Was bringt ihr das? - Holger Niederhausen - E-Book

Was bringt ihr das? E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Ein Junge, der wie so viele den Bildschirmen verfällt - und dem modernen Selbstbezug. Und ein Mädchen, das mit einer vollkommen anderen Seele jedes Jahr einsamer wird und schließlich sogar am Schulsystem zu zerbrechen droht. Und dann verliebt sich in der achten Klasse der Junge gerade in dieses Mädchen - ohne es verstehen zu können. Eine Begegnung, die nur tragisch scheitern kann ... oder ist sie vom Schicksal gewollt?

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

Das Hauptziel der Gegenmächte

ist die Unschuld

Es war einmal ein Junge, der war in unserer heutigen Zeit aufgewachsen. Zehn Jahre war er nun alt. Seine Eltern waren, wie die meisten Eltern waren – nicht anders als andere. Er, der Junge, war noch fast im Kindergarten gewesen, da hatte er schon ein kleines Tablet bekommen – mit ,kindgerechten’ Spielen, wie man so sagte. Kaum war er dann in die Schule gekommen, hatte er ein Smartphone bekommen, denn ,der Junge muss doch erreichbar sein’, wie die Eltern sagten.

Es spielte keine Rolle, dass die Schule nur eine Viertelstunde weit weg war – und die Eltern in einer winzigen Kleinstadt wohnten, wo sich fast schon Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Auch nicht, dass der Junge vormittags in der Schule war und kurz nach der Mittagszeit auf direktem Wege nach Hause kam. Er musste ,erreichbar’ sein – und es konnte doch irgendwann ,wer weiß was passieren’.

Die Eltern wussten selbst nicht, was das sein sollte – und ob ein Handy dann, wenn ,wer weiß was passiert’ wäre, überhaupt noch etwas nützen würde ... aber er besaß also eines und hatte schnell herausgefunden, dass man damit auch Musik hören konnte und so weiter. Er wünschte sich kleine Ohrstecker, er wünschte sich diese oder jene App, und er spielte auch sehr bald manche der einfältigen Spiele, die zu hunderten auf einem solchen Gerät zu haben waren.

So war der Junge also wie unzählige andere in den Strom geraten – den Strom des Bildschirms, den Strom dieser Geräte. Hatte er ein solches Gerät – oder hatte das Gerät ihn? Für die Eltern war wichtig, dass er erreichbar war...

*

Im Nachbarhaus, ein Haus weiter, lebte ein Mädchen. Es ging in dieselbe Klasse und natürlich in dieselbe Schule. Während der Junge in der rechten Hälfte der Klasse an einem Tisch mit einem anderen Jungen saß, hatte das Mädchen seinen Platz in der linken Hälfte, umgeben von anderen Kindern, die meistens auch bereits ein Handy hatten – und meistens auch längst entdeckten, was man damit alles machen konnte. Das Mädchen hatte nur ein ganz einfaches Tastenhandy – für irgendwelche Notfälle, die auch seine Eltern nicht ausschließen wollten. Aber weil man mit diesem Handy sonst nichts weiter machen konnte, blieb es auch in den Pausen nur in seiner Schultasche.

Nein, das war nicht richtig gesagt. Selbst wenn man mit diesem Handy auch etwas anderes hätte machen können, oder selbst wenn das Mädchen eines der gleichen Handys gehabt hätte, wie sie die anderen hatten – hätte es damit nicht das gleiche gemacht. Es hätte damit gar nichts gemacht, sondern es hätte auch ein solches Handy in seiner Schultasche liegen lassen.

Woher man das wissen wollte? Das war ganz einfach. Das Mädchen sah ja, dass alle anderen diese Geräte hatten. Aber es wünschte sich gar keines. Es wünschte sich nur, dass seine beste Freundin ihr Handy ein wenig seltener in der Hand haben würde – weil diese dann vor allem damit etwas machte und weniger mit ihr, oder sich über Dinge unterhalten wollte, die man auf dem Handy entdecken konnte, die aber das Mädchen gar nicht interessierten. Aber weil selbst diese beste Freundin von ihrem Handy so fasziniert war, fühlte sich das Mädchen oft einsam – selbst wenn es mit seiner besten Freundin zusammen war.

Am Anfang hatte sie mit ihrer besten Freundin und einigen anderen Mädchen noch Gummitwist gespielt – und Seilhüpfen, Fangen und Verstecken, aber schließlich waren sie die beiden einzigen gewesen, und dann war das Mädchen das ganz Einzige, weil selbst seine beste Freundin das zu ,peinlich’ fand, nur zu zweit zu spielen ... und alleine konnte sie es schließlich nicht spielen.

Und am Anfang war sie mit drei, vier anderen Mädchen fast jeden Nachmittag noch in den nahen Wald gegangen, um dort zu spielen und herumzustromern, von Baumhäusern zu träumen, Prinz und Prinzessin zu spielen – und was Mädchen sonst noch so einfällt. Dann war ein Mädchen nach dem anderen weggeblieben, auch die Freundin, die nicht mehr in den Wald mitkommen mochte, und schließlich ging nur noch das Mädchen selbst in den Wald, noch immer fast jeden Tag.

Das Mädchen wusste eigentlich selbst nicht, was es dort jeden Tag machte – aber es ging einfach seine geliebten Wege entlang, fand sich träumerisch irgendwann abseits des Weges wieder, wie es sich irgendeine Hütte baute, allein mit sich Prinz und Prinzessin spielte, sich irgendwelche Lieder ausdachte oder Meisen, Rotkehlchen und Kraniche beobachtete. Hier im Wald vergaß das Mädchen regelmäßig die Zeit – und fast auch jede Traurigkeit. Nach Hause ging es dann erst, wenn es früh dunkel wurde, wenn es fror oder wenn eine innere Stimme irgendwann an die noch wartenden Hausaufgaben erinnerte.

*

Der Junge hatte sich gerade an sein Handy gewöhnt, als seine Eltern den Eindruck gewannen, dass es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, ihm ein solches Gerät zu geben. Als sie es ihm vorsichtig wieder wegnehmen wollten, machte er einen Riesenaufstand, so dass sie von diesem Vorhaben schnell wieder abließen. Sie begrenzten stattdessen die Zeit, in der er auf dem Handy oder Tablet spielen durfte – aber auch dies wurde ein täglicher Kampf, und die Zeit wurde fast nie eingehalten, sondern immer überschritten. Einige Wochen lang hielten die Eltern dies durch, dann gaben sie immer mehr auf – und am Ende hatte der Junge das Gerät so lange wie vorher, nämlich so lange, wie er wollte ... oder wie das Gerät ihn wollte...

Eines Tages hatten die Eltern des Jungen die Idee, dass es doch vielleicht gut wäre, wenn er ein Musikinstrument lernen würde. Sie schlugen ihm vor, Flöte, Gitarre, Klavier oder welches Instrument auch immer zu lernen, er solle sich einfach eines aussuchen. Aber der Junge wollte gar nicht – nicht einmal Schlagzeug interessierte ihn. Stattdessen fragte er nur: ,Was bringt mir das?’

Das war nicht das erste Mal, dass der Junge diese Frage stellte. Er hatte schon ein paar Wochen vorher damit begonnen. Die Eltern hatten das zunächst nicht beachtet, weil sie meinten, er habe das nur in der Schule aufgeschnappt. Aber als sie den Eindruck gewannen, dass diese Frage ernst gemeint war – und das war genau jetzt der Fall, wo es um das Musikinstrument ging –, da wussten sie keine Antwort. Der Vater setzte zu einer typischen Erwachsenenerklärung an, etwa in der Art: ,Das wird dir Spaß machen, du wirst schon sehen, und außerdem ist es was Sinnvolles.’ Aber der Junge antwortete nur: ,Nein’. ,Wie nein?’, fragte der Vater. ,Ich will nicht.’, erwiderte der Junge. Damit war die Sache erledigt.

*

In der Schule gingen der Junge und das Mädchen in die vierte Klasse, die nun bald zu Ende ging. Die meisten Kinder hatten schon gemerkt, dass Schule langweilig und anstrengend und das Gegenteil von ,Schulschluss’ und Freizeit war. Sie machten, was man eben machen musste – und manchmal auch weniger als das. Das Mädchen aber machte alles gerne. Alle Aufgaben, die die Lehrer verteilten, alle Hausaufgaben, die man bekam, ja sogar Sonderaufgaben, die manche Lehrer sich für sie ausdachten. Auf diese verwendete es sogar eine ganz besondere Mühe, als würde sie sich an der Herausforderung freuen.

Den anderen Kindern fiel erst nach und nach auf, dass sie nicht alle gleich waren. Aber als es ihnen dann auffiel, dass dieses eine Mädchen anders war – jedes Kind ist anders, aber dieses Mädchen war besonders anders –, da reagierten mehrere Kinder, wie es manche Kinder nun einmal tun, besonders in so einem Fall. Besonders die Jungen, aber auch einige Mädchen begannen, das Mädchen zu hänseln. Ihre beste Freundin verteidigte sie, aber sie war auch nicht immer zur Stelle, denn inzwischen hatte sie noch andere Freundinnen.

Immer wenn es gehänselt wurde, verstand das Mädchen die Welt nicht mehr. Warum tat man so etwas? Was gab einem ,Freude’ daran, jemanden zu hänseln? Das Herz des Mädchens hatte unendlich leidvolle Fragen, und keine davon konnte beantwortet werden – hilflos litt und lebte das Mädchen mit seinen Fragen und flüchtete sich noch mehr in den Wald. Seinen Eltern erzählte es nichts davon, diese waren einfach nur stolz auf ihre lerneifrige Tochter und ahnten jedenfalls sehr wenig von dem Leid des Mädchens. Die Vögel im Wald wussten viel mehr von dem, was des Mädchens Herz belastete...

*

Eines Tages hatte der Junge Geburtstag. Er bekam die großen Kopfhörer, die er sich gewünscht hatte. Und er fragte an seinem Geburtstag nach einem eigenen PC, weil einige Jungen in seiner Klasse schon einen hatten. Die Eltern zögerten und verneinten schließlich, dass dies schon ,dran’ sei, worauf der Geburtstag fast in schlechter Laune versank. Der Junge feierte dann mit drei Freunden, aber wenn die Eltern ins Zimmer schauten, waren die Handys fast immer mit dabei – und die Jungen redeten über das, was in den Geräten zu finden war...

Abends erwähnten seine Eltern dann noch das Geschenk der Tante – ein Buch. Der Junge ging kaum darauf ein. ,Lies es mal!’, regte der Vater an. Wieder reagierte der Junge lustlos. ,Das ist bestimmt ein gutes Buch, Tante Hanna schenkt gute Sachen’, meinte auch die Mutter. ,Und was bringt mir das?’, fragte der Junge. Wieder waren die Eltern ratlos...

Am nächsten Tag war er dabei, als einige andere Jungen das Mädchen am Schuleingang hänselten, und er rief eifrig mit ihnen mit: ,Ach – da kommt ja die Streberin wieder! Hallo Streberin!’

Das Mädchen zuckte sichtlich zusammen, dann schaute es ihn, gerade ihn, mit großen, großen Augen an – und kurz spürte er einen feinen Stich in seinem Inneren, aber schon bald vergaß er ihn wieder.

*

An diesem Tag ging das Mädchen in den Wald so traurig wie noch nie. Es war auch in den anderen Pausen immer wieder gehänselt worden – wie wenn eine ansteckende Krankheit sich immer weiter ausbreitete. Ihre beste Freundin stand ihr zuerst tapfer bei, aber vielleicht auch nur ein wenig halbherzig. Und an keinem früheren Tag hatte das Mädchen so viel Leid getragen. Als sie im Wald ankam, sank sie am Fuße ihres Lieblingsbaumes nieder und weinte bitterlich, ihr Gesicht in den Händen verborgen...

Als sie aufblickte, stand ein Engel vor ihr. Es konnte nur ein Engel sein, obwohl sie ihn niemandem hätte beschreiben können – auch hätte ihr sowieso niemand geglaubt. Es war aber einer, sie hatte nicht einen Moment lang Zweifel daran. Auch der Engel hatte große Augen, aber es waren keine Menschenaugen. Und sie waren auch nicht traurig, sondern sie bestanden aus Liebe. Und das Mädchen fühlte etwas sehr, sehr Heißes in sich aufsteigen, aber das war nur die unfassbar staunende Dankbarkeit und ein unsäglicher Trost. Und dann war das Wesen auch schon wieder verschwunden.

Später wusste das Mädchen nicht einmal, wie lange es den Engel gesehen hatte – aber selbst, wenn es nur ein Moment gewesen wäre, wäre dieser eine Moment wertvoller gewesen als hundert Jahre von anderen Momenten. Mit niemandem konnte das Mädchen darüber sprechen, mit niemandem. Aber von da an ging es leichter. Es war, wie wenn alle Hänseleien an ihr abperlten. Sie taten noch weh. Aber sie perlten ab wie klares Wasser an einem Regenmantel. Und die Vögel sangen wieder fröhlich, und das Mädchen verstand, was sie sangen. Es erlebte das Glück der Kreaturen – und seine Liebe zu den Wesen der Welt vertiefte sich weiter.

Nach dem Sommer kamen das Mädchen und der Junge in die fünfte Klasse.

Das Mädchen hatte mit seinen Eltern erst eine Woche bei seiner Oma verbracht, die in einem Örtchen anderthalb Stunden entfernt lebte. Diese Oma besaß ein kleines Häuschen, in dem alles noch unglaublich alt war, weil sie es offenbar bereits von ihren Großeltern geerbt hatte. Es gab sogar noch einen uralten Holzofenherd, der aber nicht mehr benutzt wurde. Es gab eine alte tickende Standuhr, seltsame alte Bilder an der Wand, bei denen man sich alles mögliche vorstellen konnte, alte Decken auf dem Sofa, Stickereien auf kleinen Beistelltischen und tausend andere Dinge, die man nicht alle beschreiben konnte, weil sie allein fast schon ein Buch füllen würden.

Das Mädchen liebte diese Oma über alles und war jedes Mal überglücklich, wenn die Eltern mit ihr zu ihr fuhren. Und je älter es wurde, desto mehr erlebte es, desto mehr verstand es jedenfalls und desto mehr wurde ihm auch bewusst, wie sehr es diese Oma liebte. In den ersten drei Tagen glaubte es, nie glücklicher gewesen zu sein als jetzt. Doch dann erlebte es zum ersten Mal auch etwas anderes bewusst mit: Zwischen Oma und Mama und Papa kam es zu Spannungen, die einmal auch in einen richtigen Streit mündeten. Sie verstand nicht, wie das sein konnte; sie verstand nicht den Grund, sie litt nur entsetzlich unter dem, was geschah, vor ihren Augen. Sie war so geschockt, dass sie nicht darauf achten konnte, wie dies alles zusammenhing.

Aber als sie etwas später mit ihrer Oma allein war, weil ihre Eltern einen Spaziergang machten – wütend, so viel hatte sie mitbekommen – und sie, als sie dazu aufgefordert wurde, mitzukommen, sich verwirrt geweigert hatte, da war es die Oma selbst, die darauf zurückkam.

Erst fühlte das Mädchen sich von den lieben, seltsam wissenden Augen der Oma angeschaut. Dann sagte diese mitfühlend:

„Das war jetzt gar nicht schön, dass Renate und Werner vor deinen Augen wieder anfingen!“

Sie schämte sich noch immer und fragte nur sehr zögernd, leidvoll:

„Was war denn, Oma...?“

Oma war eine schöne Frau, mit ihren weißen, ziemlich langen Haaren, sanft und mutig zugleich. Sie war schon über achtzig, weil sie ihren – des Mädchens – Vater damals sehr spät als letztes Kind bekommen hatte.

„Ach, nichts!“, erwiderte die Oma fast hart. Doch dann fuhr sie sogleich fort: „Es passt ihnen nur alles wieder mal nicht. Es ist eigentlich immer dasselbe: Sie wollen gar nicht hierherkommen. Sie fühlen sich nur verpflichtet – als müssten sie es! Erwarte ich es etwa? Nein! Na gut, wegen dir erwarte, nein, erhoffe ich es schon, aber eigentlich müssten sie gar nicht mehr mitkommen! Wie auch – du bist doch inzwischen ein großes Mädchen! Warum machen sie sich nicht einfach eine schöne Woche und lassen dich allein kommen? Aber ich sage es dir, warum: Werner hätte dann ein schlechtes Gewissen. Er denkt, er muss mich einmal im Jahr doch auch besuchen. Aber weißt du, er ist ein erwachsener Mann, und er muss gar nichts. Ich habe ihn geboren und er lebt sein Leben, und warum sollte er mich besuchen müssen? Seit wann muss man überhaupt etwas? Man muss nur leben und sterben, das ist alles. Aber dieses ganze ... So-tun-als-ob ... das macht mich wahnsinnig!“

Das Mädchen war von diesen Offenbarungen so erschlagen, dass es überhaupt nicht antworten konnte.

Die Oma sah es und sagte mit sehr sanfter, gütiger Stimme:

„Tut mir leid... Das war vielleicht doch viel zu viel für dich... Das habe ich nicht bedacht...“

Nun kam sich das Mädchen merkwürdig klein vor, was es doch nicht mehr sein sollte – und sich auch nicht so fühlte.

„Nein...“, erwiderte sie hilflos. „Es ist nur...“

„Ich weiß schon...“, erwiderte die Oma. „Komm mal her...“

Und dann kam das Mädchen und kuschelte sich an die Oma und fühlte ihren warmen, tröstenden Arm um sich, und es musste überhaupt nichts mehr gesprochen werden. Und das Mädchen fühlte nur noch einen heißen Kloß in seinem Hals, weil es seine Oma so wahnsinnig lieb hatte...

Zwei weitere Wochen verbrachte das Mädchen mit seinen Eltern auf Gran Canaria, was auch schön war, aber es ertappte sich immer wieder dabei, dass es zurück an seine Oma dachte. Es schrieb ihr auch mehrere Postkarten. Und die letzten drei Wochen verbrachte das Mädchen allein zu Hause. Auch jetzt dachte es mehrmals daran, zu seiner Oma zu fahren – aber es wagte nicht, seine Eltern zu fragen. So hatte es zu allen Seiten ein schlechtes Gewissen, sogar sich selbst gegenüber... Aber es gab auch viele glückliche Stunden, wo es einfach nur durch den Wald streifte, allein mit dem Blühen, dem Duft, der Stille, die nur durchzogen war von dem leisen Brummen einer Hummel, dem Zwitschern der Vögel, wenn es nicht zu heiß wurde, dem Sich-Wiegen des Weidenröschens auf den Kahlschlägen im sanften Sommerwind und dem Geheimnis hütender Wesen, die sie vielleicht irgendwann einmal auch gesehen hatte, jetzt aber nicht mehr...

Der Junge fuhr mit seinen Eltern in die Berge. Nach drei Tagen gemeinsamer Wanderungen sträubte er sich immer mehr. Er fand es zu anstrengend. Er fragte auch jetzt wieder: ,Was bringt mir das?’ Und seine Eltern fanden auch jetzt wieder keine Antworten, die ihm diese Frage beantworteten. Sie verwiesen auf die Schönheit der Berge, er aber verwies auf das Anstrengende des Wanderns, ja auf das Langweilige. Er wollte lieber in der Ferienhütte sitzen und an seinem Tablet oder Smartphone spielen – was man auf den Wanderungen nicht einmal bei den Pausen konnte, weil es in den ,blöden Bergen’ keinen ,Empfang’ gab.

Als dann die Schule wieder anfing, fingen für das Mädchen auch die Hänseleien wieder an. Sehr bald gab es auch die ersten Tests, denn die fünfte Klasse war schon etwas anderes als das Bisherige. Der Junge war recht gut in Mathematik, nicht, weil er sich sonderlich Mühe gab mit den Hausaufgaben, sondern weil es ihm bisher immer einfach ,zugefallen’ war, ihm einfach leicht fiel. Er merkte, dass sein Sitznachbar vorsichtig zu ihm hinschielte und von ihm abschrieb – und genoss das Gefühl, wichtig zu sein.

Auch das Mädchen, das ja immer fleißig war, konnte alle Aufgaben ohne jede Schwierigkeit lösen. Und auch sie merkte, dass der neben ihr sitzende Junge versuchte, von ihrem Blatt abzuschreiben. Es war aber einer derer, die sie in den Pausen immer wieder hänselten. Aus einem schmerzlichen Impuls heraus hielt sie unmittelbar den ganzen linken Arm vor ihr Blatt, um es und alles darauf allein und ehrlich Gerechnete zu schützen. Dann aber spürte sie in ihrem eigenen Herzen eine tiefe Verwirrung, etwas kämpfte in ihr, und schließlich ließ sie die Hand sanft sinken und zog auch den Arm möglichst unauffällig wieder weg...

Dieser Junge gehörte nicht mehr zu denen, die bei Schulschluss, wenn sie nach Hause ging, ihr nachriefen: ,Bis morgen, Streber-Lise!’ Oder: ,Tschüss, Schleimi! Hast du heute wieder überall rumgeschleimt?’ Der Nachbarjunge stand immer wieder mit bei diesen anderen Jungen, die so gemein waren, aber er rief nicht mit. Für das Mädchen war es gleich – er stand ja auch da...

Wenn sie so gequält wurde, konnte sie sich danach noch stundenlang selbst quälen, in ihrem eigenen Zimmer oder im Wald, wenn sie ziellos auf den Wegen dahinstreifte. Sie fragte sich dann nicht nur immer wieder, was sie ohnehin nicht verstehen konnte: Wie man so sein konnte? Sondern sie fragte sich tatsächlich auch stunden- und tagelang, ob sie wirklich eine Streberin oder sogar eine Schleimerin war. Aber eine Schleimerin wollte doch vor allem einen guten Eindruck bei den Lehrern und Lehrerinnen machen. Wollte sie das etwa? Ja, vielleicht wollte sie das – aber war das denn die Hauptsache? Machten ihr die einzelnen Fächer nicht auch einfach so Freude? Und wieso taten sie es denn bei den anderen nicht? Wieso nur bei ihr? Weil sie eine Schleimerin war? Und so drehten sich ihre Gedanken ständig im Kreis, bis sie sich irgendwann erlösend zurückzogen und sie endlich nur der liebe Wald wieder umgab oder sie sich in ihrem Zimmer wiederfand und an die Hausaufgaben machte...

Der Junge hatte sich stets bereits zuvor an die Aufgaben gesetzt, sie mehr oder weniger lustlos erledigt und sich dann seinem fast einzigen ,Hobby’ gewidmet: den Bildschirmen. Ohne dass er es merkte – wie soll so ein Junge so etwas auch merken – bestimmten sie zunehmend sein Leben. Es gab so unendlich viele Dinge, die man über diese Bildschirme sehen, erreichen, wissen, ausprobieren, genießen, konsumieren, spielen, anschauen, entdecken, aufsaugen und machen konnte, dass er bei immer mehr Dingen, die nichts damit zu tun hatten, immer früher fragte: ,Und was bringt mir das?’

Seine Eltern fanden, dass er nun alt genug war, im gemeinsamen Leben einige kleine Aufgaben zu erledigen, etwa den Müll, wenn er voll war, hinauszubringen oder kleine Einkäufe zu erledigen. Der Junge verstand sehr gut, dass er sich diesen Pflichten nicht einfach entziehen konnte, aber er übernahm sie lustlos und verstand es, seinen Eltern fast ein schlechtes Gewissen dafür zu machen, dass sie einem Kind überhaupt Pflichten auferlegten.

*

Außerdem gab es in der fünften Klasse Schwimmunterricht. Zwar konnten alle Kinder schon schwimmen, dennoch gehörte es zum Stundenplan. Jeden Donnerstag in der letzten Stunde zog also die Klasse zum örtlichen Stadtbad und die beiden Lehrer versuchten, die Klasse Bahnen schwimmen zu lassen, ohne dass das Ganze in viel Geschrei und Chaos endete. Am schlimmsten fand das Mädchen, sich ausziehen zu müssen, sich in einem Einteiler oder gar Bikini den Blicken aller aussetzen zu müssen. Viele Mädchen, auch sie, bekamen bereits zart Brüste, und sie fand es tief ungerecht, dass Jungen so etwas nicht bekamen – und das nur bei ihr sich alles veränderte.

Das Mädchen spürte die Blicke der Jungen – und sie erlebte mit, wie die Jungen immer wieder kicherten und tuschelten, weil einige Mädchen schon etwas deutlicher Brüste hatten. Sie fand es abgrundtief gemein, dass dies geschah, aber sie war ja wehrlos – wie alle anderen Mädchen preisgegeben. Dass die Jungen von diesen so verletzlich wachsenden Rundungen auch angezogen waren, verstand sie nur ganz leise im hintersten Winkel ihres Bewusstseins... Was sie allerdings nicht verstand, war, wie einige Mädchen damit – mit ihrem Körper und den Reaktionen der Jungen – so selbstverständlich umgehen konnten, als wäre dies gar nicht schlimm. Ja, einige Mädchen kicherten und tuschelten sogar ebenfalls und schienen offenbar nicht das geringste Problem zu haben...

*

Es gab sogar einen Tag, wo das Mädchen über diese Geräte nachdachte – über Tablets, Smartphones und all das. Es war ein warmer Herbsttag, und sie hatte sich wieder am Fuße ihres Lieblingsbaumes niedergelassen, und nun dachte sie nach. Inzwischen hatten alle Mädchen außer ihr ein Smartphone – und die Jungen vermutlich auch alle. Sie hätte sicher auch eines gehabt, haben können, wenn sie es gewollt hätte. Sie hatte aber nicht.

Es war im Grunde nicht einmal wirklich ein Nachdenken, es war eher ein Nachsinnen, was in dem Mädchen vorging. Es stellte sich all die anderen Kinder vor, wie sie immer mit diesen Dingern herumgingen, auf sie starrten, sich über sie unterhielten, dann teilweise noch immer darauf starrend, anstatt sich gegenseitig anschauend; sie stellte sich vor, wie diese anderen Kinder auch zu Hause damit beschäftigt waren, sich vielleicht sogar gegenseitig anriefen, nur um erneut über das zu reden, was sie auf diesen Geräten gesehen hatten und durch sie wussten. Sie sann so viel darüber nach, dass es ihr am Ende vorkam wie ein unendlicher Strom, der sich selbst in den Schwanz biss, dass ihr ganz schwindlig wurde und sie aufhören musste. Sie verstand es ja sowieso nicht...

Das Mädchen verstand nicht, wie man eine Stunde Bildschirme gegen eine einzige Minute hier im Wald tauschen konnte oder je wollen würde. Hier inmitten der vertrauten und doch immer neuen Gerüche, Geräusche, Eindrücke und Regungen des Lebens. Hier, wo die Jahreszeiten unmerklich einander abwechselten und wo jede Jahreszeit wieder neu die schönste war, und wo der Herbst bald wieder die Pilze sprießen lassen würde, wo jeder einzelne Pilz etwas Besonderes war, jeder einzelne Baum, jedes einzelne Kraut, ja sogar jedes heruntergefallene Blatt. Wo man sich so unbeschreiblich wohl fühlte, so geborgen, so glücklich, so aufgehoben, so verbunden mit allem – und stattdessen auf einen Bildschirm starren!?

So verging auch das fünfte Schuljahr.

In den Sommerferien verlebte der Junge drei anstrengende Wochen am Meer, was ihm zwar besser gefiel als die Berge, aber wenn seine Eltern etwas anderes machen wollten, als am Strand zu liegen – wo es sogar auch irgendwann langweilig wurde – stand er immer wieder vor der ihn und vor allem seine Eltern quälenden Frage: ,Was bringt mir das?’

Das Mädchen erlebte mit seinen Eltern eine weitere konfliktreiche Woche bei seiner Oma mit, noch quälender als im Jahr zuvor. Am Ende setzte die Oma durch, dass sie nicht mehr kommen würden, sondern nur noch sie allein schicken sollten...

Die sechste Klasse verging für das Mädchen seltsam ruhig. Sie stellte machtlos fest, dass sie sich von den anderen Mädchen immer mehr unterschied – nicht weil sie sich veränderte, sondern weil die anderen Mädchen immer mehr anders wurden. Die ersten begannen mit Ohrringen und Kettchen, und manche schminkten sich sogar schon vorsichtig die Augen. Sie verstand das alles nicht. Sie fühlte dunkel, dass man das als Mädchen offenbar wollen konnte – aber sie selbst hatte nicht das geringste Bedürfnis danach. Auch nicht nach den ,Mädchenzeitschriften’, die sich mehrere Mädchen jetzt kauften. Sie hatte einmal in eine hineingeschaut.

Auch dort war nur von Schmuck, Stars, Schminke, Freundschaft, ,Anmachen’ und ,erstem Sex’ die Rede. Sie hatte nicht gewusst, warum auch nur eines davon jemanden wirklich interessieren konnte – sie selbst vermisste nur eine echte Freundin, denn ihre beste Freundin hatte sich nun endgültig den anderen Mädchen zugewandt. Sie hatten nicht einmal wirklich darüber gesprochen. Das Ganze verlief so wortlos, dass selbst das unendlich geschmerzt hatte. Und sie hatte das Gefühl, als ob sie nicht wert sei, eine Freundin zu haben. Als ob sie mit einem unsichtbaren ,Fluch’ belegt sei, weil sie nicht den Wunsch hatte, sich zu schminken, Zeitschriften zu kaufen oder über den noch in der Zukunft liegenden ,ersten Sex’ zu tuscheln...

Aber sie konnte sich doch nicht gewaltsam ändern...

Die Jungen wiederum blieben auch sehr ruhig, für die Mädchen ein wenig unsichtbar. Irgendwie zogen sich beide Geschlechter bis zu einem Maximum voneinander zurück – und das, obwohl die Mädchen sich doch offenbar schön zu machen begannen, um gesehen zu werden. Das Mädchen verstand dies nicht, aber sie war dankbar dafür, dass sie nun auch weniger gehänselt wurde. Vielleicht hatte es auch ein wenig damit zu tun, dass die gemeinsame Zeit für viele ohnehin zu Ende gehen würde, denn nicht alle würden auf das sogenannte ,Gymnasium’ wechseln.

Und seltsam verlief dieses Schuljahr auch für den Jungen. Es war, wie wenn sich seine Grundfrage ,Und was bringt mir das’ nun endgültig etablierte, ohne dass man noch groß Aufhebens darum machen musste. Es wurde endgültig eine Art Grundeinstellung von ihm – wie ja auch von den meisten anderen Jungen, mit denen er Kontakt hatte. Alles, was ihm entgegenkam, prüfte er zuerst auf diese Frage hin – und wenn er nicht das Gefühl hatte, es könne ihm etwas ,bringen’, schaltete er auf ,Abwehrhaltung’, so wie man bei einem Computer sozusagen die Schriftart einstellt – oder einen Bildschirmschoner einrichtet. Ein Klick und entweder ,Nein danke’ oder ,Okay, genehmigt’.

*

Als das Mädchen dann in den darauffolgenden Sommerferien – es war gerade zwölf geworden und hatte seine erste Periode bekommen – allein zu seiner Oma fuhr, da waren diese drei Wochen für das Mädchen wie ein Paradies. Es war wunschlos glücklich, und zugleich wurden alle seine Wünsche erfüllt – ohne dass es gewusst hätte, dass es diese Wünsche hatte. Aber nach diesen einundzwanzig Tagen war das Mädchen getröstet, gestärkt, gereift, beschenkt und wie neu getauft...

Dann kam das Gymnasium. Knapp die Hälfte der Klasse blieb erhalten, die andere Hälfte kam nun aus einer anderen Grundschule. Es ergaben sich völlig neue Konstellationen, neue Freundschaften entstanden, neue Cliquen.

Nur das Mädchen sah vor seinen Augen immer mehr eine fremde Welt auftauchen. Die anderen Mädchen entfernten sich von ihr immer mehr, und immer weniger gab es überhaupt andere Mädchen, die auch nur irgendeine Ähnlichkeit mit ihr zu haben schienen. Alles ging in die Richtung jenes einen Stromes, den sie ja schon in der sechsten Klasse zu spüren begonnen hatte und der jetzt alles mitzureißen schien: ,Mädchen werden’.

Wieder einmal saß sie am Fuße ihres Lieblingsbaumes, aber geradezu furchtsam stellte sie fest, dass sogar der Wald ihr ein Stückweit fremd zu werden begann. Was geschah hier? Wohin verschwand das Bisherige, all die Jahre so Geliebte? Sie wollte es doch weiterhin lieben! Und dann wieder die verwirrende Umgebung der anderen Mädchen. War sie etwa kein Mädchen, wenn sie sich nicht schminkte? Wenn sie keine Kettchen trug, Ohrringe, farbige Haargummis oder Armreifen? War sie dann automatisch kein Mädchen? Gehörte sie dann nicht mehr dazu? Aber was war sie dann? Sie fühlte sich doch als Mädchen! Sie fühlte sogar sehr deutlich, dass ein Mädchen das alles nicht machen müsse. Aber warum war sie dann damit so allein?

Und jetzt entzog sich ihr auch noch ihr geliebter Wald? Was hatte sie denn falsch gemacht? Bestrafte auch er sie nun? Weil sie nicht ,Mädchen’ wurde wie alle anderen? Aber würde er denn wie früher ganz zurückkommen, wenn sie so wurde wie alle anderen? Doch sicher nicht? Wieso schien es, dass sie alles verlor, was sie hatte?

Aber hatte ihre geliebte Oma nicht auch davon gesprochen? Hatte sie es vielleicht nur nicht verstanden? Oma hatte