet, dass sie sich zum Abschied schweigend umarmten – und es auch wirklich so meinten. Irgendwann hatte Zoe diese Umarmung zugelassen und sie sogar erwidert. Es war etwas Besonderes. Und es geschah auch nicht immer, sondern nur, wenn es wirklich stimmte. Bei ihm würde es immer ,stimmen’, aber er spürte immer, wann er es überhaupt durfte ... und dann stimmte es wirklich...
„Wie ... jetzt doch?“
Ihr Vater reagierte erwartungsgemäß, als sie ihm erzählte, dass sie jetzt doch unbedingt auf die Waldorfschule wechseln wollte.
„Die müssen mich doch für verrückt halten... Jetzt soll ich also nochmal begründen, warum nun also doch ... und das noch mitten im Schuljahr...“
Zoe war es gewohnt, dass es um sie gar nicht ging ... und dass sie immer alles falsch machte und allen nur Mühe bereitete ... und dennoch schmerzte es sie jedes Mal bis ins Innerste, fast unerträglich litt sie darunter ... und hatte doch gelernt, alles unter dem Mantel des Schweigens zu verbergen...
„Und jetzt doch alles nur, weil du dich nicht anstrengen willst?
Oder kannst? Meine Güte, du sagst ja immer ,kannst’ – aber mein Gott, Zoe, du willst es ja nicht glauben, dass man immer kann, wenn man nur will. Du willst es einfach nicht glauben... Also deshalb? Auf die Waldorfschule? Weil es dort einfacher ist? Das Abitur ist aber das gleiche...“
„Das ist mir doch egal...“, sagte sie leise.
„Meine Güte, Zoe, was dir alles egal ist! Könnte es dir mal einfallen, dass das Leben so egal nicht ist? Dass es auch einmal darauf ankäme, dass einem nicht etwas egal ist? Auch wenn es einem etwas schwerer fällt? Ich wäre auch gern weiter durch die Felder gerannt oder hätte mit den Nachbarjungen auf dem Fußballplatz gebolzt – aber irgendwann war die Schulzeit eben zu Ende und dann kam die Lehre. Spätestens da war Schluss mit lustig! Ich verstehe gar nicht, wo du das her hast, außer dass ich immer sage, Oma hat dich völlig verzogen und verwöhnt und jetzt musst du das ausbaden. Ich finde das absolut schlimm, was Oma dir da alles eingetrichtert hat. So sehr, dass du jetzt offenbar kaum fähig bist, irgendeinen Abschluss zu machen. Ich habe auch kein Abitur! Es geht mir nicht um das Abitur, sondern darum, dass du am Ende was Vernünftiges gelernt hast. Wenn du sagst: Gut, dann werde ich Arzthelferin – oder ... keine Ahnung, was sonst –, dann ist doch alles in Ordnung! Nur überleg dir was! Und verbau dir nicht schon vorher alle Chancen! Ich glaube kaum, nämlich gar nicht, dass die Waldorfschule eine gute Idee ist. Aber ich kenne dich gut genug, das du davon ja sowieso nicht mehr ablassen wirst, also meinetwegen – lasse ich mich nochmal zum blöden Hansel machen, indem ich da ein zweites Mal angekrochen komme, damit du vielleicht doch noch darfst. Aber dann mach was draus, Mädel – und setz nicht deine ganze Zukunft aufs Spiel! Hör auf mit deinem ,Ist mir doch egal’ und werde langsam erwachsen. Das ist alles, was ich will!“
*
Er hatte sie dann gehen lassen. Sie hatte nicht einmal die Kraft gehabt, ihre Oma zu verteidigen. Es hatte ja sowieso alles keinen Sinn. Sie hatte gleichsam beschlossen, alles über sich ergehen zu lassen und den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen – sofern es ihr überhaupt möglich war. Sie hatte genug Sorgen. Sie musste nicht noch überall neue Fronten aufmachen. Sie fühlte sich ohnehin schon umzingelt...
Nachsinnend lag sie auf ihrem Bett und fühlte eigentlich immer wieder nur eines ... dieses ihr so tief vertraute Gemisch aus Einsamkeit, Traurigkeit, Ohnmacht ... und Sehnsucht .... heiliger, brennender Sehnsucht, die aber von allen Seiten nur bedroht wurde, nie gesehen...
Es war ein schöner Spätsommertag, als Zoe und Tom durch den Wald gingen.
Zoe war wieder sehr schweigsam, aber Tom brauchte nicht mehr als ihre warme, sanfte Hand und das Vertrauen, dass sie seine Anwesenheit nun nicht mehr missen wollte, um glücklich zu sein. In ihrer Gegenwart war er glücklich.
Er spielte noch immer Fußball – zweimal die Woche mit einem Spiel am Wochenende –, aber er hatte nichts mehr zu tun mit Computerspielen oder sonstiger Bildschirm- und Display-Sucht. Die Liebe zu Zoe hatte ihn völlig geheilt. Wenn er zu Hause war, machte er entweder Hausaufgaben, oder er lernte – oder sonst dachte er an Zoe, sann über sie nach, stellte sich ihre Gestalt vor, dachte auch über ihre Oma nach und das, was sie alles bereits gesagt hatte, seit er sie kannte. Und er dachte sogar daran, mit dem Fußballspielen aufzuhören, denn er wollte mehr Zeit mit und für Zoe haben...
Als er das zu Hause schon einmal vorsichtig angedeutet hatte, hatten auch seine Eltern ihn ein wenig für ,verrückt’ erklärt. Natürlich waren sie froh, dass er von den Bildschirmen weggekommen war – wogegen sie übrigens fast nichts getan hatten, wie Zoes Oma einmal kopfschüttelnd festgestellt hatte –, aber musste er gleich so extrem ,dem Nachbarmädchen verfallen’, wie es dann etwas humorvoll und etwas ernst hieß?
Ja, er musste – und er war nie in seinem Leben glücklicher gewesen. Hätte ihm seinen jetzigen Zustand noch vor anderthalb Jahren jemand vorausgesagt, er hätte ihn selbst für verrückt erklärt. Nun aber konnte er sich sein früheres Leben fast nicht mehr vorstellen – und verstehen konnte er es schon gar nicht mehr. Was taten all die anderen Jungen – ohne die Nähe eines solchen Mädchens zu lieben und glücklich zu sein, wenn sie drei Tische weiter saß und man ihre zarte Gestalt anschauen konnte, die nur immer noch mädchenhafter wurde...
O ja, er wusste, was die anderen Jungen taten. Sie hatten auch mehr und mehr Freundinnen, fast jeder war jetzt mit jemanden ,zusammen’, aber was hieß das dann! Man ,ging miteinander’ – und mit diesen Worten hatte er Zoe damals auch angesprochen, woraufhin sie noch weggelaufen war – und sonst? Man ging ins Kino.
Man hing in der Nähe des örtlichen Eisladens herum. Man quatschte dies und jenes. Das meiste hatte mit dem Internet zu tun ... mit Videos, Klatsch und Tratsch über diese und jene Stars oder sonstige schulische Oberflächlichkeiten.
Und, ja, geknutscht und umarmt wurde natürlich auch schon ziemlich. Er hätte Zoe auch gerne einmal geküsst... Aber er hatte sogar aufgehört, darüber nachzudenken, sie einmal vorsichtig zu fragen.
Sie hatte so viele Sorgen, dass das jetzt überhaupt nicht denkbar war – er spürte bis an den Rand seines Herzens, dass es für sie einfach nicht dran war, dass sie auch das gar nicht ,gekonnt’ hätte, und er war so sehr bei ihr, in allem, was sie brauchte, dass er im Moment nicht einmal seine Bedürfnisse zu unterdrücken brauchte.
Das Leben mit Zoe war so intensiv – und ihr Leid war so intensiv –, dass dies das eigene Innere so umfassend ,erzog’, wie Außenstehende es überhaupt nicht für möglich halten würden und begreifen könnten.
Nur zu Hause stellte er sich manchmal vor, wie es wäre, wenn Zoe irgendwann einmal in seinen Armen liegen würde... Ja, manchmal hatte er unendliche Sehnsucht nach ihr... Das ja... Wenn er allein war, dann ja...
„Denkst du, sie nehmen uns, Tom?“, fragte Zoe leidvoll, ihn aus seinen Gedanken reißend.
Sofort sammelte er sich und war wieder bei ihr.
„Ja, bestimmt...“
Lächelnd musste er an die ,ungelegten Eier’ denken. Jetzt machte sie sich Sorgen.
„Wenn wir jeden Tag dorthin fahren, müssten wir spätestens kurz vor sechs Uhr aufstehen. Kannst du das überhaupt, Tom?“
„Das wird schon gehen.“
„Manchmal, nein oft eigentlich, habe ich Angst...“, sagte sie leise, „dass du irgendwann ... dann ... irgendwann eben ... etwas ... zu anstrengend findest ... mit mir ... und dann ... na ja dann eben...“
Sie beendete diesen Satz nicht, aber die leidvolle Schwebe sagte wirklich alles. Tom war bestürzt über ihre Sorge – auch diese Sorge also noch!
„Zoe...“, sagte er beruhigend. „Das wird auf keinen Fall passieren.
Ich werde dich nie zu anstrengend finden. Wenn du mich brauchst ... ich werde dich immer lieben...“
Sie sah ihn an, mit ihren reinen Augen, die einen fast erschlagen konnten.
„Danke, Tom...! Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte... Ich glaube, ich hätte mich schon aufgelöst...“
„Zoe...“, sagte er schmerzlich.
„Es ist aber so, Tom...“, erwiderte sie nachdenklich. „Oma sagte:
Das ist Schicksal. Ich meine du und ich, wir beide... Denkst du das auch? Ich denke das jetzt ganz sicher...“
„Ja, ich auch, Zoe. Und du hast mich doch auch gerettet...“
„Was? Wieso denn...“
„Na ja, diese ganzen Computersachen. Und Handy und so...“
„Ja? Machst du das nicht mehr?“
„Nein ... wusstest du das denn nicht?“
„Nein... Ich habe ... auch nicht darüber nachgedacht... Ich habe mich nicht gefragt, was du zu Hause machst...“
„Es ist wahr. Ich war früher absolut süchtig. Ich hatte ja auch nichts anderes. Jetzt hätte ich immer noch Zeit – aber was soll das?
Seit ich dich kenne, fast von Anfang an ... hat das schlagartig aufgehört...“
„Das ist ja schön...“, erwiderte sie leise.
„Ja...“
Sie ging eine Weile schweigend. Dann fragte sie:
„Und ... was machst du stattdessen?“
„Vor allem denke ich oft an dich...“
„Was? Obwohl du schon jeden Tag mit mir in den Wald gehst?“
„Ja.“
„Aber belastet dich das denn nicht? Wird dir das nicht langweilig?
Ist denn –“
„Zoe, ganz ruhig...“, unterbrach er ihre sorgenvollen Nachfragen.
„Das tut es ganz und gar nicht.“
„Oder“, traf ein anderer Gedanke sie, „genügt ... ich meine ... also – –“
Auch aus diesen Gedanken erlöste er sie, sobald er sie begriffen hatte, bevor sie die richtigen Worte finden konnte:
„Nein, Zoe ... mach dir keine Sorgen. Es ist alles gut...“
„Ich weiß ja, dass die anderen alle –“
„Zoe – lass es... Du brauchst dir keine Gedanken machen.“
Sie schwieg. Schließlich aber fragte sie zögernd:
„Stellst du dir denn manchmal vor ... wie ... irgendwas eben...?“
„Kann sein“, erwiderte er ausweichend. „Aber das ist nicht so wichtig, verstehst du...“
Wieder schwieg sie längere Zeit.
Schließlich sagte sie leise:
„Ich kann dich nicht verlieren, Tom...“
„Das wirst du auch niemals...“
„Ich würde manche Dinge auch einfach nur machen, damit es nicht passiert...“
„Zoe, bist du verrückt! Du brauchst nichts zu machen! Du bist ... so wunderbar, verstehst du? Glaub nie, dass du was machen müsstest!
Hast du gehört? Ich glaube, ich spinne... Ja? Hast du gehört? Du brauchst nie etwas zu machen ... wovon du nur glaubst, du müsstest es machen. Du brauchst nie irgendetwas zu machen... Hast du gehört? Verstehst du?“
„Ja...“
Seine Gedanken flogen durcheinander. Irgendetwas in ihm war zutiefst berührt... Er konnte es noch immer nicht fassen. Dieses Mädchen musste wahnsinnig sein. Aber er auch ... andere Jungen hätten wahrscheinlich sofort ,zugegriffen’. Aber nein ... das war Wahnsinn! Wie konnte man ein Mädchen, das man liebte, damit erpressen ... oder so ein angstvolles Angebot auch nur annehmen!?
Ihre verrückten Worte führten nur dazu, dass jetzt auf einmal, wo er neben und mit ihr ging, diese Bilder kamen ... zärtliche Umarmungen ... sie nur in zarter Unterwäsche... Er schämte sich zutiefst und verdrängte sie mit aller Macht.
„Trotzdem musst du es mir sagen, wenn ... wenn ... eben dann...
Wenn es eben ... es hört sich alles so blöd an ... aber wenn es ... nicht mehr anders geht, Tom!“, bat sie innig. „Ich sehe doch, wie es bei den anderen ist... Und ich ... weiß doch auch selbst nicht, warum es ... bei mir nicht so ist... Aber du bist ja eben nicht so wie ich... Und deswegen... Also ich wollte es nur sagen...“
„Zoe... Du hast es ja jetzt gesagt...“
„Ja ... okay...“
Wieder war er so unglaublich berührt. Ihre warme, weiche Hand in der seinen... Ihre ganze zarte Gestalt neben ihm, so nah... Wie konnte ein Mädchen so etwas überhaupt sagen... Ein anderes Mädchen hätte so etwas nie getan. Nicht so... Alles in ihm wollte sie beschützen...
Zoe dachte an den Frühling zurück. Damals hatte sie ihrer Oma gestanden, dass sie wahrscheinlich bald Tom den ersten Kuss geben wollen würde ... erst einmal auf die Wange... Aber da war alles noch gut... Da hatte sie sogar manchmal gelacht... Sie hatten sich manchmal geneckt ... und für ein paar Wochen hatte sie fast keine Sorgen gehabt. Und in den glücklichen drei Wochen der Sommerferien mit ihm war sie erst recht manchmal fast so weit gewesen, ihm diesen ersten Kuss zu geben... Und dann hatte sie doch Angst davor gehabt, sich doch nicht getraut... Weil sie nicht wusste, was danach kam... Ob er sich dann vielleicht sehr bald nach mehr sehnen würde ... und sie das nicht können würde...
Aber dann hatte das neue Schuljahr dem allen sowieso ein Ende gemacht, denn für einen Kuss musste man doch glücklich sein...
*
Sie kamen an der etwas sandigen Stelle vorbei, wo einige sehr alte Kiefern standen. Zoe bückte sich und hob einen Zapfen auf. Tom war immer tief berührt davon, wie ein Mädchen sich hinhocken konnte, um etwas zu betrachten oder aufzuheben ... die Art, wie sie es tat ... aber eigentlich nur Zoe... Es war eine geheimnisvolle Zartheit, eine Sanftheit ... etwas, was ganz und gar alles damit zu tun hatte, dass es ein Mädchen war...
Zoe betrachtete den Tannenzapfen, die Unterseite, versunken.
„Was ist da?“, fragte er.
Sie zeigte sie ihm.
„Und was ist da?“, wiederholte er.
„Diese Regelmäßigkeit...“, sagte sie leise.
Nun sah er es auch.
„Ja, schön...“
Sie aber versank noch immer in den Anblick.
„Die Fibonacchi-Reihe, Tom...“
Noch während sie sprach, fiel es auch ihm wieder ein.
Nachsinnend fuhr sie leise fort:
„Die steckt da irgendwie drin... Ich weiß nicht, wie... Aber ... sie steckt da irgendwie drin...“
Erst nach längerer Zeit legte sie den Zapfen wieder auf den Boden, da wo sie inzwischen waren. Zoe ließ nie einfach etwas nur fallen.
Und es gab Hunderte von Kleinigkeiten, weswegen er sie auch liebte, nur lieben konnte...
Am Anfang hatte ihre Oma ihn gefragt, warum er sie liebe – und er hatte nichts antworten können. Wie dumm und blind er damals doch noch gewesen war. Aber zum Glück nicht ganz blind...
*
„Manchmal frage ich mich“, begann sie nach einer ganzen Weile sehr sanft, „ob ich ganz früher die Feen und Pflanzenwesen und alles wirklich gesehen habe... Oma sagt, ich habe nie davon gesprochen ... aber das hätte ich doch, oder?“
„Ja, wahrscheinlich hättest du das...“
„Trotzdem“, sagte sie nachdenklich, „hat jede Stelle im Wald doch ihre besondere Stimmung ... Atmosphäre ... und ich denke mir, es sind überall andere Wesen... Und manchmal denke ich mir, man müsste nur ein bisschen anders gucken ... und würde sie irgendwie sehen...“
Das ging ihm etwas weit, auch wenn er es dank ihrer Oma längst nicht mehr in das Reich der Phantasterei verwies. Aber er hatte ja schon Schwierigkeiten, die ,Stimmungen’ zu erahnen, von denen sie sprach.
„Ich frage mich oft“, fuhr sie fort, „was wir machen müssen, damit sie sich uns wieder zeigen, Tom... Oma sagte, früher hat man sie noch mehr gesehen...“
Jetzt musste er doch denken, dass die Menschen früher eben noch mehr Phantasie hatten.
„Und warum?“, fragte er, weil er wirklich wissen wollte, was ihre Oma darüber gesagt hatte.
„Ich weiß nicht... Ich muss sie noch einmal fragen. Sie hat glaube ich nur gesagt, dass es so war... Früher war eben noch alles viel friedlicher...“
Wieder gingen sie lange schweigend. Dann sagte Zoe nachdenklich oder zögernd:
„Einen Engel habe ich mal gesehen...“
„Du hast mal einen Engel gesehen?“, fragte er unmittelbar.
„Ja... Glaubst du mir etwa nicht?“
„Nein ... äh, doch ... aber wann denn? Wie? Wo...?“
„Wieso bist du so aufgeregt?“
„Weil das doch ... etwas sehr Besonderes wäre!“
„Also glaubst du mir doch nicht so ganz...“
„Und du bist dir ganz sicher?“
„Ja ... schon...“
„Und wann war das? Oder wo?“
„Es war bei meinem Lieblingsbaum... Als es mir einmal sehr schlecht ging...“
„Ist das lange her?“
„Ja ... als mich in der Schule alle geärgert hatten... Ganz früher...
Du weißt ja...“
Mit Scham dachte er daran.
„In der fünften Klasse?“
„Nein, noch früher. In der vierten oder dritten Klasse...“
„Und wie sah er aus? Was hat er gemacht?“
„Er hat mich nur angeschaut... Aber das war so, wie wenn ich bei Oma gewesen wäre... Oder noch mehr...“
Er war ein bisschen eifersüchtig, weil er gar nicht erwähnt wurde, nicht mal als Vergleich...
„Und wie sah er aus?“
„Das weiß ich nicht mehr... Er war eben wunderschön... Wunderwunderschön...“
Tom war kaum noch eifersüchtig. Jetzt hörte er wieder das Leid des Mädchens, das er so liebte... Und wieder wollte alles in ihm sie beschützen...
Und er schämte sich. Zerknirscht über sich selbst brachte er schließlich hervor:
„Tut mir leid, Zoe ... dass ich es mir zuerst nicht ganz vorstellen konnte... Zu wem könnte denn ein Engel kommen, wenn nicht zu dir...“
„Du bist auch ein bisschen wie so ein Engel, Tom...“, sagte sie leise.
,Und du bist ganz wie einer...’, dachte Tom. ,Du bist eigentlich mein Engel...’
*
Als er nach dieser langen Wanderung wieder in seinem Zimmer war, vor den Hausaufgaben saß, ohne sie anfangen zu können, sann er wieder über sie nach ... über Zoe...
Zoe war wirklich wie ein Engel ... für ihn. Ob er ihre Hand in der seinen spürte... Ob sie sich sanft verabschiedete und in ihr Haus ging ... mit Schritten, die nie vermuten ließen, dass ein Mädchen überhaupt ein Gewicht hatte... Obwohl so viel auf ihr lastete... Oder ob sie in der Klasse saß ... und ihr langes Haar über ihren Rücken hinabfiel ... hinabströmte ... zart zu ihrer Gestalt gehörte... Oder ob er sie sich vorstellte ... in Unterhemdchen mit einer zarten Mädchenspitze besetzt ... immer war sie für ihn wie ein Engel... Er hätte nicht gewusst, wie daneben noch ein wirklicher Engel hätte aussehen sollen...
Sie wurden in der Waldorfschule genommen. Die Klasse hatte noch immer Platz gehabt, in der Oberstufe verloren sich eher noch einige Schüler.
„So, jetzt haben sich Zoe und Tom also doch entschieden, zu uns zu kommen. Ihr kennt sie ja, im Gegensatz zu mir, noch vom letzten Schuljahr aus der Probewoche. Nehmt sie unter euch freundlich auf! Willkommen ihr beiden...“
Zoe fühlte sich bei solchen Worten immer bis ins Innerste berührt ... enthielten sie doch etwas, was wie eine heilige Verheißung, ja fast wie ein Segen klang ... und was so unendlich mit ihrem eigenen Wesen zusammenstimmte, das diese Sehnsucht sowieso immer hatte ... in aller Tiefe... Sie wusste, dass die Wirklichkeit eine andere war... Trotzdem konnte sie bei solchen Worten fast nie verhindern, dass ihre Augen feucht wurden ... allein schon von solchen Worten...
Tatsächlich waren die übrigen Jugendlichen an diesem ersten Tag nett – die meisten nur durch eine wohlwollende Indifferenz, und das Neue war ohnehin immer interessant. Aber Zoe erwartete ohnehin nur, dass sie an dieser Schule wenigstens durchhalten würde.
Und doch berührte sie bereits am ersten Tag wieder das, was eine Waldorfschule ausmachte ... ohne dass es jemand ernst nahm...
Verwirrt musste sie erneut ihre eigenen Empfindungen aushalten lernen. Ein Staunen, dass niemand sah, was sie sah, nicht einmal die Lehrer. Eine Einsamkeit ... eine unendliche Hoffnung, die aber nie erfüllt wurde ... obwohl es hier möglich wäre ... jeden Tag wieder ... man spürte etwas ... aber es blieb unergriffen...
*
Als sie an diesem ersten Tag wieder zurückfuhren, allein in einem Abteil, sagte Zoe:
„Ich bin so froh... So froh, dass wir doch hierherkommen konnten, Tom...“
„Dann ist ja gut, Zoe...“
„Ich glaube, ich hätte nicht dieses eine Schuljahr an unserer bisherigen Schule überlebt...“
„Ich bin so froh, wenn es dir gut geht, Zoe...“
„Ich hoffe, dir auch, Tom...! Du musst wirklich früh genug schlafen gehen... Das mache ich auch jetzt immer. Um halb zehn spätestens gehe ich ins Bett...“
Der Gedanke daran – wie sie ins Bett ging – ließ Toms Herz und Empfindungen wieder höher schlagen...
„Ja, versprochen“, erwiderte er, noch immer betört von den Bildern, die in ihm aufstiegen.
„Wenn wir erst um halb fünf oder so zu Hause sind, können wir vor dem Abendessen noch spazieren gehen, und nach dem Abendessen müssen wir Hausaufgaben machen und lernen, und dann ist der Tag schon fast vorbei...
„Ja...“
„Es tut mir leid, Tom, dass ich ... dass ich dein Leben jetzt so einenge...“
Es berührte ihn immer wieder unglaublich, wenn sie sich Schuld an etwas gab, was ihn betraf. Sie wusste nie, wie sehr sie ihn beschenkte ... jeden Tag. Sie wusste nie, wie sehr sie sein Leben erweitert hatte. Bis in die Unendlichkeit... Wie ein Engel... Ein Engel, der zu jemandem kam, der es nie verdient hatte... Er unterdrückte mit reiner Willenskraft einige Tränen und sagte:
„Du weißt doch, dass ich dich liebe, Zoe... Weißt du denn nicht, was das bedeutet? Es bedeutet, dass du das nie getan hast... Nie...“
Nun wurden ihre Augen schlagartig feucht und tränennass...
„Tom...“, sagte sie mit erstickter Stimme.
Und dann umarmte sie ihn spontan und voller Innigkeit.
„Danke...!“
Hilflos konnte er ihre Umarmung nur erwidern – und nun perlten auch an seinen Wangen einige Tränen hinab...
Mit großen Augen sah sie noch etwas davon, als sie sich schließlich wieder sanft gelöst hatte. Mit großen Augen sah sie es ... und schwieg ... blickte dann ganz lange aus dem Fenster...
Schließlich fragte sie vorsichtig:
„Was ... denkst du eigentlich bei dem Spruch ... dem Morgenspruch?
Wie ist es denn für dich...?“
Er wusste ja noch von der Probewoche, wie sehr dieser Spruch ihr entgegenkam und wie sehr es sie auch belastete, dass die Klasse ihn letztlich ohne echten Ernst ,heruntersprach’, jetzt in der Oberstufe noch viel mehr... Aber auch er konnte dem Spruch nicht so sehr viel abgewinnen – außer dass er Zoe so viel bedeutete...