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Die Corona-Politik und ihre Gesellschaftsspaltung machen den einfachen Angestellten Benedikt buchstäblich hoffnungslos. Da begegnet er wenige Tage vor Weihnachten einem geheimnisvollen, einzigartigen Mädchen, das ihn mit einer ungeheuren Unschuld mitten in die verlorenen Mysterien der Seele hineinführt. Und der Leser erlebt mit ihm den zutiefst berührenden Weg der Rettung der modernen Seele aus ihrer Verlorenheit...
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Seitenzahl: 270
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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.
Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...
Man würde glauben, es sey ein Engel unter den Menschen erschienen, sie durch Thaten zu lehren, ob vielleicht Schönheit und Unschuld, wenn sie zusammen verwebt wären, diese Unachtsamen rühren möchte, welche zu sinnlich sind, aus eigener Kraft wieder zu Gott zu finden.
- frei nach Wieland, Sympathien (1754)1
1 Bei Wieland ,Weisheit’ statt ,Unschuld’ und ,die Tugend in ihrer eigenen Gestalt zu lieben’ statt ,aus eigener Kraft wieder zu Gott zu finden’.
Und wieder war es Dezember geworden, und der Dezember war dahingerast. Im Grunde war es mir schon lange ziemlich egal gewesen, ob nun Tage, Wochen oder Monate dahinrasten. Zwei Jahre ,Corona’ (waren es wirklich schon zwei Jahre?) hatten ihre Spuren hinterlassen.
In meinem Job hatten einige Kollegen gekündigt, als der subtile Impfzwang und das Mobbing begannen – ich hatte weitergemacht, hatte mich schließlich impfen lassen, hatte mich weiter gefragt, wie ein ganzes Land eine ungeheure Heuchelei praktizieren kann (von ,freier Impfentscheidung’ sprechen, aber dann die, die sich frei entscheiden, mit massivsten Angriffen und einer Diskriminierung zu überziehen, die, selbst wenn man es partout vermeiden wollte, Parallelen zu ziehen, an die Ausgrenzung jüdischer Mitbürger achtzig Jahre zuvor erinnerte), und war sozusagen angesichts des kollektiven Wahnsinns in die innere Emigration gegangen.
Und schon wieder ist es, als hörte man den Massenaufschrei. ,Du verantwortungsloses Subjekt! Wegen solcher Schweine wie dir sterben hunderttausend! Man sollte dich…’ Alles schon erlebt. Diese Krise und wie mit ihr umgegangen wird, spricht die niedersten Instinkte des Menschen an – und sie merken es nicht. Je besser man sich als der ,Gutmensch’ verkaufen kann, desto ungehemmter lässt es sich auf die anderen eintreten… Ich bin es so leid. Ich bin es auch so leid, mich zu rechtfertigen, aber gut, ein letztes Mal.
Corona ist keine Grippe, aber jeder deutsche Bürger ist auch kein Kleinkind. Wer geimpft ist, hat einen Schutz, kann außerdem zeitlebens mit Atemwegsbedeckung herumlaufen und sonstwie auf Abstand gehen. Für alle anderen geht das Leben auch weiter. Auch wenn sie nur noch Menschen dritter Klasse sind, wie Abschaum behandelt werden und am öffentlichen Leben gar nicht mehr teilnehmen dürfen. Aber wir haben ja keinen Impfzwang, nicht wahr? Lieber führen wir einen unerträglichen Biofaschismus ein ... die ,Guten’ dürfen sich mit 2G allein unter sich weiter anstecken, die bösen, bösen ,Impfverweigerer’ werden wie damals die Juden oder Schwarzen einfach ausgeschlossen.
Jeder, der den Impfschutz wollte, bekam ihn – und dennoch legt Corona seit zwei Jahren das gesamte Leben lahm beziehungsweise verändert es derart, dass es nicht mehr wiederzuerkennen ist. Und warum? Wegen eines Virus, das zwar schlimmer ist als die Grippe, das aber ebenfalls 99 Prozent oder mehr überleben – und mit Impfung sowieso. Wozu also die Panik? Wegen des ach so heuchlerischen Arguments ,Überlastung des Gesundheitssystems’? Wieso wurden dann auch im Corona-Jahr tausende Betten gestrichen – und schreitet die Profitgier im Krankenhauswesen ungebremst fort? Weil der Bürger ohnehin nicht zählt! Während also die Krankenhausbetreiber ihre vielleicht sogar zweistelligen Renditen einfahren, werden geimpfte und ungeimpfte Mitbürger gegeneinander ausgespielt. Ich bin es so leid…
Nochmals verschärft werden die Regeln, wenn innerhalb einer Woche mehr als sechs Menschen je einhunderttausend Einwohner wegen Corona ,hospitalisiert’ werden, also ins Krankenhaus müssen. Im Ernst? Für eine Millionenstadt droht also bereits das Ende ihrer Kapazitäten, wenn innerhalb von einer Woche sechzig Menschen ins Krankenhaus müssen? Ich bin fassungslos. Was macht das fast reichste Land der Erde denn bei einem richtigen Virus? Denn Corona ist noch immer so harmlos, dass das Durchschnittsalter der Gestorbenen nicht sehr von der Durchschnittslebenserwartung überhaupt abweicht! Ist das nicht unfassbar? Dass dieses kleine Virus dennoch seit zwei Jahren einen ganzen Planeten in Atem hält? Während in Deutschland im ersten Corona-Jahr nicht einmal mehr Menschen starben als sonst auch? Das alles muss man sich einmal vorstellen…
Aber die Menschen verhalten sich, als wenn Pocken und Pest gemeinsam unterwegs wären. Weniger Demut vor der Tatsache, dass man auch mal krank werden kann, war noch nie. Es geht nur noch um abstraktes Zahlenmanagement. Und selbstverständlich müssen selbst die Kinder geimpft werden – denn in einer Millionenstadt könnten ja ohne Impfung auch zehn Kinder sterben! Kann es sein, dass bei einer Million Impfungen auch zehn Kinder an schwerer Nebenwirkung sterben oder zumindest gravierende Folgen erleiden? Von den milliardenschweren Gewinnen der Pharmaunternehmen will ich gar nicht reden… Johnson und Johnson ist gerade wegen Krebsfällen durch Babypuder unter Anklage – aber sie haben einfach eine Unterfirma gegründet, die Insolvenz angemeldet hat, und die Sache ist vielleicht gegessen. Kein weiterer Kommentar…
Meine Meinung ist: Überführt das Krankenhaussystem in gemeinnützige Betriebsformen, sorgt dafür, dass Menschen wieder wie Menschen behandelt werden und nicht im Minutentakt als Fallzahlen abgefertigt werden (müssen); akzeptiert, dass man mit zweiundachtzig auch an einer normalen Grippe sterben kann, mit fünfzig aber zu 99 Prozent überlebt – und hört auf, euch das menschliche Leben nehmen zu lassen und die Gesellschaft in ,die Reinen’ und die ,Juden/Schwarzen/Aussätzigen’ spalten zu lassen! Oder aber seid einmal ehrlich und führt einen Impfzwang ein – ohne Wenn und Aber. Diese ganze Heuchelei macht so krank – gefühlt viel kranker als das Corona-Virus. Die ganze Gesellschaft ist krank, vielleicht schon unheilbar…
Was noch? Im Treppenhaus hörte ich die kleine Nachbartochter neulich ihren Vater fragen, ob Corona irgendwann auch vorbei ist… Der Vater erwiderte auf die übliche intellektuelle Unart irgendetwas völlig Unverbindliches, was wohl letztlich ,Ja’ heißen sollte. Auch da war ich wieder fassungslos, aber ich habe mein Maul gehalten, wie immer… Was ich gesagt hätte? Ich hätte gesagt: Manche Menschen werden krank, Schätzchen, aber das ist auch mit anderen Krankheiten so. Wir könnten eigentlich sofort alle Masken abnehmen – jedenfalls jeder, der will. Aber sie lassen uns nicht. Das ist das einzige Problem. Sie lassen uns keine Eigenverantwortung und eigene Entscheidung. Und das ist die eigentliche Krankheit.
Vielleicht hätte ich es noch schöner sagen können, sie ist ja erst sechs oder sieben… Aber so ungefähr hätte ich es gesagt. Und sie hätte es verstanden. Man soll Kinder stark machen und nicht wie dumm und bescheuert behandeln. Auch ein Kind hat bereits das Recht, zu wissen, woran es ist. Nur so kann es später auch sagen, was es will – und wird nicht zu einem untertänigen Bürger erzogen.
Vielleicht hätte sie mir dann geantwortet: Aber Papa sagt, dann können wir Oma anstecken. Ja, Schätzchen, hätte ich geantwortet, weißt du was, wir fragen Oma. Vielleicht will sie, dass wir eine Maske aufsetzen, vielleicht will sie es nicht. Aber siehst du, wenn Oma schon im Heim ist, darf Oma selbst das nicht entscheiden – auch hier müssen wir tun, was andere sagen. Um Oma geht es gar nicht… Aber weißt du – irgendwann sterben Menschen, wenn sie alt sind. Auch Oma wird einmal an irgendeiner Krankheit sterben. Aber denkst du, Oma will uns bis dahin nur noch in Maske sehen? Siehst du, ich auch nicht…
Es geht nicht um die Menschen. Es geht um die Durchsetzung einer völlig abstrakten ,Seuchenpolitik’, in der der Einzelne gar nicht mehr vorkommt. Und weil die Intensivkapazitäten so beschämend geplant sind, dass schon ein Belegungsanteil von zehn Prozent durch Corona-Patienten eine halbe Katastrophe ist, werden jetzt die Menschen, wird jetzt die ganze Bevölkerung gespalten – und errichten wir eine neue Apartheid, nur damit niemand erkennt, was das eigentliche Problem ist. Nämlich der Profitwahn und die Einsparungs-Besessenheit auf der einen Seite – und die völlig mangelnde Demut, dass bei diesem kleinen Virus nicht hundert Prozent überleben, sondern nur neunundneunzig. Schon das können wir heute nicht mehr ertragen! Wie tief sind wir eigentlich gesunken in unserer Ehrfurcht vor dem Leben … zu dem das Sterben dazugehört…
Und dann höre ich bereits die Zwischenrufe: Ja, dann sollen die Ungeimpften eben eine Patientenverfügung mit sich führen, wonach sie auf einen Platz auf der Intensivstation und ein Beatmungsgerät gegebenenfalls verzichten… Es ist so abartig… Befreit die Kliniken von der Profitgier! Führt gemeinnützige Betreiber ein und finanziert diese so, dass wieder menschenwürdige Versorgung möglich ist, was seit Jahrzehnten nicht mehr wirklich der Fall ist. Haben wir etwa noch erlebt, wie eine Krankenschwester bei einem am Bett sitzen kann? Nein – aber unsere Eltern oder bei Jüngeren die Großeltern haben es noch erlebt!
Stattdessen erleben wir es, dass tausend Internetanbieter miteinander konkurrieren und einen wöchentlich mit einem Anruf für neue Tarife belästigen. Merkt man hier, wie ungeheuerlich die ,Fehlallokation’ (ein volkswirtschaftlicher Fachbegriff) in unserer geheiligten kapitalistischen Wirtschaftsweise ist? Um den Menschen geht es nicht… Ich will nicht weitere zwei Euro bei meinem Telefontarif sparen, ich will, dass Menschen im Krankenhaus endlich wieder das Erleben haben dürfen, Menschen zu sein! Es muss doch möglich sein, von hundert armen Sklaven, die in Callcentern Idiotenarbeit verrichten müssen, wenigstens zehn zu verantwortungsvollen Pflegern und Schwestern in Krankenhäusern zu machen? Und statt Waren zu produzieren, die nach wenigen Jahren von selbst kaputtgehen und nachproduziert werden müssen, die Ressourcen und Menschen dorthin zu richten, wo es wirklich Sinn macht? Das alles ist so einfach, dass es selbst ein Kind versteht – und dass es nicht passiert, liegt nur daran, dass wir noch immer nicht willens genug sind, das System zu ändern. Von Gier zu echter Menschlichkeit und Nachhaltigkeit.
Aber nein – der Kapitalismus klappt ja nach wie vor so hervorragend, nicht wahr? Und die Corona-Krise mit ihrer erbärmlichen Überlebenswahrscheinlichkeit von nur 99 % lenkt noch zusätzlich seit zwei Jahren von sämtlichen anderen Problemen ab, die dieser Planet und wir weiß Gott haben! Statt gerade ein Umdenken einzuleiten, werden die Menschen wie gesagt gegeneinander ausgespielt. Geradezu teuflisch…
*
Wie angedeutet, hatte mich das ganze üble Geschacher und Beschließe um G3, G2, G1, G3+ und welche Varianten sonst noch derart desillusioniert, dass ich in eine regelrechte Blase der Teilnahmslosigkeit gefallen war. Ich fragte mich sogar noch, ob selbst das nicht von irgendwelchen Mächten mit beabsichtigt wurde – die Menschen völlig resignieren zu lassen –, aber selbst das war mir schließlich egal. Zumal ich bei einer Äußerung dieses Gedankens sofort in die Kategorie der ,Verschwörungstheoretiker’ einsortiert worden wäre. Eine Schublade mehr, shit happens…
Ich war so desillusioniert, dass ich sogar meine kleine Jogging-Runde am Wochenende wieder aufgegeben hatte, die ich seit wenigen Jahren zu einer guten Gewohnheit gemacht hatte, um irgendwie fit zu bleiben. Wozu fit – für welche Welt eigentlich noch? Auf diese Weise näherte ich mich zwar vielleicht der Angehörigkeit zu einer Risikogruppe (den ,Sportverweigern’, da ja heute alles auf Kampfbegriffe zulief), aber was soll’s? Das war übrigens auch so ein Punkt. Nicht nur Ungeimpfte kamen achtmal häufiger ins Krankenhaus, auch Risikogruppen. Mit anderen Worten: Der geimpfte Risikopatient war um keinen Deut besser als der ungeimpfte Gesunde. Während dieser einfach nur eine Injektion irgendwelcher Stoffe in seinen Körper ablehnte, hatte jener seinen Körper über Jahre hinweg mit falscher Ernährung, Raucherei oder Alkohol zugrunde gerichtet. Und warum wurde die Gesellschaft nur an einer Front gespalten? Wenn, dann doch lieber einen Krieg aller gegen alle!
Aber nein – für das ,Teile und herrsche’ suchte man sich natürlich diejenige Gruppe aus, auf die sich mit der größten Wahrscheinlichkeit die niedersten Instinkte aller übrigen richten würden. Zumal der ,Piks’ in den Arm ja geradezu eine Regierungsempfehlung war. Aber solange man nicht einen Impfzwang einführte, hatte noch immer jeder die freie Entscheidung über seinen eigenen Körper! Und doch schlug hier dann erbarmungslos die Apartheid zu: Freie Entscheidung ja, aber akzeptiere, dass du fortan nicht mehr zu uns gehörst – im Gegensatz zu den Übergewichtigen, den Rauchern, den Alkoholikern, obwohl wir auch eine gesunde, nikotinfreie und alkoholarme Ernährung und Lebensweise empfehlen, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Nur die Ungeimpften sind der Abschaum!
Ich könnte noch stundenlang über diesen unerträglichen Biofaschismus reden, aber ich bin es so leid – und es ändert ja auch nichts. Jede Gesellschaft hat die Realität, die sie verdient. Die große Masse will ja gar nichts anderes. Sie freut sich, wenn sie hörig irgendwelchen 3G-, 2G- und 1G-Regeln hinterherlaufen und sich als ,guter’ Teil des großen Ganzen empfinden kann. Und glauben kann, dass das ,ganze Schlimme’ natürlich längst vorbei wäre, wenn jeder die Maske aufsetzen, die Klappe halten, sich etwas in den Körper impfen lassen und im Übrigen sämtliche wöchentlich wechselnden Regeln gehorsam und ohne nachzudenken befolgen würde.
Ja, möglicherweise wäre es dann längst vorbei. Aber möglicherweise wäre es dann auch mit unserer Demokratie längst vorbei, denn dann wären die Menschen eine reine Masse, die mit beliebigen Verordnungen regiert werden könnte. Der man ihre Grundrechte (!) beliebig zu- und wieder absprechen könnte. Man kann möglicherweise einen Impfzwang einführen – aber solange man es nicht tut, ist es ein Unding, einem Menschen und Bürger seine Grundrechte (!) nach seinem Impfstatus abzusprechen. Etwas ist frei oder nicht frei. Wenn es aber frei ist, kann man nach der freien Entscheidung nicht die Grundrechte beschränken, bloß weil ein Drittel der Bevölkerung die in den Augen der Regierung falsche Entscheidung getroffen hat und nun mit sämtlichen Zwangsmitteln dazu gebracht werden muss, gefügig gemacht zu werden. Demokratietheoretisch ist das eine Pandemie, die weitaus tödlicher ist als Corona! Die Demokratie wird dadurch so ausgehöhlt, dass sie beim nächsten lauen Lüftchen sang- und klanglos zusammenbricht…
Aber all das interessierte eben nahezu niemanden – bis auf ein kleines Völkchen Ewig-Widerständiger, die in anderen Zeiten an die Gallier erinnert hätten, die aber neuerdings mit anderen Titulierungen derart massiv angegriffen wurden, dass man zu diesem Kreise auch nicht unbedingt gezählt werden wollte, zumal dort teilweise sogar hartnäckig ebenfalls echte Fakten geleugnet wurden, nämlich dass bei gleichem Gesundheitszustand Geimpfte sehr wohl seltener schwer krank wurden, zumindest ein paar wenige Monate lang, woraufhin die nächste Impfung fällig wurde…
Aber man kann das eine tun und das andere nicht lassen – den relativen Nutzen der Impfung zugeben und dennoch darauf hinweisen, welch ungeheuerliche Katastrophe dadurch geschaffen wird, dass eine ganze Gesellschaft vorsätzlich und mit bis dahin nahezu unvorstellbaren Mitteln gespalten wird. Wir hetzen, mobben und hassen auch nicht auf Raucher, Raser, Alkoholiker, Übergewichtige, sich massiv falsch Ernährende und Sportverweigerer – und grenzen sie nicht radikal aus dem gesamten öffentlichen Leben aus. Aber wir leisten uns diese absolute Katastrophe gegenüber Millionen und Abermillionen von Mitbürgern, das muss man sich mal vorstellen.
Aber es interessiert keinen. Man redet gegen eine Wand – beziehungsweise redet gar nicht, denn man möchte nicht beschimpft, gemobbt, gesteinigt, bespuckt und am nächsten Pfahl aufgehängt werden. Ob physisch oder verbal, tut kaum etwas zur Sache. Ein Land, in dem derart der Hass hochkocht, ist nicht mehr mein Land. Das dürfte meine Apathie der letzten Wochen zur Genüge erklären. Dann lasst euch eben weiter spalten, gehorcht wie die Lemminge, hofft auf irgendein Ende irgendwann einmal und tut dann so, als hätte es die letzten zwei, drei oder wieviel Jahre auch immer nie gegeben. Ihr seid ja alle so großartige Bürger! Und hinterher könnt ihr alle so tun, als hätte es die faschistoiden Ausgrenzungen nie gegeben – oder als wäre das alles ach so berechtigt und ach so unglaublich alternativlos gewesen… Die Träume und Selbstlügen des bürgerlichen Individuums sind alle so unglaublich bekannt…
*
Ich kann nichts dafür, wenn diese Einleitung bereits unzählige Menschen unwiederbringlich abgeschreckt hat. Mich schrecken ganz andere Dinge. Und ich wollte nur noch ein letztes Mal den Einwänden entgegentreten, die mir ja hörbar um die Ohren geschlagen wurden. Wer meine Argumente nicht hören will, soll sich die Ohren zuhalten – was er ja ohnehin schon macht. Wer hat denn die Definitionsmacht? Wessen Argumente und Ansichten werden denn als die alleinseligmachenden seit Jahr und Tag über alle großen Medien verbreitet und treiben ohne jedes Hindernis die Gesellschaftsspaltung voran? Wer stellt denn die als Spalter hin, die einfach nur eine freie Entscheidung getroffen haben, während sie von denen, die wirklich spalten, zum Abschaum erklärt werden?
Aber – ich lasse es einfach. Ich höre auf und gebe auf und lasse es sein und versinke in die Apathie derer, die die Dinge ohnehin nicht ändern können, weil sie ebenfalls längst abgestempelt wurden. Die ,Sieger der Geschichte’ sind immer die, die am lautesten schreien, und ein Schreihals war ich nie. Also mögen die anderen ihr Glück mit ihrem Weg, ihrer Deutung und ihrer Spaltung machen. Es ist ihres, sie haben es sich redlich verdient – wohl bekomm’s.
Ich war so erschöpft, deprimiert und seelisch leer, dass es mir eigentlich schon alles egal war. Ich schleppte mich also durch die Monate und funktionierte im Grunde nur noch. September, Oktober, November – Herbst. Hatte früher einmal seine Schönheit gehabt. Die sich färbenden Straßenbäume. Aber jetzt? Corona-Herbst. Ganz normaler Wahnsinn. Masken. Zugangsbeschränkungen. Tests. Tests, die auf einmal Geld kosteten. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Der Abschaum wurde definiert und ausgeschieden, ausgegrenzt, ausgesondert. Dann der Dezember. Der dunkelste Monat überhaupt. Im Dunkeln zur Arbeit, im Dunkeln wieder nach Hause. Auf der Arbeit eine einzige Leere. Zuhause nicht besser. Die Gesellschaft? Nur noch ein schwarzes Loch. Alles lief irgendwie weiter, zumindest für die Geimpften, aber nur noch mit Maske und für mich nur noch automatisch. Sinn hatte es nicht mehr. Welchen denn? Mich freuen, dass auch ich zu den Auserwählten gehörte? Den Geimpften? Die noch weiterleben durften, während die Ungeimpften allenfalls noch weiter vegetieren durften? Vielleicht vegetierte ich ja rein aus Solidarität mit…
*
Ich weiß nicht, ob es eine letzte, schwach sich aufbäumende Regung war, eine Sehnsucht nach jenem Leben, wie ich es einmal kannte, oder nach überhaupt irgendeinem Leben … dass ich dann den Weihnachtsmarkt in den Seitenstraßen des hiesigen Städtchens besuchte. Hätte ich an den meisten anderen Orten gelebt, wäre auch dieser längst abgesagt gewesen. In meinem Städtchen aber hatten es offenbar noch nicht ganz sechs Corona-Patienten pro hunderttausend Einwohner in die Kreisklinik geschafft, und so bewegte sich das Leben noch in dem ganz normalen Wahnsinn. In freier Luft durften sich sogar noch Ungeimpfte unter die Menge mischen, und man hielt sicherlich nicht einmal anderthalb Meter Abstand.
Ich weiß noch, wie ich den Mantel vom Haken nahm und mir ins Auge fiel, dass er wirklich nicht mehr der neueste war. Ich hatte ihn erst Ende November aus dem oberen Fach des Schrankes hervorgesucht – teilweise in der bloß sentimentalen Gewohnheit, die noch immer davon ausging, dass es im Dezember schon schrecklich kalt sein würde. Was dann aber zufällig sogar der Fall war, denn schon einen Tag später – der Dezember hatte noch gar nicht begonnen – stürzte das Thermometer dann schlagartig auf etwa den Nullpunkt ab. Danach war es zwar noch einmal wärmer geworden, aber jetzt, zwei Tage vor Heiligabend, war es bereits wieder drei Tage lang richtig kalt gewesen, zumindest in unserer Ecke. Ich zog mir also den angenehm schweren Mantel an, legte mir den Schal um, den ich im gleichen Schrankfach verstaut hatte, und wagte mich nach draußen. Die Handschuhe waren auch immer noch in den Taschen…
Als ich vor die Tür trat, erwartete mich eine kleine Überraschung. Es hatte ganz fein angefangen zu schneien. Jeder kennt diese winzig kleinen Schneeflocken, die fast nur Punktgröße haben, aber dennoch eben vom Himmel fallen – woher auch immer. Die sich bei genügenden Kältegraden also auf den Asphalt und vor allem die Platten der Fußgängerwege legten und behaupteten, sie würden bei nur genügend langer Dauer irgendwann eine ,Schneedecke’ bilden, was sie natürlich nie taten, aber sie gebärdeten sich dabei so rührend beharrlich, dass man es ihnen dennoch irgendwann abnahm, obwohl sie auch nach Stunden noch immer nur einen hauchzarten Schleier darstellten, der die Gehwege zwar ein wenig heller grau erscheinen ließ, aber ihnen niemals eine auch nur ansatzweise weiße Decke gab.
Diese Schneeflocken also, die man nicht einmal ,Flocken’ nennen konnte, aber doch immerhin ,Schnee’, waren also meine zarte Überraschung, als ich vor die Tür trat. Ich begrüßte sie fast ungläubig, mit einer Art Erinnerung an das Gefühl ,Freude’, das ich einmal gekannt hatte.
Ja – man kann Dinge mit einer Art Erinnerung an ein Gefühl begrüßen. Ich glaube, es macht sich niemand klar, was eine echte Depression oder ein echter Absturz in ein Gefühl der Sinnlosigkeit, der wachsenden Apathie wirklich ist. Es ist ein Abstumpfen aller echter Lebensregungen – denn wozu sollte man sie haben? Ergaben sie noch irgendeinen Sinn, wenn nichts anderes mehr Sinn ergab? Wozu sich über den Schnee freuen, wenn man sich über nichts anderes mehr freuen konnte, ja wenn alles andere nur Anlass zu fassungslosen Gefühlen Anlass gab, die man mittlerweile ebenfalls nicht mehr aushielt? Was war eine Depression anderes als ein Zustand, in dem man nichts mehr aushielt? Weil alles Aushalten vorausgesetzt hätte, dass die Dinge zumindest einen Sinn ergeben würden – was sie aber nicht mehr taten.
Für die große Menge der selig Geimpften mochten die Dinge weiter einen Sinn ergeben – aber nicht für mich, der fassungslos davor stand, wie man mit den Ungeimpften umging, die nicht einmal mehr Bürger zweiter Klasse waren, sondern allenfalls dritter Klasse, wenn überhaupt. Man hatte im Handumdrehen die Gesellschaft mit einem regelrechten Abgrund gespalten – und machte weiter, als wäre nichts geschehen! Der Abschaum konnte sehen, wo er blieb, ,wir aber sind die Guten’. Diese Nonchalance, diese unbeschreibliche Arroganz, Selbstverständlichkeit, ließ bei mir alles aussetzen, was ich bis dahin an Vertrauen in die Gesellschaft noch gehabt hatte. Meine Apathie kam daher, dass ich nicht fassen konnte, wie einfach das war. Für jeden. Jeden Einzelnen. Jeder Einzelne tat so, als bestünde nicht das geringste Problem, obwohl man gerade Millionen Menschen vom öffentlichen Leben, von Kultur, von einer Ausbildung, ja sogar von ihrem Beruf ausgeschlossen hatte. Es muss einfach verständlich sein, dass ich nur noch eine Erinnerung daran hatte, wie es einmal gewesen war, sich zu freuen…
Ich konnte es nicht mehr, es ging nicht mehr. Ich war zu solidarisch mit den Ausgegrenzten, zwangsläufig sogar, denn ich konnte die Dinge einfach nicht mehr begreifen. Brutalität erzeugt Apathie. Die meisten derer, die im Krieg waren, kamen mit tiefen Traumata zurück. Mich ereilte ein Trauma mitten in angeblichen Friedenszeiten – aber hier führte ein Teil der Bevölkerung Krieg gegen den anderen. Ich denke, jeder einzelne Ungeimpfte war genauso tief traumatisiert wie ich. Und weil im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt, hat man einfach den friedliebenden Ungeimpften, die einfach nur eine freie Entscheidung über ihren Körper treffen wollten, zugeschrieben, sie würden Krieg gegen den Rest der Bevölkerung führen! Sie würden gleichsam wie Selbstmordattentäter das Gesundheitssystem in die Luft sprengen.
Was lächerlich war – bei einer Bevölkerung, die schon ungeimpft bei kompletter, flächendeckender Ansteckung zu 99 % überleben würde und wo zusätzlich noch 80 % geimpft waren und wo alle fortwährend Masken trugen, Abstände einhielten und so weiter und so fort, sodass es selbst bei extremen Ansteckungszahlen regelrecht Jahre brauchte, bis das Virus jeden wenigstens einmal erreicht hatte. Noch einmal meine Frage: Was wäre bei einem Virus, das nur ein wenig gefährlicher wäre, das also zum Beispiel nur 97 % überleben würden, eine dreifach höhere Sterblichkeit? Würden dann alle Ungeimpften sofort den Stern des Abschaums aufgenäht bekommen? Und bei 95 %? Bei 90 %? Wann würde sich ein allgemeiner Wahnsinn wie eine rasende Bestie breitmachen und jede Menschlichkeit wie in einem reißenden Malstrom unter sich begraben?
Ich ging die paar Straßen entlang, bis ich die Seitenstraßen erreichte, in denen der Weihnachtsmarkt stattfand. Seltsamerweise dachte ich noch daran, dass es ja ,Adventmarkt’ heißen müsste – Weihnachtsmärkte fanden fast nie zu Weihnachten statt.
Dieser Markt hatte sich in diesen Seitenstraßen gehalten, weil er wohl mal vor vielen Jahren von einer kleinen Kirchengemeinde ausgegangen war, die dort ihr Heim hatte. Davon hatte es sich längst gelöst, aber die Örtlichkeit war geblieben. Die Seitenstraßen gaben dem Markt etwas Heimeliges. Aber – ich musste feststellen, was ich ohnehin schon wusste und doch jedes Jahr wieder neu verdrängte: Auch dieser Markt war längst vom allgemeinen Schicksal ereilt. Mit Ausnahme vielleicht einiger weniger Handarbeitsstände war er so ununterscheidbar geworden wie jeder andere...
Es gab Glühwein. Es gab Bratwurst. Sogar Zuckerwatte. Dann natürlich die üblichen Esskastanien. Vielleicht noch einen Stand mit Honiggläsern aus irgendeiner regionalen Imkerei. Dann die Standard-Crepes. Industrialisiertes Spielzeug, Und natürlich der übliche Christbaumschmuck – Kugeln, Engel, Sterne, wie immer. Vielleicht noch einen Stand mit Krippenfiguren ,Fair Trade’, sehr grob geschnitzt.
Ich versuchte, meine Enttäuschung auch jetzt zu verdrängen, wo ich die Stände entlang schlenderte, fast schon vorwärtsgedrängt von einer ziemlichen Masse von Leuten, die alle das Erlebnis ,Adventmarkt’ in den ohnehin schon nicht sehr ausladenden Seitenstraßen suchte. Befand ich mich in einer Endlosschleife, oder hätte dieser Markt wirklich überall sein können – in jedem beliebigen Ort in Deutschland, und man hätte schlicht nicht gewusst, wo?
Waren wir inzwischen so verwechselbar, so beliebig, so standardisiert und ökonomisiert, dass immer und überall das Gleiche verkauft wurde? Keine Familienbetriebe mehr, kein eigenwilliger, besonderer Schmuck? Kein Goldschmied, kein Glasbläser, kein Holzschnitzer – nichts? Aber wovon sollten sie auch leben, das ganze übrige Jahr über? Die industrielle Revolution hatte längst ihre Kinder – oder Vorgänger – gefressen, und selbst die digitale Revolution war ja bereits mehrfach gefolgt. Wem trauerte ich eigentlich hinterher? Was ich suchte, gab es doch quasi bereits seit Jahrzehnten nicht mehr!
Gerade, als mich der Trübsinn vollständig ereilen, ja ertränken wollte, fiel mein Blick auf ein Mädchen...
Das Magische war, dass es meinen Blick festhielt. Es lag nicht so sehr daran, dass es sonst nichts zu sehen gab, das auch. Aber viel stärker war eine Art Aura, die von dem Mädchen ausging – zumindest für mich, nein, offenbar nur für mich... Von dem Mädchen strahlte etwas aus, und ich war nicht in der Lage, zu sagen, was. Und doch war ich sehr wohl sehr bald in der Lage, einiges zu der Frage zu sagen, aber die Intensität ihrer Ausstrahlung wurde mir immer rätselhafter. Auch in tiefschwarzer Nacht wurde man doch nicht durch einen einzigen Stern auf einmal geblendet?
Sie ging langsam an den Ständen entlang, sehr langsam. Ich hatte sie erblickt, wie sie an einem Stand mit Schmuck lange stehengeblieben war. Sie hatte sich die Auslage geradezu sorgfältig angesehen, regelrecht liebevoll. Ich konnte ihr ein wenig näherkommen und ihr Profil sehen. Man sah die Intensität von etwas sehr Jungem, sehr Unverdorbenem. Während sie die Auslage studierte, studierte ich ihr halbes Gesicht. Ihr Blick hatte etwas so Reines, so ... unglaublich Interessiertes.
Für mich war es unfassbar faszinierend, ihren Blick sehen zu dürfen, ihren Blick auf Dinge, die mir gleichgültig waren, während sie sie mit ihren Augen geradezu liebkoste, sanft abtastete, voller Interesse, sanft weiterwandernd, über die Dinge hin, mit ihren Augen, mit ihrem Interesse, noch immer dort stehend, bis sie alles von der Auslage in ihr Inneres aufgenommen zu haben schien. Und dann blickte sie zu dem Verkäufer und lächelte! Lächelte ihn an ... und ging weiter...
Diese Szene war für mich endgültig so unfassbar, dass ich geradezu meinte, die Zeit stünde still. Ich kann nicht sagen, wie ich diese Formulierung zu erklären gedenke. Natürlich wusste ich, dass die Zeit nicht still stand, aber so ein Gefühl hatte ich. Ich sah den Verkäufer auch kurz an, er hatte zurückgelächelt, er fand das Mädchen auch irgendwie ein bisschen außergewöhnlich – aber schon in der nächsten Sekunde schaute er wieder auf die Leute, die jetzt vor seinem Stand standen und vielleicht etwas kaufen würden. Ich aber folgte ihr...
Ich nehme an, spätestens in dieses Lächeln hatte ich mich verliebt. Spätestens. Sie stand jetzt an dem nächsten Stand. Ich fragte mich, ob sie nicht mit jemandem hier war – aber ich sah niemanden. Kurz streifte mich ihr Blick, aber ich sah sofort woanders hin, sie bemerkte überhaupt nicht, dass ich sie beobachtete, und doch tat mir schon der Gedanke bis ins Innerste leid, sie könne sich beobachtet fühlen. Dabei versuchte ich, sie so ,sanft’ zu beobachten wie nur irgendetwas. Im Grunde bestand ich aus reinem Staunen. Ich hatte so etwas noch nie gesehen...
Sie stand jetzt – und ich fast, ich wollte ihr nicht noch näherkommen als diese zwei, drei Meter, zwischen uns waren noch genügend andere Leute, immer wieder neue, während sie dort stand – vor eben einem dieser Stände mit Krippenfiguren. Und sie musterte sie ebenfalls. Wieder kommt mir dieses Wort, diese Worte: sorgfältig ... liebevoll... Und jetzt fragte sie etwas – es schockierte mich fast, ihre Stimme zu hören, hören zu dürfen.
„Wo kommen die Figuren denn her?“
Der Verkäufer, ein Schwarzer mit deutlich afrikanischem Akzent, beeilte sich, ihr freundlich zu antworten – er wollte ja auch verkaufen.
„Aus Kamerun ... alles handgemacht!“
Das Mädchen schien ein winziges bisschen zu zögern. Dann fasste es den Mut zu einer weiteren Frage:
„Gibt es ... in Kamerun viele – –“
„Viele Christen? O ja! Zwei Drittel der Bevölkerung sind Christen. Viele Christen, ja, viele...“
Nachdenklich blickte sie mehrere Sekunden auf die Figuren. Dann sah sie fast schüchtern den Mann an – und lächelte erneut.
„Danke...“, sagte sie leise.
„Gerne, gerne!“
Ich fragte mich minutenlang, wofür sie sich bedankt hatte, während ich ihr in diesem einzigartig langsamen Tempo folgte. Etwa für die Auskunft? Oder dafür, dass sie vor seinem Stand hatte stehen dürfen? Oder beides? Mir war nur eines deutlich – eigentlich hatten sich die Menschen zu bedanken, vor denen sie stand...
Der nächste Stand hatte etwas sehr Ausgefallenes, was sogar mich erstaunte: Weihnachtsbaumschmuck der etwas anderen Art – um nicht zu sagen: veralbernd. Fasziniert entdeckte ich Anhänger, die die absurdesten Dinge darstellten: Ein Croissant, einen Hummer, eine Bohrmaschine, einen Weihnachtsmann auf einem Dino... Ich empfand fast eine unverhohlene Anerkennung für diese einzigartige Idee, dieses endlich einmal Unverwechselbare, aber als ich wieder in das Gesicht meiner Schönen blickte – denn sie war schön! – sah ich bestürzt, dass es sie geradezu zu schockieren schien.
Bestürzend war allein schon, wie sanft sich dies alles in ihrem Antlitz zu spiegeln schien. Hätte man es nicht so innig studiert wie ich – niemand hätte bemerkt, was in ihrem Inneren vorgehen mochte. Auch ich brauchte wohl zwei, drei Sekunden, bis es mir eindeutig klar wurde. Klar wurde, dass sie offenbar gar nicht fassen konnte, was sie hier sah. Meine endgültige Bestätigung bekam ich, als ich wieder ihre Stimme hörte – diesmal nicht nur sanft, sondern fast scheu, oder war es Scheu, ich weiß es nicht:
„Wieso ... verkaufen Sie das...?“
Der Verkäufer sah sie lauernd bis unverbindlich an.
„Was ist denn damit?“
Der Blick des Mädchens, den ich wiederum nur von der Seite sah, traf mich mitten ins Herz – denn er ging gleichsam in ein Nichts. Ich hatte das Gefühl, dass er zwischen den Dingen der Auslage und dem Verkäufer hin und her irren wollte, sich gleichsam auf halber Strecke verfing und hier gewissermaßen brach... Vor erschütternder Hilflosigkeit...
Und dann blickte das Mädchen den Verkäufer doch noch an, einen vollen, langen Moment lang, und mir brach erneut das Herz... Während es stumm vor Trauer weiterging, fing ich noch den Blick des Verkäufers auf, der dem Mädchen spottend hinterher sah und seinen Blick sogar mit mir teilen wollte, aber ich ließ ihn einfach abtropfen...
Ich musste die Straßenseite halb wechseln, um von dem Stand wegzukommen, ohne dem Mädchen zu nahe zu rücken. Jetzt sah ich es aus etwas größerer Entfernung, und nun schien mir seine ganze Gestalt so einsam wie nie zuvor. Plötzlich hatte ich den Eindruck eines elternlosen, heimatlosen Kindes, eines welteneinsamen Mädchens, so mutterseelenallein wie niemand anderer in dieser Stadt.
Jetzt blickte es sich einmal hilflos um, wie mit der Frage, wo es hier ,gelandet’ sei, und beschämt fühlte ich ihren Blick ein zweites Mal auf mir, nur einen winzigen Moment, und doch schämte ich mich tief, blickte wieder fort, wusste nicht, ob sie mich irgendwie doch wiedererkannt hatte, ausgerechnet in diesem Augenblick ... und hätte sie dann fast in der Menge verloren.
Sie blieb an keinem Stand mehr stehen, sondern ging einsam und still durch die Menge, oder vielmehr, sie fand ihren Weg in einer Menge, die trotzdem schneller als sie in beide Richtungen strömte, sie aber ging in stiller Traurigkeit dem anderen Ende zu, bis sie schließlich, nach für mich regelrecht quälenden Minuten, die letzten Stände erreicht hatte und der dunklen Straße folgte, auf der sich die Fußgänger schnell ausdünnten.
Schockiert fragte ich mich auf einmal, was ich hier eigentlich tat – oder was ich tun sollte