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Ein Tagebuch als heiliger Führer in die Mysterien der Seele - seine Schreiberin ist das Mädchen. Sein reines Herz ist mit den Himmelskräften innig vereint. So offenbart das Jahr des Mädchens eine Tiefe des Empfindens und der Gedanken, die wie der sanfte Zauber des frühen Morgens die Seele, die sich dafür öffnet, überwältigen kann - und so errettet, indem es die Mauern der Oberflächlichkeit durchbricht und das wahre, heilige Seelenwesen befreit.
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Seitenzahl: 455
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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.
Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...
Vorwort
Die Tugenden
Redlichkeit
Erkenntnissehnsucht
Wahrhaftigkeit
Glaube
Unschuld
Ehrfurcht
Hoffnung
Sanftmut
Hingabe
Mitleid
Achtsamkeit
Liebe
Die Karwoche
Ostern
Christuswirken in Leib, Seele und Geist
Himmelfahrt
Pfingsten
Über die Sehnsucht
Sommer
Johanni. Wunder und Hingabe
Sommer, Licht und Wärme
Herbst
Spirituelle Sehnsucht und Gegenmacht
Winter
Advent
Weihnachten und die heiligen Nächte
Ein Mädchen schreibt ein Jahr lang ihr Tagebuch. Ein Mädchen? Nein... Es ist das Mädchen. Es ist das wahre, heilige Wesen des Mädchens, das hier schreibt. Mit einem heiligen Herzen ist es innig vereint mit den Himmelskräften – und kann deshalb auch von ihnen schreiben. Zart ist seine ganze Seele demjenigen hingegeben, was das Gegenteil des Oberflächlichen ist: dem Tiefen, dem Geheimnisvollen, dem Heiligen.
So ist dieses Buch ein tief berührender, treuer Begleiter für jeden Tag des Jahres – und was in diesem Buch so berührt, ist letztlich das heilige Geheimnis der Seele selbst. Denn das Mädchen ist reine Seele – reiner als jede andere...
Wer die Vertiefung der Seele, die Heiligung des Seelischen sucht, der wird hier einen überreichen Schatz finden. Es ist das Mädchen, das ihn schenkt, und durch sie schenkt sich der Himmel selbst – denn sie trägt ihn in ihrem Herzen.
Die heutige Seele weiß überhaupt nicht, wie sehr sie von ihrem wahren Wesen bereits abgeirrt ist. Sie steht vor der Gefahr, es völlig zu verlieren. Wie schlimm es um das Schicksal der Seele heute bereits steht, könnte sie zu empfinden beginnen, wenn sie sich auf das Wesen des Mädchens wahrhaft einlassen kann. Denn dieses kann die Seele wieder zu sich selbst führen – und zu einer Sehnsucht nach dem Rückweg, der aber gerade ein Zukunftsweg ist.
Dieses Tagebuch, dieser Weg durch das Jahr mit dem Mädchen, offenbart eine Tiefe des Empfindens und der Gedanken, die wie das sanfte, zauberhafte Licht des frühen Morgens die Seele, die sich wahrhaft dafür öffnet, überwältigen kann – und in der Überwältigung errettet. Denn diese Überwältigung ist nichts anderes als das Durchbrechen der Mauern der Oberflächlichkeit und das wundersame Sich-Befreien des eigenen, wahren, heiligen Seelenwesens.
Die Sanftheit besiegt das Harte, denn sie ist die wahre Wirklichkeit. Die Seele besiegt den Tod, denn sie kennt das wahre Leben. Das Mädchen zeigt der sich für diese Geheimnisse öffnenden Seele den Weg, denn sie kennt ihn, sie lebt in jedem Moment in seiner Wirklichkeit.
Zum Lesen dieses Buches
Das Mädchen schrieb dieses Tagebuch im Jahr 2018. Dieses Jahr begann an einem Montag. Da vieles sich in einem Wochenrhythmus gestaltet, ist dies nicht unwesentlich – und der Leser wird selbst Wege finden, mit diesem Rhythmus auch in anderen Jahren in Einklang zu kommen.
Da die Seele des Mädchens auch tief in das christliche Geheimnis eintaucht, ist es gut, auch hier im Lesen eine Anpassung zu suchen. Als das Mädchen schrieb, fiel Ostern auf den ersten Apriltag. Jetzt, wo dieses Tagebuch veröffentlicht wird, liegt Ostern drei Wochen später. Man kann dann zum Beispiel vor der Karwoche noch einmal bestimmte Abschnitte wiederholen, um mit dem Mädchen im Einklang zu bleiben, dann mit ihm die ganze Osterzeit durchleben, auch Himmelfahrt und Pfingsten, und danach ein wenig intensiver wieder ,aufholen’, bis man spätestens zu Johanni, am 24. Juni, wieder ganz mit dem Mädchen vereint ist.
Die tiefste Frucht wird der Seele aus diesem Buch erwachsen, wenn sie von Beginn an mit einer Aufrichtigkeit lesen könnte, die sie vielleicht noch gar nicht aufbringen kann. Aber allein schon das Bemühen zählt. Bemühen um Stille, um ein Sich-Einlassen, um ein Sich-Berührenlassen, ein Sich-Berühren-lassen-Wollen, ein stilles Sich-Öffnen, wie ein sanftes Lauschen...
Immer ist das aufrichtige innerliche Stillwerden der Boden, in dem die Früchte der Seele keimen können. Möge die Seele, die zu einem Buch wie diesem greift, ihre eigene verborgene Sehnsucht ernst nehmen und die Demut besitzen, sich hingebungsvoll einzulassen.
1. Januar
Ich beginne mein Tagebuch. Es gibt zwölf Tugenden. Ich möchte jede Woche eine davon beschreiben. Das sind dann zwölf Wochen, und danach beginnt die Karwoche...
Weiß jemand eigentlich noch, was Tugenden sind? Und wer es weiß – wer nimmt es dann ernst? Die Menschen würden mich auslachen, wenn ich fragen würde, ob jemand weiß, was das Blut ist oder der Atem, oder die Knochen oder das Skelett. Aber die Tugenden sind das Blut und der Atem, das Leben und sogar das Skelett der Seele.
Eine Seele ohne Tugenden hat überhaupt kein Leben. Jede Seele hat aber diese Tugenden – nur sind sie in einem furchtbaren, unglaublich vernachlässigten Zustand. Also ist es auch die Seele. Unglaublich vernachlässigt... So furchtbar, dass man jedes Mal weinen möchte, wenn man es sieht. Und man sieht es ja immer.
Wie kann man sich um das Leben des Körpers so sorgen und um das Leben der Seele so wenig Gedanken machen? Wie kann man es so wenig erleben, dass man eine Seele hat? Und dann, dass sie viel, viel wichtiger ist als der bloße Körper? Der Körper gibt der Seele doch nur eine Wohnung – und wie haust sie dann darin! Was tut sie sich an – sich und anderen? Aber vor allem auch sich...
Die Menschen schauen nach der Mode, wollen gut aussehen, Haare, Kleidung, Gesicht, das alles wird so unglaublich beachtet und geschmückt, geschminkt – und die Seele? Ja, da wird mit Worten und Verhalten auch geschminkt, aber man sieht ja durch alle Schminke hindurch... Und dann? Dann sieht man nichts mehr... Wie die Seele aussieht, darum kümmern sich die Menschen überhaupt nicht. Aber warum nicht?
Für mich ist das unvorstellbar. Für mich ist das todtraurig. Und es ist eine Katastrophe. Denn die hässlichen Seelen machen auch die ganze Welt hässlich. Das, was sie selbst sind, tun sie auch der Welt an. Man kann es sehen, mit den Augen, an jeder kleinen Handlung. Und die größeren Handlungen sind einfach nur größer.
Nichts, was auf der Welt äußerlich hässlich und schlimm ist, entsteht, ohne dass es aus Seelen hervorgeht, die hässlich und schlimm sind und mit sich umgehen. Seelen, die alle nicht wissen, dass es die Tugenden gibt – und dass sie das Leben der Seele sind. Seelen, die nicht einmal mehr wissen, dass sie Seelen sind und dass es eine Seele gibt. Und wer weiß das heute noch wirklich? Wissen allein genügt nicht. Man muss es spüren – und zwar in jedem Moment wieder...
Die Liebe zu den Tugenden würde einem helfen, dies nie wieder zu vergessen. Denn diese Liebe würde der Seele neues Leben geben – das Leben der Tugenden, das ihr eigenes Leben ist. Wenn aber das Leben der Seele wirklich erwacht, dann kann es nicht wieder sterben. Es starb, als die Menschen für das Äußerliche erwachten – und das Innere vergaßen. Das war das Schlimmste, was jemals passierte. Und es ist höchste Zeit, die Seele zu retten – denn sonst passiert eine Katastrophe.
Redlichkeit
2. Januar
Ich möchte mit einer Tugend beginnen, die noch am meisten als Tugend verstanden werden könnte – und zugleich auch am meisten missverstanden. Und zwar meine ich die Redlichkeit. Sie hat auch mit Fleiß zu tun, ehrlichem Fleiß. Und weil jede Tugend mit der Liebe zu ihr zu tun hat, ist es die Tugend der Liebe zu ehrlichem Fleiß...
Früher sagte man wohl auch Rechtschaffenheit. Es geht aber nicht nur um die Ehrlichkeit, sondern um das ehrliche Schaffen, das ehrliche Verdienen seines täglichen Brotes. Dazu gehört auch das Himmelsbrot. Rechtschaffen ist eine Seele, die zur rechten Zeit leiblich schafft und zu rechten Zeit die nichtsinnliche Nahrung sucht und sich um sie müht. Die redliche Seele ruht nicht – und wo sie ruht, ruht sie in Gott.
Aber für die redliche Seele gibt es auch nichts Schöneres, als entweder redlich und recht schaffend tätig zu sein – oder aber sich innig zu versenken, was auch eine sehr heilige Tätigkeit ist, aber eigentlich schon mehr zu anderen Tugenden gehört.
Redlichkeit ist also die aufrichtige Liebe zu rechtschaffener Tätigkeit. Mehr darüber schreibe ich morgen.
3. Januar
Was für eine wunderbare Tugend das ist – die Redlichkeit! Die Liebe zur Arbeit, zur eigenen Arbeit, mit der man sein Brot verdient, mit eigenen Händen.
Ich denke mir, dass früher die Handwerker so gefühlt haben. Oder etwa ein Schuster. Der ganze Begriff der ,Ehre’ in seiner wunderschönen Bedeutung hat damit zu tun. Der Schuster wusste, was seine Arbeit wert ist – und er verlangte dafür nicht mehr und auch nicht weniger. Niemand, in dessen Seele die Tugend der Redlichkeit lebte, schlug einen anderen Menschen übers Ohr. Jeder wollte in heiligem, bescheidenem Stolz auf seine Arbeit nur das dafür haben, was sie auch wirklich wert war. Die Menschen waren von bescheidenem, aber ehrlichem Glück erfüllt, weil es gerecht zuging – und es ging so zu, weil in den Seelen die Redlichkeit lebte, die Rechtschaffenheit, der redliche Fleiß, mit dem die Seelen fühlten, was ihre Arbeit wert war.
Sie fühlten ihren eigenen Wert, weil sie rechtschaffen und fleißig waren, und niemand übervorteilte den anderen.
Redliche Menschen sind niemals unehrlich, weil Unehrlichkeit nur die Unfleißigen brauchen. Aus dem Fleiß wird ein redlicher Stolz auf die Früchte eigener Hände Arbeit geboren. Und die redliche Seele fühlte sich genauso beschämt, wenn sie weniger dafür bekäme, als diese Frucht wert ist, wie wenn sie zu viel dafür bekäme. Ein Zuviel wäre sogar noch schlimmer, denn es ist besser, selbst benachteiligt zu werden, als einen anderen zu betrügen. Die redliche Seele möchte gar nicht mehr bekommen, als sie verdient – und sie hat eine heilig genaue Empfindung, wann es zu viel ist...
Deswegen hat Redlichkeit und Rechtschaffenheit auch so viel mit Gerechtigkeit zu tun. Für die redliche Seele sind dies ganz einfach gar nicht zwei verschiedene Dinge!
4. Januar
Redlichkeit ist untrennbar mit dem Gerechtigkeitsgefühl verbunden. Man sagt: ,Sie teilten redlich’. Das ist dasselbe wie gerecht. Natürlich können auch Diebe und Räuber untereinander ,gerecht’ teilen, aber da ihr Teilen auf Raub beruht, ist es nicht redlich, sondern unredlich. So hat die Redlichkeit immer mit ehrlicher, eigener fleißiger Arbeit zu tun.
Wenn man sich ,redlich’ bemüht hat, oder wenn man sich etwas ,redlich’ verdient hat, steckt immer der wirkliche, aufrichtige Fleiß dahinter.
Dabei geht es um die Liebe zur Arbeit selbst. Man kann doch an einen Förster denken. Er wird nie etwas von den Bäumen haben, die er pflanzt – er pflanzt für die über- und überübernächste Generation. Aber er liebt seine Arbeit. Und was er als Lebensunterhalt verdient, das verdient er durch ebendiese. Rechtschaffen und voller Verantwortlichkeit tut er, was notwendig ist, um den Wald zu pflegen und zu erhalten. Eigentlich dient er – wie jeder Beruf dient, aber gerade bei solchen Berufen wird es ganz deutlich spürbar. Der Förster dient – er dient dem Wald, und er dient lange nach ihm kommenden Generationen. Er tut, was getan werden muss. Er ist fleißig. Und er möchte nicht mehr bekommen, als man braucht, um zu leben. Das ist Redlichkeit...
Es ist also selbstlose Liebe zur eigenen Arbeit, deren Redlichkeit die Seele dann auch wieder mit einem Stolz erfüllen kann, der sie nicht hässlich macht, sondern nur das Empfinden ihrer eigenen Würde ist. Die Seele ist sich der Würde ihrer Arbeit in bescheidener Weise bewusst, nicht mehr und nicht weniger. Sie spürt den Wert ihrer bescheidenen Arbeit im Kreis des Ganzen. Das ist der bescheidene Stolz auf der eigenen Hände Arbeit aller fleißigen Menschen. Und in der Redlichkeit geht er zusammen mit einer tiefen, tiefen Ehrlichkeit...
5. Januar
In der Redlichkeit liegt ein unendlich heiliges Ehrgefühl. Noch die ärmste Arbeiterin hat es – oder darf es haben. Sie darf fühlen, was sie gearbeitet hat und Tag für Tag arbeitet. Selbst wenn sie dafür viel zu schlecht entlohnt wird, darf sie spüren, was sie wirklich getan hat. Und das gehört zur Redlichkeit dazu. Seine Arbeit nicht überschätzen – aber auch nicht unterschätzen. Sie mag einem vielleicht sogar verhasst sein, man mag zu ihr gezwungen sein, um zu leben – aber solange man sie dennoch fleißig und aufrichtig tut, sozusagen wirklich ,im Schweiße seines Angesichts’, darf man diesen heiligen Stolz damit verbinden: das war meine Arbeit, nicht die von irgendjemand anderem... Dieses Ehrgefühl ist um so größer, je mehr die Früchte dieser Arbeit einem dann dennoch genommen werden...
Die Redlichkeit war zu keinen Zeiten größer als in jenen, wo man nicht zu viel für seine Arbeit bekommen hat, sondern eher zu wenig. Redlichkeit bedeutet, gar nicht mehr bekommen zu wollen – vor allem aber: fleißig gewesen zu sein und zu wissen, was man getan hat.
Die Redlichkeit endet da, wo man es mit seinem Fleiß nicht mehr so genau nimmt. Und die Unredlichkeit beginnt da, wo man seinen eigenen Vorteil sucht und es mit der Gerechtigkeit nicht mehr so genau nimmt. So ist die Redlichkeit untrennbar verbunden mit jenen, die fleißig tätig sind und ihren gerechten Lohn empfangen – oder weniger als diesen, die aber dennoch in ihrer ganzen Seele tief ehrlich bleiben.
6. Januar
Und das alles, was ich geschrieben habe, muss man empfinden – in seiner eigenen Seele tief, tief spüren. Dass Redlichkeit eine Tugend ist und was das dann ist: eine Tugend...
Tugenden sind etwas, was die Seele innerlich schön macht, leuchtend, wunderschön strahlend. In früheren Zeiten hatten es die Menschen einfach, das zu verstehen, denn da konnte man einfach sagen: Gott sieht dies unmittelbar. Und so ist es noch immer – nur verstehen die Menschen das nicht mehr. Sie können sich nicht mehr hineinversetzen, aber das sollten sie. Es geht darum, dass das, was die Seele ist, vor Gott und den Engeln ganz, ganz unmittelbar sichtbar ist – und dass da alles noch viel sichtbarer ist als in der äußeren Welt. Und so, wie es schon dort so unendlich viele Unterschiede gibt, von Bettellumpen bis zum Kleid der Königin, so sind die Unterschiede in den ,Kleidern’ und im Aussehen der Seelen noch viel, viel größer. Ein Bettellumpen kann niemals so hässlich sein, wie eine Seele werden kann – und ein Königskleid kann auch niemals so schön sein, wie eine Seele werden kann. Das alles ist hier, bei der Seele, noch viel, viel unbeschreiblicher.
Heute, wo die Menschen gar nicht mehr wissen, was Tugenden sind, würde man vielleicht sagen: ,Ja, ja, der ist ganz rechtschaffen’ – und würde sich fast nichts weiter mehr dabei denken. Vielleicht würde man sogar denken: ,Er ist doch dumm, soll er für seine Arbeit doch ein paar Euro mehr verlangen!’ Aber was heißt das? Man macht sich überhaupt keinen Begriff mehr, was diese Rechtschaffenheit wirklich bedeutet!
Eine Seele, die lustlos und vielleicht sogar verschlagen ihr Geld verdient, was sie durch ihre Lustlosigkeit und Falschheit gar nicht verdient, hat vor Gott nicht die geringste Bedeutung – sie ist vielmehr unendlich hässlich vor seinen Augen. Die Seele aber, die ihren inneren Fleiß und ihr heilig-bescheidenes Wissen um das mit eigener Hand Geleistete haushoch über die Münzen stellt, die sie dann bekommt – oder gar über die Möglichkeit, noch ein paar mehr herauszuschlagen –, die besitzt ,einen Schatz im Himmel’, nämlich etwas, was ihr niemand, niemand, niemand nehmen kann. Und was sie besitzt, die Tugend der Redlichkeit, das macht ihre Seele unendlich schön – in diesem Punkt...
7. Januar
Redlichkeit ist als Tugend sozusagen die heilige Würde des ehrlichen Fleißes oder fleißiger Ehrlichkeit. Die Seele spürt diese Würde – und in dem Maße, wie sie sie einfach nur spürt, ohne dies zu einem falschen Stolz werden zu lassen, leuchtet diese Würde auch vor Gottes Augen. Vielleicht spürt sie sie auch nicht – sondern hat sie nur, ohne sie zu spüren. Es gibt redliche Seelen, die wissen nicht das Geringste von ihrer unglaublichen, heiligen Redlichkeit. Aber man kann es wissen. Und die Redlichkeit hat ja auch selbst viel mit einem Wissen zu tun, denn es geht auch um Gerechtigkeit. Dafür muss die Seele doch wissen, was die eigene Arbeit wert ist – und was nicht. Sie weiß es also. Nur weiß sie manchmal nicht, dass sie es weiß – und zum Beispiel dass sie sehr, sehr redlich ist.
Manchmal ist das auch gut so. Denn manche Seelen werden mit jedem Wissen unredlicher. Sobald sie für die Frage erwachen, denken sie schon an die Möglichkeit, mehr ,herauszuschlagen’ – und schon ist es mit der Redlichkeit vorbei. Selbstsucht und Gier sind Untugenden, die die Tugend sofort vernichten. Die Redlichkeit mag um ihre Würde wissen oder nicht wissen – aber sie bleibt nur Redlichkeit, wenn sie sich nicht mit der Gier verbrüdert, denn dann verwandelt sie sich in ihr hässliches Gegenteil. Die wirkliche Redlichkeit weist die Gier immer unmittelbar und voller Überzeugung von sich. Und zwar gerade weil sie ihre eigene Würde weiß oder sie aber unbewusst spürt. Und sie möchte Redlichkeit bleiben – und nicht um eines billigen äußeren Vorteils willen in ihr hässliches Gegenteil verwandelt werden.
Das ist es, was jede redliche Seele die blanken Taler, an denen die Hässlichkeit der Würdelosigkeit klebt, zurück ins Antlitz des Versuchers schleudern lässt.
Tugenden sind der unbezahlbare Schatz der Seele. Sie sind ihr Leben und ihr Leuchten – und das lässt sich mit keinem Geld der Welt bezahlen. Tugenden sind das Heiligste, was es zu hüten gibt, und die Seele, die die Tugenden liebt, weiß das. Deswegen liebt sie sie ja...
Das war also die heilige, so schwer zu verstehende Tugend der Redlichkeit. Morgen will ich anfangen, von der nächsten zu schreiben.
Erkenntnissehnsucht
8. Januar
Bevor ich von der nächsten Tugend schreibe, möchte ich noch etwas anderes sagen. Nämlich, ich möchte noch einmal dasselbe sagen wie gestern: Dass wir uns auf einem sehr, sehr heiligen Boden befinden. Das darf man nicht nur nie vergessen – man muss es immer unmittelbar und mit ganzem Herzen spüren! Es hat alles keinen Sinn, wenn dies nicht so wäre. Die Tugenden sind das Heiligste, was es gibt – und wenn man das nicht spürt, ist die Seele ernstlich krank. Früher sagte man: ,bis an den Tod’. So ernst! Man muss es wieder lernen, seine Seele zu spüren! Und dann muss diese Seele wieder lernen, ihre heilige Sehnsucht nach diesen Tugenden zu spüren – denn sie sind ihr Leben.
Eine Seele, die nicht mehr fühlen kann, wie sie gleichsam in einer unendlich zarten Heiligkeit watet, ja eingetaucht ist, wenn sie sich dem Nachdenken und Nachfühlen über diese Tugenden hingibt – eine solche Seele ist todkrank! Sie ist fast schon tot, erstarrt, gestorben, erkaltet, ohne jede wirkliche Empfindung. Sie hat nur noch Empfindungen des Äußeren und des Wesenlosen, aber nicht mehr wirkliche Empfindungen. Todkrank, wirklich todkrank ist die Seele, die nicht fühlen kann, was die Tugenden sind. Heiliges, zartes, unendlich wesenhaft-heiliges Leben – das Leben der Seele...
Und die nächste Tugend, von der ich schreiben möchte, ist die Sehnsucht, dies auch wirklich zu erkennen. Also, man kann sagen: Erkenntnissehnsucht. Eine der zwölf Tugenden...
9. Januar
Tief verborgen in der Seele lebt sie, diese heilige Tugend, um die es in dieser Woche gehen soll: die Erkenntnissehnsucht. Was für eine heilige Kraft ist dies! Sie ist es, die die Seele zu Gott führt – wie auch alle anderen Tugenden. Aber es ist deutlich, wie wichtig gerade diese eine ist.
Man kann sich fragen, ob eine Sehnsucht eine Tugend sein kann. Ja, das kann sie – weil sie gehütet werden muss, gehütet und geheiligt, so, wie jede andere Tugend. Und wenn sie dies nicht würde, so würde sie verkümmern und verschüttet werden – auch wie jede andere Tugend. Die Tugenden sind der Schatz, den Gott in die Seele gelegt hat – und man kann ihn hüten und mehren, oder man kann ein schlechter Hüter sein. Wer nicht die heilige Verantwortung empfindet, ist ein schlechter Hüter – und eines Tages wird er voller Schrecken erkennen, wie sehr er seine Seele verwahrlosen ließ.
Und die Erkenntnissehnsucht? Was machen die Menschen heute mit ihr? Sie wollen das Größte und das Kleinste erkennen, die Atome und die fernsten Sterne, die Gene und Leben auf fernen Planeten. Aber das Leben ihrer eigenen Seele und überhaupt die Existenz der Seele interessiert sie nicht. Aber die Tugenden sind die Sterne der Seele... Sie sind der heilig-leuchtende Sternenhimmel, und wenn sie nicht leuchten, herrscht in der Seele finsterste Nacht. Die Erkenntnissehnsucht müsste sich auf das Heilige richten... Auf das einzig Wesentliche.
10. Januar
Man kann sich vielleicht fragen, wie eine Tugend entarten kann – weil die Erkenntnissehnsucht sich heute so sehr im Wesenlosen verliert, dass die Menschen forschen und forschen und schon gar nicht mehr wissen, warum sie das tun – während überall auf der Welt Kinder verhungern, Tiere leiden, die Natur zerstört wird und noch viel mehr. Aber auch Tugenden können entarten. Sie können nicht nur nicht entfaltet werden, sie können auch falsch entfaltet werden.
Die Redlichkeit könnte auch zur bloßen ,Bravheit’ werden – und ganz dieses unglaubliche Herzensgefühl verlieren, diesen heiligen Stolz, der zugleich so demutvoll und bescheiden ist. Es kommt immer darauf an, dass die Tugend wirkliches Leben hat – heiliges Leben.
Sehnsucht, heilige Sehnsucht, ist auch etwas völlig anderes als Gier. Heute lebt in den Seelen viel zu sehr eine Erkenntnisgier – oder aber eine Gleichgültigkeit, die höchstens noch Gier nach Neuigkeiten ist, nach Nachrichten, nach Informationen, immer wieder Neues, das Neueste... Da ist die Seele wieder schwer, schwer krank. Sie leidet an einer schlimmen Fresssucht – und das, was sie frisst, sind diese Nachrichten. Und wenn sinnlos immer weitergeforscht wird, nur um noch ein Molekül und noch einen Stern zu entdecken, dann ist das auch wieder eine Fresssucht. Es hat nichts mehr mit Sehnsucht zu tun – nur noch mit Fressen, unendlich, wie eine Raupe Nimmersatt, die nie zu einem Schmetterling wird, weil sie nur immer dicker werden will.
Die Tugend, die wirkliche Erkenntnissehnsucht ist etwas völlig anderes. Sie ist etwas ganz und gar Heiliges, wie jede Tugend. Man muss sich fragen: Was ist das wirkliche, das heilige Leben der Seele? Und jetzt fragt man es sich in Bezug auf die Erkenntnissehnsucht. Was ist das? So heilig wie möglich vorgestellt, gefühlt, mit dem Herzen gefühlt...
11. Januar
Die Erkenntnissehnsucht ist eine heilige Tugend. Und wenn sie als eine Tugend gehütet wird, richtet sie sich selbst auf das Heilige. Sie möchte das Heilige hüten und vertiefen. Sie möchte das Heilige mehr verstehen, heiliger verstehen. Die Seele möchte sich würdig machen, das Heilige immer mehr und tiefer verstehen zu dürfen. Aber dieses Sich-würdig-Machen sind vielleicht schon wieder andere Tugenden. Die Erkenntnissehnsucht ist die Tugend, mit der die Seele eben eine Sehnsucht nach Erkenntnis hat – so, wie die Redlichkeit die Tugend ist, mit der die Seele eben redlich ist.
Erkenntnissehnsucht bedeutet nicht, nur nach dem Heiligen eine Erkenntnissehnsucht zu haben. Aber in einer tugendhaften Seele würde es dennoch im Mittelpunkt stehen – und mehr noch: sie würde das Heilige in allem finden. Ihr Erkennen würde selbst immer heiliger werden. Aber es beginnt mit der Sehnsucht... Und weil Sehnsucht selbst etwas sehr Heiliges ist, beginnt mit ihr auch bereits die Erkenntnis etwas Heiliges zu werden – aber man muss dies alles immer sehr, sehr hüten, nur dann bleibt es so heilig, wie es sein will.
Wenn ein Mensch alles kennengelernt hat, alles erforscht, alles gesehen, wenn er überall gewesen ist ... was ist dann? Was hat er dann? Ist er dann müde geworden? Satt? Ja, ekelt ihn vielleicht alles? Was hätte die Seele gewonnen, wenn sie alles wüsste ... und doch nichts heiligen könnte? Wenn alles nur die Last des Toten vergrößert hätte, die die Seele mit sich herumträgt? Totes Wissen, tote Erfahrungen, tote Erlebnisse – Ballast, lastend, lähmend...? Was haben die Millionäre von ihren Reisen? Von ihren Villen? Sie können so viel sehen, erleben, kennenlernen – aber was haben sie davon?
Man muss mit dem Herzen spüren, was demgegenüber Erkenntnissehnsucht ist. Heilige Sehnsucht, wie eine zarte Knospe, die nie altert, weil ihre Heiligkeit gehütet wird, wie ein zartes Feuer, das nie erlischt...
Sehnsucht ist deshalb Sehnsucht, weil sie jung ist. Wenn sie altert, ist die keine Sehnsucht mehr. Dann ist sie Langeweile, dann ödet eine neue Erkenntnis nur noch an, sie interessiert nicht mehr, sie ist unwesentlich. Erkenntnissehnsucht ist aber das Gegenteil. Sie ist das Ewig-Junge.
12. Januar
Die übrigen Tugenden helfen der Erkenntnissehnsucht, dass sie sich vor allem auf das Wichtigste richtet. Aber die Seele weiß, was das Wichtigste ist – denn sie selbst und alle Tugenden sind ja aus Gott geboren. Wie könnte eine Seele nicht eine allerinnerste Richtung auf das haben, woraus sie geboren wurde und von dem sie ihr Leben bekam?
Und das Andere ist dann die Sehnsucht danach, das immer mehr zu verstehen, was sie selbst ist, die Seele. Heute vergessen die Seelen sich so unglaublich stark. Aber die Tugend würde sein, wieder eine lebendige Erkenntnissehnsucht zu fühlen. Dass diese Sehnsucht da wäre, das wäre gerade die lebendige Tugend.
Und das Dritte ist dann die Sehnsucht, alles Übrige zu verstehen – weil es da ist. Und weil man selbst da ist. Und weil die Seele nicht dazu geschaffen wurde, verständnislos allem übrigen gegenüberzustehen und an allem übrigen vorüberzugehen – sondern sich dafür zu interessieren. Diese wunderschöne Kraft des Interesses ist also Teil dieser heiligen Tugend – nicht nur, aber auch.
So haben wir also Gott, die Seele selbst und die Welt in ihrer Schönheit. Und was kann die Seele nun über Gott wissen? Kann sie je etwas wissen? Geht es überhaupt um das Wissen? Es ist Erkenntnissehnsucht, die die Tugend ist! Erkennen ist nicht Wissen – es ist viel lebendiger, viel heiliger und viel zarter. Die Sehnsucht der Seele ist nicht, zu wissen, sondern zu erkennen. Und man sollte den heiligen Unterschied einmal sehr, sehr zart spüren...
,Und sie erkannten einander’, heißt es in alter Sprache, wenn sich zwei Menschen liebten. Liebe hat mit Erkennen zu tun – und heiliges Erkennen hat mit Liebe zu tun. Sehnsucht hat auch mit Liebe zu tun. Wenn sich die Erkenntnissehnsucht auf Gott richtet, kommen wir zu etwas Unaussprechlichem. Gott ist unendlich heilig – aber auch das, was in der Seele dann lebt, ist bereits unendlich heilig. Man kann es nicht weiter beschreiben...
13. Januar
Und die Seele selbst? Was für ein heiliges, unendliches Geheimnis ist denn sie! Allein schon die Tugenden. Allein schon jede einzelne Tugend! Ein Wunder! Woher kommt das? Woher kommt die Sehnsucht? Die Erkenntnissehnsucht? Woher hat der Mensch ein Herz, das doch so innig mit der Seele verbunden ist, als das heilige Organ des Fühlens? Woher hat die Seele ein Denken? Woher weiß sie, was das Gute ist? Woher kommt das? Wieso trägt ein Mensch dieses unendlich heilige Wissen in seinem Herzen? Wieso ist dieses heilige Geheimnis, das Geheimnis des Guten, so sehr eins mit dem Herzen? Was ist dieses große, große Geheimnis des Herzens, das zugleich das Geheimnis der Seele ist?
Wenn man mit solchen Fragen begonnen hat, hört es nie wieder auf. Und Erkenntnissehnsucht bedeutet nicht unbedingt, Antworten zu bekommen. Es bedeutet ein heiliges Sich-Versenken in die Fragen... Ein Eintauchen, ein Versinken, wie in einem Meer – ein heiliges Versinken in heiligste, tiefste Fragen. Es bedeutet heiliges, schweigendes Staunen...
Das könnte ein Widerspruch sein. Denn will nicht die Sehnsucht erkennen und nicht staunen? Aber es ist kein Widerspruch. Denn die Sehnsucht sehnt sich nach dem Ziel ihrer Sehnsucht. Das Ziel der Erkenntnis aber ist alles, auf das sie sich richtet. So ist die Erkenntnissehnsucht eigentlich Sehnsucht überhaupt. In der Erkenntnis vereinigt sich die Seele mit dem Erkannten. Es ist ein Prozess reiner Liebe... Deswegen geht es nicht um das schnelle Wissen, sondern um die Sehnsucht selbst. Erkenntnis, die nicht auf ihrem Weg zum Ziel Liebe wird, hat überhaupt keinen Wert. Deswegen ist ,Erkenntnissehnsucht’ ein schwieriges Wort. Man muss die Betonung auf ,Sehnsucht’ legen. Und man muss spüren, was darin enthalten ist. Es ist eine Sehnsucht, die über ein heiliges Sich-Versenken und ein heiliges Staunen zu einer heiligen Liebe führt – und diese Liebe ist dann das Erkennen. Sie wird eins mit ihm, weil sie eins wird mit dem Erkannten...
14. Januar
Wenn sich die Erkenntnissehnsucht auf die Welt richtet, so tritt die Seele in ein Liebesverhältnis zur Welt und ihrer Schönheit. Die Welt ist ,kosmos’. Kosmos ist nicht nur eine wunderschöne Blume – die auch ,Schmuckkörbchen’ genannt wird (Körbchen wegen der Korbblüte) –, sondern Kosmos ist das griechische Wort für ganz vieles, aber alles gleichzeitig. Es bedeutet Ordnung, aber auch Schmuck, Glanz, und so eben auch Schönheit. Es ist weisheitsvoll geordnete, leuchtende Schönheit, die den ganzen Kosmos durchstrahlt, weil sie dieser Kosmos ist.
Man schaue sich nur einmal eine kleine Kosmos an – oder jede andere Blume! Man betrachte ein kleines Schneckenhäuschen. Man versenke sich in eine winzige Kleinigkeit dieser unendlich großen und unendlich vielfältigen Schöpfung. Man versenke sich in eine Kleinigkeit! Und man wird erkennen (erkennen!), wie schon hier eine ganze Welt, ein ganzer Kosmos von Schönheit wartet, gesehen, empfunden, geliebt und erkannt zu werden...
Ein Schmetterling... Ein Spinnennetz am frühen Morgen... Ein Tautropfen... Der Gesang eines Rotkehlchens... Der Ruf des Kuckucks am Waldrand! Die Schönheit des Kosmos schlägt in das Herz ein wie die erste Liebe...
Und wenn die Sehnsucht zur Tugend wird, dann bleibt es die einzige Liebe, denn dann hört sie nie auf. Kosmos ist ein Einziges, alle Schönheit ist miteinander verbunden, wie durch ein heiliges Band, ein leuchtendes Gewebe, gewoben von Gott und allen Engeln. Und die Liebe, die sich auf diese ganze Schönheit richtet, auf alles Einzelne und auch auf das Ganze, ist auch immer die gleiche. Die Erkenntnissehnsucht aber führt, weil sie Liebe wird, auch zum Erkennen. Sie führt zum Erkennen des Zusammenhanges, aber auch zum Erkennen des Einzelnen.
Die Wissenschaftler erkennen unglaublich vieles. Aber die Seele erkennt viel mehr und viel tiefer. Sie erkennt zum Beispiel, dass die Schmetterlinge und die Blumen einander wirklich liebhaben. Sie erkennt, dass ein See das Auge einer Landschaft ist. Oder dass eine starke, alte Eiche wirklich genau dasselbe ist, was in der Seele die Treue ist. Man kann das nicht weiter beschreiben – aber das muss man auch nicht, denn das liebende Erkennen ist letztlich immer etwas Geheimes, es geschieht in der heiligen Intimität, in der die Seele mit dem Erkannten allein ist... Das Wunder der Geliebten...
Wahrhaftigkeit
15. Januar
Die nächste Tugend, über die ich diese Woche schreiben möchte, ist die Wahrhaftigkeit. Sie ist wie eine heilige Schwester der Erkenntnissehnsucht. Die Sehnsucht nach Erkenntnis führt zur Wahrhaftigkeit. Und die Wahrhaftigkeit führt zur Erkenntnis. So könnte man auch sagen, die Wahrhaftigkeit ist die Tochter der Erkenntnissehnsucht – und die Erkenntnis ist dann die Enkeltochter der Sehnsucht nach ihr...
Es ist schön, sich solche Bilder zu machen. Denn eigentlich macht man sie sich nicht, sie kommen zu einem – weil sie wahr sind. Die Wahrheit kann als Bild kommen. Denn was wäre damit gesagt, wenn man nur sagen würde ,führt zu’ – und wüsste gar nicht, was damit gemeint ist? Gemeint ist ein Geborenwerden. Das ist etwas sehr Wichtiges! Durch das eine kommt das andere zur Welt. Und vorher wächst es schon unsichtbar in dem einen heran...
Wenn man lange genug eine Sehnsucht nach wirklicher, nach heiliger Erkenntnis gehabt hat, wird man wahrhaftig. Vielleicht, weil man merkt, dass nur dadurch wiederum die Erkenntnis heranreifen oder herankommen kann? Ganz sicher deshalb!
Wahre Erkenntnis möchte, dass man sich ihr mit Ehrfurcht nähert. Sie ist ja heilig – also wie könnte man sich ihr je anders nähern? Etwa weil man zu stolz dazu ist? Dann ist man nicht tugendhaft, denn Stolz ist ein Mangel an Tugend... Tugenden sind die Schönheit der Seele, und ihr Gegenteil ist die Hässlichkeit der Seele. Die Erkenntnis wartet also, bis man schön genug ist, ihr unter die schönen Augen zu treten.
Damit meine ich nicht, dass der Inhalt einer Erkenntnis nicht auch hässlich, traurig, erschreckend und schlimm sein kann – aber die Erkenntnis selbst als Prozess, als Geheimnis, als Mysterium ist heilig. Es ist eine heilige Göttin... Ihr tritt man unter die Augen, wenn man sich einer Erkenntnis, als Inhalt, nähert. Vor dem Inhalt steht der Prozess, der Weg zum Inhalt. Und dieser Weg und sein Ziel, nicht als Inhalt, sondern als Erkenntnis an sich, ist die heilige Göttin...
16. Januar
Können wir das heute noch? Von heiligen Dingen reden? Von etwas, was so heilig ist, dass es natürlich kein ,Ding’ ist, sondern eben das Heilige? Wenn wir es nicht mehr könnten, wäre unsere Seele sehr, sehr arm – und sogar verloren. Die Seele braucht die Ehrfurcht, weil sie das Heilige sonst ganz verlieren würde. Deswegen ist auch Ehrfurcht eine Tugend. Aber die Erkenntnissehnsucht und die Wahrhaftigkeit sind die Ehrfurcht vor der Erkenntnis und der Wahrheit. Und wenn diese Ehrfurcht nicht sofort da ist, wird auch sie aus diesen beiden Tugenden geboren. Überhaupt ist ja jede Tugend ein heiliger Schatz, aus dem unendlich viel geboren werden kann. Zu jeder einzelnen Tugend gehören ganz gewiss noch zwölf weitere, die mit ihr zusammenhängen, Teil von ihr sind, aus ihr geboren werden können und so weiter.
Die Wahrhaftigkeit ist also die Ehrfurcht vor der Wahrheit. Und sie ist sozusagen die fortgesetzte Erkenntnissehnsucht, denn die Erkenntnis besteht ja aus der Wahrheit. Man kann nur die Wahrheit erkennen, was denn sonst? Wenn man eine Lüge erkennt, ist auch das die Wahrheit: dass es eine Lüge ist. Mit der Ehrfurcht vor der Wahrheit werde ich die Wahrheit schließlich auch erkennen – denn sie wird sich mir schenken... Aber nur, weil ich Ehrfurcht vor ihr hatte. Weil ich mich ihr hingegeben habe. Dann gibt sie sich auch hin. Sie schenkt sich, weil ich ihr vorher meine Wahrhaftigkeit und meine Sehnsucht nach der Erkenntnis geschenkt habe.
Das ist kein Tauschgeschäft, sondern etwas unendlich Heiliges. Meine Sehnsucht reicht grenzenlos in die Weite – und von der anderen Seite, jenseits der Unendlichkeit, kommt mir die Erkenntnis entgegen. Es ist Liebe, reine Liebe. Die Sehnsucht liebt die Erkenntnis – aber die Erkenntnis liebt auch die Sehnsucht. Würde sie sich ihr sonst schließlich schenken?
17. Januar
Und was ist nun Wahrhaftigkeit? Ehrfurcht vor der Wahrheit? Aber das bedeutet, dass ich die Wahrheit ehre. Und wie mache ich das? Es bedeutet nicht, dass ich sie fürchte – höchstens so, dass ich mich fürchte, sie nicht genug zu ehren. Ehrt man etwas denn, wenn man in Wirklichkeit nur so weitermacht wie immer? Nein, sondern wenn man sich wirklich fürchtet, etwas falsch zu machen – und zwar, weil man zu faul ist, es wirklich zu meinen. Erst die ,Furcht’ führt zu der wirklichen Anstrengung – zu einem aufrichtigen Sich-Anstrengen. Also das ist auch Aufrichtigkeit! Ich muss es schon mit der Aufrichtigkeit aufrichtig meinen. Ist das nicht etwas Wunderbares? Man muss es ernst meinen – das ist gemeint. Aber was ist nun wieder Ernst? Es wirklich meinen, mit seinem ganzen Herzen. Aber wenn das Herz gar nicht ernst sein kann? Man kommt mit diesen Erklärungen nicht ans Ziel – die Seele muss selbst verstehen, was gemeint ist. Und dann muss sie es so ernst wie nur möglich nehmen.
Damit sind wir auch wieder bei der Redlichkeit. Und wieder bei der Aufrichtigkeit. Und bei der Sehnsucht. Ohne all das kommt die Seele an keine Tugend heran. Die Aufrichtigkeit ist zugleich auch der Ernst der Seele! Wenn sie es mit ihrem eigenen Bemühen nicht aufrichtig meint, hat sie keinen Ernst. Es ist Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst, gegenüber dem eigenen Ernst, gegenüber der eigenen Aufrichtigkeit des Strebens nach den Tugenden. So wird also auch der Ernst aus der Wahrhaftigkeit geboren – nicht nur die Erkenntnis. Sie wird erst dann geboren, wenn die Wahrhaftigkeit ... ernst und wahrhaftig und aufrichtig genug ist.
Darum ist auch die ,Furcht’ in der Ehrfurcht etwas Schönes und Heiliges. Denn wirkliche Verehrung ist immer auch – Furcht. Erst wenn man sich fürchtet, dass man der Wahrheit noch nicht würdig genug ist; erst wenn man sich fürchtet, dass die Wahrheit an einem vorbeigehen könnte, einen nicht beachten könnte, weil man nicht würdig genug ist ... erst dann weiß man, was wirkliche Ehrfurcht ist. Es ist wirklich die heilige Ehrfurcht vor einer Göttin...
18. Januar
Das alles ist heute vielen sehr schwer. Ich sehe das überall. Sehr, sehr schwer ist das. Aber warum eigentlich? Weil auch die anderen Tugenden nicht da sind! Aber wir können sie nur der Reihe nach kennenlernen, ich will sie jetzt nicht aufzählen – auch das wäre wieder ohne Ehrfurcht... Das kann man nicht machen, etwas Heiliges einfach aufzählen.
Aber trotzdem kann man doch einfach mit der Wahrhaftigkeit beginnen. Zuerst heißt es einfach: ehrlich zu sein. Sich nicht zu verstellen. Nicht zu lügen. Nicht zu schwindeln. Die Wahrheit nicht zu verdrehen. Man kann auch Aufrichtigkeit sagen. Und in dieser Bedeutung hat es wieder eine große Nähe zur Redlichkeit. Denn wer redlich ist, ist auch wahrhaftig – und umgekehrt. Aber das Redliche betrifft doch eher das Handeln und das Wahrhaftige das Sprechen ... und Denken. Man könnte auch sagen: Redlichkeit ist die Aufrichtigkeit des Handelns, und Wahrhaftigkeit ist die Redlichkeit des Sprechens und Denkens.
Ich bin wahrhaftig, wenn ich nicht lüge. Aber die Seele kann sich auch selbst belügen. Sie muss also auch sich selbst gegenüber wahrhaftig sein. Und das ist vielleicht am schwersten! Und warum? Weil man sich selbst am liebsten belügt. Andere Menschen belügt man nicht gern – bei sich selbst sieht man die Wahrheit nicht gern... Das heißt, die volle Wahrhaftigkeit findet man erst, wenn man damit auch bei sich selbst ankommt.
19. Januar
Aber nun heilt eine Wahrhaftigkeit die andere. Wenn man anfängt, anderen Menschen gegenüber ehrlich, aufrichtig und wahrhaftig zu werden, dann wird man es auch immer mehr sich selbst gegenüber. Denn die Seele ist untrennbar, und die Tugend auch. Wenn sie sich entfaltet, entfaltet sie sich in der ganzen Seele. Und wenn die Seele dann anfängt, sich selbst anzuschauen, dann wird sie da auch immer wahrhaftiger. Und umgekehrt, wenn man die Sehnsucht kennengelernt hat, sich selbst gegenüber wahrhaftig zu sein, wird man wohl kaum noch andere Menschen belügen können.
Die Liebe zu einer Tugend kommt oft erst, wenn man sie wirklich tut. Natürlich beginnt man damit bereits auch schon wegen einer gewissen, verborgenen Liebe. Und wie gesagt lügt ja kein Mensch gern. Es liebt also jede Seele bereits die Wahrhaftigkeit – aber doch nicht so sehr, dass sie nie lügen würde. Wenn man sich aber wirklich bemüht, wenn man sich also anstrengt mit so einer Tugend; wenn man sich bemüht, ehrlicher zu sein als sonst ... dann merkt man mit der Zeit, wie wohl das tut! Wie schön das ist. Wie glücklich man dann wird. Wie sehr die Seele ... auflebt. Sie lebt wirklich auf, sie beginnt zu atmen, zu blühen... Daran sieht man, dass die Tugenden Leben sind. Das wahre Leben der Seele. Wenn sie damit wirklich anfängt, wird sie tief, tief glücklich...
Aber es gibt auch einen Teil, der es anstrengend findet. Der sagt: Wäre es nicht besser gewesen, halb unwahrhaftig zu bleiben, wie früher? Das ist der faule Teil der Seele, der hässliche – der, der sogar so weit kommen könnte, gerne zu lügen. Die Seele muss sich anstrengen, nicht auf diesen Teil zu hören. Denn sonst wird es sehr, sehr gefährlich. Dieser Teil will nicht, dass die Seele schön wird. Dass sie wirklich glücklich wird. Dass sie zu blühen beginnt...
20. Januar
Wenn man dann die Wahrhaftigkeit tief genug lieben gelernt hat, weil man immer wieder erlebt hat, wieviel Glück sie der Seele zurückschenkt, dann beginnt sich etwas aus der Seele herauszulösen. Es wird dann wirklich eine Liebe zur Wahrheit selbst. Es geht nicht mehr darum, ob man sich wohlfühlt, wenn man wahrhaftig ist – vielleicht muss man darunter ja auch sehr viel leiden. Trotzdem liebt man die Wahrheit selbst so sehr, dass man schon um ihretwillen nicht mehr lügen möchte. Man würde lieber Leid auf sich nehmen, als die Wahrheit zu verletzen und leiden zu lassen. Die Wahrheit wird einem etwas sehr, sehr Heiliges. Und immer mehr. Das nimmt kein Ende. Es kommt so weit, dass man spüren würde, man würde seine Seele beschmutzen, ja schänden, man würde sich versündigen, wenn man unwahrhaftig wäre. Und man würde zugleich das heilige Wahrheitswesen verletzen, und beides ist einem furchtbar, man würde es nie mehr tun...
Und erst mit diesen allerheiligsten Gefühlen, mit diesem tiefen Erleben, was man mit jeder kleinsten Lüge anrichten würde, macht man sich für die Erkenntnis der heiligsten Wahrheiten würdig. Irgendwann liebt man das heilige Wesen der Wahrheit so sehr, dass man keinen einzigen Gedanken mehr denken kann, der nicht wahr wäre. Die eigene Seele wehrt sich dagegen! Zuerst will man es nicht mehr – und irgendwann kann man es nicht mehr. Man könnte es nur noch, wenn man sich wirklich zwingen würde ... aber man will es ja gar nicht. Das ist Wahrhaftigkeit – auf ihrer heiligsten Stufe. Eine tiefe, tiefe Liebe zur Wahrheit, die zugleich wirkliche Erkenntnis des heiligen Wesens der Wahrheit ist. Und ein tiefes, tiefes Nicht-mehr-die-Unwahrheit-sagen-Können und auch -nicht-mehr-denken-Können.
Dann hat dieses heilige Wesen der Wahrheit in der eigenen Seele Wohnung genommen. Das ist etwas unendlich Heiliges! Man kann es nicht mehr beschreiben. Die Sonne kann nicht zu den Blumen kommen, obwohl die Blumen die Sonne lieben und es bei den Blüten so aussieht, als sei eine winzige Sonne in die Pflanze hineingedrungen. Aber bei der Seele ist dieses unendlich Heilige möglich. Die Wahrhaftigkeit ist auch eine Liebe zu einer Sonne – und dieses leuchtende, heilige Wesen ist das Heiligste, denn nichts ist außer der Wahrheit...
Glaube
21. Januar
Und heute möchte ich beginnen, die nächste Tugend zu beschreiben, denn ich leide schon die ganze Zeit daran, dass das Jahr mit einem Montag begann, der wahre Beginn der Woche aber der Sonntag ist! Heute ist Sonntag – und heute beginne ich mit der neuen Tugend. Die Tugend der vergangenen Woche war die Wahrhaftigkeit, die wie eine Blume der Sonne entgegenlebte, um diese zu empfangen: die Wahrheit. Also wäre der Sonntag der Tag der Wahrheit. Ist das nicht wunderbar? Die neue Tugend, die an diesem Tag aber beginnt und von der ich in dieser Woche schreiben möchte, ist der Glaube.
Man versteht ja die Tugenden heute gar nicht mehr. Schon mit der Redlichkeit war es so. Und mit dem Glauben ist es noch schlimmer. Redlichkeit gilt heute als Naivität, weil alle anderen nicht mehr wirklich redlich sind. Glaube gilt als Dummheit, weil alle anderen nicht mehr glauben – und nicht mehr wissen, was Glaube überhaupt ist. Glaube aber ist nicht einfach ein ,Für-wahr-Halten’, was man auch lassen könnte, um etwas anderes für wahr zu halten.
Glaube ist Wissen – aber ein Wissen des Herzens. Und morgen schreibe ich davon weiter...
22. Januar
Glaube ist ein Wissen des Herzens, schrieb ich. Natürlich ist es mit dem gewöhnlichen Glauben nicht so – da ist es wirklich nur das, was man gerade für wahr hält, weil es einem wahrscheinlich genug erscheint. Es gibt ja Spiele, wo man sogar damit spielt, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Es werden sinnloseste Dinge ausgesagt, die man, weil sie so sinnlos sind, unmöglich wissen kann, und dann wird gefragt: richtig oder falsch? Man kann nur raten. Ist es absurd genug, um wirklich falsch zu sein – oder kann es gar nicht absurd genug sein, um es trotzdem zu geben? Und dann glaubt man eben dies oder jenes, wahr oder falsch, aber in Wirklichkeit rät man nur. Irgendetwas in der Seele findet es zu absurd oder eben doch irgendwo möglich.
Das hat mit Glauben nichts zu tun. Das ist eine Beleidigung der Seele. Man beschmutzt seine Seele mit Müll – und macht sich ein Spiel aus dem, was eigentlich etwas ganz und gar Heiliges sein sollte: der Glaube...
23. Januar
Wenn ich aber etwas glauben soll, was mit Erfahrungen verbunden ist, wird das Wissen schon sicherer – und trotzdem ist es meistens kein Wissen, man denkt es nur. Wenn ich noch nie in Amerika war, kann ich nicht sicher sein, dass es Amerika gibt – aber fast sicher, weil ständig darüber berichtet wird, sogar von Menschen, die ich selbst kenne. Aber was heißt dies eigentlich? Es heißt, dass ich all diesen Menschen glaube! Natürlich tue ich es, weil es gar nicht sein kann, dass alle lügen – ich kann es mir jedenfalls nicht vorstellen. Ich kann nur glauben. Aber gerade das ist es: Glauben ist ein Wissen. Ich weiß, dass nicht alle lügen können. Nicht, weil es absolut unmöglich wäre, aber weil ich es einfach weiß. Ich glaube es ganz sicher, dass nicht alle lügen.
Wissen kann ich nur, was ich selbst erlebt habe, ohne jeden Zweifel. Aber selbst dann glaube ich dem, was ich gesehen habe – ich glaube meinem eigenen Sehen...
Glaube ist also überhaupt nichts Schlechtes. Er ist notwendig. Würde man nicht glauben können, dann würde man zugrunde gehen. Nicht alles gleich zu glauben, mag auch notwendig sein. Aber wichtiger ist heute eigentlich, wieder mehr zu glauben – denn Unglaube und Misstrauen macht die Seele krank. Aber die anderen Tugenden helfen der Seele ja, das Wahre zu glauben und nicht das Falsche. Die Wahrhaftigkeit weiß, in welcher Richtung die Wahrheit zu suchen ist, so, wie die Blume weiß, wo die Sonne ist. Also ist auch der Glaube nicht blind, sondern sehend. Er hat seine Gründe.
24. Januar
Die Seele lebt heute sehr in der äußeren Welt. Deshalb könnte man denken, dass man nur wissen kann, was man auch sehen kann – oder dass es sogar nur gibt, was man sehen kann. Aber das stimmt nicht. Und man kann sogar lernen, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen. Man kann zum Beispiel sehen, ob jemand die Wahrheit sagt, jedenfalls das, was für ihn selbst eine Wahrheit ist. Man kann sehen, ob jemand lügt. Auch das nicht vollkommen sicher, aber immer sicherer.
Vollkommen sicher ist man auch nicht, ob man in Amerika ist, wenn überall ,Amerika’ steht. Vielleicht gibt es noch einen anderen Kontinent, der unbedingt ,Amerika’ sein will. Das ist nur ein Beispiel. Man kann Aufrichtigkeit sehen. Natürlich kann man auch an einen Menschen geraten, der unbedingt aufrichtig erscheinen will – und deshalb unglaublich geübt hat, so auszusehen, obwohl er es nicht ist. Man kann es letztlich nur glauben. Aber immer mehr wird der Glaube ein Wissen.
Oft ist der Glaube aber auch schon ein Wissen, ohne dass man es weiß. Wenn ich zum Beispiel im Januar einen Baum sehe, sehe ich abgestorbene Blätter. Ich weiß nicht, ob der Baum noch lebt, ich kann es nur vermuten, weil es unwahrscheinlich ist, dass einfach so tote Bäume herumstehen. Aber was mein Kopf nicht weiß, weiß mein Herz vielleicht doch. Und dann denke ich nur, ich glaube, dass der Baum noch lebt, dabei weiß ich es!
25. Januar
Man kann auch etwas wissen, was noch nicht stimmt. Das klingt merkwürdig, aber es ist wahr. Wenn zum Beispiel ein Bettler mich um Geld bittet, weil er etwas zu essen kaufen will, und ich glaube ihm und gebe ihm Geld. Und wenn er dann in Wirklichkeit Bier kauft. Habe ich mich dann getäuscht? Oder habe ich ehrlich gesehen, dass auch er ehrlich sein könnte – auch wenn er es diesmal noch nicht geschafft hat? Vielleicht weiß ich ja mehr von ihm als er selbst von sich? Ich habe ihm geglaubt – aber zugleich habe ich gewusst, dass er ehrlich sein kann, und mein Glaube war auch dieses Wissen. Diesmal hat er es noch nicht geschafft – und doch habe ich ihm schon diesmal geglaubt, weil ich weiß, dass er es hätte schaffen können, und weil ich weiß, dass er es eines Tages schaffen wird. Vielleicht noch nicht in diesem Leben. Aber vielleicht habe ich ihm geholfen, es eines Tages zu schaffen – auch das glaube ich fest ... und weiß es.
Ist das nicht etwas Wunderbares? Dass der Glaube hilft, etwas Wirklichkeit werden zu lassen, was dann so wirklich ist wie das Wissen, was man dann auch wirklich haben kann? Aber der Glaube hat es schon vorher...
26. Januar
Wenn man an andere Menschen glaubt, verändert das immer die Realität – wie unscheinbar es zunächst auch sei. Es kann aber auch riesig sein. Mancher Mensch braucht nur einen einzigen Menschen, der an ihn glaubt, und schon ändert sich alles.
Der Glaube an einen anderen Menschen weiß immer mehr als dieser Mensch selbst – oder mindestens genauso viel. Der andere Mensch kann diesen Glauben dann ,enttäuschen’, aber damit enttäuscht er auch sich selbst. Aber eines Tages wird er sich selbst und den Glauben an ihn nicht mehr enttäuschen – und dann wird er sein, wer er wirklich sein kann. Und der Glaube an ihn wusste es schon immer... Der Glaube weiß es. Auch wenn es nie geschehen sollte – es läge nicht am Glauben. Er hätte immer gewusst, was möglich gewesen wäre, und es war möglich, er weiß es.
Dass etwas nicht eintritt, ist nie ein Beweis dafür, dass es nicht jederzeit hätte eintreten können. Aber weil es die Zukunft betrifft, und einen anderen Menschen, kann der Glaube nur der Möglichkeit sicher sein – was der andere Mensch macht, liegt ja trotzdem bei ihm. Aber der Glaube glaubt – und er weiß, dass er damit Recht hat... Der Nicht-Glaube wäre es, der keine Ahnung hätte, der überhaupt nicht weiß, wozu der andere Mensch in der Lage ist. Der Glaube weiß es, und er lässt sich davon auch nicht abbringen.
27. Januar
Und nun kann sich der Glaube aber auch auf das ganz Unsichtbare richten – also auf Gott. Aber für den Glauben wird Gott plötzlich überall sichtbar. Denn der Glaube sieht auf einmal, was er weiß – dass es Gott gibt und wo überall dessen Spuren und Offenbarungen zu sehen sind.
Es ist ja nicht so, dass der Mensch an etwas Unsichtbares, nie zu Beweisendes glaubt und sein übriges Leben einfach so weitergeht. Sondern der Glaube sieht, was der Unglaube nicht sieht. Der Unglaube ist nicht etwa blind, er ist nur zu dumm, seine Augen wirklich aufzumachen. Und also ist er doch blind. Schon das kleinste Spinnennetz in seiner ganzen Schönheit beweist Gott.
Niemals wäre so viel Schönheit auf Erden möglich, wenn es keine Schöpfung gäbe. Die Natur ist nicht einfach nur sinnvoll, angepasst oder was auch immer – sie ist auch ein Wunder an Schönheit. Sie ist so unglaublich schön, dass es im Innersten wehtut, es schmerzt im Herzen, so viel Schönheit zu sehen. Aber um sie zu sehen, braucht es noch andere Tugenden. Also braucht der Glaube vielleicht Hilfe. Und trotzdem wachsen auch dem Glauben selbst Augen, wenn er erst einmal angefangen hat...
Aber es gibt unendlich viel, wodurch das Herz weiß, dass es Gott geben muss, dass es ihn wirklich und wahrhaftig gibt. Unendliche Schönheit ist nur eines von ganz Vielem, was dem Herz diese Antwort unmittelbar sagt. Und dieses – dieses absolut sichere Wissen, das ist Glaube. Nichts anderes. Glaube ist Wissen – aber mit der ganzen Seele. Solange der Kopf von selbst nur glaubt, was er sieht, muss er glauben wollen. Die Seele aber weiß.
Unschuld
28. Januar
Die Tugend, die ich in dieser Woche beschreiben möchte, ist die Unschuld. Sie ist die wahrhaft heilige Tugend. Sie ist gleichsam das Herz der Tugenden – denn eigentlich sind alle Tugenden eine Rückkehr der Seele zur Unschuld, weil die Unschuld das wahre Wesen und Leben der Seele ist. Aber die Unschuld ist eben diese Tugend selbst.
Und deshalb ist sie sozusagen die Tugend der Rückkehr... Es ist die Tugend des ,verlorenen Sohnes’, die wahrhaft religiöse Tugend, im Sinne von: Wiederfinden... Unschuld ist das Wiederfinden zum heiligen Herzen der ganzen Seele und von da aus das Wiederfinden von allem übrigen.
Aber das wird nicht verstanden. Man sagt dann immer: ,Man kann nicht zurückgehen’. ,Das ist nicht möglich’. ,Man muss vorwärtsblicken’. Aber das alles ist nicht wahr. Dieses heilige Zurückkehren ist gleichzeitig ein allergrößtes Vorwärtsschreiten. Es ist das größte ,Vorwärts’ überhaupt. Hier – hier und nirgendwo sonst – liegt die reine Zukunft. Unschuld ist nicht Vergangenheit – Unschuld ist Zukunft.
Das Paradies ist Vergangenheit, aber die Schuld ist auch Vergangenheit, alles, überall Vergangenheit: Schuld. Nun sagt man: ,Einmal schuldig, immer schuldig, die Rückkehr zur Unschuld ist unmöglich.’
Natürlich, man kann die Vergangenheit nicht rückgängig machen. Aber das bedeutet nicht, dass das ,Un’ der Unschuld abgefallen wäre wie ein Blatt von einem Baum im Herbst und man nun für immer im Zustand der Schuld bleiben müsste. Denn es gibt ja auch den Frühling... Und die neue Unschuld ist eine neue Blüte, die es bis dahin nicht gab. Unschuld ist Zukunft...
29. Januar
Schuld ist immer Tod. Und Unschuld ist immer Leben. Gerade deshalb sind ja auch die Pflanzen so unschuldig – sie sind reines Leben, weil sie reine Unschuld sind. Aber sie haben noch keine Seele. Sie können nur unschuldig sein. Der Mensch aber kann schuldig werden. Und das Erste, was dann stirbt, ist ... die Unschuld selbst. Und dann stirbt langsam die Seele – denn die Unschuld ist ja das Leben der Seele.
Und was tritt an die Stelle der Unschuld? Der Selbstbezug der Seele. Jetzt ist sie nicht mehr unschuldig, jetzt liebt sie sich. Sich mehr als alles andere. Sich, sich, sich. Und so stirbt sie, weil sie immer mehr nur noch wie ein einsamer Stein in einem großen Meer ist, felsenfest, nicht von sich loskommend. Manchmal starr und hart gegen die Wellen, manchmal völlig von ihnen überspült, oder auch bedeckt von Schlick und Algen, immer aber dieser Fels. Tot und einsam. Man nennt das dann ,Bewusstsein’, ,Ich-Bewusstsein’, aber es ist ein Bewusstsein, dass durch solchen Tod erwacht. Es braucht diesen Tod, um zu erwachen. Der Selbstbezug ist gerade das Erwachen – aber dadurch ist man auf einmal nur noch ... man selbst.
Schuld ist Tod, Tod des vorherigen Lebens, und im Tod erwacht dieser kleine Fels – und das ist seine Schuld, dass er so klein und felsig geworden ist. Seine Unschuld hat er verloren, und damit auch alles Leben, was er hatte... Denn vielleicht war er vorher das ganze Meer – aber das weiß er nun nicht mehr, und er ist es auch nicht mehr.
30. Januar
Aber die Unschuld ist das Gegenteil. Nur wird ein toter Fels nicht von alleine wieder das heilige Meer – oder auch nur ein Fisch, der im ganzen Meer herumschwimmen kann, weil er das Meer liebt und das Meer ihn. Also was kann der Fels tun? Er bräuchte zuerst eine Sehnsucht. Und man könnte die Tugend zuerst auch Unschuldssehnsucht