Die Rettung des Mädchens - Holger Niederhausen - E-Book

Die Rettung des Mädchens E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Die Menschheit ist dabei, ihre Seele zu verlieren - und wir alle sind Meister der Verleugnung. Dieses Buch führt in erschütternde Tiefen der Selbst- und Welt-Erkenntnis. Zugleich macht es bis in die Tiefe erlebbar, wie sehr das Mädchen eins ist mit dem Wesen der Seele - und warum daher gerade das Mysterium des Mädchens immer mehr verschwindet und vernichtet wird ... und doch die rettende Antwort auf alles (!) ist.

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

Denn eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind, die ihn finden.

- Matthäus 7,14

INHALT

Teil I: Wie tot bin ich wirklich?

Einleitung

Fragen

Anmerkungen

Wo das Leben nicht zu finden ist

Eine Auswertung

Fortsetzung der Diagnostik

Das Leben und das Mädchen

Vom Berührtwerden

Die Fragen und das Mädchen

Nachwort

Teil II: Die Rettung des Mädchens

Die Lage der Seele

Die Lage der Welt

Das Mädchen ist das ganz Andere

Von Tragik und Geburt

Die Rettung des Mädchens

Epilog

Teil I:

Wie tot bin ich?

EINLEITUNG

Heute suchen alle das Leben. Man wünscht sich ,das volle pralle Leben’. Man möchte einen guten ,Lifestyle’ pflegen. Man will lange leben. Man will lebendig sein. Man will einen guten Lebenslauf haben. Jeder weiß, was das Leben ist. Man möchte es mit angenehmen Dingen füllen, um ,gut’ zu leben. Man möchte gelebt haben, bevor man stirbt.

Diese Formulierungen und die daraus sprechenden Bedürfnisse, um nicht zu sagen ,Begehrnisse’, sind allgegenwärtig. Auch sie leben in nahezu jedem Menschen irgendwie. Leben, Leben, Leben. Aber was ist dieses Leben? Und wie sehr lebt man wirklich?

Das ist die Frage, die im Folgenden beantwortet werden soll, in Form eines Diagnostikums – mit dessen Hilfe jeder selbst beurteilen kann, wie sehr er lebt. Er wird sich vielleicht nicht auf meine Art der Beurteilung einlassen – aber das ist seine Sache. Er wird gesehen haben, wie man die Frage beurteilen kann, und wenn er das nicht tun wird, liegt es in seiner eigenen Verantwortung.1

Das Leben lässt nicht mit sich spaßen. Es hat seine eigenen Beurteilungsmaßstäbe. Diese kann man entweder erkennen – oder daran vorbeigehen, buchstäblich: vorbei-leben. Damit aber würde man zweifellos den größten Fehler seines ... Lebens begehen. Dieses Buch wird also zugleich eine Hilfe sein, ihn möglicherweise noch zu erkennen. Denn aus der Sicht des Lebens ist es eine Wahrheit: Es ist nie zu spät...

1 Es sind hier und im Folgenden stets beide Geschlechter gemeint.

FRAGEN

Für eine Diagnostik braucht es die richtigen Fragen. Manch einer, der sich in einer bestimmten Weise ,sieht’ und beurteilt, meint, sich genau zu kennen, und irrt doch gewaltig. Früher wiesen Fabeln auf diese Wahrheiten hin. Jemand kann ein berstendes Selbstbewusstsein haben und doch ein ,armer Schlucker’ und winziger Geist sein – ein anderer kann sich für völlig unbedeutend halten und aus anderer Sicht doch einen Wert haben, der mit Gold nicht aufzuwiegen wäre.

Ein Arzt kann an winzigen Symptomen eine schwere Krankheit erkennen, die ein Laie für völlig bedeutungslos halten könnte – und was den Laien panisch macht, kann den Arzt völlig ruhig bleiben lassen.

Es braucht also, um die Wahrheit tiefer als dem bloßen Augenschein nach erkennen zu können, eine Erkenntnismethodik. Für den Arzt sind das die richtigen Fragen, die richtige Blicklenkung – und ein Werk, das dieses leisten würde, wäre ein Diagnostikum.

*

Vieles kann man bereits erkennen, wenn man jene einfachen Fragen beantwortet, die einen der sogenannten ,Psychotests’ ausmachen. Diese Tests stehen immer unter einer Leitfrage wie zum Beispiel ,Wie gesellig sind Sie?’ oder ,Was für ein Kommunikationstyp sind Sie?’ und so weiter und so fort. In der Regel kennt man die Antworten schon vorher – dennoch ist es nicht selten aufschlussreich, die Fragen wirklich einmal durchzugehen und zu sehen, was sich daraus ergibt und wo man auf einer Skala, die von einem Extrem zum anderen reicht, eigentlich ,steht’.

Und so wollen wir auch an dieser Stelle einmal mit Fragen beginnen, die tiefer in unsere eigentliche Frage hineinführen werden...

Man nehme sich also Zeit, Ruhe und einen Stift und beantworte für sich die Fragen der folgenden Seiten.

1. Haben Sie den Beruf, den Sie sich gewünscht haben?

(ja / nein / weiß nicht)

2. Wie oft können Sie Ihr Wochenende genießen?

(fast immer / es geht / selten)

3. Besuchen Sie öfter einmal Theater oder Konzerte?

(ja / nein / allenfalls manchmal)

4. Wie viele Bücher haben Sie im letzten Jahr gelesen?

(keines / höchstens drei / mehr)

5. Haben Sie Kinder?

(ja / nein / nein, aber ich möchte)

6. Wie oft haben Sie schon furchtbar spontan gehandelt?

(sehr oft / schon öfter / selten oder nie)

7. Haben Sie eine feste Beziehung?

(ja / nein / wie man’s nimmt)

8. Wie oft gehen Sie spazieren?

(jede Woche / jeden Monat / seltener)

9. Wie oft machen Sie richtig Urlaub?

(einmal im Jahr / öfter / seltener)

10. Wie oft im Monat haben Sie Sex?

(viermal / öfter / seltener)

11. Wie oft sind Sie glücklich?

(fast immer / oft / selten oder nie)

12. Wie viele sehr gute Freunde haben Sie?

(einen / mehr / weniger)

13. Fragen Sie sich manchmal nach dem Sinn des Lebens?

(ja / nein / oft)

14. Wann haben Sie zuletzt etwas ,Verrücktes’ getan?

(in diesem Jahr / früher / noch nie)

15. Wie selbstbewusst sehen Sie sich?

(normal / sehr / eher wenig)

16. Empfinden Sie sich als religiös bzw. spirituell?

(ja / nein / weiß nicht)

17. Halten Sie sich für politisch engagiert?

(ja / nein / ein wenig)

18. Lieben Sie Kinder (nicht die eigenen)?

(ja / nein / kaum)

19. Wie blicken Sie auf Ihre eigene Schulzeit zurück?

(positiv / negativ / neutral)

20. Können Sie sich an kleinen Dingen freuen?

(ja, oft / manchmal / selten oder nie)

21. Würden Sie sich selbst als empathisch bezeichnen?

(ja / nein / weiß nicht)

22. Finden Sie, die Welt ist bedroht?

(ja / nein / weiß nicht)

23. Ist Ihnen Wohlstand wichtig?

(ja / weniger / nein)

24. Glauben Sie an die große Liebe?

(ja / nicht wirklich / nein)

ANMERKUNGEN

Wir wollen es einmal bei diesen vierundzwanzig Fragen belassen und an die Auswertung gehen.

Wer nun allerdings die übliche Auswertung solcher Tests erwartet hätte, wie man sie aus Zeitschriften kennt, der wird in dieser Erwartung enttäuscht werden. Diese Art der Fremdbestimmung endet hier. Man wird bei jeder Frage engagiert mitdenken müssen. Die Fragen selbst waren nach dem sogenannten ,multiple choice’-Prinzip gestaltet: in diesem Fall jederzeit dreifache Auswahl – und bei gewöhnlichen ,Psychotests’ hätte sich dann die eindeutige Punkteverteilung, Summierung und eindeutige Ausdeutung angeschlossen ... in der Regel auch wieder in drei Klassen von Beurteilungen nach dem Muster: Sie sind sehr gesellig, kaum gesellig oder aber das übliche Mittelmaß.

Viele Leserinnen und Leser werden schon bei den Fragen mit ihrer grob gestrickten Drei-Antworten-Möglichkeit die Empfindung gehabt haben, dass damit das wirkliche Leben doch wohl etwas zu sehr reduziert wird. Diese Empfindung ist zutiefst gesund. Man macht solche ,Psychotests’ möglicherweise manchmal ganz gern, weil man neugierig ist, zu welchem Ergebnis der Test bzw. die Zeitschrift dann kommt – aber im eigenen Inneren weiß man zugleich, dass die Reduktion des Lebens auf jeweils drei Antwortmöglichkeiten eigentlich armselig ist. Und genauso armselig und bedeutungslos ist dann in der Regel auch der ganze ,Test’.

Dies allein schon deshalb, weil er eine Eindeutigkeit vorspiegelt – und zugleich eine absolute Fremdbestimmung zelebriert, eine totale Abhängigkeit vom Urteil anderer. Wie es ja überhaupt das Wesen dieser oberflächlichen Zeitschriften ist, die einen zum bloßen Konsumenten degradieren. ,Wussten Sie es schon? Prinz so-und-so hat kürzlich geheiratet. Wir bringen eine Exklusivstory.’ Oder: ,Was Schauspielerin xy über ihr Baby verraten hat.’ Oder eben auch: ,Wie gesellig sind Sie? Dieser Test verrät es Ihnen!’

Millionen von Menschen lassen sich mit diesen Dingen buchstäblich abspeisen. Sie entwickeln sich in dieser Hinsicht zu hörigen Individuen, die in vielen Aspekten nicht darüber hinauskommen, von außen entgegenzunehmen, wie über diese oder jene Dinge geurteilt werden soll. Wenn ich mir aber von außen sagen lassen muss, wie ,gesellig’ ich bin (zum Beispiel), dann lasse ich mir fast im selben Atemzug auch von außen aufoktroyieren, wie ,gesellig’ man normalerweise eigentlich auch zu sein hat – wenn man jedenfalls nicht deutlich von der Normalität abweichen will.

Selbst wenn man diese Tests nicht so ganz ernst nimmt, suggerieren sie einem fortwährend, dass es Normen gibt und dass alles, was davon abweicht, schon nicht mehr ganz normal ist. Diese Tests sind also weit mehr als nur ein unterhaltsames Mittelchen, mal ein bisschen herauszufinden, wo man mit diesem oder jenem ,steht’. Sie sind fortwährend ein subtiles Signal, das einem suggeriert: ,Du machst es im Großen und Ganzen schon richtig’, oder: ,Wow, du bist ein Supertyp!’ Oder: ,Da besteht noch Verbesserungsbedarf...’ Es ist eine fortwährende Normierungssuggestion. Nicht anders als die Noten in der Schule. Und wir sind von diesen Dingen umgeben. ,Psychotests’ sind auch nur die Spitze des Eisberges.

Dem wollen wir uns also nicht unterwerfen. Es wäre wohl auch das Letzte, wenn sich das Leben in ,Multiple-Choice-Fragen’ einfangen ließe und dann sogar noch eine ebenso einfache Auswertung möglich wäre! Wäre dies das Leben, so würde es sich überhaupt nicht lohnen, gelebt zu werden. Und möglicherweise haben sehr viele Leserinnen und Leser diese Empfindung schon zu Beginn der Fragen gehabt.

Und wenn nicht bewusst, so zumindest unbewusst. Wir haben ohnehin sehr viele unbewusste oder nur halb bewusste Empfindungen. Man denke nur einmal an die fortwährend leise viele Leben begleitenden Enttäuschungen. Dieses Gefühl, sich im Grunde nur wie ein Rädchen im Getriebe zu empfinden – und vom Leben oder der Welt, wie sie ist, eigentlich übergangen zu werden.

Die ganze Werbung und vieles in der übrigen Welt suggeriert einem, man müsse doch glücklich sein – und was man eigentlich ,habe’, so ein ,Miesepeter’ zu sein oder dahin zu tendieren. Diese ,Botschaften’ führen dann dazu, dass man seine leisen oder auch weniger leisen Gefühle in dieser Richtung unterdrückt, sich an sie ,gewöhnt’ oder wie auch immer zunehmend weniger bemerkt. Man legt sich vielleicht einen Panzer zu, und sei es nur einen Panzer der Gewöhnung oder der Resignation.

Und so kann es ganz leicht sein, dass man solche Empfindungen nicht bemerkt, obwohl sie da sind. Empfindungen wie jene, dass so ein Test doch eigentlich ein furchtbares Instrument der Fremdbestimmung und der Reduktion der Wirklichkeit auf etwas viel zu Banales ist. Genauso banal wie das Fernsehprogramm, dessen Banalität man auch nicht mehr wirklich bemerkt – aber tief in den Untergründen der Seele doch sehr, sehr deutlich empfindet. Aber es tritt eben nicht mehr wirklich bis über die Schwelle des Bewusstseins. Da ist es jedoch trotzdem, sogar sehr, sehr intensiv. Intensiv und doch nicht wirklich bemerkt...

Im Grunde ist ein Großteil der Welt darauf angelegt, die Seelen fremdzubestimmen. Das beginnt schon mit jedem Konsum, wirklich jedem, sogar dem sehr, sehr angenehmen. Wenn ich von Nachrichten zugeschüttet werde; wenn mir die Schlagzeilen entgegenschlagen; wenn überall Werbung aufflackert; wenn am Bildschirm die Angebote, was man anklicken könnte, nur so hageln; wenn einem die Fernsehzeitung für jede Minute des Tages auflistet, was man konsumieren könnte; wenn die Zeitschrift voll ist mit Texten und Storys und sogar ,Psychotests’, durch die man sich ,besser kennenlernen’ soll – und es nimmt ja kein Ende... Die Schaufenster sind voll mit Angeboten, die Ampelpfähle der Großstädte mit Kleinanzeigen. Und im Grunde lautet die oberste Suggestion, die aus alledem hervorgeht:

Wenn Du nicht KONSUMIERST, lebst Du nicht!

Und wir alle haben diese Botschaft aufgenommen. Und wir alle leben ein Stückweit unter ihrer Diktatur. Die einen konsumieren brav, was das Fernsehen bietet. Die anderen klicken wie wild durch das Internet – oder durch Nachrichten und anderes auf ihrem Smartphone, das sie im Grunde nicht zwanzig Minuten aus den Augen lassen können. Allein schon dies ist eine Erscheinung, die die ,Konsumeritis’ bis fast ins Unendliche gesteigert hat, wenn man es mit nur einem Jahrzehnt zuvor vergleicht.

Und wir sind auch anderweitig abhängig vom Urteil der Außenwelt. Auf den ,sozialen Netzwerken’ wollen wir ,gemocht’ werden – oder noch oberflächlicher: ,geliked’. Wir wollen ,dazugehören’. Wir wollen uns eine Meinung bilden und schielen doch danach, was andere denken und finden und schreiben und liken und posten und teilen und, und, und... Geht es eigentlich noch um die Wahrheit? Oder geht es nur noch um eine ,Schwarmintelligenz’ – dieses monströse Phänomen absoluter Fremdbestimmung?

WO DAS LEBEN NICHT ZU FINDEN IST

Manchmal hilft das ,Gegen-den-Strom-Schwimmen’, um herauszufinden, ob man dazu überhaupt noch in der Lage ist – oder ob man eigentlich nur noch mitmachen kann, was eben gemacht wird: von anderen. Nur scheinbar das Gegenphänomen ist dasjenige, was seit kurzem aus allen Löchern kriecht: das Phänomen der sogenannten ,Verschwörungstheorien’.

Scheinbar als der Modus des ,Gegen-den-Strom-Schwimmens’ geboren, ist es auch nur ein billiger Abklatsch eben jenes anderen – der Fremdbestimmung. Denn auch da, wo man glaubt, die ultimative Erkenntnis aufgetan zu haben, während alle anderen noch ,blind’ sind, ist man längst aufgesogen von einem Dogma und einer sich selbst immunisierenden Gewissheit, die in ihrer Armseligkeit nur deshalb nicht auffällt, weil man sich ja für ,auserwählt’ hält – auserwählt, die ,Wahrheit’ erkannt zu haben, im Gegensatz zu allen anderen.

Aber was heißt ,zu allen anderen’? Denn auch die ,VT-ler’ (Verschwörungs-Theoretiker) sind ja – welch Zufall! – eine ,Community’. Auch sie bilden ja einen mächtigen Strom, der sich nur deshalb als auserwählt vorkommt, weil der Strom des ,Mainstream’ (Hauptstrom) ja immer größer ist. Das gehört ja geradezu zur Definition: Der Hauptstrom der Blinden und Dummen ist gigantisch – und nur man selbst ist mit einigen wenigen anderen erleuchtet über die ganzen Verschwörungen und Manipulationen, die überall lauern und wirken.

Das tun sie zwar – aber die Verschwörungstheoretiker manipulieren die Manipulationen ins Gigantische und haben sich dazu verschworen, die Verschwörungen als einzigen Weltinhalt zu verabsolutieren, ferner, sich als Auserwählte auserwählt zu haben, während die übrige Welt in Dummheit versinkt und verrottet. So haben die ,VT-ler’ ihren eigenen Mainstream geschaffen – jenes Narrativ, dem sie anhängen, in einem breiten und immer breiteren Strom... VT-Mainstream eben.

So, wie es ,hip’ ist, irgendwann mal gekifft zu haben oder mal einen Vollrausch gehabt zu haben – und andere Dinge mehr –, ist es in gewissen Kreisen auch ,hip’, sich als einzigen ,Durchblicker’ zu sehen, mit wenigen anderen, die nun die eigene ,Community’ sind, die man zeitlebens auch nicht mehr verlassen wird, in die man sich immer weiter hineinsteigert – wie übrigens auch in eine Sekte. Und auch die ,Sektler’ fühlen sich ja auserwählt.

Mit ,Gegen-den-Strom-Schwimmen’ haben Verschwörungstheorien nach kurzer Zeit gar nichts mehr zu tun. Eher nur mit einer gigantischen Selbstbestätigung. Viele ,VT-ler’ sind einerseits vom Leben enttäuscht und besitzen andererseits ein gigantisches Selbstbewusstsein – ein aufgeblasenes Selbstbewusstsein, das vor allem mit Narzissmus zu tun hat. Und die ,Verschwörungstheorien’, denen sie jeweils anhängen, liefern ihnen die dringend nötige Identifikationssubstanz, die das übrige Leben ihnen vorenthalten hat. Nun können sie sich auf einmal an der Spitze empfinden – sind sie es doch, die alles durchschauen, während alle anderen dumpf vor sich hinvegetieren... Nur der ,VT-ler’ lebt wirklich! Mutig, geradezu heroisch – als einziger Verteidiger der Wahrheit...

Während also die erste Art von Menschen in bloßer Fremdbestimmung erstarrte (Konsum über Konsum), blicken ,VT-ler’ hinter die Kulissen und sind so gesehen durchaus aktiv, aber das erlahmt in der Regel schnell und erstarrt zu einer Pseudoaktivität – indem nun ebenso konsumiert wird wie auf der anderen Seite, nur eben in ,Alternativmedien’, die einem die nunmehr ,richtige’ Weltsicht ebenso bestätigen. Schöpferisch gedacht oder geprüft wird auch da nichts mehr, nun setzt das Denken in der anderen Richtung aus, indem alles automatisch richtig ist, was die eigene, ,hinter die Kulissen schauende’ Meinung bestätigt, wie absurd es auch sein mag. Der ,Verschwörungstheoretiker’ erstarrt zum bloßen Gegenbild des ,Mainstream-Gläubigen’. Auch er ist gläubig, nur in polarer Richtung. Auch er hat sein ,Heil’ gefunden – es sind die Verschwörungstheorien aller Couleur. Für den ,VT-ler’ kann es davon gar nicht genug geben, sind sie doch sein Lebenselixier! Ohne sie würde er ja verhungern und verdursten. Deswegen sucht er ständig neues ,Material’ – so, wie der Drogensüchtige ständig neuen ,Stoff’ sucht. Ohne ständig neue Verschwörungstheorien würde für den ,VT-ler’ seine Welt zusammenbrechen. Sie würde quasi implodieren. Das darf nicht sein – also wird das ,Netz’ fortwährend durchscannt, oder man hat praktischerweise seine Lieblingsseiten, die einem die ,echte Wahrheit’ ganz simpel frei Haus liefern. Der ,Mainstream’ der ,VT-Szene’. So schnell geht das...

*

Ich kann den Leserinnen und Lesern allerdings noch ein anderes Phänomen nicht ersparen, denn es gibt noch eine weitere Sekte. Das sind die, die sich gar nicht für VT-ler halten und trotzdem sehr, sehr ähnlich ,ticken’, auch wenn sie es nicht glauben.

Ich möchte diese Menschen einmal ,Ultrarationale’ nennen. Es sind Menschen, die sich zutiefst aufgeklärt vorkommen, dabei aber vor Seelenkälte und Selbstbezug nur so strotzen. Sie blicken voller Verachtung auf all jene, die ,weniger intelligent’ sind als sie. Selbstverständlich bemisst sich auch hier der Intelligenzgrad der anderen an dem Maß, wie man die Welt in gleicher Weise ,durchblickt’ hat wie sie selbst.

Es kann sich durchaus um Menschen mit traditionell linken Überzeugungen handeln. Aber während echte Linke auch ihr Herz ,am rechten Fleck’ haben, sind die ,Ultrarationalen’ extreme Kopfmenschen, und mit ihrem kalten Intellekt kann nur ihr extremer Selbstbezug mithalten. Ein Mensch von dieser Art schrieb mir etwa:

Da sieht jemand beispielsweise nett aussehende, bunte Vögel auf einer Wiese, die zum Wohle der Arterhaltung in der Natur rumpicken. Die Wahrheit sieht etwas anders aus. Die netten Vögel fressen Frösche, Insekten und Würmer bei lebendigem Leib. Fressen und gefressen werden auf der Mörderwiese.

Diese Sicht auf die Wirklichkeit nannte er ,analytische Bestandsaufnahme’ und kam sich ungeheuer intelligent dabei vor! In einer solchen, nihilistisch-satten inneren Haltung liegt keinerlei Zukunftsimpuls mehr. Sie ist innerlich tot, und bezeichnenderweise meinte er, gleichsam nach Art eines umfassenden Axioms darauf hinweisen zu müssen, dass das Leben egoistisch sei. Solche altklugen Sprüche kann ,MediaMarkt’ besser: ,Geiz ist geil’, das ist dann die ultimative Losung, die Verherrlichung des modernen Autismus.

Derselbe Mensch hielt auch die Sorge um das Klima für die ,irrationale Besorgnis einer sich maßlos überschätzenden Menschheit’, war also der Meinung, dass der Planet schon ganz andere Dinge erlebt hat und dass der Mensch das Klima überhaupt nicht nennenswert beeinflusse – und wenn doch, wen interessiert’s? Die egoistische Natur passt sich an alles an. Den besten Umweltschutz sah er in einer deutlichen Reduzierung der Weltbevölkerung, während er sich fragte, ,warum jemand überhaupt Kinder bekommen möchte’. Daraufhin sprach er von der Verdummung der Jugend, die nicht einmal mehr Uhren mit Zifferblättern lesen könne, und einer extremen Verfettung der Menschen. Daneben schien er selbst einer zentralen Rolle des Sexuellen das Wort zu reden.

Dieser Mensch sah sich als Wissenschafter, genauer gesagt, Physiker – und er fühlte sich in Sachen Erkenntnis und freier Entfaltung der eigenen Persönlichkeit seiner Umwelt ganz offensichtlich haushoch überlegen. Es ist ein regelrechter Menschentypus, denn solche Menschen gibt es viele. Menschen, die im Grunde überhaupt keine tieferen Empfindungen mehr haben, weil alles, wirklich alles von ihrer kalt-abstrakten Weltsicht überlagert wird. Entlarvend war sein regelmäßig wiederkehrender, hochmütiger Spruch am Ende seiner Mails: ,Es werde Licht’. Arroganter kann man die eigene Aufgeklärtheit, die man allen anderen angeblich voraus hat, nicht verkünden.

Dieser Menschentyp hat den Egoismus wirklich zutiefst verinnerlicht, hält sich dennoch für konstruktiv und sozialverträglich und merkt gar nicht mehr, wie gefühlskalt er sein Leben zubringt, weil die Arroganz alles andere überstrahlt. Auf andere Sichtweisen geht er überhaupt nicht ein. Er ist ja bereits an der Erkenntnisspitze, warum sollte er?

Dieser Typ Mensch meint, wertfrei zu beobachten und zu analysieren, aber die eigene Arroganz und der eigene Nihilismus prägen bereits alles – so auch die zutiefst selektive Wahrnehmung, die wiederum dazu verhilft, sich haushoch von der ,strohdummen’ und ,hyperverfettenden’ Menschheit abzugrenzen. Es ist eine selbst zutiefst dekadente Weltsicht, die es geradezu liebt, mit dem ,allgegenwärtigen Niedergang’ zu kokettieren – und sich an der einsam-heroischen Erkenntnis dieser angeblichen Untergangsszenarien geradezu ,aufgeilt’. Der Blick auf die Natur sieht nur noch sich zerfleischende Individuen, der Blick auf die Menschheit nur verfettende Dummlinge. Wer so blickt, ist selbst tief dekadent.

Als angeblicher Wissenschaftler sieht er wie durch eine riesige Lupe nur das Negative oder nur die alleräußerste Schicht – im Grunde die Porno-Variante von allem. Er sieht nicht die Schönheit und Eleganz in der Natur, die Weisheit, das unendlich Vernetzte und voneinander Abhängige, die wundervolle Magie des Lebens ... sondern nur das Nackte, Rohe, das Morden, Fressen und Gefressenwerden. Obszöne, nichtssagende nackte Realitäten. Aber er selbst, dieser Typ Mensch, ist es, der sein Auge und sein Denken so nackt und brutal gemacht hat wie einen Pornofilm – und nun in ,aufgegeilter Nüchternheit’ meint, im Gegensatz zu allen anderen die Realität voll erfasst zu haben. Die wahre Wirklichkeit wird aber nur mit liebevollem Blick erkannt. Ein Wissenschaftler, der seinen Blick so reduziert, dass er zur Porno-Variante der Wahrnehmung wird, der zelebriert eine Haltung, die nur eines ist: die Fettschürze im Denken. Dekadenz pur.

Und als Beweis dafür, dass romantische Liebe nur ein Konstrukt sei, führt der Wissenschaftler an – Affen und die griechische Sklavenhaltergesellschaft, in der die Ehefrau zwar der Sicherung von Nachwuchs und Erben diente, aber nicht geliebt wurde. Nicht etwa wertfrei, sondern geradezu als fast offenes Ideal! Da sehen wir, wo die ,Werte’ dieser dekadenten Ego-Haltung liegen. Die Intelligenz des Wissenschaftlers ist also nur dafür gut, zu erkennen, dass im Grunde schon die Affen die Spitze der Evolution sind – denn die Bonobos ,treiben es im Durchschnitt alle eineinhalb Stunden’.

Man muss sich tief klarmachen, dass dieser Typ von Menschen sich höchst lebendig fühlt – denn er sieht sich ja als ,die absolute Vorhut menschlicher Erkenntnis’. Aber er ist innerlich so tot wie nur irgendetwas – denn er hat das Menschliche auf eine Porno-Existenz reduziert. Und mit diesem Blick blickt er auf alles. Da ist nichts mehr von Wert. Wo soll ein solcher Wert auch herkommen bei ,wertfreier’ Wahrnehmung. Die Natur als ,Mörderwiese’, die höchste Stufe der Menschheit – es den Bonobos gleichzutun... Seelischer Tod, denn die Bonobos haben auch keine Seele. Seelische Fettschürze. Absolute Dekadenz. Die sich noch dazu maßlos überschätzt – was sie gerade der übrigen Menschheit vorwirft!

In einer solchen Haltung kann sich nur Arroganz, Reduktionismus, Nihilismus und Egoismus ausleben. Es ist die natürliche Konsequenz eines solchen Blickes, der sich ,wissenschaftlich’ dünkt. Es ist letztlich die Tierstufe des Lebens. Auch der Intellekt ist tierisch geworden,2 von einer vulgären Arroganz, die alles mit der ,Mörderwiese’ gemeinsam hat, die er (,wertfrei’) wahrzunehmen glaubt. Ohne Werte wird aber das Leben selbst wertlos. Es vegetiert nur noch dahin – in gewaltigster Selbstüberschätzung, in Arroganz und in der Idealisierung von Affensex.

2 Man möge spüren, dass hiermit die Tierwelt selbst gerade nicht abgewertet, sondern nur die Dekadenz des Menschlichen erlebbar gemacht wird. Denn für die Tiere ist die ,Tierstufe’ die echte Wirklichkeit – und eben auch überall von heiliger Weisheit durchdrungen. Sie hat nichts, was man herabwürdigen sollte, im Gegenteil. Aber der Mensch auf dieser Stufe wird zur absoluten Karikatur, zu etwas tief Hässlichem in seinem ganzen Denken, Fühlen und Blicken. Das Tier ist geradezu edel in seinem Gefangensein in den Instinkten seiner Art. Der Mensch als das zur Freiheit bestimmte Wesen gerät in die absolute Dekadenz, wenn er statt seiner Freiheit ... einen ,tierischen’ Blick verwirklicht...

EINE AUSWERTUNG

Nun aber wenden wir uns wirklich der Auswertung der gestellten Fragen zu.

1. Haben Sie den Beruf, den Sie sich gewünscht haben?

Natürlich würde man bei einer bejahenden Antwort vermuten, dass solche Menschen ,mehr’ leben als jene, die sich in einem anderen Beruf ,herumquälen’ müssen. Aber die Frage ist unfair – denn heute kann man nur sehr bedingt etwas dafür, wie man letztendlich seinen Lebensunterhalt sichern muss, muss man doch schon zufrieden sein, ihn überhaupt sichern zu können.

Will man nur denen höchstes ,Leben’ zusprechen, die ,Glück’ hatten? Auch wer seinen Wunschberuf getroffen hat, kann innerlich erstarren – und auch, wer auf anderem Felde tätig sein muss, kann diesem etwas abgewinnen und seine Tätigkeit mit Menschlichkeit und Freude füllen. Das Glück in der Berufswahl ist kein ausschlaggebendes Kriterium für ,Leben’.

Gleichwohl aber ist unser gegenwärtiges kapitalistisches System ein gewaltiges Kriterium gegen das Leben. Denn es ist auf Konkurrenz, Egoismus und Kampf gerichtet – nicht auf ein menschliches, brüderlich-geschwisterliches Zusammenleben, wie es schon in den Idealen der Französischen Revolution anklang, ebenso lange zuvor in den urchristlichen Gemeinschaften.

Obwohl der Kapitalismus einen materiellen Wohlstand ohnegleichen hervorgebracht hat, ist die Qualität des Lebens in diesem Terrorsystem des Mammon zutiefst zweifelhaft. Und dass die Menschheit es zweitausend Jahre nach Christus noch nicht vermocht hat, sich von diesem unheilvollen System zu verabschieden, zeugt von ihrer Geringschätzung für das Geheimnis des Lebens...

2. Wie oft können Sie Ihr Wochenende genießen?

Dies ist zunächst ein durchaus wesentliches Kriterium für die Frage nach dem Leben. Wenn man das Wochenende nicht genießen kann – bleibt dann überhaupt noch Leben übrig? Andererseits gibt es vielleicht Menschen, die zwischen Woche und Wochenende gar nicht so sehr trennen, weil sie auch die übrige Woche genießen und leben... Und umgekehrt ist nicht jedes Genießen gleichwertig. Die Frage ist, was versteht man unter Genuss? Und ... ist ,Genießen’ gleich Leben? Vielleicht setzt sich jemand am Wochenende für andere Menschen ein und würde das, was ihn in dieser Tätigkeit erfüllt, mit ganz anderen Begriffen bezeichnen als ,Genießen’? Wir sehen also, dass auch diese Frage nicht notwendigerweise zielführend sein muss.

3. Besuchen Sie öfter einmal Theater oder Konzerte?

Auch diese Frage ist nicht unwichtig. Es gibt Menschen, die leben ihr Leben lang an der großen Welt der Kultur vorbei. Kultur kann die Seele tief bereichern. Andererseits ... erschöpft sich Kultur nicht in Theateraufführungen oder Konzerten. Und Konzerte können auch zum Selbstzweck werden. Manch einer aus der ,High Society’ besucht Konzerte nur für das ,Sehen und Gesehenwerden’. Und auch Theateraufführungen haben eine ganz unterschiedliche Qualität. Oft muss heute alles ,modern’ erscheinen – wie sehr klassische Stücke dadurch regelrecht zutiefst verhunzt werden, ist oft gar nicht in Worte zu fassen. Auch diese Frage sagt also nur sehr bedingt etwas über die Frage nach dem Leben aus.

4. Wie viele Bücher haben Sie im letzten Jahr gelesen?

Bücher, die Welt der Literatur – das ist ein ganzer Kosmos. In Büchern begegnet man anderen Geistern, den höchsten Ideen der Menschheit, etwas, was einen zutiefst beflügeln kann ... oder auch absolutem Mittelmaß und sogar Dekadenz. Auch hier ist die Frage: welche Bücher? Solange diese nicht beantwortet ist, kann man vom Leben kaum sprechen. Allzu oft sind auch Bücher nur Teil jener Konsumwelt, die den Menschen ... zum bloßen Konsumenten macht. Ein solcher wird aber eher gelebt, als dass er selbst lebt, so gern er sich auch so sehen möchte. Also nicht einmal nur auf die Bücher kommt es an, sondern auch wie man sie liest...

5. Haben Sie Kinder?

Kinder können eine tiefe Erfüllung sein – Jahre tiefen Glückes bedeuten, das jemand, der keine Kinder hat, nie kennenlernen wird. Aber nicht jeder erlebt dieses Glück. Viele Menschen wissen gar nicht, wie man zu diesem Glück kommt. Manche Menschen betrachten Kinder noch immer als Statussymbol. Als Wesen für die eigene Selbstbespiegelung. Oder als noch anderes. Nicht wenige Menschen würden sich im Rückblick ,nicht noch einmal so entscheiden’ – für Kinder. Für diese hat die Frage nach dem Leben in Zusammenhang mit Kindern offenbar eher eine ,Negativbilanz’. Die Frage nach dem Leben bleibt also auch hier geheimnisvoll offen...

6. Wie oft haben Sie schon furchtbar spontan gehandelt?

Diese Frage scheint mit dem ,Leben’ geradezu innig verbunden zu sein. In vielen Filmen beginnt erst mit der ersten spontanen Handlung das wirkliche Leben. Das ist immer dann der Fall, wenn vorher das Leben geradezu verschüttet war – von Pflichten, von Gewohnheit, von äußeren Vorgaben, äußeren, verinnerlichten Urteilen und so weiter und so fort. Wir können uns ein regelrechtes Gefängnis bauen – oder es wird für uns gebaut. Spontaneität kann hier etwas aufbrechen, was das Leben geradezu erstickt...

Andererseits kann Spontaneität auch zu einem Selbstzweck verkommen – zu einer Art ,Genuss-Modus’. Man nimmt dann auf jeden Fall zunächst alles ,mit’, worauf man ,Lust hat’. Ob man hiermit zu den ,Quellen des Lebens’ vorstößt, ist zu bezweifeln. Als Ausbruch aus einem seelischen Gefängnis kann Spontaneität eine regelrechte Befreiung sein. Als Lebensart kann sie tief authentisch wirken. Aber in welche Tiefen sie wirklich reicht oder nicht reicht, ist damit noch nicht gesagt. Letztlich kann nämlich auch der sehr spontane Typ Mensch recht oberflächlich bleiben. Was bedeutet das dann für das ,Leben’?

7. Haben Sie eine feste Beziehung?

Eine feste Beziehung kann alles heißen. Sie kann etwas über die Treuekraft eines Menschen sagen – oder aber über seinen mangelnden Mut, sich von einer längst falschen Beziehung zu lösen. Wer aber keine feste Beziehung hat, kann auch Angst haben, ,sich zu binden’. Die Frage ist: Was ist heute wohl vorherrschender? Die Frage nach der Beziehungsfähigkeit eines Menschen hat sicherlich viel mit der Frage nach dem Leben zu tun – aber jene, ob er im Moment des Gefragtwerdens gerade eine feste Beziehung habe, sagt letztlich sehr wenig aus. Vielleicht wünscht sich jemand auch eine solche, hat aber den Menschen seiner Sehnsucht noch nicht gefunden.

8. Wie oft gehen Sie spazieren?

Diese Frage umfasst vieles. In ihr liegt allein schon die Frage, wie fähig man ist, Muße zuzulassen. Aber natürlich muss man dann auch diese Art der Muße lieben. Denkt man sich die Möglichkeit hinzu, in der Natur spazieren gehen zu können, berührt die Frage indirekt auch jene, wie sehr man die Natur liebt. Diese Frage ist durchaus wesentlich – ebenso wesentlich wie die der Muße. Und obwohl vielleicht die wenigsten Menschen öfter spazieren gehen, erweist sich so diese unscheinbare Frage als sehr tiefgründig.

~∙ ~

Wir werden auf dieses Tiefgründige noch kommen. Manchem mögen die zunächst noch recht kurzen Gedanken zu jeder einzelnen Frage wie selbstverständlich vorkommen, aber so sollte man sie keinesfalls lesen. Man sollte sie nicht wie eine ,Belehrung’ lesen, sondern selbst in die Gedanken eintauchen, die so verdichtet sind wie ein Konzentrat. Wenn sie einem dadurch trocken und abstrakt erscheinen, belebe man sie innerlich, indem man wirklich real und regsam mitdenkt, was alles mit darin liegt, ohne ausgesprochen zu sein. Es liegt sehr vieles darin – und man übergehe dies nicht durch eigene Inaktivität. Man überwinde jegliche ,Konsumhaltung’ und denke, fühle und erlebe so intensiv mit wie nur möglich.

Gehen wir also gemeinsam weiter und wenden uns den noch folgenden Fragen zu...

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9. Wie oft machen Sie richtig Urlaub?

Auch diese Frage berührt den Aspekt der Muße, der Erholung, die notwendig ist, wenn man von ,Leben’ sprechen will. Aber in ihr liegt auch etwas Schmerzliches. Denn viele Menschen sind in das kapitalistische System so eingespannt und haben zugleich so wenig Geld zur Verfügung, dass sie nie den Urlaub machen können, den sie wirklich machen wollen würden und auch verdient hätten... Während umgekehrt der Urlaub derer, die ihn sich leisten können, höchst unterschiedlicher Qualität sein kann. Wäre der Urlaub auf einer Luxusyacht ,Leben’...?

10. Wie oft im Monat haben Sie Sex?

Diese Frage ist vielleicht so kontrovers wie kaum eine andere. Sexualität kann beglückend sein, insbesondere wo sie mit Liebe verbunden ist. Aber schon die Frage reduziert diese Sexualität auf das abstrakte, modern gewordene Substantiv. Was ist ,Sex’? Ist es das, worauf sich die postmoderne Gesellschaft ,geeinigt’ hat, dass man es ,haben’ sollte? Jeder, der noch ein halbwegs gesundes Empfinden hat, weiß, dass dieser intimste Bereich des menschlichen Lebens etwas ist, was ein aus bloßen drei Buchstaben (!) bestehendes Wort weit, weit übersteigt – und doch wird dieses Wort immer und immer wieder benutzt, wie eine Art magisches Instrument, um etwas unglaublich Tiefes auf etwas unglaublich Handhabbares zu reduzieren.

Es ist wie ein Schlüsselphänomen, das zeigt, wie der abstrakte Verstand die Dinge entheiligt – um sie völlig ungefährlich in seine Hand zu bekommen. Es ist eine Profanisierung, die nicht ohne Wirkung bleibt. Eine Profanisierung, die sich ihre eigene Wirklichkeit schafft. Denn viele Menschen kennen tatsächlich das Tiefere und Umfassendere nicht mehr – sondern kennen tatsächlich nur noch dies: Sex. Wir armselig das Leben dann wird, davon machen sie sich keine Vorstellung, manche halten sich sogar überhaupt erst für aufgeklärt, wo sie sich in der Profanisierung suhlen können. Mit Leben hat das nichts mehr zu tun, vielmehr mit Totheit, mit einem Sterben von etwas...

11. Wie oft sind Sie glücklich?

Diese Frage ist von völlig anderer Qualität als die nach der ,Häufigkeit von Sex pro Monat’. Die Frage nach dem Zustand des Glücklichseins ist wohl der nach dem Leben so nah wie nur irgendeine. Man kann sagen: Wer wahrhaft glücklich ist, der lebt in diesem Moment auch in einer tiefsten Weise. Der Zustand des Glücklichseins schützt sich selbst, denn er entzieht sich schnell denen, die seiner nicht würdig sind.

Was keineswegs heißt, dass jene nicht würdig wären, zu denen er gar nicht ,kommt’. Wenn er sich aber einstellt, ist er sehr zart und verletzlich und auf keine einzige Weise ,konservierbar’. Das ist auch unmöglich, denn dann könnte er Gewohnheit werden, was aber ein Widerspruch in sich ist. In gewisser Weise ist dieser Zustand gerade dadurch ,definiert’, dass er die Ausnahmen bezeichnet. Ausnahmemomente.

Aber ist auch dies nicht wieder nur die Sicht einer Leistungsgesellschaft, die alle verinnerlicht haben? Nein. Es gibt sehr wohl Menschen – Ausnahmemenschen –, die den Zustand bewahren können. Man könnte sie Weise oder Lebenskünstler (!) nennen. Wobei aber ,innerer Frieden’ mit dem Zustand des Glücklichseins zwar verwandt, aber nicht deckungsgleich ist. Glück ist mehr, noch mehr, und darum noch seltener.

Aber, nun umgekehrt gefragt: Was ist mit denen, die von sich nicht sagen können, dass sie glücklich wären? Leben sie etwa nicht? Ist Glück synonym mit wahren Lebensmomenten? Was wäre, wenn ein Mädchen sich tiefe Gedanken um die Welt machen würde und daran leiden würde, wie diese Welt heute gestaltet ist? Wenn sie im Grunde aus einer tiefen Empathie heraus unglücklich wäre? Würde sie nicht vielleicht in einer noch viel tieferen Weise leben als all die ,Glücklichen’?

Lassen wir uns von Fragen dieser Art einmal berühren. Wir wollen sie nicht vergessen, auch wenn wir weitergehen...

12. Wie viele sehr gute Freunde haben Sie?

Eine Frage, an der sich die Geister scheiden – wodurch sofort deutlich wird, dass sie letztlich nicht viel aussagen kann. Es gibt Menschen, die mit voller Überzeugung sagen: Ein guter Freund wiegt alles andere auf. Und das ist auch so – warum sollte es je anders sein? Dennoch sind sehr gute Freunde in der Mehrzahl auch etwas Wunderbares. Aber über die Frage nach dem Leben sagt es zunächst nichts Sicheres aus, wie viele sehr gute Freunde man hat. Man kann mit sehr vielen Freunden ein sehr oberflächliches Leben führen – und man kann ganz ohne Freunde ein Leben führen, von dem niemand etwas weiß...