Sehnsucht nach ... Anthroposophie - Holger Niederhausen - E-Book

Sehnsucht nach ... Anthroposophie E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Was ist Anthroposophie? Dieser Roman führt den Leser mitten in eine nicht theoretische, sondern existentielle Frage hinein. Was ist überhaupt das menschliche Leben – und welche Wege gibt es, das Leben so anzuschauen und zu vertiefen, dass sich völlig neue Horizonte auftun und sich das Wesen wahrhaft menschlichen Seins immer mehr offenbart? Ein Roman als lebendige Antwort auf die Frage nach der Anthroposophie und als lebendiges Wecken einer wirklichen Sehnsucht...

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

„Mit einer solchen Weltanschauung kann der Mensch das Leben so ansehen, daß er in diesem Leben wie derjenige steht, der auf einem Schiffe von den im Sturme auf- und abwogenden Wellen geschaukelt wird, aber doch in seinem Innern den Mut findet, auf nichts in der äußeren Welt im gleichen Sinne zu bauen wie auf die Kraft und Wesenheit seines eigenen Innern.“

Rudolf Steiner

„Und?“, fragte Grunert.

Baumann sah seinen abwartenden Freund nachdenklich an.

Dann wiederholte er dessen Frage langsam:

„Was Anthroposophie ist...?“

„Ja“, Grunert beugte sich vor. „Wie würdest du jemandem auf diese Frage antworten? Wie würdest du ihm versuchen, die Anthroposophie nahezubringen, ein Verständnis dafür?“

Baumann atmete einmal tief durch und blickte an seinem Freund vorbei auf das Fenster.

Wie oft hatten sie ähnliche Gespräche schon geführt! Hier oben in Karstens kleinem Arbeitszimmer direkt unter dem Dach, Karsten in seinem Sessel sitzend, er selbst auf dem kleinen Sofa; im Hintergrund der große, mit verschiedenen Papieren bedeckte Schreibtisch und dahinter das Fenster. Wie oft hatten sie hier schon gesessen, während es draußen geregnet hatte, während die Sonne geschienen hatte, bei Dunkelheit oder während man, so wie jetzt, mitten im April, draußen die Vögel zwitschern hörte.

Er seufzte.

„Das Problem ist – man kann auf eine solche Frage nicht in wenigen Worten antworten, das weißt du doch!“

„Ja, ich weiß“, sagte Grunert. „Ich meine auch gar nicht, dass jemand das in ein, zwei Sätzen erklärt haben will. Ich meine keinen Menschen, der sich ohnehin nicht interessiert. Stell dir vor, es würde wirklich jemand länger zuhören.“

„Aber wie lange?“, fragte Baumann.

„Keine Ahnung – so lange, wie du sein Interesse lebendig halten kannst...“

„Ja“, erwiderte Baumann langsam, „so lange also...“

Dann seufzte er noch einmal.

„Siehst du, Karsten, das ist gerade das Problem. Wenn man sich selbst der Anthroposophie so tief verbunden fühlt, ist es natürlich bereits schön, zu sehen, dass überhaupt jemand eine solche Frage stellt. Und zugleich weiß man, dass sofort die Uhr zu ticken beginnt... Sobald das Interesse nachlässt, hat man schon verloren...“

Grunert nickte, aber erwiderte energisch:

„Deshalb frage ich ja gerade. Wie kann man zu einer Antwort kommen, bei der das Interesse nicht nachlässt ... weil man gerade wirklich ein Erleben für das Wesen der Anthroposophie erwecken kann!?“

„Ich verstehe dich schon, und doch ist unser Bemühen um genau eine solche Antwort nur das eine. Ich habe eine solche Antwort schon so oft versucht, mit aller stiller Leidenschaft und Tiefe, die ich in mir finden konnte ... und dann doch den anderen Menschen oft nicht erreicht. Und weißt du, warum? Weil das, was er dann hörte, doch nicht das war, was er suchte. Weil sein Interesse doch anders gelagert war – weil dieses Interesse eben doch nicht ausreichte! Ich wollte es lebendig machen, wecken, erreichen ... aber der Andere wollte es nicht...“

Noch immer saß Grunert vorgebeugt auf dem Sessel. Ruhiger jetzt, aber noch immer mit leisem Drängen sagte er nun:

„Das kenne ich natürlich ebenfalls sehr gut, Michael. Aber das kann doch nicht die letzte Antwort sein! Wenn es stimmt, dass, wie Rudolf Steiner sagte, die Anthroposophie gerade dem tiefsten Interesse des Menschen entgegenkommt, dass sie die lebendige Antwort auf diese tiefste Frage ist, ja, dass sie dem Menschen gerade sein wahres Wesen entgegenträgt – dann muss einer richtig gefassten Antwort doch ein lebendig werdendes Interesse entgegenkommen?“

Baumann nickte traurig.

„Ja, das sage ich mir auch immer. Und dennoch ist es nur der eine Teil der Antwort. Selbst Rudolf Steiner hat nicht alle Menschen erreicht. Die meisten blieben uninteressiert – und manche wurden sogar Gegner, haben versucht, die Anthroposophie zu bekämpfen! Und ... selbst Gott, selbst ein Gotteswesen, konnte und kann diejenigen Menschen nicht erreichen, die sich nicht erreichen lassen wollen!“

Er sah seinen Freund an.

„Das weißt du doch? Es ist also beides wahr: Die Anthroposophie trägt dem Menschen sein eigenes wahres Wesen entgegen – und sie wird abgelehnt und nicht verstanden und gar nicht aufgenommen...“

Nun nickte auch Grunert.

„Ja, der Mensch entfremdet sich von seinem wahren Wesen immer weiter. Das, was in gewisser Weise schon Marx gesehen hat, sehr auf die materielle Arbeitswelt bezogen, ist längst eine viel tiefgreifendere spirituelle Tatsache. Und trotzdem,“ – wiederum sah er Baumann an – „wie würdest du antworten? Jetzt und hier fragt dich jemand – wie würdest du dann antworten?“

Baumann dachte zurück an vergangene Situationen – an die verschiedenen Menschen, mit denen er über diese Frage schon hatte sprechen können.

„Das hängt doch ganz vom Menschen ab. So allgemein kann man auf eine solche Frage doch gar nicht antworten!“

„Trotzdem“, beharrte Grunert, „was wäre dir selbst wichtig? Was müsste deine Antwort enthalten? Fang doch einfach einmal an...“

Baumann sah wiederum lange aus dem kleinen Fenster, in dem nichts anderes als ein Stück weißblauer Himmel zu sehen war. Draußen hörte man Kinderstimmen. Grunert wohnte mit seiner Familie in einem Neubauviertel mit viel Grün und einem kleinen Spielplatz ganz in der Nähe.

Wiederum blickte er in die Augen seines Freundes. Dann sagte er:

„Man kann die Anthroposophie nur verstehen, wenn in einem eine Suche erwacht. Man muss noch gar nicht wissen, dass es im tiefsten Sinne immer die Suche nach dem Wesen des Menschen ist, die in der Seele erwachen kann – aber erwachen muss sie. Eine Art Sehnsucht muss erwachen. Und wenn sie noch nicht erwacht ist, muss sie zunächst geweckt werden. Anders ist es nicht möglich...“

Er machte eine kleine Pause, um die Gedanken zu ordnen, die kamen.

„Ich würde also versuchen, diese Sehnsucht zu erwecken – und ein Bewusstsein dafür, wo wir Menschen heute wirklich stehen.“

„Wo stehen wir denn?“, warf Grunert in einer rhetorischen Frage ein. „Wie willst du das machen? Die Menschen wollen doch auch einen Katastrophenprediger überhaupt nicht hören...?“

„Nein, das wollen sie nicht“, gab Baumann zu. „Und doch weiß jeder Mensch tief innerlich, wo wir heute stehen. Man will es auch innerlich von sich selbst nicht hören – aber wissen tut man es doch. Man geht nur schweigend, oder vielmehr laut lärmend, darüber hinweg. Wenn man aber nicht zugleich auch seine eigene innerste Sehnsucht übertönen will, wird man dies irgendwann doch zur Kenntnis nehmen müssen: die Tatsache, wo die Menschheit heute steht...“

„Aber dann – wie willst du es machen?“

„Ich würde es aussprechen. Ich würde sagen: Anthroposophie ist nur zu verstehen, wenn man auch verstehen kann, immer mehr mit seinem ganzen Menschen spüren kann, in welcher Zeit wir heute stehen.“

„‚In welcher Zeit stehen wir denn heute?’“

Grunert spielte das vorgestellte Gegenüber.

„In einer Zeit, die das Menschliche immer mehr verleugnet und verdrängt. Menschen werden wie Nummern behandelt. Auf Ämtern und Behörden werden sie gegängelt, bevormundet, gedemütigt. Die, die keine Arbeit haben, werden zu allem Möglichen gezwungen, aber man fragt nicht, warum Arbeit und Profit nicht gerechter verteilt werden. Man fragt nicht, ob es nicht vielleicht möglich sein könnte, dass Jeder Arbeit hat, statt dass immer Weniger immer mehr tun, damit immer weniger Andere immer mehr profitieren...

Man fragt nicht, woher das kommt, dass früher ein Mensch, der einen Herzinfarkt hatte, sechs Wochen im Krankenhaus bleiben konnte, dass auch die Schwester Zeit hatte, einmal an seinem Bett zu sitzen und ihm zuzuhören... Während heute die Fälle nach Programm und Minutenplan abgearbeitet werden und nach vierzehn Tagen ‚in gebessertem Zustand’ entlassen werden, damit die nächsten Fälle kommen können und der ‚Turnover’ möglichst rentabel ist. Und die Schwestern haben keine Zeit mehr für den einzelnen Menschen. Nicht, weil sie sie nicht haben könnten – sondern weil es nicht zugelassen wird! Man gibt ihnen diese Zeit nicht mehr!

In der Schule wird immer weniger gefragt, wozu denn eigentlich gelernt wird. Die Antwort ist von vornherein klar: Für das Berufsleben! Für das Abitur und dann für das Berufsleben. Im Studium wird schon lange nicht mehr gefragt. Weißt du noch, dass zu unserer Zeit das Studium gerade noch die Möglichkeit gab, die eigene Persönlichkeit zu entfalten; Fragen zu stellen; eine wirkliche innere Selbstständigkeit zu entwickeln? Dann kamen die großen ‚Reformen’, dann kamen ‚Bachelor’ und ‚Master’ – und es spielte keine Rolle mehr, dass Menschen studierten ... junge Menschen, die gerade während dieser kostbaren Studienzeit immer mehr Mensch werden wollten! Jetzt sind sie nur noch ‚Humankapital’, jetzt ist alles standardisiert, sechs Semester, fertig, raus, arbeiten.

Das sind Beispiele, und es gibt viel mehr Beispiele, unzählige. Doch worauf es ankommt, sind nicht die Beispiele, sondern ist: zu erleben, was da eigentlich geschieht.

An diesem Punkt muss man wirklich verharren und mit aller Kraft versuchen, empfinden zu lernen, was hier geschieht! Wenn man dies kann, dann wird sich einem auch eröffnen, was Anthroposophie eigentlich ist. Wenn man es nicht kann, wird man auch sie nicht verstehen. Zuerst muss auf irgendeine Weise ein Empfinden dafür aufkeimen, was eigentlich das Menschliche ist – und zwar viel, viel tiefer, als man es als Begriff zunächst hat!“

„Was meinst du?“

Grunert nahm nach wie vor die Rolle des völlig Ahnungslosen ein und ergänzte:

„Natürlich ist nicht alles besonders ‚menschlich’ heutzutage, aber so ist unsere Zeit nun mal. Was soll man daran ändern? Früher war auch nicht alles ‚menschlich’. Eigentlich ist doch zum Beispiel die Schule viel besser geworden als früher – auch viel mehr auf das Kind konzentriert. Und das Studium – na ja, wir brauchen wirklich keine jungen Leute, die sechzehn Semester studieren. Statt ‚sich zu finden’, verlieren sie sich da ja immer mehr. ‚Selbstfindung’, das kann mancher lebenslang betreiben, ohne je einmal für Andere gearbeitet zu haben!“

„Ja, diese Argumente kennt man natürlich“, nickte Baumann.

„Das sind auch oft sehr richtige Einwände – und doch verdecken sie natürlich sofort wieder den Blick für das, was man eigentlich erleben lassen möchte. Es ist, wie wenn ein Frosch, der gerade gekocht werden soll, sich in dem Topf, in dem er gefangen ist, zurücklehnt und sagt: ‚Wenigstens wird es schön warm...’ Es hat immer wieder damit zu tun, dass man die volle, die eigentliche, die größere Wirklichkeit nicht sehen will – oder nicht zu sehen vermag.

Selbstverständlich wird manches besser, wenn es den prügelnden Lehrer, für den die Klasse nur eine Masse dummer Kinder war, nicht mehr gibt. Selbstverständlich möchte man auch die moderne Medizin mit ihren Möglichkeiten nicht mehr missen. Und selbstverständlich hat mancher Langzeit-Student schon immer ein schlechtes Licht auf die Studentenzeit überhaupt geworfen. Aber worauf kommt es denn eigentlich an? Darauf, zu sehen, dass alle positiven Entwicklungen begleitet und überlagert werden von einer großen anderen Entwicklung, die dabei ist, sämtliche Errungenschaften in Nichts aufzulösen, wirklich zunichte zu machen und sich gegen ihren eigentlichen Sinn zu kehren...“

„Das verstehe ich nicht!“, mimte Grunert.

„Die Medizin ist heute besser als früher – aber auch unmenschlicher! Die Schule ist heute in manchem besser als früher – aber zugleich droht sie, ganz und gar bloß Mittel zum Zweck zu werden, zu einem unmenschlichen Zweck. Das Studium ist heute viel ‚effektiver’ – aber es dient nicht mehr dem Menschlichen, es dient nur noch einem anonymen, großen Zweck, der sich vom Menschen immer weiter entfernt...“

„Ach was!“, spielte Grunert weiter ein ganz anderes Gegenüber, „meine Tochter hat Grafik studiert, hat danach eine zweimonatige Europareise gemacht und hat jetzt einen guten Job, mit dem sie zufrieden ist – und sie ist ein freundlicher, glücklicher, ausgeglichener Mensch...“

„Ja“, sagte Baumann, „es gibt immer wunderbare Beispiele. Doch die Frage ist: Wachsen solche wunderbaren Menschen wegen dieses Systems heran oder trotz dieses Systems? Und wenn man sieht, wie sehr die traurigen, erschreckenden, desillusionierenden Beispiele zunehmen, weiß man die Antwort. Es gibt trotz dieses Systems noch immer die großartigen Ausnahmen. Aber ... das Schlimme ist, man hat in der Regel keinen Vergleich. Man kennt immer nur die Gegenwart. Man kennt zudem immer nur seinen kleinen Umkreis – und man flüchtet sogar vor der Erkenntnis erschreckender Wahrheiten.

Es gibt hunderte von Menschen, die einem ganz Anderes erzählen könnten als dieses schöne Beispiel der jungen, glücklichen Grafikerin. Und selbstverständlich sucht jeder Mensch sein Glück, sucht aus allen Umständen immer wieder das Beste zu machen. Aber die Frage ist: Ist man fähig, die größeren Entwicklungen zu sehen, zu erkennen, zu empfinden?

Ihrem ganzen Charakter, ihrer ganzen Richtung nach? Ist man fähig, zu fühlen, worauf fast alle Entwicklungen der neueren Zeit nach und nach hinauslaufen?“

„Worauf denn?“

„Auf eine Mechanisierung und Standardisierung – die immer mehr das ganze Leben ergreift. Auf ein Zurückdrängen des Menschlichen, dessen, was den Menschen ausmacht und diesem wirklichen Menschen überhaupt erst die allmähliche Entwicklung ermöglichen würde. Der Mensch ist im Begriff, immer weniger da zu sein – aber man muss überhaupt erst lernen, zu begreifen und zu erleben, was damit eigentlich alles gesagt werden will!“

Baumann hatte sich längst aufgesetzt und fuhr nun voller Eifer fort:

„Denn, nicht wahr, natürlich fühlt sich jeder Mensch als Mensch – jeder kennt sich ja nur so, wie er nun einmal ist, und wer würde abstreiten, dass er Mensch ist, dass wir alle Menschen sind? Aber wiederum hat man keinen Vergleich!

Wiederum weiß man gar nicht, was mit ‚Mensch’ in tiefstem Sinne eigentlich noch gemeint sein kann! Der Mensch ist in Wirklichkeit viel, viel mehr als das, was er heute verwirklicht ... und als das, was heute durch die immer mehr zur Herrschaft kommenden angedeuteten Tendenzen überhaupt noch zugelassen wird!“

„Na ja, du übertreibst wirklich“, spielte Grunert seine Rolle weiter. „Natürlich war die Wirklichkeit nie ideal – aber die Menschen mussten nun einmal immer schon sehen, wie sie zurechtkamen. Und dann gab es immer die, die von einer heilen Welt gepredigt haben, von nahenden Katastrophen, von einer völligen Umkehr, von einem ‚Aufwachen’ und so weiter. Die gab es und wird es immer geben. Aber trotzdem muss man doch in der Wirklichkeit zurechtkommen und nicht irgendwas herbeiträumen, was eh nie kommt. Da würde man ja nur verzweifeln – und auch noch ganz sinnlos! Also Katastrophenprediger kann wirklich niemand gebrauchen...“

Baumann lächelte.

„Du spielst eine gewisse Rolle wirklich sehr, sehr gut, Karsten. Du drängst mich und das, was ich sagen will, wirklich vollkommen an die Wand.

Aber genau so ist es. Die Menschen fliehen mit aller Gewalt vor der Erkenntnis, dass irgendetwas anders sein könnte, als sie es anschauen – vollkommen anders. Das, wovor die Menschen am meisten Angst haben, ist, dass die Welt ganz anders sein könnte, als sie sie immer gesehen haben. Dass sie selbst ganz anders sein könnten – dass sie es aber versäumt haben, danach zu streben; dass sie etwas zutiefst Wesentliches in ihrem Leben versäumt haben könnten. Und ich meine jetzt nicht diese oder jene Handlung, ich meine das Leben selbst, ich meine eine innere Entwicklung, durch die man überhaupt erst innerlich etwas wahrgemacht hätte, was man nun niemals kennenlernen wird...“

„Was meinst du?“

„Wirst du unsicher?“, fragte Baumann lächelnd.

„Keine Ahnung“, spielte Grunert weiter. „Du könntest deine Geheimnistuerei etwas näher erklären.“

„Nun – selbst wenn man sich für die große Entwicklung der Menschheit, für die Frage, wohin die Menschheit treibt oder getrieben wird, nicht interessiert, so bleibt immer noch die Frage des eigenen, individuellen Lebens. Irgendwann begegnet einem auch im eigenen Leben das Leid – geliebte Menschen trifft ein Schicksalsschlag oder sogar der Tod, einen selbst trifft ein Unglück, ein bleibendes Leid. Was auch immer – solches Leid wird kommen, früher oder später. Und dann ist das Leben, wie man es kannte, zu Ende. Bis dahin, bis zu diesem Punkt, kann man auf einer Insel des Glücks, des kleinen, ganz persönlichen Glücks leben, auf einer Insel der Illusion – auf der man an nichts denken muss, auf der man die Welt so sehen kann, wie man will, und genau das geschieht ja. Doch wenn das Leid hereinbricht, ist nichts mehr so, wie es war. Spätestens dann wird man – oder sollte man – sich fragen, was denn eigentlich der Sinn dieses Lebens ist oder aber war. Spätestens dann sollte die Illusion des angenehmen, sorglosen, in der bloßen Sinneswelt schon befriedigten Lebens Risse bekommen, kräftige Risse...“

„Also doch der Bußprediger“, versetzte Grunert.

„Nein“, erwiderte Baumann, „der Wirklichkeits-Prediger. Man kann vor der Wirklichkeit so lange weglaufen, bis sie einen einholt. Bis dahin kann man jeden, der einen auf die Tatsache weisen will, dass man es sich in einer bequemen Lebenslüge eingerichtet hat, schlechtmachen. Wenn einen dann aber die unausweichliche Wirklichkeit schließlich doch einholt, wird das nicht mehr gehen. Dann kann man nur noch jammern, wenn man mag – es wird sich aber dafür niemand interessieren, so wie man selbst bis dahin auch an allem Leid vorbeigeschaut hat. Man wird mit seinem Leid allein sein – vielleicht, wenn man Glück hat, umgeben von einigen Lieben, aber helfen werden diese einem auch nicht können. Das Leben ist nur so lange angenehm gewesen, bis einen das Glück verlässt und das Leid kommt... Dann zerplatzen alle Lebenslügen, das Leben, wie man es kannte, ist schlicht und einfach zu Ende.“

„Ja, und? Wenn das der Lauf der Dinge ist – warum soll man es nicht bis zu diesem Punkt genießen, so gut es geht?“

„Das kann man tun“, erwiderte Baumann. „Nur kommt früher oder später dieser Punkt, wo man vor den Scherben des bisherigen Lebens steht und sich fragen muss: Was war eigentlich der Sinn von allem? Und was bleibt mir noch? Das Warten auf den Tod? Irgendwann, selbst wenn man von größerem Leid verschont bleibt, steht man vor der Tatsache, dass man die Hälfte des Lebens bereits klar überschritten hat; dass einem, wenn alles gut geht, vielleicht noch zwanzig Jahre bleiben, vielleicht noch zehn – dass der Tod einfach unausweichlich näher rückt. Man kann selbstverständlich bis zur letzten Minute davor weglaufen. Doch die mit dem Tod verbundene große Sinn-Frage, die große Frage: Was hast du eigentlich aus deinem Leben gemacht? Wie hast du eigentlich gelebt? Und was, was hast du versäumt? – diese Frage stellt sich immer lauter, je näher der Tod kommt. Sie stellt sich immer, in jedem Moment, aber hören tut man sie erst sehr spät, und manchmal scheinbar gar nicht...“

„Aber was will der Moralprediger mir nun eigentlich sagen?“, fragte Grunert lauernd.

„Nichts“, erwiderte Baumann dem Freund. „Wenn jetzt noch immer nicht einmal eine leise eigene Frage auftaucht, muss ein solcher Mensch seinen Weg einfach zunächst weitergehen, wie er ihn gegangen ist. Dann liegt das Fragen vielleicht erst sehr viel später auf seinem Lebens- und Leidensweg. Dann ist sein wahres Wesen noch zu undurchdringlich unter einer dicken Schicht fester Vorstellungen vergraben, und es fehlt noch absolut der Mut, den es bräuchte, um echte Fragen zu haben zu beginnen.“

„Welche Fragen will der Herr mir denn nahelegen?“

„Nein, Karsten, beziehungsweise wer du jetzt bist, so funktioniert es nicht. Du spielst wirklich sehr gut die Reaktion des modernen Intellekts. Dies zeigt wunderbar, wie sehr sich der Mensch innerlich über all diese Versuche stellt, ihn auf etwas aufmerksam zu machen. Lächelnd und spottend blickt er darauf herab, und selbst da, wo die unangenehmen Wahrheiten eigentlich schon kaum übersehbar vor einem stehen, wird immer noch spöttisch abgewiegelt und herabgesetzt... Wenn es aber so wichtig ist, seine mühsam aufrechterhaltene Weltanschauung zu wahren, dann mag man seinen Weg weitergehen – bis die Sackgasse auch für einen persönlich kommen wird... Wer noch nicht bereit ist, wirklich ehrlich, absolut ehrlich Fragen zu haben und eine wenn auch späte Suche zu beginnen, der muss die Illusion wirklich bis zum bitteren Ende treiben.“

„Tja dann – danke für das nette Gespräch!“, kommentierte Grunert.

Baumann lächelte traurig.

„Gerne – mögen Sie sich oft daran erinnern!“

Grunert sah nachdenklich vor sich hin.

„Ist es nicht so?“, fragte Baumann ihn.

„Doch“, nickte er, „du hast Recht. In einem solchen Fall kann man nichts mehr tun. Du hast alles versucht...“

Dann, nach einer kurzen Pause fragte er:

„Wie ist eine solche Illusion möglich?“

Baumann erwiderte den Blick seines Freundes.

„Du weißt es. Wenn man es diesen Menschen erklären wollte, würden sie einen für verrückt halten. Denn wenn man schon an das wahre Wesen des Menschen nicht glauben kann; wenn man schon nicht glauben kann, dass der Mensch ein geistiges Wesen ist, wird man an andere geistige Wesenheiten erst recht nicht glauben können. Denn dies ist ja erst recht ein Angriff auf den selbstgefälligen Hochmut, mit dem man durchs Leben geht! Innerliches Streben und innere Entwicklung? Wozu!? Der Mensch ein geistiges Wesen? Was soll das denn? Und unser Tun und Lassen beeinflusst von anderen geistigen Wesenheiten? Das sind wirklich verrückte Hirngespinste irgendwelcher Esoteriker, die nichts Besseres zu tun haben, als ihre Träumereien immer weiter zu treiben...

Verstehst du? Man immunisiert sich gegen jegliche Erkenntnis in dieser Richtung, indem man diejenigen zu Träumern und Verrückten erklärt, die der eigenen Illusion Risse versetzen könnten... Und selbstverständlich ist in der heutigen Zeit die Möglichkeit, an solche realen Wesen und Mächte zu glauben, gründlich ausgerottet. Der Mensch sieht sich als das einzige, höchste Wesen auf der Welt. Gott ist tot. Und selbst wenn man noch an einen solchen Gott glaubt oder möglicherweise sogar an Engel – im Zeitalter des New Age ist ja alles wieder möglich –, so doch zuallerletzt auch an Wesenheiten, die im nicht guten Sinne radikal und immer wieder das menschliche Handeln beeinflussen und bestimmen könnten. Das erscheint in der heutigen Zeit als absolut absurd – und wird also absolut nicht geglaubt.“

„Ja“, stimmte Grunert zu. „Das haben die Widersachermächte großartig hinbekommen. Sie haben dem Menschen erfolgreich den Glauben an sie und an sich selbst ausgetrieben.“

„Und indem der Mensch jegliches spirituelle Wissen und Ahnen über Bord warf, fühlte er sich erst recht als die Krone der Schöpfung – an die er auch nicht mehr glaubte. Der Mensch ist nun das höchste Wesen im All, der homo intellectus. Brillant hat er die rein auf die Sinneswelt bezogene, ganz und gar irdisch gewordene Intelligenz auf die Spitze getrieben – und meint, alle früheren Zeitalter hätten noch allen möglichen Unsinn geglaubt, dem er nun endlich entwachsen sei.“

Es klopfte.

Herein kam ein hübsches, fast erwachsenes Mädchen, Grunerts Tochter Sylvia. Sie hatte langes, leicht gelocktes braunes Haar und trug große Ohrringe.

„Hallo, Herr Baumann“, grüßte sie, dann wandte sie sich an ihren Vater. „Ich soll einkaufen gehen, und du sollst mir Geld geben, hat Mama gesagt.“

„Hallo, Sylvia“, grüßte Herr Baumann zurück. „Wie geht es dir?“

„Gut.“

Grunert holte sein Portemonnaie hervor und gab ihr fünfzig Euro.

„Sag mal, Sylvia, du hast doch irgendwann aufgehört, an Engel oder irgendetwas in dieser Richtung zu glauben, richtig?“

„Ja, warum?“

„Ja – warum?“

„Keine Ahnung, warum sollte ich? Ich sehe sie nicht, ich erlebe sie nicht – für mich sind sie nicht da.“

„Und wenn gewisse Wesen geradezu ein Interesse daran haben, dass man nicht an sie glaubt, um ihr Wirken nicht zu bemerken?“

„Finde ich Unsinn. Und selbst wenn es so wäre – sollen sie halt...“

„Und es irritiert dich auch nicht, dass es für uns ganz zweifellos ist?“

„Nö, könnt ihr ja machen. Ich will aber nicht an so was glauben.“

„Warum nicht?“

„Ich brauche das nicht. Es stört mich. Wozu soll das gut sein?

Wenn das wichtig ist, kann ich mir später immer noch Gedanken darüber machen. Jetzt stört es mich einfach nur. Ich will selbst leben und mir nicht immer vorstellen müssen, dass andere Wesen mein Verhalten beeinflussen könnten.“

„Aber wenn es –“

„Nein, Papa“, unterbrach sie ihren Vater. „Darüber haben wir ja schon öfter gesprochen. Ich will von dir gar nicht überzeugt werden. Ich will jetzt einkaufen. Selbst das will ich eigentlich nicht, aber das muss ich nun mal... Tschüss, Herr Baumann!“

„Auf Wiedersehen, Sylvia.“

Schon war sie wieder weg.

Grunert sah zu seinem Freund hinüber.

„Siehst du?“

„Ja, ich sehe.“

„Was also soll man hoffen, wenn man selbst bei den eigenen Kindern keine Chance hat?“

„Ja“, nickte Baumann, „das ist die Frage... Vielleicht aber fehlt uns dann selbst noch der richtige Ernst.“

„Wie meinst du das?“, fragte Grunert überrascht.

„Nun“, erwiderte sein Freund, „ich glaube nicht, dass man seine Tochter zwischen Tür und Angel mal eben so etwas fragen sollte.“

„Das habe ich ja auch nicht getan, um sie zwischen Tür und Angel doch noch zu überzeugen“, verteidigte sich Grunert.

„Trotzdem. Es ist keine Frage, die man interessehalber oder um etwas vorzuführen mal eben stellen kann. Auch dafür ist sie viel zu ernst.“

„Aber ich habe sie doch ernst gestellt.“

„Nun ja“, erwiderte Baumann, „wenn du davon sprichst, dass man irgendwann einfach aufhören kann, an Engel ‚oder irgendetwas in dieser Richtung’ zu glauben...“

„Aber so ist es doch?“

„Trotzdem – du sprichst darüber, als ob es wirklich eine bloße Glaubenssache wäre.“

„Für sie ist es das doch.“, wandte Grunert ein.

„Ja, aber du hast gesprochen. Und wenn du sprichst, müsste man bis in die Worte hinein hören, dass es nicht so ist.“

„Das mag sein, dass ich es sehr unvollkommen getan habe.

Aber heißt das, du meinst, sie würde wieder daran glauben, wenn du davon sprichst?“

„Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte Baumann. „Ich sprach nur von der Frage, wie sehr die Anthroposophie in uns lebendig ist...“

„Wenn du aber die Möglichkeit hättest, mit ihr zu sprechen, wie würdest du versuchen, es ihr zu erklären?“

„Ich würde es überhaupt nur versuchen, wenn ich spüre, dass sie in dieser Richtung Fragen hat.“

„Hast du bei deinen Kindern auch auf Fragen gewartet?“

„Karsten! Du weißt doch, was ich meine. Erstens ist sie kein Kind mehr, und zweitens ist sie deine Tochter, nicht meine. Ich könnte in dieser Situation also wirklich nur auf Fragen ihrerseits reagieren. Diese müssen nicht einmal ausgesprochen sein, aber fühlen müsste man sie. Dann könnte ich etwas sagen, sonst nicht.“

„Also gut, nehmen wir an, sie hätte vielleicht Fragen. Wie würdest du versuchen, es ihr zu erklären?“

„Was erklären?“, lächelte Baumann.

„Die Wirklichkeit der Widersacher“, erwiderte Grunert, „das habe ich eben doch gesagt.“

„Ja, aber nun hast du es hinter einem einfachen ‚es’ versteckt. Als wenn es eine rein technische Angelegenheit wäre. So darf man darüber nicht sprechen, Karsten! Bitte sei mir nicht böse, wenn ich darauf immer wieder beharre. Aber dies ist mir so unendlich wichtig. Und nicht nur mir – es ist wichtig!“

„Ja, du hast Recht“, lenkte Grunert ein. „Ich weiß es ja auch.

Nur gelingt es mir wirklich oft noch nicht.“

„Wenn wir wirklich hoffen, andere Menschen zu erreichen, wenn diese Hoffnung uns ernst ist, dann müssen wir selbst mit der Anthroposophie vollkommen ernst machen – sonst werden wir definitiv niemanden wirklich erreichen können, allenfalls diesen oder jenen einzelnen Menschen, den wir dann aber auch noch durch unsere zu oberflächliche Art in die Irre führen. Der Ernst muss fortwährend die große Frage unserer eigenen Selbsterkenntnis sein!“, sagte Baumann ruhig.

„Ja, ich stimme dir natürlich zu, Michael. Aber manchmal ist es wirklich schwer.“

„Nun, für deine Tochter ist es sicher mindestens genauso schwer, an etwas zu glauben, an das sie gar nicht glauben will, wie sie sagt.“

„Ja, du hast Recht.“

„Also gut, wie würde ich versuchen, mit ihr darüber zu sprechen...“

Baumann sah eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann sagte er:

„Man kann nur an einem Punkt ansetzen, wo der Mensch fühlen könnte, dass er mehr ist als ein biologisch-psychisches Wesen. Wie könnte man sich je der Realität anderer, rein geistiger Wesen annähern, wenn man nicht zuerst ein deutlicher werdendes Empfinden davon bekommt, dass der Mensch, dass man selbst auch etwas in sich trägt, was wirklich etwas Geistiges sein muss – etwas Höheres als das, was die heutige Wissenschaft und Weltanschauung kennt.“

„Und...?“, fragte Grunert abwartend.

„Hat deine Tochter Ideale? Trägt sie in sich eine Liebe zum Guten?“

Grunert überlegte.

„Ich weiß nicht... Du kennst sie doch auch ein wenig?“

„Ja, ein wenig. Nun, siehst du, jeder Mensch hat irgendwo in sich diese Liebe zum Guten. Die Frage ist nur, wie tief ist sie verborgen... Die Frage ist, in welcher Weise muss man sprechen, damit in der Seele diese Liebe berührt wird; damit die Seele diese Liebe wiedererkennt und innerlich darauf antwortet...? Bei den jungen Menschen geht der Sinn und die Seele sehr stark auf die äußere Welt hin, und so kann es sehr schwierig sein, in einem Gespräch das Empfinden auf jenen Teil in der Seele zu lenken, in dem das wahrhaft Gute lebt, die wirkliche, starke Liebe zum Guten. Aber möglich ist es doch!“

Baumann lächelte, dann fuhr er fort:

„Sieh mal, sie kam hier rein und sagte: ‚Ich soll einkaufen, und du sollst mir Geld geben.’ Ich sehe darin so viel Gutes, so unendlich viel! Man hat gemerkt, dass sie nicht unbedingt gerne einkaufen geht – aber zugleich hat man gefühlt, dass sie es doch ohne jeden Zweifel tun wird. Hinter dem ‚soll, soll’, hinter dieser scheinbaren Abwehr steckt ein unendlicher guter Wille! Es wären so viele andere Reaktionen denkbar! Es wäre denkbar, dass sie schon vor ein, zwei Jahren in völliger Antipathie das Haus verlassen hätte – aber sie ist hier, und sie hat so unendlich viel guten Willen! Ich sehe das – es ist unmittelbar sichtbar!“

Grunert schüttelte staunend den Kopf.

„So habe ich es noch nie betrachtet... Aber gut. Und wie willst du nun weiter daran anknüpfen?“

„Nun – wenn sie wirklich Fragen hätte, das bleibt immer die Voraussetzung. Wenn man wirklich eine Sehnsucht nach Antworten in dieser Richtung spüren könnte. Dann würde ich tatsächlich versuchen, ihr diesen in ihr selbst lebenden guten Willen bewusst zu machen. Ich würde versuchen, sie erleben zu lassen, wo überall der Mensch guten Willen hat. Ich würde mit ihr sprechen und sie manches fragen und sie darauf hinweisen, wo überall in ihr dieser gute Wille lebt.

Und dann würde ich versuchen, sie empfinden zu lassen, dass dies absolut nichts ist, was in irgendeiner Weise biologisch oder psychologisch erklärt werden könnte. Dass es etwas ist, was viel ... heiliger als all diese Erklärungsansätze ist. Eine viel heiligere, höhere Realität als alles, was irgendwelche Bedingungen haben könnte. Der gute Wille ist etwas absolut Unbedingtes – er ist entweder da oder nicht da. Er ist nur durch sich selbst bedingt. Die Liebe, die wirkliche Liebe, die in dem heiligsten Teil der Seele wohnt, hat keine äußeren Bedingungen, sie hat nicht einmal seelische Bedingungen – sie ist etwas, was aus einem noch höheren Reich kommend in der Seele leben darf, beziehungsweise umgekehrt: die Seele darf dies in sich tragen und hüten. Es ist eine Art Gnade, etwas vom Standpunkt der Seele aus Unvorstellbares. Die Seele kann nur tief dankbar davorstehen, dass sie diesen guten Willen haben darf, dass sie wirklich Liebe in sich tragen darf. Es ist nichts Geringeres als ein Wunder! Aber das muss man wirklich empfinden! Man muss sich daran annähern, dieses Rätsel, dieses Mysterium, dieses Wunder wirklich empfinden zu können, voller Staunen, und immer mehr Dankbarkeit darüber erleben zu können...“

„Nun“, wandte Grunert ein, „ich glaube nicht, dass Sylvia darüber staunen könnte.“

„Sag das nicht“, erwiderte Baumann, „es kommt einzig und allein darauf an, ob man wirklich empfinden kann, was mit diesem guten Willen, mit diesem Willen zum Guten, mit dieser wunderbaren Bereitschaft, das Gute zu tun, wirklich gegeben ist. Sobald man es wirklich erlebt, kann man nur staunen. Es gibt im Angesicht eines Wunders keine andere Reaktion als ein erschüttertes Staunen – die Frage ist nur, sieht man das Wunder oder sieht man es nicht...“

Grunert nickte langsam.

„Ja, ich verstehe, was du meinst...“

„Es ist also nicht nur ein mehr oder weniger guter Wille – der verschiedenste Gründe haben könnte ... Dankbarkeit für das, was man selbst bekommen hat, Bedürfnis nach Kontakt, nach sozialen Beziehungen, nach Gemeinschaft und all dies. Das liegt natürlich auch alles im Menschen, aber auch dies müsste man alles viel tiefer anschauen. Solange man aber all dies nur oberflächlich ‚registriert’ und daraus Erklärungen ‚zusammenzimmert’, wird man nie zu einem Verständnis des wahrhaft guten Willens kommen. Dieser lebt in der Seele als ein uneingeschränkt guter Wille, als ein absolut von aller Selbstbezogenheit freier guter Wille, als reine Liebe, bedingungslos und unendlich. So kommt sie nie zur Geltung, aber in einem Teil der Seele ist sie so vorhanden! Würde sie sich jemals frei entfalten, und sei es für einen einzigen Augenblick – der Mensch würde zutiefst lieben, was auch immer ihm begegnet, und er würde frei sein von allem Selbstbezug. Einzig und allein der gute Wille würde in seiner Seele strömen, sie in diesem Moment ganz und gar erfüllen, und er würde ein liebendes Wesen sein...“

Ein kleines Schweigen trat ein, in dem die Worte und ihre Bedeutung nachklangen.

„Und warum geschieht dies nicht?“, fragte Grunert.

„Dies würde geschehen, wenn der Mensch für einen Moment seinen Leib loslassen könnte und wenn er auch alle Wirkungen und Einflüsse loslassen könnte, die ihn in seinem Bewusstsein, seinem Denken, Fühlen und Wollen so sehr an sich selbst ketten. Es ist die Grundlage unseres felsenfesten Selbstbewusstseins, wie wir es zunächst nur kennen, aber es ist auch eine Gefangenschaft. Es ist eine Gefangenschaft für jenen reinen, wunderbaren Teil der Seele, der lieben möchte – aber nicht kann, weil er gefesselt und gebunden in einem finsteren Verließ liegt. Es wird nicht zugelassen!“

„Wer lässt es nicht zu?“

„Allerstärkste Mächte. Und hier, siehst du, Karsten, hier beginnt die spirituelle Menschenkunde. Wenn man hier mitgehen kann, steht man auf einmal schon mittendrin in der Anthroposophie. Zu erleben, ahnend zu erleben, dass es einen Teil in der Seele gibt, der wahrhaft heilige Liebe ist ... die zur Offenbarung kommen möchte, aber doch niemals erscheinen darf, die aber dennoch eine Realität in der Seele ist, eine gefangene, verborgene, eine gekettete, gedemütigte wesenhafte Realität ... wenn man dies auch nur für einen einzigen Moment ernst nehmen kann und fühlt, was damit eigentlich ausgesprochen ist, dann hat man den Weg einer höheren Wirklichkeitserkenntnis betreten. Hier beginnt er.

Fühlen muss man, was wirklich im Menschen da ist ... und was da sein möchte, auch nach außen hin, was wirksam werden möchte, was sich offenbaren will, was frei werden will! Fühlen muss man, wie dieses Heilige in der Seele fortwährend in den finstersten Tiefen gefangen liegt, wie es fortwährend verspottet wird, wie es getreten wird, verlacht, verhöhnt wird. Wie es sich allem anderen beugen muss, wie es all dies geschehen lassen muss, weil nur ein Einziges es erlösen könnte...“

„Was?“, fragte Grunert.

„Der Wille des Menschen.“

Die Worte lagen mit ihrem ganzen Gewicht schwer in der Luft.

Dennoch nahm Grunert wieder den Gegenpart ein:

„Aber die Menschen lieben doch? Sie tun doch vieles aus Liebe? Sie lieben ihre Kinder, ihre Eltern, ihre Freunde, sie mögen ihre Kollegen...“

„Nein, Karsten! Hier sollen wir nicht relativieren. Und all diesen Einwänden müsste ruhig, aber entschieden entgegengetreten werden. Man kann sich natürlich immer weiter selbst belügen wollen – aber die reine, die grenzenlose und unbedingte Liebe ist zu heilig, um sie ernsthaft mit irgendetwas vergleichen zu wollen, was jetzt schon Realität ist. Das gewöhnliche Leben ist immer nur Offenbarung einer im Vergleich zu dieser Liebe unendlich schwachen, unendlich bedingten und unendlich mit dem Selbst verknüpften Liebe.

Man ist der wahren, heiligen Liebe in der Seele des Menschen gegenüber absolut unehrlich, man verrät und verhöhnt sie hemmungslos ein weiteres Mal, wenn man das, was man im gewöhnlichen Leben ‚Liebe’ nennt, mit ihr, mit dieser wahrhaft heiligen ... ‚Essenz’ auch nur vergleichen wollte!

O ja, man liebt – aber zugleich erwartet man so stark und unbedingt auch Gegenliebe, zumindest Dankbarkeit. So sehr sehnt man sich nach Erwiderung, nach Geliebt-Werden, nach Bestätigung, Anerkennung. So sehr liebt und genießt man auch seine eigene Liebe ... so sehr tut man all dies, dass man gar nicht merkt, wie tief und unauflösbar diese ganze ‚Liebe’ mit dem eigenen Selbst verknüpft und verklebt ist. Wenn man auch nur ein bisschen von der absoluten Selbstbezogenheit loskommt, erlebt man dies gleich als ‚Liebe’ – aber man hat keine Ahnung davon, was die wirkliche, die absolut reine Liebe sein könnte und wäre!

Eine Liebe, die im nächsten Moment durch irgendein leicht vorstellbares Ereignis verletzt und enttäuscht sein könnte, einfach so gedämpft werden oder sogar verlöschen könnte, ist keine Liebe! Sie ist zwar Liebe, aber zutiefst durchdrungen von Gegenkräften, die nicht Liebe sind.“

„Aber ist das nicht normal?“, fragte Grunert.

Baumann lächelte.

„Doch, das ist ‚normal’. Das ist der Mensch! Aber das ist auch das Drama – das von so Vielen ewig unerkannte Drama des Menschenwesens. ‚Normal’ ist das, was man immer wieder wahrnimmt, was man gar nicht anders kennt. Doch was, wenn das Furchtbare ‚normal’ wäre? Man würde seine Furchtbarkeit gar nicht erkennen! Und so ist es. Und auch das Erschütternde dieser reinen, heiligen Liebe erkennt man nicht, weil sie niemals in Erscheinung treten darf! Und man erkennt das Erschütternde ihrer Gefangenschaft nicht, weil man ihre Gefangenschaft gar nicht erkennt. Stell dir einmal vor, es gäbe eine unendlich schöne Königin, schön in ihrem Inneren und ihrem Äußeren. Jeder würde sich ihr willig beugen und unter ihrer sanften ‚Herrschaft’ jubeln, weil sie nichts als reinstes Glück bedeutet. Aber stell dir vor, diese wunderschöne, in ihrem Herzen reine und heilige Königin wäre in einem niemandem bekannten Kerker gefangen, und niemand wüsste von ihr. Niemand wüsste von ihr! Niemand, außer jene Mächte, die sie gefangen halten...“

„Ja“, nickte Grunert nachdenklich. „In diesem Bild wird plötzlich die ganze Tragik erlebbar. Was äußerlich ein kaum erträglicher Gedanke wäre, bleibt ebenso furchtbar, wenn man sich wirklich einmal klarmacht, dass dies im Inneren des Menschen selbst gerade ebendiese Realität ist!“

„Ja“, erwiderte Baumann. „Und ein Erleben dieser Realität brauchen wir! Wir müssen dahin kommen, diese Realität selbst zu erleben. Dahin müssen die Menschen kommen – und dahin können sie kommen. Und wenn sie dieses Erleben haben ... dann hört Anthroposophie auf, etwas Seltsames zu sein, etwas Fremdes, etwas von außen Kommendes. Dann fängt man selbst an, zu verstehen, wie die Zusammenhänge sind; man fängt selbst an zu empfinden. Man fängt selbst an, fähig zu werden, den aufsteigenden Fragen weiter nachzugehen und sie in der Realität zu beantworten. Die Fragen bleiben nicht mehr theoretisch, sie werden eine Wirklichkeit! Sie werden zu etwas real mit dem realen Menschenwesen Verbundenen! Und das schließlich ist Anthroposophie – die Wirklichkeit des Menschen!“

„Und der mit dem Menschen verbundenen Wirklichkeit“, ergänzte Grunert.

„Ja – denn sobald du in die wirkliche Realität des Menschenwesens eintauchst, hast du sofort auch einen Teil dieser anderen Wirklichkeit. Du kannst gar nicht real in die Wirklichkeit dessen eintauchen, was der Mensch ist, ohne auf diese umfassendere Wirklichkeit zu stoßen. Schon diese heilige Liebe, die wir finden können, wenn wir uns nur tief, tief ernst besinnen, müssen wir als aus einer heiligen Welt kommend empfinden, wenn wir wirklich wahrhaftig sind. Wie soll etwas bloß gewöhnlicher, leicht erklärlicher Teil des Menschen sein, wenn es ohnehin niemals in Erscheinung tritt? Nein, es ist damit ein tiefes Rätsel, ein echtes Mysterium verbunden. Und indem wir dies empfinden lernen, führt der Weg weiter ... weiter zu einem immer weitergehenden Empfindenlernen der vollen Wirklichkeit.

Die nie in Erscheinung tretende, aber im tiefsten Inneren der Seele zu findende reine, heilige Liebe ist ein Mysterium, und das, was sie bindet und kettet und hindert, ist ebenfalls ein Mysterium. Zuerst muss man diese Dinge empfinden lernen – dann kann man nach und nach dazu kommen, zu verstehen, was da eigentlich vorliegt. Erst muss diese Wirklichkeit wirklich wahrgenommen werden – dann beginnt sie nach und nach, sich zu differenzieren, durch ganz allmählich wachsende, deutlicher werdende Begriffe immer mehr verstanden zu werden. Das bloße Fühlen und Ahnen wird zu einer immer klareren Erkenntnis...“

„Und zu welcher Erkenntnis kommt man dann?“

„Dies ist ein ganz wesentlicher Punkt, Karsten. So wie das Erahnen und ahnende Finden dieser heiligen reinen Liebe im verborgenen Innersten der Seele auch ein aller-wesentlichster Moment war und ist. Entscheidend ist, dass der Mensch wirklich auch selbst zu dieser Erkenntnis kommen muss. Wenn man sie ihm wiederum von außen gibt, kann es leicht sein, dass er abrupt und schlagartig wieder in das gewöhnliche, profane Empfinden zurückfällt. Du weißt, was ich meine. Aber auch die anderen Menschen müssten diesen wesentlichen Punkt wirklich sehr genau verstehen. Denn natürlich liegt die Frage nahe: ‚Und zu welcher Erkenntnis kommt man dann?’ Aber die gegebene Erkenntnis und die eigenständig erkannte und errungene Erkenntnis sind eben zwei völlig unterschiedliche Dinge! Dies muss selbst wieder eine eigenständige, errungene Erkenntnis werden!

Denn sobald ich eine Erkenntnis gegeben erhalte, hört das eigene Ringen für gewöhnlich sofort auf: Ich ‚habe’ sie ja nun. Aber eine gegebene Erkenntnis befriedigt nicht wirklich. Leise fühlt sich die Seele getäuscht oder enttäuscht. Es ist wie mit der Besteigung eines Berggipfels – die doch sogar selbst getan und errungen wird! Wenn man oben ist, kann man sich demzufolge tief erfüllt fühlen, und so soll es auch sein ... oder man kann bereits in dem Moment, in dem man oben angekommen ist, wieder eine seltsame Leere empfinden und sich schon da fragen: ‚Und jetzt?’ Wenn ich aber ohne Anstrengung eine Erkenntnis einfach gegeben erhalte, wird diese Leere fast unvermeidlich eintreten – denn es ist nicht meine Erkenntnis. Ich werde sie also bleibend als etwas Fremdes, Äußerliches empfinden – es sei denn, ich erringe sie mir nachträglich wirklich auch selbst, als etwas Ur-Eigenes. Doch weil meistens das Streben in diesem Moment völlig aufhört, ist es viel wahrscheinlicher, dass ich sie leise, unbewusst doch irgendwie ablehne. Unbewusst deshalb, weil ich sie zwar zur Kenntnis nehme, vielleicht sogar als abstrakte, theoretische ‚Erkenntnis’ mit mir herumtrage, aber insgeheim doch nicht voll und ganz ernst nehme. Dies ist auch unmöglich, denn ich habe sie ja gar nicht selbst errungen. Sie bleibt immer zweifelhaft und immer abstrakt, der volle Ernst meines ganzen Menschenwesens kann sich mit ihr überhaupt nicht verbinden! Dies wird erst möglich werden, wenn ich sie Schritt für Schritt ganz und gar selbst erkenne...“

„Ja, das ist deutlich“, bestätigte Grunert. „Und doch sind wir geradezu süchtig nach einfachen Antworten.“

„Aber wenn sie gegeben werden“, erwiderte Baumann, „sind wir damit dennoch nicht zufrieden. Denn wie leicht kann es sein, dass jemand von der Entdeckung jener heiligen, reinen Liebe tief berührt ist ... und dann, wenn das Gespräch auf jene anderen Kräfte kommt, auf einmal völlig zurückschreckt, völlig ‚zumacht’, wieder ganz in das gewöhnliche Bewusstsein zurückstürzt und alles für Unsinn, Theorie und fantasierende Esoterik erklärt!“

Grunert nickte.

„Das liegt nahe.“

„Ja, es liegt nahe – weil wir dies alles nicht wollen, weil wir dies wirklich fürchten, und mit Recht! Denn dann steht der Mensch auf einmal als ziemlich schwach da ... und auch inmitten einer ungeheuren Aufgabe. Daran könnte man sich gerade unendlich begeistern! Aber so ist der Mensch nun einmal oft nicht. Er will es gerade bequem haben, bequem und fest, sicher, nicht mit allen möglichen Unsicherheiten, Gefahren, Versuchungen. Er will nicht fortwährend auf einem schwankenden Pfad stehen; er will das Gefühl haben, er stünde auf einer breiten, sicheren Straße. Er will selbst das Heiligste bequem haben. Sich vorzustellen, wie im Inneren der Seele vielleicht wirklich das absolut Gute wohnt, das ist schön. Das kann man genießen; man kann sich davon auch ehrlich berühren lassen, sogar ahnen, dass hier wirklich etwas in einem erwachen will... – Aber das reicht dann auch, dabei soll es bleiben. Das, was damit verbunden ist, das soll auf einmal nicht mehr wahr sein...“

„Aber wie würdest du nun mit einem Menschen darüber zu sprechen versuchen?“, fragte Grunert.

Wieder sah Baumann seinen Freund lächelnd an.

„Das kommt wirklich darauf an! Sieh mal, mit einem jungen Menschen darüber zu sprechen, vielleicht mit Sylvia, wäre etwas völlig anderes als bei einem älteren Menschen. Obwohl junge Menschen sich geradezu ins Leben stürzen und, wie du gesehen hast, zunächst einmal überhaupt nichts für diese Fragen übrig haben, scheinen sie mir doch oft dem Mysterium dieser reinen Liebe viel näher zu stehen als die Erwachsenen, die oft ach so stolz auf ihre errungene Lebenserfahrung sind, welche aber oft wiederum nicht viel anderes ist als begrabene Träume, Ideale, begrabene Liebesfähigkeit... Bei den jungen Menschen wirkt vieles oft so profan, so oberflächlich, so auf den bloßen, unmittelbaren Lebensgenuss ausgehend – aber unter der Oberfläche strömt eine ganz andere, reine Lebendigkeit und diese wiederum liegt auch der heiligen Liebe sehr, sehr nahe. Sie ist von ihr nur durch eine dünne Grenze getrennt. Wenn sie wollte, könnte auch diese heilige Liebe sehr, sehr leicht durchbrechen. Wenn sie gelassen werden würde... Sagen wir, die Mauern des Gefängnisses sind noch nicht sehr dick...“

„Und bei den älteren Menschen?“

„Bei den Erwachsenen, das liegt schon im Wort, hört das Wachstum auf... Langsam bildet sich die ganze Lebensanschauung aus. Der Weg in die Welt, die bloße Sinneswelt, geht immer weiter. Man etabliert sich, äußerlich und auch innerlich. Es ist wie ein Kaffeesatz, der immer weiter zu Boden sinkt. Wenn man keine wirklichen Fragen mehr hat – und das ist der natürliche Lauf der Dinge, wenn man nicht mehr jugendlich ist, sondern ‚erwachsen’ ist –, hört die Seele auf, wirklich zu leben, voll und ganz zu leben. Es legt sich über sie etwas wie ein Grauschleier, etwas wie Spinnweben, die sie unmerklich hinabziehen, immer weiter hinab, auf einen Grund, an dem es keine Fragen mehr gibt...

Und den festen Boden sucht der Mensch ja! Er ist froh, einen solchen festen Boden zu haben. Er ist stolz, wenn er sich einen festen Boden errungen hat. Er bildet sich ein, von diesem weiter blicken zu können als vorher, sicherer blicken, wissen und meinen zu können als vorher. Das ist auch so. Die Frage ist nur, inwieweit diese Sicherheit mit Blindheit erkauft ist. Sehr sicher kann der Erwachsene auf den Teil der Welt blicken, den er ernst nimmt – aber erkauft hat er diesen sicheren Teil mit dem ungeheuren Teil der Wirklichkeit, den er nicht mehr erschaut ... und sogar verspottet, wenn ihn jemand beschreiben will...“

„Aber die jungen Menschen wollen doch davon auch schon nichts wissen?“, beharrte Grunert.

„Ja, aber sie sind noch offen! Das scheint nicht so, wenn du Sylvia wie vorhin gehört hast – aber dieser Schein trügt. Es ist nicht dasselbe ‚Nein’, wie es dir ein Erwachsener geben würde. Der Erwachsene würde mit einer ungeheuer gesättigten und gesetzten hochmütigen Selbstsicherheit ein felsenfestes ‚Nein’ setzen und mit der absolutesten Sicherheit erklären, was für einen Unsinn du gerade daherredest. Er würde also mit aller Macht seiner jahrzehntelang errungenen Selbstsicherheit und Selbstüberzeugung und Selbstbezogenheit alles zurückweisen, was seinem eigenen geliebten Weltbild, von dem er zutiefst abhängig ist, nicht entspricht und nicht in dieses hineinpasst; was es geradezu rissig machen und spalten und sprengen würde. Mit selbstgefälligem Hochmut wird dies zurückgewiesen – und absolut, wirklich absolut unerkannt steht dahinter aber die Angst, pure Angst. Angst, dass die Wirklichkeit vielleicht anders sein könnte, als ich, das absolute Zentrum des Universums, sie mir mit all meiner zur Verfügung stehenden, alle Anderen selbstverständlich überragenden Weisheit zurechtgezimmert habe. Schauen wir uns diese ‚Erwachsenen’ doch einmal an! Selbst der gewöhnlichste Mensch, der nie eine höhere Bildung durchgemacht hat, der abends nichts weiter tut, als sich vor den Fernseher zu legen, glaubt doch, dass sein Weltbild nun genau das absolut richtige, die Wirklichkeit treffende Weltbild ist, und dass all die klugen Professoren, oder wer auch immer, einfach keine Ahnung haben. Der Erwachsene ist eigentlich immer das absolute Zentrum des Universums.

Echte Fragen haben nur diejenigen Menschen, die auch die Demut kennen, wirkliche Bescheidenheit. Aber selbst hier kann man glauben, demütig zu sein, und sogar diese Demut in sein festes Welt- und Selbstbild einbauen, ohne sie wirklich zu haben. Denn selbst wenn man glaubt, Demut zu besitzen, kann diese Demut doch sehr, sehr schnell an eine Grenze kommen, wenn es darum geht, das eigene Welt- und Selbstbild ändern zu müssen. Da kann sich die größte eingebildete Demut in Sekundenschnelle in machtvollen Hochmut verwandeln, der der ganzen Welt entgegenschleudern kann: ‚Wer bist du denn, dass du es wagst, an meinem Weltbild zu kratzen? Ich bin das Zentrum des Universums, und mein Weltbild ist unantastbar, völlig frei von Irrtum. Und schon gar nicht liegt der Irrtum da, wo du ihn zu sehen meinst. Wenn einer einen Irrtum erkennt, dann bin ich es selbst, und ich entscheide, wann und wo. Du kannst mir gar nichts sagen – niemand kann das! Ich allein sage, was wahr ist und was nicht.“

Grunert hatte dieser Schilderung grinsend beigewohnt. Nun entdeckte Baumann den Gesichtsausdruck seines Freundes und sagte:

„Du weißt, dass ich bildhaft zu beschreiben versuche, was wirklich vorliegt. Es wäre so unendlich viel für die menschliche Selbsterkenntnis gewonnen, wenn man auch diese Erkenntnis einmal zulassen würde, zumindest ahnend anfangen würde, zu erleben, wie sehr dies alles wirklich einfach eine Realität ist. In gewisser Weise kann man ja sogar selbst darauf wieder stolz sein – dass der Mensch es mit seiner Selbstsicherheit so weit gebracht hat. Aber erkennen soll man es – und dann nach und nach auch erkennen, was das wirklich bedeutet, wo man damit selbst steht und was man damit eigentlich aufgibt...“

„Und die jungen Menschen?“, fragte Grunert.