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Der 23-jährige Christian verliebt sich beim Sport scheu in ein 14-jähriges Mädchen, wagt aber nicht wirklich, sie anzusprechen, und eine Begegnung scheitert. Seine einzige Vertrauensperson ist seine sehr selbstständige Oma Mareike. Dann ergreift ein zutiefst unschuldiges, von seinen Eltern völlig vernachlässigtes Mädchen sein Herz - die erst elfjährige Tara. Doch die Urteile der Umwelt lassen nicht lange auf sich warten...
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Seitenzahl: 371
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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.
Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...
Die Scheu ist das heilige Kleid
einer unermesslichen Liebe
Er stürzte in vollem Tempo den Hang hinunter, traf genau auf den schmalen Geländeeinschnitt und lief bis zu dessen Ende, wo der Posten stand. Die Zwischenzeit auf seiner Uhr war noch immer gut. Dennoch verfluchte er die Tatsache, dass er beim vorigen Posten sicherlich fast eine halbe Minute mit Suchen verloren hatte, weil er die Vegetationsgrenze zunächst falsch interpretiert hatte!
Er rannte weiter bis zum Weg und konnte auf diesem dann erst einmal gut dreihundert Meter einen langen Schlag zurücklegen und bei hohem Tempo die nächsten Routenwahlen planen. Die Sonne knallte auf den Schotter hernieder, und er war schweißgebadet, aber er liebte dieses Wetter – erst recht noch später im Jahr, wenn der Wald glühte, auf Kahlschlägen, man an Fingerhüten vorbeihastete –, bergauf, wenn die Oberschenkel vor Müdigkeit zu explodieren schienen, während man oben dann dennoch weiterlaufen musste, sich langsam erholend, dann wieder beschleunigend. Wenn man nicht wusste, ob man auf diesen Schotterwegen mehr triefte vor Schweiß oder mitten in einem Dickicht, weil man dort so sehr das Tempo drosseln musste.
Der schönste Sport der Welt. Jetzt musste er wieder vom Weg ab und einen Anstieg hoch, schräg mit dem Kompass die Richtung halten, auf eine Ecke zu, an der der Hochwald in etwas dichteren Bewuchs überging. Er sah sie schon von weitem, und auch der Posten leuchtete ihn bereits fünfzehn Meter vorher an. Solche Punkte liebte er. Noch bevor er ihn erreichte, vergewisserte er sich auf der Karte noch einmal, wie er weiterlaufen musste. Der kleine Chip, den er mit Gummiband an seinem Zeigefinger trug, registrierte den Posten – und schon lief er die Grenze weiter, hielt dann, während sie links von ihm wegbog, die Höhe, bis er auf einen Weg traf, der von oben herunterführte. Diesen kreuzend hielt er weiter die Höhe, um ein kleines Tälchen zu umrunden, ohne unnötige Höhenmeter zu machen; nach dem nächsten Rücken stieg er dann aber sachte hinauf und fand auch ganz richtig nach etwa fünfzig weiteren Metern die kleine Lichtung, kaum zu erkennen, weil sie so licht nicht mehr war, aber der Posten war nicht zu verfehlen.
Nun musste er aber tatsächlich durch ein tiefes Tal, das er nur halb vermeiden konnte. Jetzt spürte er auch seine Beine. Zwei Drittel der Strecke ungefähr lagen schon hinter ihm. Acht Kilometer, dazu die ganzen Höhenmeter. Und nun dieser Anstieg! Immerhin konnte er so wieder die nächsten Routen planen, während ihm die Lunge in der Brust pochte.
Als er kurz aufsah, sah er in einiger Entfernung Gregor Kocher. Dieser war ganze vier Minuten vor ihm gestartet. Zwar lag er bei vielen Läufen ein, zwei Minuten hinter ihm, aber nicht so extrem! Hatte er grobe Schnitzer gehabt, oder war er selbst dabei, eine sehr gute Zeit zu laufen? Seine Beine sagten ihm, dass er sich nicht im Geringsten geschont hatte, dennoch konnte er es kaum glauben – aber Gregor einzuholen, gab ihm ein absolutes Hochgefühl, und mit voller Kraft erreichte er den Posten. Gregor war noch immer vor ihm, wählte aber nun eine andere Route, ohne ihn gesehen zu haben. Das war ihm ganz recht. Wenn alles gut ging, konnte er ihn auf diesem nächsten langen Schlag vielleicht sogar unerkannt überholen, was er inständig hoffte, weil er Gregor weder beschämen noch ihm Gelegenheit geben wollte, sich an ihn ranzuhängen, zumal ihn das nervös machen würde, was die Fehlergefahr steigen ließ.
Alles verlief nach Plan, und schließlich hatte er, wie er erleichtert sah, nur noch drei Posten vor sich. Noch einmal musste er an einem Hang langsam an Höhe gewinnen; dort, weiter oberhalb von ihm, kam die Felswand, wunderbar, er hielt die Höhe etwas, bis er den Stein sah, stieg dann weiter an und traf bald darauf auch richtig die beiden kleinen Pfade, die er kreuzte, um nun in ein Gebiet mit Unterwuchs einzutreten. Hier erschwerten immer wieder Brombeerbüsche und Farn das Halten der Geschwindigkeit. Er achtete darauf, dass sich seine Beine nicht in Ranken verfingen, und versuchte gleichzeitig, die letzten beiden Teilstrecken vorauszuplanen. Dies war nicht recht möglich. Dafür sah er rechtzeitig den alten Baum, hinter dem dann der Posten versteckt war.
Er gönnte sich zwei Sekunden des Ausatmens, um die Karte zu studieren. Aber zum nächsten Posten war nicht viel abzukürzen. Man musste einfach auf den nächsten Pfad, diesen tatsächlich bis zur Fahrstraße hochlaufen und dann die nächste Schneise weiter links wieder einbiegen, weiter hoch. Längst lief er wieder, mit einem Tempo, das seine Beine bergauf jetzt nach so vielen Kilometern noch hergaben. Obwohl er am Ende seiner Kräfte war, liebte er diese letzten intensiven Minuten, diesen letzten Kilometer, halben Kilometer, wo alle am Ende waren, nicht nur er. Grenzen. Es waren Grenzerfahrungen. Jetzt hatte die Schneise auch noch Unterholz! Man konnte nichts machen, hier mussten alle durch. Oder hätte er eine Schneise weiter nehmen sollen? Wäre auch Zeitverlust gewesen ... wahrscheinlich nahm es sich nichts.
Als er oben war, vergewisserte er sich noch einmal kurz – ja, alles klar, weiter grob mit Kompass in etwa auf der Höhe, bis mitten im wieder erreichten Hochwald noch ein Pfad kreuzte, hinüber, und auf der anderen Seite musste jetzt nach etwa zweihundert Metern eine kleine Senke kommen. Er zählte die Schritte. Als er in dem Bereich war, sah er sie nach wenigen Sekunden des Suchens – er war etwas zu weit links geblieben.
Jetzt zum letzten Posten! Dieser war einfach. Erneut stellte er nur grob den Kompass ein und rannte in vollem Tempo weiter durch den Hochwald, der jetzt regelrecht einladend war, und nun ging es auch endlich wieder leicht bergab. Er kreuzte noch einen Pfad, gelangte genau an dem Punkt, wo er es vorgehabt hatte, wieder auf den Fahrweg, der mittlerweile einen sehr großen Bogen gemacht hatte, und bog wenig später wieder auf einen Pfad ab, den er aber auch schnell wieder verließ, um weiter die direkte Luftlinie zu nehmen, noch zwei weitere kleine Wege zu kreuzen und schließlich punktgenau die winzige Mulde zu finden, die aber auch von anderen Läuferinnen und Läufern angesteuert wurde.
Noch ein letztes Mal den Chip erfassen lassen und dann in vollem Tempo die Pflichtstrecke bis zum Ziel. Noch einmal waren dies gut einhundertfünfzig Meter bergauf. Wer hatte sich so etwas nur ausgedacht! Aber es konnte seinem Hochgefühl nichts nehmen – noch einmal mobilisierte er alle Kräfte, überholte sogar noch zwei Läufer aus anderen Altersklassen und rauschte ins Ziel. Völlig außer Atem ließ er seinen Chip auslesen, ging mit bebenden Lungen noch den Rest der Zielgasse zu Ende und ließ sich dann wenige Meter weiter, wo er niemanden störte, in das warme Gras der Zielwiese fallen. Das Hochgefühl hielt an, während er in den wolkenlosen Himmel blickte, von dem die Sonne herunterbrannte...
*
Erst gute zwei Minuten später kam Gregor – sechs Minuten! Sechs Minuten langsamer. Er hatte sich bereits wieder aufgerichtet, saß erschöpft, aber gemütlich im Gras, als dieser an ihm vorbeilief.
„Was ist los, Gregor?“, fragte er mitfühlend und auch etwas neckend-schadenfroh, „Das kann doch wohl nicht wahr sein...?“
Dieser warf ihm unzufrieden nur einen kurzen Blick zu.
„Vergiss es...!“, erwiderte er, fügte dann aber doch noch hinzu: „Wie lange bist du schon drin?“
„Zwei Minuten etwa.“
„Scheiße...“
„Hast du mich unterwegs gesehen?“
„Nein, du?“
„Ja, bei zwei Dritteln ungefähr.“
„Ja, scheiße, das war ... schon am sechsten Posten lief es einfach total scheiße! Und danach war einfach zu Ende. Hatte keine Lust mehr. Ich dachte, du hättest mich da schon fast gehabt. War heute nicht mein Lauf... War echt scheiße heute...“
„Du hast einen sehr eingeschränkten Wortschatz, irgendwie...“
Gregor lachte.
„Ja, ich hab so viel Scheiße gebaut heute, da an dem einen, ich muss das mal auf den Punkt bringen...“
„Okay, ja, ist dir gelungen.“
Gregor lachte noch einmal.
„Okay, bis später...“
„Bis später.“
Sie waren nur lockere Bekannte. Irgendwann hatte er ihn einfach mal angesprochen, weil er ihn sympathisch fand. Aber auf mehr als so ein bisschen Smalltalk schien sich Gregor auch nie einlassen zu wollen. Offenbar hatte er genug andere Freunde und war an einer näheren Bekanntschaft nicht wirklich interessiert. Wie auch immer, auch die kleinen Wortwechsel waren irgendwie schön...
Er ging hinüber zum Getränkestand und kippte sich einen Plastikbecher voller Wasser hinunter, den er sich drei- oder viermal nachfüllen ließ, um nicht unnötig Müll zu produzieren. Schließlich ließ er ihn sich nach einer kleinen Pause noch ein weiteres Mal füllen, trank ihn abermals leer, warf ihn dann in den bereitstehenden, an einem Holzpfosten befestigten blauen Sack und ging hinüber zur Schnellwertung.
Er war im zeitlichen Mittelfeld gestartet – es würden noch genug Konkurrenten nach ihm kommen. Aber knapp ein Dutzend hingen schon. Er blickte zuerst auf die Zeiten, dann auf seine Uhr, die er im Ziel gestoppt hatte – und konnte es fast selbst nicht fassen. Im Moment war er an vierter Stelle! Noch vor Matthis Renzing und Ludwig ,Ludi’ Müller, die beide regelmäßig bessere Zeiten als er liefen! Er musste sich heute, trotz einiger kleiner Fehler selbst übertroffen haben – oder die anderen hatten schlicht größere Fehler gemacht. Was unglaublich war, weil sonst das Orientieren gerade nicht seine Stärke war, sondern die der anderen.
Er genoss die Atmosphäre auf der Zielwiese. Ein Mann am Lautsprecher verkündete fortwährend wichtige Einlaufende, was immer diese einzigartige Stimmung eines Wettkampfes ergab. Man kannte die Namen – Herren und Damen Elite, außerdem die stärksten der Jugend-Klassen, manchmal auch Kinder. Er ging ein bisschen umher. Es gab sogar einen Stand mit Wurst, Pommes und anderem. Er holte sich eine Wurst im Brötchen und ging noch einmal an die Schnellwertung. Jetzt hing auch er – und zwar noch immer an fünfter Stelle.
Er wanderte ein bisschen auf der Zielwiese umher und sah sich um, sprach kurz mit dem einen oder anderen ... und setzte sich dann einfach wieder ins Gras und nahm die ganze Stimmung in sich auf, genoss einfach diesen Tag. Er dachte zurück an seine eigenen kleinen Fehler, spürte die angenehme Schwere in seinen Beinen, gab sich wieder den anderen Menschen hin, wie sie ins Ziel kamen, wie sie lachten, schimpften, sich ins Gras warfen, sich miteinander unterhielten, später, als man sich die Karten wieder holen durfte, ihre Routenwahlen miteinander diskutierten.
Schließlich, als zwei Stunden später alle Läuferinnen und Läufer das Ziel erreicht hatten, genoss er auch die Siegerehrung in den verschiedenen Klassen, beginnend mit den Kleinsten, was er sehr sympathisch fand. Er selbst war heute am Ende Achter geworden, ein ungeheurer Erfolg – sonst war er bei guten Ergebnissen etwa Platz zwölf, in der Gesamtrangliste der Herren Elite war er derzeit auf Platz vierzehn. Nun würde er wahrscheinlich etwas vorrücken. Bei der Siegerehrung selbst wurden natürlich immer nur die ersten drei Plätze erwähnt – die er nie erreichte, das war aussichtslos. Dafür hätte er nicht nur gut und noch besser laufen, sondern auch perfekt orientieren können müssen. Hier hatte er in der Langdistanz immer mindestens zehn Minuten Rückstand, ein einziges Mal waren es acht Minuten auf den dritten Platz gewesen. Die ersten beiden Plätze waren ohnehin immer jenseits von Gut und Böse...
Schließlich kam ihr ,Trainer’ kurz bei ihm vorbei und erinnerte noch einmal an die vereinbarte Abfahrtszeit um drei Uhr.
„In fünfzehn Minuten geht’s los!“
„Alles klar.“
Philipp war Mitte dreißig und veranstaltete jedes Wochenende ein Training, sofern kein Wettkampf war. Er nahm manchmal daran teil, manchmal nicht – es war ihm immer ein wenig weit zu fahren. Lieber trainierte er einfach für sich – dann allerdings eben immer nur Laufen. Das aber tat er mindestens fünfmal pro Woche, derzeit sogar oft siebenmal, also jeden Tag. Nicht umsonst war er läuferisch so gut.
Er genoss noch die allmähliche Aufbruchstimmung und begab sich dann auch zu ihrem VW-Bus. Fast immer reichte für ihre kleine Abteilung eines Vereins, der Orientierungslauf nur als kleines Anhängsel anbot, dieser eine Neunsitzer. Ein Ehepaar nahm ohnehin immer den Privat-Pkw, daneben gab es noch zwei Männer aus der H35, eine Frau in seinem Alter, zwei Jungen, die inzwischen in der H15-16 liefen, und zwei Mädchen, die erst elf waren. Ihre dritte Freundin war diesmal nicht mit, ebenso ihr ältester Mitstreiter, ein Mann aus der H55.
Dass der Verein so klein und so heterogen war, trug wahrscheinlich mit dazu bei, dass er selten zum Training kam. Von seiner Leistung her war er sozusagen das ,Aushängeschild’ der winzigen Abteilung, aber er hatte nicht viel Lust auf gemeinsame Samstage mit langsamstem Einlaufen, das sich an den Ältesten und Kleinsten orientierte, und dann irgendwelchen Übungseinheiten, die seine Orientierungsfähigkeiten vielleicht noch etwas verbessern würden, aber auch nicht allzu viel, zumal die ganze Region nicht annähernd so viel zu bieten hatte wie die Wälder in Mittel- oder Süddeutschland. Und so verzichtete er gerne auf die gut vier Stunden, die ihm ein solches gemeinsames Training in sein Wochenende gefressen hätte, und absolvierte lieber seine eigenen Trainingseinheiten direkt von seiner Haustür aus...
„Aber die Senke war echt scheiße zu finden!“
„Blödsinn, ganz klar anzulaufen, super gefunden, überhaupt kein Problem.“
„Angeber.“
Sören und Vincent, die beiden Fünfzehnjährigen, ließen ihre Strecke Revue passieren, die Karten vor sich auf den Knien. Er warf halb interessiert ein paar Blicke auf seine beiden Nebenleute, blickte aber wieder aus dem Fenster, als sie anfingen, herumzualbern.
Sie waren ihm schon viel zu ,cool’ drauf – und wenig später hatten sie denn auch bereits ihre Handys in der Hand. Er sah einmal kurz nach hinten – tatsächlich, Katrin und Friederike hatten ihre Handys auch in der Hand... Wenn die beiden herumalberten, fand er das noch süß, richtig süß sogar. Aber leider waren die beiden mittlerweile auch schon der ,Generation Handy’ verfallen, was die Zeiten der süßen Alberei erheblich reduzierte.
Er fragte sich, ob er früher auch so gewesen war. Er konnte sich noch ziemlich gut daran erinnern, dass er, als er sich mit dreizehn dem Verein angeschlossen hatte, damals noch unter einem anderen Trainer, ebenfalls mit zwei, zeitweise drei Freunden herumgealbert hatte, Sprüche geklopft hatte wie: ,Ich bin den Abhang in zehn Sekunden rauf, und du?’ Aber er war sich absolut sicher, dass das um Längen unschuldiger gewesen war als Sören und Vincent heute und auch schon vor ein, zwei Jahren. Heute waren die Jugendlichen einfach viel abgebrühter. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass er damals schon ein Handy gehabt hatte. Doch, gehabt vielleicht schon, sein erstes Android-Handy hatte auch er mit dreizehn gehabt, aber man hatte es damals noch überhaupt nicht ständig vor der Nase, hatte nicht ständig tausend Dinge damit gemacht, vielleicht vor dem Schlafengehen mal kurz rumgesurft, aber doch nicht die halbe Rückfahrt da reingeglotzt! Er begriff nach wie vor nicht, welchen Sinn das haben sollte...
Sie fuhren noch kurz an dem nahegelegenen Wettkampfzentrum vorbei, um zu duschen und nicht alle geschwitzt im engen Bus fünf Stunden nach Hause zu fahren. Und dann ging es auf die Autobahn, das eintönige Geräusch mochte er irgendwie, wie auch die langen Fahrten ihm nichts ausmachten, weil er sich entweder auf den Wettkampf freute oder anderen Gedanken nachhing...
*
Die beiden Jungs waren nach kurzer Zeit wieder am Handy, jetzt spielten sie offenbar ein gemeinsames Spiel, diskutierten dabei ein bisschen, ohne die anderen allzu sehr zu stören. Er bekam nur soviel mit, dass es eine Art Kampfspiel war, gegen irgendwelche Gegner oder Ungeheuer, harmlos zwar, aber sinnlos gleichermaßen. Mit einer leisen inneren Verachtung wandte er sich dem Fenster zu, blickte hinaus auf die vorbeiziehenden Felder... Knapp zehn Jahre Unterschied – was das schon ausmachte!
Hinter den Feldern zog ein Waldstück vorbei. Seine Gedanken wanderten zurück zum Wettkampfzentrum. Wenn er sie dort noch einmal kurz gesehen hätte... Frisch geduscht vielleicht. Wenn er sich vorstellte, wie sie duschen würde, wurde ihm ganz anders. Schmetterlinge im Bauch. Nein, viel mehr. Eine grenzenlose Sehnsucht... Die er sowieso hatte. Er hatte auch sie in der Schnellwertung gesucht – das tat er immer. Sie hieß Lara und hatte offenbar keine echten Ambitionen, obwohl sie nicht schlecht war. Aber das interessierte ihn nicht, nur sie selbst interessierte ihn. Er hatte sich grenzenlos verliebt.
Angefangen hatte es damit, dass sie ihm auffiel. Er wusste weder ihren Namen, noch wie alt sie war. Er kümmerte sich auch nicht weiter darum. Sie fiel ihm nur immer wieder einmal auf, bei jedem Wettkampf, wo sie mit dabei war. Wahrscheinlich war sie am Anfang noch zwölf gewesen. Irgendwann schnappte er auf, wie sie jemand beim Namen rief. Und dann dauerte es noch eine ganze Weile, bis er sie süß fand – ganz bewusst. Da war sie dreizehn. Er fand nämlich dann irgendwann ihren vollen Namen heraus und so auch ihren Jahrgang. Die Zeit verging schnell, und jetzt war sie schon lange süße vierzehn, wahrscheinlich bald schon fünfzehn, und er konnte noch immer nur von ihr träumen, denn sogar das tat er inzwischen manchmal...
Er dachte zurück an die Turnhalle – die das Wettkampfzentrum gewesen war. Besser gesagt das ,Massenlager’, für alle, die von weiter anreisten und daher eine Übernachtung brauchten. Sie kam mit ihrem Verein aus einer ganz anderen Ecke Deutschlands, hatte aber auch übernachtet. Ihr Schlafsack hatte an der gegenüberliegenden Wand gelegen, also wohl etwa zehn, elf Meter entfernt, von Fuß zu Fuß...
Er wusste einfach nicht, wie man das machte – ein Mädchen ansprechen... Erst recht nicht ein Mädchen, das man derart hilflos verehrte – und das ebenfalls fast zehn Jahre jünger war als man selbst! Wie war das möglich, dass die beiden Halbwüchsigen neben ihm sie jederzeit ansprechen könnten, völlig problemlos, und er nicht?
Wie war es möglich... Diese beiden waren so trivial in ihrer ganzen Coolness, aber sie, Lara, erschien ihm wie ein Engel... Sie war so wunderschön... Mit ihren langen blonden Haaren, ihrem ernsten, oft fast ein wenig traurig wirkenden Gesicht ... so unendlich wunderschön...!
Wenn er sie sah, konnte er seinen Blick nicht von ihr abwenden, er musste sich zwingen, damit es nicht auffiel – erst recht ihr nicht auffiel, denn was sollte er tun? Er würde sie beschämen, und er würde sich in Grund und Boden schämen. Er wusste nicht, was er tun sollte – wie er je einen Kontakt zu ihr aufbauen könnte. Es war so aussichtslos. Er war viel zu schüchtern. Und er hatte zusätzlich noch allen Grund dazu. Denn sie war wie gesagt süße vierzehn – aber er war schon dreiundzwanzig...
Er hatte mit seiner elenden Schüchternheit einfach den Moment verpasst, ein gleichaltriges Mädchen kennenzulernen. Verliebt hatte er sich oft genug. Mindestens viermal ernsthaft, seit er selbst vierzehn, fünfzehn Jahre alt gewesen war. Aber nie hatte er etwas ,gewagt’, immer war er zu schüchtern gewesen und hatte sich für zu bedeutungslos, zu chancenlos gehalten, denn jedes Mädchen, in das er sich verliebt hatte, war für ihn reine Schönheit gewesen – und wie konnte sich ein Engel in ihn, Christian Heinrich, verlieben oder auch nur für ihn interessieren! Er schämte sich ja allein schon für seinen Nachnamen – und fand auch seinen Vornamen nicht besonders. Alles andere von sich auch nicht. Also wie? Wie jemals? Es war unmöglich...
Neun Jahre jünger war sie! Niemand würde das verstehen – kein Einziger. Sie selbst ja auch nicht... Aber davon abgesehen ... selbst wenn sie es verstehen würde: Kein Einziger sonst würde es verstehen. ,Schlagzeile: Christian Heinrich, seit über drei Jahren in der Herren Elite, verliebt sich in die vierzehnjährige Lara Jung’. Sie hieß sogar noch Jung! Keiner würde ihn mehr angucken – man würde ihn für ... wer-weiß-was halten! Im besten Fall für grenzenlos peinlich, und im schlimmsten Fall – –
Lara selbst würde ihn keines Blickes würdigen, und selbst wenn ... würden ihre Eltern es verbieten. Warum musste es Eltern geben?! Ihr Trainer würde es verbieten, sein Trainer – alle würden sich den Mund zerreißen! Alle würden mit dem Finger auf ihn zeigen, ihm nachblicken, über ihn lästern, ihn verurteilen, in den ,Netzwerken’ über ihn schreiben, allgemein vor ihm warnen... Er wäre von heute auf morgen ein Gebrandmarkter... Er würde direkt aufhören können zu laufen. Man würde ihn verjagen... Und jedenfalls würde sie ihn keinen Augenblick lang ertragen. Aber selbst wenn...
Selbst wenn... Denn in seinen Tagträumen war es sehr wohl so, dass sie seine schüchterne Annäherung noch schüchterner erwiderte... Dass sie ihn mögen könnte, wenn er nur den Mut hätte... Dann würde sie auch den Mut haben ... es zu erwidern. Oh, wenn er nur den Mut hätte! Wenn er nur nicht so feige wäre! So ohne Vertrauen, so voller Angst. Er verehrte sie grenzenlos, aber wenn er aus seinen Tagträumen zurückkehrte, rechnete er sich keinerlei Chancen aus, wirklich keine. Null...
Aber sie war so unglaublich schön... Wenn er an sie dachte, fielen alle Vergleiche weg. Es blieb wirklich nur noch die Vorstellung eines Engels. Aber nicht so, wie seine Oma wahrscheinlich davon reden würde, das interessierte ihn weniger, zumindest in diesem Punkt. Nein – er meinte einfach nur das Unvergleichliche, das Leuchtende. Ja, das Leuchtende. Sie leuchtete vor Schönheit. Er wusste nicht, wie sie das machte, aber sie tat es, zumindest für ihn. Und er verstand nicht, wie Andere das so gleichgültig hinnehmen konnten. Als wäre sie gar nicht besonders schön. Aber sie war überragend schön.
Wenn sie in einiger Entfernung an einem vorbeiging, mit ihren langen Haaren, die einfach so unschuldig blond waren ... dann verging einem der Atem, weil man geradezu ehrfürchtig nicht fassen konnte, wie etwas so ... Schönes einfach so auf dem Boden gehen konnte, einfach so seinen Fuß vor den anderen setzen konnte – ohne dass etwas passierte. Zum Beispiel plötzlich ein Regenbogen zu leuchten begann... Oder Blumen unter ihren Füßen aufblühten, dahinter, da, wo sie gegangen war...
Er wusste, dass das alles kitschige Filme waren; Vorstellung von kitschigen Filmen, jedenfalls wurde das dort benutzt, und sicher hatte er diese Vorstellungen nur daher, aber trotzdem... Trotzdem konnte er nicht anders, als sich dies so vorzustellen – er empfand es so. Es war die einzige Vorstellung, die stimmte, die Sinn ergeben würde. Denn es war sinnlos und merkwürdig, dass unter ihren Schritten keine Blumen aufblühten, dass alles so blieb, wie es war, obwohl sie vorüberging... Obwohl ihre Füße – ihre! – den Boden berührt hatten...
Für ihn gab es keinen Kitsch – das galt nur für andere. Oder vielmehr: Natürlich gab es Kitsch, aber die Grenze lag ganz woanders. Nicht da, wo man nicht begriff, warum die Spur eines geliebten Mädchens nicht von Blumen gesäumt war – zum Beispiel Vergissmeinnicht, Veilchen, und was gab es noch... Oder sogar ganz unbekannten Blumen, die so schön waren wie sie, zumindest ähnlich schön... Kitsch dagegen war, sich geschmacklose Gartenzwerge in den Vorgarten zu stellen. Kitsch waren diese ganzen Disney-Figuren. Kitsch war überhaupt jede unwahre Hässlichkeit, jeder dumme Mist, den manche Leute toll fanden, weil sie überhaupt nichts mehr unterscheiden konnten. Kitsch war eigentlich alles, was die Leute für dumm verkaufte... Alles, was man schön oder niedlich, süß fand, obwohl es grottenhässlich war... Einfach nur nachgemacht. Industriell produziert. Nur, weil es sich verkaufte... Mit Werbung und allem...
Es war niemals Kitsch, jemanden bedingungslos zu lieben. Dagegen war es schnell Kitsch, es darzustellen – in amerikanischen, in Hollywood-Filmen, die ja auch nur wieder auf Profit ausgerichtet waren und mit den Gefühlen der Zuschauer spielten, sie bedienten, in ihren Sehnsüchten, aber gleichzeitig das ganze Thema damit unendlich trivialisierten. Man konnte die tiefsten, die heiligsten Gefühle nicht darstellen. Tat man es trotzdem, sogar noch für Publikum, wurde es platt und trivial. Es wurde abscheulich, weil es eine Lüge wurde. Es stimmte einfach nicht mehr...
Gefühle darstellen... Manchmal wünschte er sich – und stellte es sich noch öfter vor –, sie wäre einsam. Dann würde sie vielleicht Gedichte in einem Tagebuch schreiben. Oder ihre Gedanken... Wie sie sich nach einem Freund sehnen würde... Aber sie war nicht einsam. Er sah sie mit anderen Mädchen sprechen, lachen, sie war nicht einsam. Wenn sie lachte, flammte seine Sehnsucht ebenfalls auf. Auch dann war sie so unglaublich schön, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie mit ihm lachen könnte, dass er sie so fröhlich zu machen vermochte...
Nein, sie war nicht einsam... Und wenn sie einen Freund suchen, sich nach einem Freund sehnen würde, würde sie in allerkürzester Zeit einen bekommen. Tausend Jungen, die alle besser aussahen und cooler waren als er, außerdem in ihrem Alter waren, standen bereit, um auf kleinste Signale von ihr sofort einzugehen – oder ihr ganz ohne Signale den Hof zu machen, bis sie für so etwas bereit wäre ... eine Freundschaft mit einem männlichen Wesen. Und sie würde sehr bald dazu bereit sein, vielleicht schon jetzt. Es konnte in jedem Moment passieren. Vielleicht hatte sie längst einen Freund, nur eben nicht hier, sondern bei sich zu Hause... Er konnte diesen Gedanken kaum ertragen. Aber es machte auch keinen Unterschied. Denn selbst wenn sie dort keinen hätte, würde es früher oder später so kommen – und er würde es nicht sein, definitiv nicht, sie würde sogar niemals wissen, wie sehr er sie liebte, würde es einfach nicht erfahren... Sie würde es nie erfahren... Dass jemand sie mehr liebte als jeder andere, als irgendeiner dieser, als eben dieser Eine, der sie ,bekommen’ würde. Irgendeiner würde es sein, aber er könnte ihr nicht einmal das Wasser reichen, und seine Liebe wäre ihr nicht einmal ansatzweise würdig, denn wie könnte sie...?
Diese Vorstellung tröstete ihn dann, obwohl sie kein Trost war: Dass sie einen Freund bekommen würde, der ihr überhaupt nicht gerecht werden konnte – weil er nichts weiter als cool war, oberflächlich, vielleicht nicht nur, aber auch nicht viel mehr. Nicht zärtlich genug. Zu sehr an sich denkend. Zu oberflächlich. Zu viel am Handy. Zu trivial. Eben so, wie heute alle waren. Wie konnte ihr das je reichen? Und dann stellte er sich vor, wie es ihr nicht reichte. Wie sie sich nach kurzer Zeit, vielleicht ein paar Monaten, nach etwas anderem sehnte, jemand anderem ... ohne zu wissen, ob es das gab ... aber sie würde sich sehnen ... und dann hätte er eine Chance, dann ... wenn er sich dann trauen würde ... und sie ihn dann erkennen würde, als den, der diese Sehnsucht erfüllen würde, weil er ihr so unendlich verwandt war, in seiner ganzen Seele ... die so tief und empfindsam war wie ihre...
Aber er wusste eben auch, dass dies Tagträume waren, dass er sich hineinträumte in diese Schönheit ... in diese Hoffnung, dass ihrer äußeren Schönheit eine innere Schönheit ganz und gar entsprach. Nicht umsonst hatte so ein Märchen wie ,Schneewittchen’ immer eine tiefe Faszination auf ihn ausgeübt, seit er denken konnte wie ein Junge... Da waren bestimmte Kindheitserinnerungen, die aufragten wie Felsen aus einem Meer, wie Berge in einer mythischen Landschaft... Hier mal ein Urlaub mit ein paar Erinnerungsfetzen. Dort ein Moment aus der Schule. Dies und jenes. Auch ein, zwei Kinderbücher, die er bis heute liebte, obwohl er sie nicht mehr las und sie nur noch in seinem Regal standen, gleichsam wie stille Zeugen, derer er sich vielleicht auch schämte, weil er längst ,zu alt’ dafür war – andere Leute packten ihre Kindheitslektüre in Kartons und verstauten sie irgendwo, aber wegwerfen taten sie sie dann wiederum auch nicht...
Ja, und dann war da so ein Märchen wie ,Schneewittchen’, das wie ein heiliger Berg aus seinen Kindheitserinnerungen hinaufragte – und bis in die Gegenwart reichte. Weil er ja wusste, dass so etwas heute völlig ,out’ war, ja geradezu bedenklich, würde er nie jemandem auch nur eine Andeutung davon machen, wie sehr ihn dies berührte – die Vorstellung des wehrlos und hilflos in einer Art Todesschlaf daliegenden Schneewittchen, das aber schöner war als alle Frauen und Mädchen im ganzen Königreich...
Er konnte einfach nicht verstehen, wie diese Vorstellung, dieses Bild, dieses Märchen heute regelrecht ,verboten’ sein konnte. Wieso man sich dies nicht mehr vorstellen durfte. Als ein heiliges Bild in seinem Herzen tragen durfte... Er konnte nicht verstehen, wie man etwas anderes jemals als berührender empfinden konnte – wahrscheinlich dachte man gar nicht mehr an solche Fragen, man verdrängte es einfach. Weil einen ja ganz andere Dinge interessierten – zum Beispiel Handys. Weil man einfach oberflächlicher wurde, als Gesellschaft, alle. Da brauchte man so ,Märchen’ einfach nicht mehr. Sie waren sowieso nicht mehr ,passend’, waren eher ,peinlich’, also weg damit... So funktionierte das...
Er konnte das nicht verstehen. Wie konnte man bei Schneewittchen sagen: weg damit? Das war wie eine ... Gotteslästerung. Er glaubte nicht an einen Gott, hatte sich auch nie wirklich Gedanken darüber gemacht, hatte ganz andere Sehnsüchte – aber bei der Art, wie man heute mit Märchen, ganz besonders aber so einem Märchen wie ,Schneewittchen’ umging, konnte man nur dieses Gefühl bekommen: die Schändung von etwas Heiligem... Den Leuten war heute nichts mehr heilig – ihm schon. Und Schneewittchen gehörte eben dazu. Es gab doch eigentlich ... überhaupt nichts Heiligeres als so ein grenzenlos schönes Mädchen, das in seiner unschuldigen Schönheit alles überleuchtete, wie eine Sonne ... während der Boden, über den sie ging, Blumen aller Art hervorbringen würde, wäre es ihm möglich...
Man sah die Schönheit nicht mehr, weil man allenfalls noch Hollywood sah und anschaute und genoss. Man wollte sich unterhalten lassen, aber man wollte nicht mehr die wirkliche Schönheit empfinden. Selbst Hollywood traute sich das nicht mehr. Würde Hollywood heute noch einen ,Schneewittchen’-Film drehen, war völlig klar, wie das werden würde. Schneewittchen musste selbstbewusst daherkommen. Vielleicht etwas unverstanden, vielleicht gemobbt, aber sich seines eigenen Wertes sehr wohl bewusst. Trotzdem würde sie es vielleicht nicht ganz alleine schaffen, sich gegen das Unrecht zu wehren. Irgendein Junge würde ihr dann helfen, und dann würde das ganze wahre Wesen von ihr endlich sichtbar werden, und alles wäre gut .. Happy End, Feuerwerk...
Hilflos dürfte dieses Schneewittchen gar nicht sein. Es hätte nicht einmal mehr diesen Namen. Es wäre sehr modern, wahrscheinlich hätte es keine glatten Haare, sondern Locken. Wahrscheinlich hätte es keine unschuldigen Augen, sondern sehr selbstbewusste – und so war es auch nicht hilflos, es wurde von dem Mobbing nur überwältigt – also von etwas, gegen das man gar nichts tun konnte. Im Übrigen wäre sie fast so wie jedes andere Mädchen, denn das war ja die heutige Botschaft, dahinter konnte man ja gar nicht mehr zurück. Schneewittchen durfte heute nicht mehr Schneewittchen heißen, und es durfte sich auch kaum von allen anderen Mädchen unterscheiden. Und trotzdem würde man es die ,moderne Fassung von Schneewittchen’ nennen und das Thema also auf diese Weise ausschlachten. Genau. Es war ein Ausschlachten. Man zerlegte es bis auf die Eingeweide und nahm sich heraus, was man noch ,benutzen’ und weiterverwerten konnte...
Es war eigentlich der völlige Verrat. Man hatte das Märchen bis zur Unkenntlichkeit verraten und verändert. Verstümmelt und eben wirklich geschändet. Man hatte aus dem wirklichen Schneewittchen das nahezu komplette Gegenteil gemacht. Eben ein Mädchen wie jedes andere. Und Schneewittchen war aber ein Mädchen wie kein anderes.
Das war der Punkt. Das ertrug man heute nicht mehr. Nicht nur nicht, dass ein Mädchen schöner war als jedes andere. Sondern, viel mehr noch, dass es unschuldiger war als jedes andere... Hier setzte das Denken dann aus. Das durfte man nicht mehr denken, nicht mehr sagen, nicht mehr sich danach sehnen. Man durfte eigentlich gar nichts mehr. Ein Mädchen hatte nicht mehr unschuldig zu sein – und wer sich das noch wünschte, war einer dieser ... wie nannte man es noch gleich? Unterdrücker... Ach ja, Patriarchat, genau, einer dieser patriarchischen – oder patriarchalischen? – Idioten, die Frauen unterdrückten. Oder Mädchen. Also war es verboten. Weil man sonst so einer war... Wenn man das unschuldige Mädchen als ein Ideal in seiner Seele trug. Dann war man patriarchalisch und Unterdrücker und so was wie rechtsradikal und all dies zusammen. Man war Vergangenheit – und gehörte genauso entsorgt wie Schneewittchen, weil man die andere Hälfte war. Die, die Mädchen und Frauen unterdrücken wollte.
Er konnte das nicht verstehen. Selbstverständlich gab es Männer, die Frauen unterdrückten. Oder Jungen, die Mädchen unterdrückten. Er würde das nie tun können – gar nicht können! Wie konnte man etwas unterdrücken, was man liebte? So sehr? Als etwas Heiliges... Aber er sehnte sich eben nach so einem unschuldigen Schneewittchen – und wahrscheinlich war eben das schon der Fehler, in den Augen all dieser anderen, die das längst ,entsorgt’ hatten und verurteilten. Man sehnte sich nach dem, was sich nicht wehren konnte. Und warum? Dafür hatte er dann auch keine Begründung. Gegen diese Frage konnte er sich dann auch nicht wehren... Es war einfach nur grenzenlos berührend... Im Gegensatz zu all denen, die so selbstbewusst daherkamen...
Aha! würden die anderen dann sagen. Er sehnte sich also nach einem Mädchen ohne Selbstbewusstsein. Und wenn es so wäre? Aha! würden die anderen sagen. Damit du mit deinem mangelnden Selbstbewusstsein ihr eben noch immer überlegen wärst. Vielleicht war es so. Vielleicht hatten all diese verdammten Stimmen Recht – aber dieses Wort ,überlegen’ gab es in seinem Wortschatz überhaupt nicht. Die Liebe kannte dieses Wort einfach nicht. Es war anders, aber er konnte es nicht ,begründen’, er war diesen Vorwürfen wehrlos ausgesetzt. So wehrlos wie Schneewittchen. Vielleicht liebte er sie einfach deshalb... Er sehnte sich nach einem Mädchen, mit dem es diese ganzen Kämpfe nicht gab – und, ja, er sehnte sich nach der Unschuld an sich. Ein unschuldiges Mädchen würde nie kämpfen – warum auch? Die Unschuld kämpfte nicht. Sie litt einfach – aber bei ihm würde sie eben gar nicht leiden, bei ihm würde sie geliebt werden, über alles, verehrt wie eine zarte Königin... Schneewittchen... Er würde ein Schneewittchen grenzenlos verehren. Er würde ihr zu Füßen liegen ... und sie würde ihn sanft und zärtlich aufrichten und ihn als ihresgleichen betrachten...
Er verstand nur eines: Die Unschuld durfte heute nicht mehr sein. Und schon wer sie sich wünschte, war unten durch – war schlecht, stand auf der falschen Seite, unterstützte das Patriarchat, unterstütze die Unterdrückung, unterstützte die Vergangenheit. Deswegen musste auch das ,Schneewittchen’ entsorgt werden. Es tat so weh. Es war so ein grenzenloser Verrat ... aber er fand einfach nicht den exakten Punkt, wo es nicht stimmte. Er wusste ja selbst, dass sein geringes Selbstbewusstsein hier ganz real mitspielte. Die beiden Jungs neben ihm interessierte das Schneewittchen kein bisschen. Aber auch das war ja wieder ein ungeheurer Fehler... Aber wie sollte man das begründen, wie konnte man das verteidigen, diese Erkenntnis? Dass die Entsorgung von Schneewittchen eine Schändung war? Wie konnte man das ... beweisen? Er fühlte sich so hilflos...
*
„So, da sind wir wieder“, sagte Philipp, der Trainer, und ließ alle an einer recht zentralen Bahnstation aussteigen.
Als er hinter den Jungs von seinem Sitz kletterte, fügte Philipp noch hinzu: „Und, Christian – nächste Woche wieder mal beim Training?“
„Ja, vielleicht – ich guck mal...“, murmelte er.
Aber sein Trainer ließ noch nicht locker.
„Du bist echt gut. Du weißt ja, wo du noch besser werden kannst.
Laufen kannst du wie Wahnsinn. Trainieren musst du das andere...“
„Ja...“, murmelte er wieder.
„Na dann – mach’s erst mal gut.“
„Du auch.“
Auf der Straße verabschiedeten sich alle voneinander, während Philipp mit dem Bus schon weitergefahren war. Die meisten gingen dann in Richtung Bahn, während er am schnellsten nach Hause kam, wenn er den Bus nahm.
Verwundert bemerkte er, wie eines der beiden Mädchen, Katrin, auch kurz hinter ihm zur Bushaltestelle kam.
Ihre Blicke trafen sich.
„Fährst du nicht sonst auch immer Bahn, wie Friederike?“
„Ja, aber heute nicht.“
„Wieso?“
„Ich fahre heute zu meinem Papa.“
Sie sah ihn noch immer an. Er fühlte sich verpflichtet, das Gespräch fortzusetzen.
„Haben deine Eltern sich scheiden lassen?“
„Ja.“
„Wann denn? Wie lange denn schon?“
„Vor acht Monaten.“
„Oh ... das tut mir leid.“
„Sie haben sich oft gestritten.“
„Verstehe...“
Ein Schweigen trat ein. Sie blickte etwas verlegen auf ihr Handy. Aber so verlegen nun auch wieder nicht. Er stand verlegen neben ihr. Er war überhaupt kein großartiger Redner. Grottenschlecht. Er wusste nicht, was er sagen sollte – und sie war elf! Was erwartete er eigentlich... Bei Lara hätte er schlicht überhaupt keine Chance...
Zum Glück kam der Bus recht schnell. Er musste seine Fähigkeiten der ,Konversation’ dringend verbessern. Aus einem spontanen Entschluss heraus fragte er: „Wollen wir zusammensitzen?“
Sie sah ihn etwas erstaunt an.
„Ja, können wir machen...“
Während er vor ihr einstieg und seine Karte zeigte, schimpfte er sich innerlich heimlich einen Idioten. Wahrscheinlich wäre sie irgendwie eh davon ausgegangen, dass sich das Zusammensitzen ergeben hätte, wozu extra fragen? Andererseits ... er wusste es nicht, nur, dass die Frage sie etwas irritiert hatte. Ständig trat er in Fettnäpfchen, weil er sich ständig zu viele Gedanken machte! Jetzt schon wieder, wo er sich hinsetzen sollte...
Er setzte sich etwa in die Mitte, und sie setzte sich neben ihn.
Er spürte, dass sie sein Handy nur aus Rücksicht auf ihn nicht anstarrte – aber sie hatte es in der Hand. Aber vielleicht war sie auch unsicher, wie sie fahren musste?
„Weißt du, wie du fahren musst?“
„Ja“, sagte sie, fast leise empört, als hielte er sie für ein ,Kind’.
„Sorry...“
Er spürte, dass es auch ihr nun unangenehm war, dass er sich hatte entschuldigen müssen.
„Wie schnell läufst du eigentlich ... so fünf Kilometer?“, fragte sie.
Er rechnete seinen Zehn-Kilometer-Schnitt herunter. Natürlich wäre er auf fünf Kilometer real noch schneller.
„Sechzehn-dreißig...?“
„Waaas? Sechzehn Minuten dreißig? Wirklich?“
„Ja...“
„Ich laufe dreiundzwanzig, wenn ich es schaffe!“
„Ja...“, lächelte er.
In diesem Moment fand er sie süß...
„Ich dachte, du läufst vielleicht achtzehn oder so...“
„Ja...“
„Wie, ,ja’? Das ist ziemlich unglaublich, und du sagst einfach nur ,ja’?“
„Ja...“, lachte er.
Jetzt musste sie auch lachen.
„Du bist schon komisch irgendwie...“
„Wie denn?“
Jetzt wurde es interessant. Ein elfjähriges Mädchen würde ihm jetzt sagen, warum er ,irgendwie komisch’ war...
„Na, weil du das normal findest, anscheinend!“
„Was heißt normal?“
„Ja, weiß ich auch nicht... Weil du einfach nur ,ja’ sagst...“
Er lachte etwas.
„Was soll ich denn sagen? Guckt mal alle, wie toll ich bin? Ich finde mich nicht toll...“
Sie musste wieder lachen.
„Stimmt... Ich weiß auch nicht...“
„Was stimmt? Dass ich nicht toll bin?“
„Nein!“, lachte sie wieder. „Tschuldigung... Ich meinte – –“
Langsam gefiel ihm die Unterhaltung mit diesem kleinen Mädchen.
„Ja?“, fragte er zärtlich neckend.
Sie lachte wieder verlegen.
„Ich meinte ... du kannst ja mit dieser unglaublichen Zeit auch schlecht angeben...“
„Doch, könnte ich machen“, widersprach er. „Ich könnte mir ein Schild umhängen, wo draufsteht: Sechzehn-dreißig, wer ist schneller?“
Sie lachte noch mehr als vorher.
„Stimmt! Mach das doch mal...“
Wieder musste sie lachen.
Er musste auch lachen.
„Dann musst du es aber malen...!“
„Ja, mach ich sofort.“
„Nein – ich mach’s nicht. Blöde Idee...“
„Doch, ich mal es!“
„Nein, lass das.“
Sie musste wieder lachen.
„Nächsten Samstag bringe ich es mit, und du musst kommen...“
„Nein, Katrin, hör auf jetzt.“
„Doch.“
„Nein!“
„Doch...“
Sie lachte wieder.
Er lachte nicht mehr. Er fand die Vorstellung höchst unangenehm.
„Okay...“, sagte sie ernst. „Ich mach es auch nicht...“
„Danke...“, sagte er ernsthaft.
Sie schien nachzusinnen.
„Aber wie kann man so schnell sein? Wie geht das?“
„Man läuft einfach. Trainiert viel...“
„Wieviel denn?“
„Jeden Tag.“
„Jeden Tag?!!“
„Ja, jeden Tag. Ich laufe extrem gerne...“
„Okay, aber jeden Tag...?“
„Ja...“
„Jetzt sagst du wieder nur ,ja’...“
„Was soll ich denn machen? Mir wieder ein Schild umhängen ,guckt mal, wie toll ich bin’?“
Sie musste wieder lachen.
„Du bist ja gar nicht toll!“, lachte sie.
„Eben“, erwiderte er ernst.
Sie sah ihn an.
„So meinte ich es gar nicht...“
Er erwiderte ihren Blick dankbar. Wieder fand er sie für einen Moment süß...
„Danke... Ist alles gut.“
Sie war beruhigt und dachte ein wenig nach.
„Aber wieso sagst du so wenig? Ich meine – immer. Ich hab eigentlich nie erlebt, dass du viel sagst...“
Er fühlte sich hilflos. Was sollte er darauf erwidern?
„Ja...“
„Schon wieder nur ,ja’?“
Er hatte es absichtlich gesagt.
„Ja...“, lächelte er.
Sie fühlte sich ratlos. Es tat ihm leid. Gerne hätte er mit ihr ein echtes Gespräch geführt. Aber was konnte man schon sagen – und was würde sie ernst nehmen? Wieviel würde sie überhaupt verstehen ... können und wollen?
„Es ist nicht so einfach...“, sagte er.
„Was ist nicht so einfach?“
„Es auszudrücken.“
„Aber wieso redest du nicht so viel? Man kann doch einfach irgendwas reden?“
„Kannst du das immer?“
„Ja“, lachte sie. „Wenn ich will...“
„Ja, siehst du... Vielleicht will ich dann ja nicht, ich weiß nicht...“
Sie schwieg erneut ratlos. Vielleicht bezog sie es auf sich, dachte er betroffen. Außerdem war es unrecht, sie mit dieser Antwort im völlig Unsicheren zu lassen – sie konnte sie ja überhaupt nicht verstehen!
„Mit dir unterhalte ich mich gern...“, sagte er.
„Echt?“, fragte sie verwundert.
„Ja, wieso nicht?“
„Weiß nicht... Wie alt bist du eigentlich genau?“
„Dreiundzwanzig.“
Sie sann schweigend nach.
„Was ist?“, fragte er.
„Nichts“, sagte sie.
„Findest du das komisch?“
„Was?“
„Dass man sich mit einem Mädchen wie dir gern unterhalten kann, wenn man dreiundzwanzig ist?“
„Nein...“
Nach einer kleinen Pause sagte sie:
„Aber normal ist es auch nicht, oder?“
„Wie ,normal’?“
„Na ja, dass es jeder machen würde eben...“
Er war erleichtert.
„Nein, wohl nicht.“
„Und warum unterhältst du dich gern mit mir?“
„Weil du dich offenbar gern mit mir unterhältst...“
„Was?“, lachte sie. „Nur deshalb?“
„Wieso nicht?“
„Na ja...“
Wieder schwieg sie.
„Was jetzt?“
„Na ja, eben...“, lachte sie.
„Versteh ich nicht...“
„Ich auch nicht...“
„Jetzt versteh ich gar nichts mehr...“
„Ich auch nicht!“, lachte sie.
„Na, dann ist ja alles klar...“
Sie kugelte sich kurz vor Lachen.
„Ja!“
Dann trat ein längeres Schweigen ein. Er genoss ihre Nähe. Er fand sie süß. Er mochte sie. Sie war die ideale Partnerin zum Nach-Hause-Fahren in diesem Moment...
„Aber ehrlich...“, sagte sie dann.
„Was denn ,ehrlich’?“
„Na ja ... du sagst eben nichts... Und gleichzeitig unterhalten wir uns so ganz plötzlich ... ist das nicht komisch? Wieso sagst du sonst nichts?“
Er wusste nicht, wieviel so ein Mädchen verstand. Trotzdem wollte er irgendwie ehrlich sein. Er sehnte sich ja sowieso immer nach dieser Aufrichtigkeit...
„Ich weiß nicht, Katrin. Vieles, was man so sagt, erscheint mir ... oberflächlich. Ich höre gern zu ... aber ich kann das selbst nicht. Ich bin eher schweigsam. Oder vielleicht auch nicht schweigsam ... aber ... ich weiß auch nicht, wie ich es ausdrücken soll...“
Sie dachte nach. Aber es schien sie irgendwie zu überfordern. Jedenfalls wusste sie nun auch nichts mehr zu sagen.
„Hm...“, sagte sie, um überhaupt etwas zu erwidern.
„Ja, siehst du?“, sagte er. „Kann man nicht richtig mit umgehen.
Ich auch nicht... Ich kann es nur so lassen, wie es ist...“
Wieder dachte sie nach.
„Aber das ist doch schade... Oder...?“
Diese Antwort trieb ihm geradezu die Tränen in die Augen. Vor Rührung. In diesem Moment liebte er dieses Mädchen neben sich.
„Ja...“, brachte er fast würgend hervor. „Ja, ist es...“
Betroffen schwieg sie. Er spürte ihre Empathie, die nicht deswegen Grenzen hatte, weil sie erst elf war, sondern nur deshalb, weil sie schon so sehr an Handys und alles andere gewöhnt war. Trotzdem war sie da – diese Empathie...
„Ist schon in Ordnung, Katrin. Ich meine ... es ist, wie es ist. Es ist ja mein Problem ... und kein Weltuntergang. Mit dir unterhalte ich mich wirklich gern. Nur hab ich selbst nicht so viele Themen, verstehst du? Es ist eigentlich gar nicht schlimm...“
„Nein?“
„Nein.“
„Okay, dann ist ja gut...“
„Ja...“
Der Bus hielt wieder an einer Haltestelle. Als die Türen sich geschlossen hatten und er wieder anfuhr, sagte sie:
„Ich muss die nächste raus...“
„Ja...“
Sie lächelte.
„Wieder nur ,ja’...?“
„Ja. Aber es war für mich die schönste Nach-Hause-Fahrt seit langem.“
„Echt?“
„Ja.“
„Das sagst du jetzt nur so...“
„Nein, ist so. Warum sollte ich das nur so sagen?“
„Weiß nicht...“
„Siehst du?“
Sie schwieg verlegen.
Bevor der Bus wieder halten musste, sagte sie: „Für mich war sie auch sehr schön...“
„Danke, Katrin... Dann hab eine schöne Zeit mit deinem Vater...“
„Danke, du auch! Ich meine – –.“
„Ich weiß, wie du es meinst, danke!“
„Also dann ... bis dann...“
„Bis dann!“
Sie stieg aus, und er blieb sitzen, die ganze Rührung noch immer bei ihm. Die Rührung einer unverhofften Begegnung, die sich einfach so ereignet hatte. Einfach so... Weil man auf einmal miteinander redete, allein. Nur zu zweit... Dann war so etwas auf einmal möglich. Wie ein kleines Wunder...
Es hatte ihn so berührt. Vielleicht berührte die Begegnung mit einem Mädchen immer – wenn man ihm, dem Mädchen, begegnen durfte