Die zarte Eros - Holger Niederhausen - E-Book

Die zarte Eros E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Als der tief idealistische und wahrhaftige Clemens der knapp zwölfjährigen Tochter seines Freundes, die unter dem Corona-Onlineunterricht grenzenlos gelitten hat, Nachhilfe gibt, verliebt er sich in das unendlich unschuldige Mädchen und verfällt der Anziehung eines zartesten Eros. Sofort ist er naheliegenden Schubladen-Urteilen ausgesetzt - doch Laila hält unbeirrbar an ihm fest. Ein erschütternder Roman über die tiefe Gefährdung der Zärtlichkeit.

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

Layla, you got me on my knees - Eric Clapton, ,Layla’

„Guten Morgen, Kerstin, guten Morgen, Till.“

Zwei Erwiderungen klangen ihm entgegen. Ben, der ,Chef’, war noch nicht da.

„Hier, dein Kaffee“.

Till drückte ihm eine Tasse in die Hand.

„Danke ... aber ich trinke doch gar nicht – –“

„Heute musst du wieder mal. Kerstin hat Kekse gebacken.“

„Wirklich?“

Kerstin lächelte ihn an. Er lächelte zurück – dann wandte er sich den Keksen zu.

„Was sind das für welche?“, fragte er interessiert.

„Ach, einfach nur Mürbeteig...“

„Man beachte die Haselnüsse auf jedem einzelnen Stück!“, ergänzte Till.

Er wusste, dass Kerstin gar nicht im Mittelpunkt stehen wollte und sah sie kurz besorgt an. Sie senkte den Blick.

„Ich hab ihr gesagt“, meinte Till nun, „wir probieren gleichzeitig. Ich hab also extra auf dich gewartet!“

Damit reichte er ihm die Blechbüchse.

Er nahm einen heraus.

„Und los ... eins, zwei, drei – –“

Er biss, Tills Choreografie folgend, gleichzeitig mit ihm in seinen Keks. Und während Till bereits theatralisch genießende Laute von sich gab, nickte auch er anerkennend.

„Schmecken sehr gut...!“

Der Treffpunkt in der kleinen Teeküche direkt neben dem Eingang war so etwas wie ein Ritual. Man kam hier gar nicht erst vorbei, ohne einen Plausch zu halten. Er hätte es nicht gebraucht, aber das soziale Element genoss auch er.

Ihr kleines Viererteam war eine Leistung. Schon seit Jahren waren sie gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen. ,Bens Brösel’ hieß die winzige Firma – ein kleiner Versandhandel für Bioprodukte: Müsli, Nüsse, Rosinen und solche Dinge. Er machte den Einkauf, Till die Auslieferungen, Kerstin den Bürokram und Ben alles.

Wie er diese verrückte kleine Firma gefunden hatte, wusste er selbst nicht mehr – irgendeiner dieser verrückten Zufälle des Lebens. Ein glücklicher Zufall. Eine kleine Oase in dieser verrückten Welt. Fast eine Art Loch im Kapitalismus, obwohl das Geschäft natürlich trotzdem hart genug war. Aber es zählte das menschliche Miteinander.

Till hatte theatralisch mit geschlossenen Augen gekaut. Jetzt nahm er sich noch einen Keks aus der Büchse. Er fühlte seinen vorwurfsvollen Blick auf sich geworfen.

„Du kannst sie ruhig mehr loben, Clemens. ,Schmecken sehr gut’! Bitte keine Standardantworten!“

„Nicht jeder kann so ein Schauspieler sein“, grinste er.

„Doch!“, protestierte Till herausfordernd, einladend. „Lass es raus, Clemens“, grinste dieser nun seinerseits. „Lass raus, was in dir steckt!“

„Lass mal gut sein“, wehrte er ab. Und um dem Ganzen nicht noch mehr Raum zu geben, erkundigte er sich: „Heute sollte doch die Großlieferung aus Hamburg kommen, richtig?“

„Typisch Clemens, wenn es spannend wird, ist er raus...“

„Hatte ich mich etwa verhört?“, unkte er. „Ich hatte doch auch ,raus’ verstanden...“

„Ha, ha, ha – sehr witzig.“

„Bin ich immer – und nun entschuldigt mich. Ich habe zu arbeiten...“

Gekonnt entwand er sich dem Geschehen. Manchmal musste man Till mit seinen eigenen Waffen schlagen. Wurde er zu aufdringlich, musste man ihn ebenso eindringlich mit leichtem Humor einfach stehenlassen...

„Gehen wir mittags zum Chinesen?“, rief Kerstin noch hinterher.

„Ja, gerne!“, rief er zurück, schon fast vor seinem Büro.

Er teilte sich ein Büro mit Ben, Kerstin und Till teilten sich ein weiteres. Kleine Räume, die auch nach Jahren noch wie improvisiert wirkten – was sie von Anfang an auch gewesen waren. Nicht einmal die angewachsenen Mengen an Aktenordnern konnten diesen Eindruck jemals aufheben.

Er schaltete den Computer an. Gleich würde sicherlich auch Ben ankommen. Dann würde er eine ganze Kanne Kaffee für sich alleine kochen. Aber wahrscheinlich brauchte er das auch – mit dieser vollen Verantwortung für den gesamten Betrieb.

Er war froh, dass er diese nicht hatte. Sondern einfach nur eine interessante Arbeit in einem tollen Mini-Team.

Ja, interessant. Denn zufällig war Ben auch Anthroposoph.

Gewissermaßen. Und – Zufälle gab es ja nicht. Wahrscheinlich wäre er auf diese Initiative nie gestoßen, wenn es nicht so gewesen wäre. Es war natürlich irgendein anthroposophisches Blättchen gewesen, in dem er damals die Anzeige gesehen hatte. Nur wo und wie er das Blättchen gefunden hatte, wie er darauf gestoßen, wo es ihm untergekommen war – das wusste er schlicht nicht mehr.

Aber interessant war eben, dass Ben die Frage, wie man eine Firma betrieb, durchaus ernst nahm. In allen anderen Dingen war er gar nicht so sehr anthroposophisch – aber hier versuchte er sein Bestes, um eine andere Art von Kontakt zu pflegen: sowohl zu den Lieferanten als auch zu den Kunden.

Er betrachtete das Ganze als ein lebendiges Netzwerk. Keiner sollte den anderen über den Tisch ziehen – im Grunde sollte man im Großen zusammenarbeiten. Damit biss er natürlich fast auf Granit. Wer nicht ebenfalls Anthroposoph war, bemerkte einen netten Menschen – vermochte aber nicht einmal zu verstehen, warum er nett war.

Jeder fand sich mit dem Kapitalismus ab – und Ben wollte ihn aushebeln. Das konnte natürlich nicht funktionieren. Aber er gab es nicht auf. Die Einkaufspreise konnte er nicht im Geringsten beeinflussen. Die Verkaufspreise richtete er danach, dass er gar keinen Profit machen wollte – nur, gemeinsam mit ihnen, davon leben können. Dadurch konnte er so preiswert sein wie manch größere Firma. Und deswegen gab es ihn und die drei ,Jobs’, die er für sie geschaffen hatte, überhaupt noch.

Es war eines dieser Wunder, die an Selbstausbeutung grenzten, aber noch nicht ganz waren. Dennoch war jeden Tag mehr als genug zu tun – und das mit veralteter IT, einer einzigen funktionierenden Toilette und noch manch anderem, was heute kaum noch irgendeiner so mitmachen würde.

Warum eigentlich nicht?

*

„Hallo Clemens! Wer hat die Kekse gebacken – halt, lass mich raten... Du...?“

„Guten Morgen, Ben...“, grinste er.

Er hatte natürlich die minutenlange Unterhaltung vor dem anderen Büro längst mitbekommen. Man konnte sich gleichsam über den winzigen Flur jederzeit unterhalten, sogar vom Platz aus. So hatte auch Ben längst sein Pläuschchen gehalten, während sein Kaffee durchlief – und dann war er schon mit voller Kanne in sein Büro gekommen.

„Solltest du auch mal machen“, hakte Ben nach. „Ist wahrscheinlich richtig meditativ...“

Er ging auf solche Arten von Humor meistens gar nicht erst ein. In dieser Hinsicht konnte er seine Mitmenschen nicht ändern – aber es war nicht seine Art von Humor. Manche Dinge musste man ernst nehmen. Das war seine tiefe Überzeugung.

Und diese Überzeugung hatte ihn sich an diese Art von Humor nie gewöhnen lassen.

Dann ließ Ben sich auf seinen Stuhl fallen. Machte seinen Computer an und blieb erst einmal weiter so sitzen.

„Mann, Mann, Mann...“, sagte er. „Wenn Corona vorbei ist, gebe ich einen aus!“

Er hörte still zu. Wieder die Verantwortung.

„Man sollte meinen, wir sind krisensicher“, setzte Ben schließlich fort. Aber anscheinend essen die Leute in der Krise sogar weniger Müsli! Oder sie drehen so am Rad, dass sie alles schnell nur noch bei Amazon bestellen!“

„Oder beides. Weniger Geld und weniger Nerven.“

„Dabei müssten die Leute doch mehr Geld haben – jetzt, wo sie nicht mehr ins Kino, ins Restaurant und auch sonst nirgendwohin konnten. Viele haben doch ganze Urlaubsreisen eingespart! Ich verstehe das nicht...“

„Dann sind es eben nur die Nerven. Die Leute sind einfach fertig...“

„Ja, sie sind fertig...“, sagte Ben nach einer ganzen Weile.

„Ich bin auch fertig. Aber das heißt doch nicht, dass man die gegenseitige Solidarität aufgeben sollte...“

„Willkommen in der Moderne, die allenfalls noch beim Backen meditiert...“

Er hatte es nicht lassen können, nun doch noch eine Retourkutsche zu geben.

„Ja, die Leute setzen keine Prioritäten mehr...“, seufzte Ben.

„Hast du denn eine Auswertung gemacht, was genau zurückgegangen ist?“

„Nein – habe ich noch nicht geschafft. Vielleicht ist es nur ein Großbesteller, der es einfach ,vergessen’ hat. Obwohl – das hätte ich gemerkt...“

„Ärgere dich nicht Ben. Das Schlimmste ist ja überstanden.“

„Sagte der Prophet. Das Schlimmste, Clemens, ist, wenn die Leute nicht wieder zurückkommen.“

„Vielleicht liegen einigen ja auch deine kleinen Begleitschreiben zu sehr im Magen.“

„Was meinst du?“

„Na ja, du schreibst zum Beispiel, ,wir lassen uns von Corona nicht unterkriegen’ – und sie lesen es als ,Corona-Leugner’...“

„Aber –“

„Ich weiß – wir sehen es doch gleich, Ben. Aber du siehst es doch selbst, wie die Menschen denken. Und sie kriegen es doch jeden Morgen und jeden Abend über Presse und Fernsehen wieder serviert...“

„Weißt du, was wir leugnen, Clemens? Wir leugnen, dass man

paranoid sein muss! Wir leugnen die Panikmache. Und die anderen kriegen es nicht auf die Reihe, irgendwie noch normal zu sein!“

„Ja, das weiß ich doch, Ben...“

„Aber du sagst –“

„Das ist nicht meine Meinung. Ich sage, wahrscheinlich können gewisse Menschen gar nicht mehr anders, als so zu denken. Sie kriegen alles in den falschen Hals – weil ihnen nur noch falsches Denken einkonditioniert wird. Von morgens bis abends.“

„Danke. Das habe ich jetzt gebraucht.“

„Du machst alles richtig, Ben. Aber wir leben in Zeiten, in denen das Richtige nicht einmal mehr erkannt wird. Früher hat man es in der Regel nur nicht getan – jetzt erkennt man es nicht einmal mehr.“

Ben seufzte.

„Lass uns an die Arbeit gehen, Clemens. Es wird sonst zu frustrierend...“

Er goss sich den ersten Becher Kaffee ein – Ben hatte wahrscheinlich den größten Becher des ganzen Bezirks – und begann, seine E-Mails durchzugehen. Und so tat auch er nun dasselbe.

*

Als sie zum Chinesen gingen, sagte Till scherzhaft:

„Ich bin eigentlich schon satt... Warum habt ihr eigentlich keine Kekse gegessen?“

„Weil du unser Groß-Maul bist“, konterte Ben.

„Bist du wirklich schon satt?“, fragte Kerstin vorsichtig.

„Na ja, nicht wirklich“, gab Till zu. „Für mein Chop Suey reicht es immer noch...“

„Kannst du auch mal was anderes nehmen?“, fragte Ben.

„Wieso?“, fragte Till. „Stört es dich? Macht es dich nervös?

Nervt es dich? Macht es dich aggressiv?“

„Stopp! Stopp!“, lachte Ben. „Ist gut. Ist gut – lass es...!“

Zufrieden und in ausgelassener Stimmung gingen sie weiter.

Ihm fiel auf, dass Kerstin stiller schien als sonst.

„Und was nimmst du, Kerstin?“, fragte er.

Er wollte sie irgendwie wieder einbinden.

„Ich weiß noch nicht.“

„Na ja, in jedem Fall doch sicher wieder Litschis zum Nachtisch!“, meinte Till.

„Ja, wahrscheinlich...“

Das kleine chinesische Restaurant wirkte, eingezwängt zwischen zwei anderen Gebäuden, gerade in seiner Unscheinbarkeit anziehend, einladend, heimelig. In China selbst hätte man es wahrscheinlich fast nur eine ,Garküche’ genannt.

Als sie davor standen, sagte Till:

„So, jetzt wieder die kurze Pflichtübung...“

Damit zogen er wie auch alle anderen ihre Masken heraus und setzten sie auf, dann traten sie ein.

Der Besitzer kannte sie natürlich längst und winkte sie gleichsam durch zu ihrem Stammplatz.

Er genoss das Ende des ,harten Lockdowns’, wie auch den Frühling überhaupt. Es war so wundervoll, wieder unter Menschen zu kommen und zu sehen, wie das Leben wieder begann, überall, hatte man den Eindruck. Die Straßenbäume, Hecken, wo es welche gab, selbst die Hunde auf der Straße – alles schien sich zu freuen und sich dem Leben entgegenzustrecken und als Leben zu offenbaren...

Auch das Essen schmeckte wieder fantastisch – jedenfalls für den Preis. Es war etwas völlig anderes als der Außer-Haus-Verkauf, den sie auch während des Lockdowns oft genug genutzt hatten, obwohl er sich hier meist entzogen hatte, weil er die Menge an Plastikmüll und Alufolie einfach nicht ertrug.

Er hatte sich dann immer geschmierte Brote von zu Hause mitgebracht – und war von den anderen damit regelmäßig aufgezogen worden.

Längst hatte er es aufgegeben, dem etwas entgegenzusetzen.

Trotz aller Bioprodukte wollten die anderen sich an manchen Punkten einfach ausleben. Wollten nicht die Mühe auf sich nehmen, morgens schon Brote zu schmieren – und überhaupt, was waren Brote schon gegen ein chinesisches Gericht! Es schien ihm, als ob die anderen die Berge von Müll, die sich täglich, wöchentlich, monatlich anhäuften, überhaupt nicht sahen – und nicht sehen wollten. Hier genau war die Sollbruchstelle. Viele sahen vieles nicht, weil sie sich blind machten, absichtlich...

Er war so froh, dass diese Zeit zumindest an diesem Punkt vorläufig beendet war; noch so überwältigt von dem wundervollen Frühlingstag; noch so empfänglich für alles um ihn herum, auch für die Fröhlichkeit der wenigen Nachbartische ... dass er die Unterhaltung weitgehend den anderen dreien überließ und mit seinen Gedanken, Empfindungen und Sinnen immer wieder abschweifte, ohne dass es die anderen zu stören schien.

Kerstin hatte längst ihr kleines Schälchen mit Litschis vor sich, als etwas in ihrer Stimme ihn völlig an ihren Tisch zurückholte, unsanft und plötzlich.

„Ich wollte noch etwas sagen...“, begann sie zögernd.

Till sah sie an.

„Jetzt sag nichts Falsches“, neckte er. „Das klingt fast so, als ob du schwanger wärst...“

Er fing ihren ganz kurzen, verunsicherten Blick auf.

„Lass sie in Ruhe, Till“, sagte er.

Er spürte ihre Dankbarkeit, die ihr aber kaum aus der schwierigen Situation heraushalf. Und dann sagte sie, brachte sie, besser gesagt, kurzerhand irgendwie heraus:

„Ja, ich würde gerne ... hätte gerne ... nein, ich möchte darum bitten, dass wir bei der Arbeit doch auch regelmäßig lüften und ... Masken tragen.“

Das Schweigen danach hätte nicht intensiver sein können.

Till war der Erste, der sich fasste – oder vielmehr fassungslos sagte:

„Wieso das denn?“

Sehr in die Enge getrieben und doch mit einem unsichtbaren Selbstbewusstsein hinter sich, erwiderte Kerstin verletzlich:

„Muss ich das begründen? Ich will einfach, dass wir uns gegenseitig schützen.“

Wieder dieses Schweigen, das sich lastend auf alles zu legen drohte.

„Vor was?“, fragte Till wieder fassungslos.

„Vor was wohl?“, erwiderte Kerstin etwas fahrig. „Vor Corona natürlich!“

Till sah sie an, fast mitleidig.

„Kerstin!“, sagte er eindringlich, geradezu beschwörend. „Hat dich die ... Angstmasche und Angstmache jetzt auch erreicht?

Überwältigt? Erfasst? Was soll das?“

„Ich möchte uns einfach schützen.“

Das Ganze hatte sich längst zu einem bloßen Dialog entwickelt. Er selbst fühlte sich völlig unfähig, irgendetwas beizutragen, da er mit allen Kräften zunächst überhaupt nur eines tun konnte: aufnehmen und begreifen, was hier gerade geschah, in jeder Hinsicht. Und auch Ben schien es ähnlich zu gehen.

„Schützen? Was heißt schützen? Vor was? Du kannst ja gerne dich schützen, wenn du unbedingt musst – aber – –. Ich fasse es nicht. Mich musst du wirklich nicht schützen! Wirklich nicht. Wenn ich das schon höre...!“

Kerstin schien ihm so in die Enge gedrängt, dass er nun doch zu Worten fand – und fragte:

„Also ... du hast Angst, dich anzustecken?“

Sie sah ihn an, fast dankbar, sich an seinem Blick festhalten zu können, und antwortete:

„Was heißt Angst? Was heißt Angst, Clemens? Ich will es einfach nicht bekommen. Und ja, ich habe auch Angst. Eine Freundin von mir kennt jemanden, die hatte gerade Corona, und diese Frau hatte einen schweren Verlauf, war auf der Intensivstation. Intensivstation, versteht ihr? Seitdem verflucht sie den Tag, an dem sie sich hätte impfen lassen können und es nicht getan hat.“

„Und du? Hast du dich impfen lassen“, fragte Till.

„Ich habe jetzt einen Termin.“

„Na, dann ist doch alles fein“, erwiderte er spöttisch.

„Versteht ihr nicht?“, fragte Kerstin verzweifelt. „Mit dieser Krankheit ist nicht zu spaßen! Absolut nicht. Man muss sich schützen. Und zwar gegenseitig!“

Till hob die Arme.

„Jeder, der sich ,schützen’ will, möge das tun. Ich schütze niemanden – und mich braucht auch niemand zu schützen.

Wer sich ,schützen’ will, tue das – und dann ist er geschützt.

Was soll dieses Gerede von ,sich gegenseitig schützen’!?“

„Du weißt doch genau, dass man sich anstecken kann, bevor man etwas merkt.“

„Das ist nun mal so, ja. Aber deswegen können die, die das wollen, sich ja auch ,schützen’!“

„Die Masken helfen teilweise, Till. Sie helfen insbesondere, alle die zu schützen, denen man begegnet. Jeder schützt mit der Maske die anderen.“

„Und wozu muss ich bitteschön ,die anderen’ schützen, wenn ich selbst gar nicht krank bin?“

„Du könntest es ja sein, verdammt nochmal. Du verstehst es noch immer nicht.“

„Ich verstehe es sehr wohl. Aber was ich nicht verstehe, ist diese Panikmache! Weil ich krank sein könnte, soll ich die ganze Zeit eine Maske tragen? Und was, wenn mich die Maske krankmachen würde? Kerstin, verstehst du denn nicht?

Was hier abgeht? Was hier passiert? Dass wir gezwungen werden sollen, täglich, ständig, immer, überall diese Scheißmaske zu tragen – jeder Einzelne, während man vielleicht sein Leben lang nicht krank wird? Ich trage also mein Leben lang eine Maske, obwohl ich vielleicht nie krank geworden wäre – und fast alle anderen auch nicht? Ich werde gezwungen, mein Leben unter einer Maske zu verbringen, nur um nicht krank zu werden, was ich sowieso nicht geworden wäre?“

„Woher willst du das denn wissen?“

„Mein Gott, Kerstin – weil sich jeden Tag ein Einziger von zehntausend Menschen ansteckt. Ein Einziger! Aber alle tragen brav diese Masken – wie die Lemminge. Es ist so absurd!“

„Ohne die Masken würden sich eben viel mehr anstecken – auf einen Schlag würde es sich verbreiten.“

„Und wenn schon! Ich bin nicht bereit, mir von dieser ,Die Bekannte einer Freundin’-Geschichte Angst machen zu lassen! Ich bin überhaupt nicht bereit, mir von irgendetwas Angst machen zu lassen! Merkst du nicht die ganze Politik dahinter? Und wie du da jetzt voll drin hängengeblieben bist, in diesem klebrigen Netz? Angst. Angst. Mit Angst beherrschst du die Massen, Kerstin! Verstehst du? Begreifst du? Mit Angst beherrschst du alles. Wirst du von der Angst beherrscht, dann bist du beherrscht – du hast deinen freien Willen aufgegeben.

Punkt. Aus.“

„Das ist doch überhaupt nicht wahr. Ich kann doch ganz rational sagen, ich möchte mich vor Corona schützen. Das ist legitim, das ist vernünftig, das ist das Selbstverständlichste von der Welt.“

„Das nimmt dir ja auch niemand. Schütz dich und fertig.“

„Ich möchte aber, dass wir alle diese vernünftigen Grundmaßnahmen ergreifen... Das ist doch das Mindeste, was man in dieser –“

„Nein, Kerstin! Ich mache diese Scheiße nicht mit. Ich lasse mich nicht durch diese ,Bekannte einer Freundin’-Story in diese Paranoia hineinreiten. Weißt du, ein Bekannter eines Freundes ist neulich mit seinem Auge an einem rostigen Nagel hängen geblieben – so what? Hängst du deswegen keine Bilder mehr auf? Ein Bekannter eines Freundes ist neulich beim Joggen überfahren worden. Kein Sport mehr? Kerstin, ich verstehe nicht, was du uns sagen willst...!“

Er fühlte sich verpflichtet, ihr beizuspringen, allein schon um der Wahrhaftigkeit willen.

„Also einzelne Zufälle, Till, sind ja nun kein Argument gegen etwas, was völlig anderes gelagert ist. Im Gegensatz zu Corona verbreiten sich sträflich nachlässige Autofahrer und rostige Nägel nicht nach Art einer Pandemie...“

„Danke, Clemens...“

„Was heißt ,danke, Clemens’“, ereiferte sich Till. „Wollt ihr mich jetzt als Blödmann hinstellen, oder was? Clemens – willst du jetzt also tatsächlich brav fortwährend die Maske tragen, ja? Und du, Kerstin? Ihr wollt jetzt also tatsächlich ununterbrochen eine Maske aufhaben?“

„Am Platz kann man sie ja abhaben, wenn wir regelmäßig lüften...“, schlug Kerstin vor.

„Ich habe überhaupt nichts ,ab’ und ,an’!“, ereiferte sich Till.

„Ich mache das nicht. Ich lasse mir von dieser ganzen Corona-Panik nicht vorschreiben, wie ich – – ich trage die Maske einfach nicht! Ich mache mich nicht zum Hampelmann, der sich und andere ständig als krank oder möglicherweise krank betrachtet. Ich habe noch nie etwas Hirnrissigeres erlebt – das ist doch echt eine Gehirnwäsche, so etwas!

Ihr müsstet euch mal hören!“

Er sah es ja genauso. Dennoch ertrug er die Disharmonie nicht. Aber noch bevor er etwas erwidern konnte, sagte Ben:

„Leute, macht euch nicht fertig. Wir werden schon irgendeine Lösung finden. Wir sind doch ein Team...“

Etwas Ähnliches hätte er auch zum Ausdruck bringen wollen, wenn auch in etwas anderen Worten.

Aber Till war noch immer so aufgebracht, dass er geradezu mit leisem Spott sagte:

„Okay, Chef ... dann mach mal einen Vorschlag!“ Ben, nun geradezu festgenagelt, erwiderte etwas ausweichend:

„Ich schlage vor, ihr findet eine Art ... Kompromiss...“

Till ließ ein abfälliges kurzes Lachen hören.

„Das war ja klar! Hier gibt’s keine Kompromisse. Kerstin will von uns allen die Maske, und ich trage keine Maske – fertig, Schluss, aus! Da kann sie sich, da könnt ihr euch auf den Kopf stellen. Mach ich nicht.“

„Wir könnten ja...“, schlug er vor, „bis zu ihrer Impfung – –“

„Nein, mach ich nicht“, wiederholte Till energisch. „Kerstin will uns in die allgemeine Panik reinziehen, und ihr wisst, dass das falsch ist. Was ist in euch gefahren?“

„Es ist einfach Rücksichtnahme –“

„Worauf?“, entgegnete Till fast feindselig. „Auf was Idiotisches? Dann könnten wir auch Rücksicht nehmen auf Waffenhändler, auf Bill Gates und auf Pädophile...“

Kerstin sprang fassungslos auf.

„Ich...“, stammelte sie, „ich glaube, ich muss jetzt gehen...“

Völlig betroffen sahen die anderen ihr hinterher.

Er erhob sich ebenfalls, um ihr hinterherzugehen.

„Ja, Clemens“, sagte Ben. „Tu irgendwas. Versuch, sie wieder einzufangen...“

*

Er sah sie draußen bereits die Straße entlanggehen und holte sie laufend nach kurzer Zeit ein.

„Kerstin...“

„Lass mich!“, erwiderte sie verzweifelt.

„Hey... Wir werden schon eine Lösung finden...“

„Du siehst es doch genauso!“

„Und du, Kerstin? Bis vor kurzem...?“

Sie drehte sich hilflos zu ihm, sodass auch er schlagartig stehenbleiben musste. Er sah die Tränen in ihren Augen.

„Warum tut er das, Clemens? Warum sagt er so etwas?“

Nun sah ihn ihre ganze Verzweiflung an. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen. Vielleicht wollte sie auch nichts anderes.

Zögernd und behutsam ging er weiter und sagte sanft:

„Du kennst ihn ja... Du weißt, was ihn reiten kann ... und dass er es eigentlich nicht so meint...“

„Er meint alles...“, klagte sie jedoch. „In dem Moment meint er alles, genau so. Ich kann so nicht mehr zurück. Ich kann es einfach nicht mehr... Ich weiß nicht, was ich machen soll...“

Er überlegte angestrengt, welchen Ausweg es hier gab. Auch er fühlte sich regelrecht hilflos. Dann sagte er:

„Wir könnten erstmal ... ich könnte ... Till und ich könnten erstmal die Plätze tauschen... Bis es sich wieder beruhigt hat ... und du geimpft bist...“

Sie sah ihn an.

„Würdest du das wirklich machen?“

„Ja.“

„Denkst du, dass Ben damit einverstanden wäre? Und Till!?“

„Müssen sie ja.“

„Und die ganzen Unterlagen und alles?“

„Das wird sich schon finden. An das meiste muss man ja eh nicht ran...“

„Und du würdest das wirklich machen?“

„Ja... Und ... du willst wirklich den ganzen Tag die Maske aufhaben...?“

„Am Platz ja vielleicht nicht... Da ist ja auch Abstand...“

„Okay...“

„Aber wir lüften trotzdem, ja...?“

„Na klar...“

*

Zu Hause musste er sich erst einmal sammeln. Der wunderbare Frühlingstag war in einem Desaster geendet. Zwar hatte der einzige Lösungsvorschlag, den sie hatten – seiner – umgesetzt werden können, aber unendlich viel Porzellan war bereits zerschlagen, und die Stimmung war entsprechend, bis zum Abend war sie gedrückt gewesen, und jeder wusste, dass etwas Unbezahlbares zunächst verloren war: Vertrauen. Die Gewissheit, dass man ein Team war. Mehr als das. Eine verschworene Gemeinschaft. Das Vertrauen, dass man bedingungslos aufeinander zählen konnte. Sich aufeinander verlassen. Füreinander da sein, einander auffangen, zumindest beruflich, in jeder einzelnen Situation.

Wie oft schon waren sie füreinander eingesprungen, wenn einer krank war! Jeder konnte mit Mühe, aber dennoch, das, was die Aufgaben des anderen waren. Jeder war so gesehen in der Not ein Allroundtalent – und hielt die kleine Firma am Laufen, so gut er konnte.

Und jetzt? Der Bruch war unübersehbar gewesen. Und warum? Alles wegen eines winzigen, unsichtbaren, vermaledeiten Virus. Es war eigentlich unvorstellbar, was dieses Virus alles anrichten konnte. Es blieb ja nicht bei der Bekannten einer Freundin auf der Intensivstation. Es griff ja mitten hinein in das Leben – und hinterließ unsichtbar sehr sichtbare zerstörerische Spuren, vielleicht sogar verbrannte Erde...

Was wäre nun die Lösung gewesen? Was hätten sie tun können – sie alle? Gemeinsam?

Ein Anruf riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ja, hallo?“

„Hallo Clemens, hier ist Bastian. Wie geht es dir?“

„Bastian! Wir haben ja gefühlt eine Ewigkeit nicht mehr voneinander gehört. Wie seid ihr denn durch den ,Lockdown’ gekommen?“

„Na ja, geht so. Ganz gut – mit Abstrichen. Tut mir leid, dass ich mich nicht mehr gemeldet habe. War eben echt viel, mit Home Office und allem...“

„Ja, verstehe ich... Und jetzt? Geht es dir gut?“

„Ja, soweit ganz gut, danke. Aber willst du nicht endlich wieder mal zum Abendessen vorbeikommen? Morgen zum Beispiel? Oder hast du dieses Wochenende schon was vor?“

„Nein, morgen ist prima. Um sechs?“

„Ja, toll. Wir freuen uns!“

„Ich mich auch. Das war ja eine Überraschung...“

„Ja, es wurde einfach Zeit, Clemens... Schön, dass der Lockdown erstmal vorbei ist...“

Sein alter Freund. Vor einigen Monaten in der Versenkung verschwunden – und jetzt wieder aufgetaucht. Wie schön.

Dann ging das Leben also auch hier endlich weiter. Er erinnerte sich voller Wärme an die regelmäßigen Abendessen alle paar Wochen, die seine Frau Hanna dann jedes Mal vorbereitete, obwohl sie mit dieser Freundschaft zunächst überhaupt nichts zu tun gehabt hatte.

Alle hatten ihn gemocht – und umgekehrt. Sogar Henry hatte seine Aufsässigkeit für eine ganze Zeit hindurch abgelegt, wenn er da war – bis er dann zu alt war und gar nicht mehr mitaß und sich auch sonst in sein Zimmer verkroch oder gar nicht erst zu Hause war. Was er jetzt wohl machte? Er musste doch inzwischen längst über neunzehn sein! Und die kleine Laila – die an ihm schnell einen besonderen Narren gefressen hatte und für einige Zeit überhaupt nicht von seiner Seite gewichen war, sondern immer mit ihm spielen wollte, oder, anders gesagt, glücklich war, weil sie jemanden zum Spielen hatte – da er sich nach dem Essen jedes Mal Zeit nahm, bis sie ins Bett musste und er Zeit mit den beiden Erwachsenen hatte – oder nur mit Bastian, weil Hanna sich diskret zurückzog, um auch ,die beiden Männer’ mal alleine zu lassen...

Laila war jetzt wahrscheinlich ... schon elf, vielleicht bald zwölf. Mein Gott, wie die Zeit verging. Im letzten Jahr – vor dem Lockdown, musste man ja hinzufügen –, hatte sie sich dann ein wenig zurückgezogen, war nicht mehr ganz kindlich gewesen und wollte vielleicht auch mit den Erwachsenen nicht mehr ganz so viel zu tun haben. Wie es ihr wohl ergangen war? Er hatte ja bereits beim ersten ,Lockdown’ mitbekommen, wie der ganze sogenannte ,Online-Unterricht’ regelrecht Gift für manche Kinder war. Er hatte mit Bastian immer wieder darüber gesprochen – aber obwohl dieser seine Kinder natürlich auch an die Waldorfschule schickte, waren sie machtlos. Wie die Schulen selbst auch. Man hätte als Schulbewegung eine ganz andere Stimme entfalten müssen – so aber waren alle vor den Einheitsregelungen eingeknickt und mussten es auch. Wer nicht spurte, würde geschlossen werden...

Seine Gedanken kehrten zu den belastenden Ereignissen des heutigen Tages zurück. Was wäre hier die Lösung gewesen?

Es konnte doch nicht sein, dass man überall vor nicht existierenden Lösungen stand – vor unausweichlichen Dilemmata, vor einer absoluten, unentrinnbaren Tragik, die unaufhaltsam auf einen zuraste, ohne dass man etwas tun konnte? Was wäre die Lösung gewesen? Die Rettung? Gab es eine?

Die erste – und vielleicht einzige – Rettung war immer das Verständnis füreinander. Wo dieses wegbrach, brach alles weg. Dann gab es nichts mehr, auf dem man aufbauen konnte – oder versuchen konnte zu bauen. Das Verständnis war die Grundlage. In moderner Sprache sagte man ,Offenheit’ und ,Toleranz’ – aber was besagten diese Vokabeln schon? Wenn nicht gleichzeitig eine tiefe Empathie, ja Sympathie hinzukam, war damit nicht viel zu wollen. Und das war eigentlich der Schlüssel. Es war nicht viel zu ,wollen’ – denn viele Menschen wollten gar nicht mehr. Ja, sie wussten nicht einmal mehr, dass man wollen konnte. Dass es buchstäblich eine Willensfrage war, was man wollte und was nicht.

Mit Nicht-Anthroposophen konnte man darüber gar nicht reden, nicht einmal das. Man hätte ein ganzes Propädeutikum gebraucht, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass ein Mensch eine Seele hatte; was das war; und was es bedeutete und was die Seele konnte. Können würde, wenn man wollte.

Sie konnte zum Beispiel wollen – aber bewusst wollen nur dann, wenn man sich ihrer selbst bewusst wurde. Und vorher konnte man eben auch nicht wirklich wollen – man wurde gewollt, und das war es dann...

Till hatte eben auch nicht erkannt, dass er von Anfang bis Ende gewollt wurde – sich von dem mitreißen ließ, was seine Überzeugungen waren, und daraus ein Absolutum machte.

Keineswegs meinte er, man solle schön ,diskursethisch’ die eigenen Meinungen mit denen anderer abgleichen und sich dann nach der Resultante richten, sie zu dem neuen, demokratischen ,Gesetz’ machen. Wenn er versuchte, die Geheimnisse der Seele zu erklären, und auf diese Weise begann, dachten die meisten stets und fortwährend, es liefe darauf hinaus – weil sie ja nichts anderes kannten. Und wer sich selbst danach richtete, meinte um so eher, es liefe darauf hinaus, sein jeweils eigenes Weltbild zu bestätigen. So einfach lagen die Dinge eben nicht.

Das Problem der Diskursethik war, dass sie noch immer nicht mit dem Willen rechnete – allenfalls dem Willen, anzuerkennen, was der ,Mehrheitswille’ war. Aber was, wenn dieser sogenannte Mehrheitswille auch kein Wille war – oder eben auch nur in dem Sinne, indem Tills Wille ein solcher war? In dieser Frage stiegen die Menschen dann regelmäßig an diesem Punkt aus, weil sie einfach nichts mehr begriffen. Sie begriffen nicht, worauf er hinaus wollte, und sie hatten nicht den Atem, solange dabei zu bleiben, bis sie begreifen würden. Aber auch dieser Atem war nur ... eine Willensfrage.

Letztlich war es doch so einfach zu begreifen: Den wahren Willen hatte man erst dann, wenn dieser einmal vollkommen bewusst wurde. Das aber bedeutete, die Realität der Seele musste einem bewusst werden. Es nützte nichts, von einer solchen ,Seele’ nur zu faseln, aber nicht von ihrer in jedem Moment gegebenen Realität zu sprechen. Anwesenheit. Existenz.

Und das erst machte es möglich, sich umstandslos auszuleben und zu meinen, auf diese Weise sei man doch gerade erst völlig anwesend. Das war man zwar möglicherweise – aber dann als Egoist. Der die meisten ja nicht wirklich sein wollten – aber die Realität war eben eine andere.

Wenn man die Seele nicht anerkannte, weil man sie nicht erkannte, konnte man sich wunderbar ausleben – und noch meinen, man sei die absolute Avantgarde. Der freieste Mensch auf Erden, während alle übrigen an diversen Punkten blind waren. Genauso hielten es ja auch die Verschwörungstheoretiker: Sie waren die ,Erwachten’ – und der große Rest schlief tief und fest. Dass sie genauso schliefen, sahen sie nicht. Sie spürten ihren Willen zwar, gerade in der Auflehnung – aber dass das über pubertäres Gehabe nicht hinausging, erkannte niemand von ihnen.

Was war denn der entscheidende Punkt? Der Punkt war, dass die Seele einem noch lange nicht als eine Realität bewusst war, wenn man nur wunderbar herrlich den eigenen ,Revoluzzer’- oder Empörungs-Willen in sich spürte. Man tauchte dann nur ein in einen wunderbar herrlichen Narzissmus, der um so herrlicher war, als man ihn eben nicht durchschaute, sondern sich in den Himmel fantasieren konnte – also die Durchblicker schlechthin –, während alle anderen das ,dumme Bauernvolk’ waren, die ,nichts rafften’. Aber von den so unendlich selbstlosen Erweckungsversuchen gerettet würden, wenn man den armen Verschwörungstheoretiker nicht so unendlich blind und sinnlos fortwährend abwehren würde...

Aber manche, die hinter die Kulissen blickten, hatten ja eben auch Recht. Wo also lag die Kraft der Beurteilung? Wie konnte man hier unterscheiden? Nur durch ein Erringen echter, realer Wahrheitskraft in der eigenen Seele. Aber all diese Begriffe verstand man heute ja gar nicht mehr – und warum nicht? Weil man nicht den Willen hatte. Hätte man ihn, würde man begreifen, dass die Wahrheit existierte – in jedem einzelnen Fall. Dass man sie also auch erkennen konnte – und dass anderes, was man nur zu erkennen meinte, nicht die Wahrheit war, die existierte.

Die Grundsünde war, dass man nicht bereit war, die Wahrheit finden zu wollen – sondern immer schon den Anspruch erhob, sie möglichst einfach zu finden und eigentlich schon gefunden zu haben. Das Grundproblem war die Faulheit – und mit ihr verbunden der übliche, ganz alltägliche Narzissmus und Egoismus. ,Wie – meine Wahrheit sollte nicht die Wahrheit sein? Beweise mir erstmal das Gegenteil!’ Faul und selbstgefällig saß das Ich in seinem dicken, weichen Sessel und beanspruchte die Wahrheit, solange ihm die Lust danach war – also eigentlich fortwährend. Nur, wenn es absolut und unwiderleglich dazu gezwungen wurde, einen Teil-Standpunkt aufzugeben, tat es dies, nur um sich selbstgefällig und selbstverliebt eine neue Wahrheit anzueignen.

Und der Punkt war auch, dass die Wahrheit nicht unabhängig davon war, wieviel Verständnis und Empathie man hatte – denn auch diese Kräfte waren eben ... eine Wahrheit. Entweder, man hatte sie, oder man hatte sie nicht. Wenn man sie nicht hatte – und man hatte sie nicht, wenn man sie nicht verwirklichte –, war eben auch das eine Wahrheit. Die Wahrheit, dass man ohne Empathie und Verständnis einfach nur seine eigene Agenda verfolgte. Nicht anders als der Kapitalismus auch. Genauso selbstfixiert und genauso armselig.

Till hatte eben nicht begriffen, dass man einen anderen Menschen tatsächlich begreifen musste, wenn man mit ihm zusammenleben wollte. Ein Mensch durfte Angst haben – und man durfte ihn deshalb nicht gleich wie einen Idioten hinstellen.

Und vor Corona konnte man auch Angst haben, denn schwere Verläufe existierten. Was folgte dann daraus? Es folgte daraus, dass erst einmal alle Standpunkte, Sichtweisen, Empfindungen, Ängste und so weiter ... berechtigt waren. Und dass sich wahres Menschentum erst da erwies, wo man begann, aufeinander zu hören, einander wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Nicht sofort eine Lösung zu haben – sondern vielleicht sogar zu erkennen, dass man keine Lösung hatte. Dass es nicht einmal eine Lösung gab.

Das wäre der Schlüssel gewesen. Die Erkenntnis, dass es eine Lösung gar nicht gab. Dass also alles, was man tat, nur falsch sein konnte – irgendwo. Aber zu dieser Bescheidenheit, ja Demut, konnte sich der postmoderne Geist eben nicht durchringen – und das führte zu allen Katastrophen, die sich dann anschlossen. Es führte zu ,Maßnahmen’ – und zu einem Dualismus, der all jene schwarz zeichnete, die diesen nicht folgten, sondern sich wehrten. Ohne dass man erkannte, dass sie auf ihre Weise Recht hatten – und man wiederum etwas finden musste, um Mittelwege zu eröffnen. Was unmöglich war, wenn man meinte, den ,besten aller Mittelwege’ längst zu vertreten...

Die offizielle Politik trieb Menschen in den Widerstand, weil sie sich nicht wiederfanden. Weder sich noch ihre Ansichten, ihre Sichtweisen, ihre Befürchtungen, ihr Vertrauen. Corona war nicht ungefährlich – ebenso wenig wie Autos ungefährlich waren. Es war immer nur die Frage, was man als ,verhältnismäßig’ ansah. Kinder wegzusperren, weil es nun einmal Autos gab, war zum Beispiel nicht verhältnismäßig. War es verhältnismäßig, dass achtzig Millionen Menschen fortwährend eine Maske trugen, wenn sich an einem Tag einige tausend ansteckten? Das war Tills Frage. Und sie beinhaltete zugleich, dass die allermeisten weder ins Krankenhaus noch gar auf die Intensivstation mussten – wie es die ,Bekannte einer Freundin’ gemusst hatte. Und sie beinhaltete zugleich, dass auch Impfungen Nebenwirkungen hatten – und dass jeder leicht den ,Bekannten eines Freundes’ kennen konnte, bei dem diese Nebenwirkungen schlimm gewesen waren, mit anderen Worten vielleicht sogar ebenfalls auf einer Intensivstation endeten.

Was also war verhältnismäßig? Die Menschen hätten Klone sein müssen, wenn sie diese Frage jemals gleich beantwortet hätten. Schon für jemanden, der von dem ,Bekannten eines Freundes’ gehört hatte, war die Antwort eine andere als für den, der dies nicht gehört hatte. Und für den, der möglicherweise von seiner eigenen Mutter sprach, war sie wiederum eine andere.

Konnte man also je eine Wahrheit verordnen? Aber wenn man es nicht tat, gefährdeten die, die Gefahren akzeptierten, die anderen. Wenn man es aber tat, zwangen Menschen eine bestimmte Wahrheit allen anderen auf – und unterdrückten andere, ja verleumdeten sogar jede andere Wahrheit blind als ,Verschwörungstheorie’. Sobald eine Art Diktatur errichtet wurde, polarisierten sich die Menschen in jene, die sie verteidigten, und jene, die sie als Diktatur angriffen. Wenn also selbst eine Helmpflicht für Radfahrer nur mit größtem Druck durchsetzbar wäre – wie konnte man dann bei einer so komplexen und vielschichtigen Frage wie Corona je eine Einheitsansicht erwarten? Es war anmaßend.

Und er hatte auch keine Lösung. Nur hätte er alles daran gesetzt, das gegenseitige Verständnis zu erwecken, zu befeuern, zu stärken. Nicht die ,Meinungs-Kräfte’ der Seele, sondern die Empathie-Kräfte. Oder um es ganz klar zu sagen: Die Liebeskräfte der Seele. Jene Kräfte, die den anderen Menschen liebten, obwohl er eine andere Ansicht hatte. Oder sogar weil – denn was wäre eine Welt, die aus lauter Klonen des eigenen Selbst bestünde? Es ging nur um eines: Die Liebe der Menschen zueinander.

Und hieß es nicht sogar so in der Sonntagshandlung der Christengemeinschaft? ,Die Liebe der Menschen zueinander belebt alle Menschenarbeit.’ Ein einziger Satz, der imstande wäre, den gesamten Kapitalismus umzustoßen! Aber genau darum ging es: Um die allgemeine Menschenliebe – bis ins Einzelne und bis zum Einzelnen. Wer das nicht ernst nahm, konnte seine Seele gleich an der nächsten Mülltonne abgeben... So hätte Till es vielleicht formuliert, seine eigene Art war das nicht. Nur musste man etwas manchmal wirklich drastisch ausdrücken, damit die Menschen begriffen.

Aber das Wesentliche war, niemanden jemals zu verachten. Doch genau dies geschah ja gerade massenhaft auf den sogenannten ,Sozialen Netzwerken’, wo die eine Ansicht die andere immer wieder bis aufs Blut bekämpfte. Merkte denn niemand, was hierdurch geschah? Dass zwei Ansichten, die beide ihre relative Berechtigung hatten, einander zerfleischten und so etwas in die Welt brachten, was keinerlei Berechtigung hatte, nämlich ganz reale Hasskräfte? Kräfte, die viel realer waren als die bloßen, abstrakten Ansichten, die sich bekämpften, ohne zu wissen, was sie taten ... denn mit einer Ansicht konnte man niemandem je ein Leid zufügen, mit Hass aber schon, man tat es ja sogar unmittelbar. Und noch immer begriffen die meisten selbst dies nicht...

Und wieder war man damit ganz und gar bei der Seele. Die meisten verstanden nicht einmal im Ansatz – und es war ihnen auch egal, aber selbst das war wieder eine Willensfrage –, dass Gefühle und Hassimpulse etwas viel Realeres waren als bloße Gedanken, Vorstellungen und Lieblingsüberzeugungen.

Die meisten verstanden nicht, wie schnell eine ganze Gesellschaft – eine Gemeinschaft von Millionen Menschen – von Hasskräften vernichtet werden konnte.

Dies war ebenso real wie die Intensivstation. Es war im Grunde die Intensivstation im Sozialen. Und natürlich hätte spontan fast jeder Mensch gesagt, er würde lieber die physische Intensivstation vermeiden als das Leben in einer hassdurchsetzten Gesellschaft ... aber bei genauerem Hinsehen dessen, was man da gerade aussprach – – –

Man nahm es einfach nicht ernst genug. Während man das Virus bereits vermied, wenn einer von zehntausend angesteckt wurde, ließ man das Virus des Hasses mitten in die Gesellschaft hinein – und blieb selbst dann noch untätig, wenn das exponentielle Wachstum längst den ganzen Leib des Sozialen zerfraß... Während man um jeden Preis Intensivstation oder gar nur Krankenhausaufenthalt vermeiden wollte, war die Gesellschaft als soziales Mysterium vielleicht gerade am Sterben... Vielleicht interessierte das nur deshalb niemanden, weil sie im Kapitalismus ja ohnehin täglich am Sterben war. Aber nein – es interessierte niemanden, weil man nicht begriff.

Man begriff einfach nicht. Weil man es nicht ernst nahm.

Die Realität der Seele – und der Kräfte, die sie entfesselte.

Nicht nur Maßnahmen. Sondern auch Todeskräfte. Andere Todeskräfte – denn die Maßnahmen waren auch solche. Weil sie keine Freiheit mehr ließen. Weil sie eine Verhaltensweise verabsolutierten – und nicht mehr den Raum zu Atmen ließen, buchstäblich. Niemand konnte mehr frei entscheiden, wie weit er sich (und andere) schützen wollte. Jeder musste sich auf normierte, definierte und aufoktroyierte Weise verhalten – und gerade das war tödlich. Es war tödlich für die Gesellschaft, ob sie es wahrhaben wollte oder nicht. Und das bemängelten jene, die man nun so oft als ,Covidioten’ verunglimpfte – und die sich leider auch allzu oft ebenso arrogant verhielten wie jene, die den ,Mainstream’ bildeten und darum die Arroganz gepachtet hatten.

Niemand, der auf irgendjemanden herabsah, entkam der Konsequenz und der Wahrheit, dass auch er Gift verbreitete – Gift und schleichenden sozialen Tod. Dass er nicht besser war als das Virus, sondern schlimmer, denn im Gegensatz zu einem Virus hatte der Mensch ... einen Willen. Und wenn der Mensch nicht begriff, dass er einen Willen hatte und was dies bedeutete, sondern wenn er mit diesem Willen umging wie ein unmündiges, seiner selbst blindes Kind, sich sogar noch im Recht fühlend, bewusst und mündig – solange der Mensch nicht begriff, was erst wirklich ,Erwachen’ zu heißen verdient hätte ... solange wussten sie buchstäblich nicht, was sie taten, und machten die Tragik des Menschengeschlechts vollkommen, denn der Mensch sollte ein Erwachender sein, er sollte sich seiner Seele bewusst sein.

Und erst dann würde er Mensch heißen können, weil er endlich beginnen würde, menschlich zu handeln. Nicht durch irgendwelche ,Maßnahmen’, sondern durch sein ganzes Sein.

Durch eine Empathie in jedem Augenblick, die sich nicht mit Maßnahmen aus der Verantwortung stahl... Maßnahmen, die vielleicht Tausende Tote verhinderten, aber eine ganze Gesellschaft in ein Grab brachten, waren nur eines: der Ersatz eines Virus durch ein anderes, noch viel Verheerenderes. Denn während nach jedem Tod neues Leben folgte, war es möglich, dass auf einem durch Hass vergifteten Boden überhaupt nichts mehr wuchs...

*

Er musste an den Moment denken, wo Kerstin sich ihm zugewandt hatte. Diesen Moment, wo er ihre Tränen gesehen hatte, ihre Hilflosigkeit, ihre Schwäche... Das Mysterium der Frau, des Weiblichen. Ein weibliches Wesen wagte es noch, Schwäche zu zeigen, Verletzlichkeit, Verletztheit ... warum nur ein weibliches?

Ihm gegenüber hatte sie es natürlich besonders gewagt. Denn auch er war ,weiblicher’ als die allermeisten Männer – vielleicht allein deshalb, weil jede spirituelle Selbsterziehung und Entwicklung notwendigerweise das Menschliche mehrte, den reinmenschlichen Boden, und jede Abkehr vom Paradigma des Selbstbezogenen, Maskulinen, wie es die Gesellschaft zumindest für die männliche Hälfte noch immer fast ungebrochen vorschrieb, unbedingt in Richtung des scheinbar mehr Weiblichen führen musste. In Wirklichkeit war es einfach nur menschlicher. Das aber bedeutete, das Weibliche war diesem Menschlichen wesentlich näher als das Männliche – eine Binsenweisheit, die für ihn schon seit vielen Jahren eine Realität war.

Aber noch aus einem anderen Grund hatte sie es ihm gegenüber besonders gewagt. Er wusste, dass sie ihn seit Jahren liebte. Sie war sehr aufrichtig gewesen – und er hatte es nicht erwidern können, und geändert hatte sich seitdem nichts. Für sie war es eine Tragik, und für ihn auch, denn er wollte niemanden leiden lassen. Seitdem hoffte er fortwährend, dass sie ihre wirkliche Liebe finden würde – aber er wusste, wie das war. Man konnte es nicht beeinflussen. Und es gab Tragik. Er konnte zu ihr nur so nett wie möglich sein – und hoffen, ihr Leid dadurch wenigstens ein bisschen zu lindern.

Sogar seine Tochter hatte ihn damals, als er es irgendwie erzählt hatte, gefragt, warum er es nicht erwiderte. Vielleicht nur, weil sie auch sein Leiden gesehen und gewollt hatte, dass er wieder glücklich sei. Aber daran lag ihm gar nichts. Ging es denn je darum, Leiden ,auszubessern’, als wäre es eine Krankheit? Damals war Paula sechzehn gewesen und hatte es in ihrem jugendlichen Übermut, aber auch ihrem jugendlichen Wollen nicht anders gewusst. Zwei Jahre zuvor war seine Frau bei einem tödlichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen – und danach hatten auch die Abendessen bei seinem Freund begonnen, die ihn tatsächlich unglaublich aufgefangen hatten.

Er hatte seine Frau geliebt. Und sie hatte noch mitten im Leben gestanden. Er wusste, dass sie nun einen anderen Weg ging – in den geistigen Welten. Dass sie noch immer existierte, und manchmal fühlte er sehr stark ihre Gegenwart, ihre Existenz, ihr Wesen. Aber das änderte nichts daran, dass ein so geliebter Mensch einem hier auf Erden, auch in physischer Anwesenheit, bis ins Sinnliche real und geliebt, entrissen war, für immer – oder für eine sehr lange Zeit, bis zu einem Wiederfinden in der geistigen Welt in einer gleichen Seinsweise und bis zu einer neuen Verkörperung, dann mit wohl umgekehrtem Geschlecht...

Und weil dies so war, und weil er all diese Jahre getrauert hatte, auf seine Weise, war die Frage seiner Tochter sinnlos gewesen, im Grunde, denn ein Mensch war einfach nicht zu ersetzen – und man konnte seine Liebe nicht nach Belieben verteilen und irgendwo wieder ,anschließen’, wenn es einfach nicht stimmte, so liebenswert der andere Mensch auch sein mochte. Er hatte es einfach nicht gekonnt. So sehr er sich Kerstin gegenüber auch schuldig fühlte – so sehr ihn ihr eigenes Leid, dass sie sorgsam zu verbergen suchte, auch rührte.

Inzwischen war auch Paula mit einem Jungen glücklich geworden, hatte sich dann wieder zerstritten, hatte auch gelernt, dass es so einfach nicht war, hatte sich wieder verliebt – und war letztes Jahr mit gut achtzehn in eine kleine WG gezogen und hatte ihn allein gelassen, was sicherlich auch gut war, denn sie strebte ins Leben, auf eine sehr wundervolle Weise... Gerne hätte er sie noch weiter bei sich gehabt, gerade weil sie so wunderbar war, aber er konnte ihr nicht geben, was sie brauchte, und was er ihr geben konnte, brauchte sie offenbar nicht ... oder noch nicht oder hielt es nicht für wichtig genug. Wie auch immer, sie vertraute ihren eigenen Schritten – und er vertraute ihr auch.

Jetzt stand sie mitten im Abiturstress, kurz vor ihren letzten Prüfungen, und dann wollte sie Sozialarbeit studieren – und war dies allein nicht bereits um ein Unendliches besser, als sich in einer einzigen Mittagspause heillos zu zerstreiten und in wenigen Minuten dasjenige zu zerbrechen, was zuvor über Jahre gewachsen war? Er sah mit einem traurigen Grauen der nächsten Woche entgegen und war fest entschlossen, zu retten und zu heilen, was zu retten und zu heilen war...

Er hatte am Samstag zunächst seine Wohnung gesaugt und wieder einmal aufgeräumt – und danach ein gutes Buch begonnen, das er schon vor längerer Zeit empfohlen bekommen hatte.

Er hatte sich vorgestellt, dass er dadurch entspannen könne, aber er konnte sich auf den Roman überhaupt nicht einlassen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu der kleinen Firma zurück – und dem, was ihn am Montag erwarten würde. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Buch wieder zur Seite zu legen. Er setzte sich gut hin und begann zu meditieren. In der anthroposophischen Meditation ging es meist nicht um Inhalte – es ging vielmehr darum, dass der reine Teil der Seele, die Geistseele gewissermaßen, sich zunächst fand und erkraftete und dann wirklich reale Kraft zu entfalten begann. Es war dann ein ,Kraften’ in einem rein übersinnlichen Bereich – wodurch sich der ganze Mensch immer mehr in diesem Bereich verwurzelte, anstatt ihn – und damit auch sich – immer mehr zu verlieren.

Nachdem er auf diese Weise etwa eine halbe Stunde oder länger meditiert hatte, ging es ihm sehr gut – und jetzt hätte er das Buch wirklich lesen können, aber stattdessen wandte er sich direkt der viel wesentlicheren Frage zu. Was hielt sie eigentlich zusammen? Sie vier? War es ein karmisches Band? Till hätte schon über die Fragen gelacht und gespottet – aber das hieß zunächst einmal nur, dass er sie verdrängte. Mit Kerstin gab es dieses Band definitiv – sie hätte sich sonst nicht in ihn verliebt und bereits so lange keine andere Beziehung begonnen, jedenfalls keine, von der er wusste oder sie erzählte.

Mit Ben gab es dieses Band ganz gewiss auch – jedenfalls empfand er etwas Tieferes als bloße Sympathie. Loyalität? Das mochte sein. Aber in manchen Momenten ging es tatsächlich noch tiefer. Man konnte wirklich spüren, ob man mit einem Menschen auch schicksalsmäßig, durch mehr als ein Erdenleben hindurch, verbunden war – in welcher geheimnisvollen Weise auch immer. Bens besonnene Art zog ihn sehr wohl auch an sich bereits an, war der seinen ähnlich und doch auch so anders – aber durch diese Ruhe hindurch sprach in ganz bestimmten Augenblicken noch etwas anderes. Dann war zu spüren, wie kurz auch immer, dass sie etwas verband, was Zeit und Raum dieses Lebens einfach überschritt. Man konnte dies nur spüren, wenn man von diesen Dingen wusste. Und selbst dann konnten sie einem entgleiten, konnte man mühelos darüber hinweg leben oder kurze zarte Empfindungen einfach nicht ernst nehmen, nicht einmal darauf achten.

Und wenn man etwas empfand, konnte man sich noch immer irren. Aber besser, sich zu irren, als ignorant und unsensibel an allem Geistigen vollständig vorbei zu leben und sich seiner selbst, dem Menschenwesens, immer weiter zu entfremden. Das Ziel konnte nur sein, mit diesem Geistigen wieder in immer innigere Verbindung zu kommen. Das ging nicht ohne Irrtum. Wer nicht bereit war, zu dieser zarten, übersinnlichen Sphäre immer wieder hinzuspüren – immer wieder mit diesem geheimnisvollsten reinsten Teil der eigenen Seele und mit leise durch sie, diese reinste Seele, sich bildenden geistigen ,Tastorganen’ –, der war gewissermaßen geistig schon tot. Tot, obwohl er lebte. Er führte ein geist-loses Leben...

Mit Till verband ihn am ehesten bloße Sympathie. Er mochte ihn wirklich. Aber die oft fast grobe Art von Humor blieb ihm doch dauerhaft fremd. Nicht, dass das ganz Fremde nicht auch eine karmische Verbindung umfassen konnte, aber auch das hätte man dann spüren können – auch wenn es schwieriger war. Spürte er hier jemals etwas? Bei Till? Die Art, wie Till heute reagiert hatte, sich gleichsam verbarrikadiert, ohne einen Schlüssel zu hinterlegen – das hatte ihn ihm auf einen Schlag fremder gemacht als je zuvor. Er hatte geglaubt, sie wären ein untrennbares Team. Aber dieser gestrige Tag hatte viel eher die Frage aufgeworfen, wie es am Montag überhaupt weitergehen sollte.

Letztlich waren alle Menschen miteinander verwandt – und müssten und könnten sich wie Brüder, wie Schwestern empfinden. Aber auch dafür hätte Till kein Verständnis – wie auch, wenn er es nicht einmal denen gegenüber empfand, die fast Bruder und Schwester für ihn waren.

Wenn sie aber nichts Karmisches verband, jedenfalls nichts Offensichtliches, so doch wenigstens ein Ideal? Aber auch damit war es nicht so weit her. Man trug das Wort ,Bio’ zwar vor sich her – aber die tägliche Routine, die nicht selten auch stressig sein konnte, ließ dies schnell zur bloßen Floskel herabsinken. Es war dann sozusagen nur noch die Erinnerung eines Ideals – eine Art ,da war mal was’. Und das war erschreckend. Diese Routine und dieser Verlust. Und für ihn machte es sich eben schon an dem Müll fest, den die mittägliche Abholmahlzeit während des ,Lockdowns’ mit sich gebracht hatte. Wo waren da die Ideale? Oft blickte er mit dieser Frage in die Augen der anderen ... und wusste nicht, was er dann sah.

Gewiss gab es diese Ideale – sie alle würden sonst nicht diesen Einsatz bringen. Aber vielleicht war es doch nur Loyalität und der Stolz, es immer wieder zu schaffen, gemeinsam. Aber selbst das war ja nicht wenig. Selbst darauf konnte man ja schon aufbauen – wenn dahinter nur ein wenig noch etwas anderes lebte, überlebt hatte. Aber man musste sich auf diese Dinge besinnen. Wo es zu Konflikten kam, trug alles nur noch, wenn man sich wieder zu besinnen vermochte. Die Frage war: Wollte man das überhaupt? Und wieder war man beim Willen, dieser zutiefst heiligen Seelenkraft. Aber wer heiligte sie heute überhaupt noch. Wer wusste noch von der Seele?

Er fühlte sich einsamer denn je. Auch er hatte sich mit dieser Firma identifiziert – diesem sympathischen Kleinstunternehmen, in dem vier Menschen um ein Dasein, eine Daseinsberechtigung auf einem hart umkämpften Markt rangen und denen es gelang. Gelungen war. Bis jetzt. Sie standen ein Stückweit für das Gute – für eine andere Landwirtschaft, für ein anderes Bemühen um brüderliche Zusammenhänge, für einen anderen Umgang auch miteinander. Bis jetzt. Was würde am Montag tragen? In die weitere Zukunft hinein? Würde etwas tragen? Er würde alles versuchen, dieses Etwas nicht nur zu finden, sondern zu schaffen.

*

Pünktlich um sechs Uhr stand er vor der Wohnungstür seines Freundes.

„Hallo, Clemens!“

„Hallo, Bastian!“

Die Umarmung war herzlich. Er spürte nur ein winziges Zögern bei seinem Freund – die ,Pandemie’ hinterließ überall ihre Spuren. Auch die Umarmung seiner Frau schien irgendeinen Abstand wahren zu wollen, obwohl auch sie sich herzlich gab.

Dahinter zeigte sich dann auch ihre Tochter.

„Hallo Laila! Groß bist du geworden!“

„Hallo...“, sagte sie etwas zögernd, völlig unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte, und keineswegs erpicht darauf, im Mittelpunkt zu stehen – oder mit solchen Floskeln konfrontiert zu werden, was er sehr gut verstand.

Sehr bald fanden sie sich in der großen Küche wieder, wo der Tisch bereits einladend gedeckt war und es herrlich duftete.

„Hanna hat sich heute wieder einmal selbst überboten, Clemens“, sagte Bastian verschwörerisch. „Du wirst sehen...“

„Ich sehe schon...“, erwiderte er staunend.

„Und was siehst du?“, fragte Bastian prüfend.

Er trat ganz an den Tisch heran und erwiderte schließlich:

„Tortellini mit Ruccola ... Gorgonzola und ... Avocado?“