Erinnerungen einer Volljährigen - Holger Niederhausen - E-Book

Erinnerungen einer Volljährigen E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

In der Weihnachtszeit beginnt die achtzehnjährige Naemi ein Tagebuch und blickt darin zurück auf die letzten zweieinhalb Jahre ihrer Liebesbeziehung mit einem viel älteren Mann. Auf diese Weise wird das Tagebuch zu einem berührenden Zeugnis einer einzigartigen Begegnung und einer unvorstellbar reinen Liebe voller Romantik und Magie - mit tiefen Antworten auf die Frage, wie dies überhaupt möglich ist.

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Jugend ist nicht ein Lebensabschnitt,

Jugend ist ein Geisteszustand.

(Albert Schweitzer)

Nun bin ich also achtzehn. Achtzehn Jahre alt geworden... Und plötzlich also erwachsen. Das fühlt sich merkwürdig an – denn man merkt keinen Unterschied. Und doch ist da ein Unterschied. Der Unterschied besteht darin, dass einen plötzlich alle akzeptieren. Als erwachsen. Als ob es von diesem Tag, dieser Minute, dieser Sekunde abhinge. Aber es ist so. Die Menschen brauchen diese Grenzen. ,Jetzt ist die kleine Naemi erwachsen. Eben war sie noch klein und unerwachsen, jetzt ist sie es, und wir dürfen nicht mehr ,klein’ sagen. Wir entschuldigen uns bei ihr, sie ist nicht mehr klein.’

Das ist so seltsam. Die Menschen haben keine Ahnung, dass die Grenzen ganz woanders liegen – oder sie wollen trotzdem ihre festen Grenzen. ,Du kannst ja machen, was du willst, aber laut diesem Formular hier bist du zu diesem Zeitpunkt noch nicht erwachsen. Aber, warte, ich sehe gerade, es dauert nicht mehr lang, sogar nur noch fünf Minuten. Also gut, wir warten diese fünf Minuten, und dann bist du erwachsen. Dann haben wir für dich keine Grenzen mehr.’ Es ist alles so absurd. Aber gut, jetzt habe ich diesen Sprung gemacht. Auf einmal bin ich also ,erwachsen’. Auch vor den Augen der Menschheit.

Wolf hat mir zu meinem achtzehnten Geburtstag dieses Tagebuch geschenkt. Er hat nichts dazu gesagt, nur gelächelt. Es hat einen wunderschönen lederartigen Einband mit Pflanzenmotiven, rankenartig gewunden. Vielleicht ist es sogar echtes Leder. Ich liebe es jedenfalls und habe ihn vor Freude umarmt und geküsst dafür. Er wusste, dass ich früher Tagebuch geschrieben habe. Dann ist es etwas verlorengegangen – auch, weil ich gar keine Zeit mehr zum Schreiben hatte. Es ist schade, dass man nicht für alles Zeit haben kann. Aber, jedenfalls wusste ich sofort, dass ich wieder anfangen würde, mit diesem Buch. Und so ist es ja auch, nun tue ich es ja gerade. Aber – es wird kein gewöhnliches Tagebuch werden. Denn es wird ein Erinnerungsbuch werden. Ich will irgendwie wenigstens ein bisschen von den letzten Jahren nachholen, die ich nicht festhalten konnte. Nicht auf dem Papier. In meiner Seele schon. O, wie sehr habe ich sie in meiner Seele!

Es ist gut, dass ich gerade jetzt anfangen kann, etwas davon aufzuschreiben, denn die Weihnachtszeit eignet sich so wunderbar dafür! Ja, ich habe fast zu Weihnachten Geburtstag, genauer gesagt, am achtundzwanzigsten Dezember. Früher fand ich das immer schlimm. Ein ganzes Jahr lang darauf warten – und dann zu Weihnachten und wenige Tage später zum Geburtstag Geschenke zu bekommen. Aber seit ich Wolf kenne, finde ich es wunderbar. Denn bei ihm gibt es zu Weihnachten keine Geschenke. Dafür ist der Geburtstag so besonders, denn er liegt in der Weihnachtszeit, die für mich immer mehr besonders wurde, seit ich Wolf kenne.

Ich weiß noch, wie er, als wir uns kennenlernten, von den Engeln sprach – das war im Mai –, und als ich danach fragte, sagte er: Darüber werden wir einmal ganz in Ruhe sprechen, vielleicht zu Weihnachten. Er wusste damals noch nicht, dass ich in diesen Tagen auch Geburtstag habe. Na ja, von den Engeln also! Und dann hat er das tatsächlich getan. Er hat zu Weihnachten zum ersten Mal wirklich von den Engeln gesprochen. Und seitdem weiß ich, dass die Engel mit den Wegen des Schicksals zu tun haben. Da war mir natürlich alles klar. Da war mir klar, dass es die Engel gibt – denn die Wege des Schicksals habe ich ja schon vorher in so unglaublicher Weise erfahren. Es gibt nichts, was unglaublicher wäre.

Ja, ich lebe, seit ich fünfzehn bin, genauer gesagt fünfzehn Jahre und fünfeinhalb Monate, mit einem Mann zusammen, der dreißig Jahre älter ist als ich. Und ich kann nicht die Leute zählen, die mich deswegen schon gefragt haben, die uns angeguckt haben, böse, empört, spöttisch, irritiert und was weiß ich noch alles. Immer verstehen es die Leute nicht – was ich verstehen kann –, und immer – was ich nicht verstehen kann – denken sie dann, sie wüssten, was man darüber denken muss oder kann oder sollte. Als wenn es nicht nur meine Sache wäre! Oder unsere. Aber es geht ja immer darum, dass ich viel zu jung wäre, ein Opfer, ein naives Ding, ein was-weiß-ich. Es geht also nie darum, ob es meine Sache ist – was es aber definitiv ist. Wessen denn sonst?

Ich kann also nicht verstehen, dass Leute denken, es wäre ihre Sache – es wäre auch nur ihre Sache, etwas darüber zu denken. Natürlich können sie darüber denken, was sie wollen. Nur wissen sie nicht, wie hässlich sie dann sind. Wenn sie über etwas irgendetwas denken, was gar nicht ihre Sache ist. Absolut nicht. Wie könnte es ihre Sache sein, ob ich mit Wolf zusammen bin?

Ich meine – auch da ist wieder diese unsichtbare Grenze. Die sagt: ‚Du bist ein Mädchen, und das ist ein Mann. Wäre es ein junger Mann, ja, dann könnten wir darüber reden. Ich meine, jetzt bist du ... wie alt? Achtzehn? Gratuliere. Ja, dann, warte mal, wir holen mal eben die Tabelle. Also warte, dann noch die Brille. Und, ja, also hier steht es – siehst du? Hier. Hier steht, dass, wenn du achtzehn bist, dass es dann gerade noch normal ist, wenn du einen Mann von dreiundzwanzigeinhalb Jahren kennenlernst und dich entscheidest, mit ihm zusammenzusein. Alles andere ist nicht normal. Nicht mehr normal. Also unnormal. Also müssen wir darüber denken. Wir müssen denken: Ach, wie unnormal ist das denn! Das arme Mädchen, das arme naive Ding. Und dieser Mann erst! Wie pervers ist der denn? Und, liebe Naemi, das müssen wir leider denken – wir müssen! Wenn du das nicht verstehst, bist du immer noch klein, obwohl du erwachsen bist. Sieh hier – diese Tabelle, da steht es drin. Soll ich dir eine Kopie machen?’

Das ist es, was ich mein Leben lang gehasst habe. Das und nichts anderes. Dass andere Leute über einen bestimmen können – und sei es nur, indem sie denken, sie wüssten, was richtig ist, und andere nicht. Sie können es nicht! Jeder kann mit jedem zusammen sein – warum sollten je Andere darüber bestimmen können? Das wäre genauso wie in diesen schlimmen Science-fiction-Filmen, wo auch irgendwelche Menschen über alle anderen bestimmen – was sie tun dürfen, was sie essen dürfen, was sie denken dürfen, mit wem sie zusammen sein dürfen. Genauso verhalten sich alle, die uns entgegenkommen und denen die Augen herausfallen, weil sie den Altersunterschied sehen. Und ich denke, manchen Männern fallen die Augen heraus, weil Wolf etwas hat, was sie auch gerne hätten – nämlich mich.

Das Problem ist nur, dass niemand von denen versteht, was Wolf noch hat – wodurch er mich überhaupt nur haben konnte, weil ich mich nämlich für ihn entschieden habe. Aber wie gesagt, das alles geht niemanden etwas an. Und deswegen ist es so krass, so unglaublich, dass jeder trotzdem immer wieder etwas dabei denkt. Können die Leute nicht mal aufhören zu denken? Oder ein einziges Mal denken: Es ist in Ordnung. Da ist ein Mädchen, und das ist freiwillig bei diesem Mann, und es wird seine Gründe haben, und es ist in Ordnung. Und mit in Ordnung meine ich in Ordnung. Völlig in Ordnung. Ohne jede Ausnahme. Genauso in Ordnung wie achtzehn plus dreiundzwanzigeinhalb.

Aber wahrscheinlich wird man auf diese Welt noch lange warten müssen. Vielleicht werde ich schon lange tot sein, bis es diese Welt gibt. Wo die Menschen sich so in Ruhe lassen und akzeptieren, dass ein Mädchen mit einem Mann zusammen sein kann, ,der ihr Vater sein könnte’. Wo diese Art von Einwänden völlig aufhört. Ich meine, was hat man nicht schon alles akzeptiert, mehr oder weniger? Dass Männer mit Männern zusammen sind, Frauen mit Frauen, Mädchen mit Mädchen. Aber nicht Männer mit Mädchen, Mädchen mit Männern. Das ist nicht akzeptabel. Wer sagt das? Ich meine wirklich: Wer sagt das? Wo steht das? Wer legt das fest? Wer? Die Männer? Die Frauen? Die Mädchen? Das will ich mal wissen. Es gibt niemanden, der das festlegt – und doch denken alle das Gleiche. Ist das nicht merkwürdig?

Natürlich haben Wolf und ich oft darüber gesprochen. Deswegen weiß ich so ungefähr, wie das kommt. Ich weiß es sogar in verschiedener Hinsicht. Aber das würde hier zu weit führen. Ein Punkt ist jedenfalls, dass es das Gleiche ist wie beim Mobbing. Die Menschen brauchen einfach etwas, worüber sie sich aufregen können; was sie verurteilen können. Sie brauchen das Fremde, das nicht Akzeptierte, um sich selbst akzeptieren zu können. ,Seht her, ich bin ein Mensch, ich weiß, was richtig und gut ist – und du bist nicht richtig, und weil ich das weiß, bin ich richtig...’

Die ganzen Verbote sind so in den Köpfen drin, dass kein Mensch sie da wieder herauskriegt. Ein Mann und ein Mädchen, das ist verboten – und zwar egal was die beiden selbst darüber denken. Es ist aus Prinzip verboten. Einfach, weil es dieses Prinzip gibt – frag uns doch nicht, woher das kommt. Es gibt es, und damit Schluss. Sonst wäre es ja kein Prinzip.

Aber ich habe schon damals, als ich nicht zu der Party durfte, kurz bevor ich Wolf kennenlernte, geschrieben, was ich darüber denke. Prinzipien sind eigentlich verzauberte Monster. Sie sind zu Monstern geworden, aber nur, weil man sie zu Prinzipien gemacht hat. In Wirklichkeit sind es Pegasusse oder so etwas, die frei sein sollten, fliegen sollten, die die Menschen freilassen sollten – ich meine: die Prinzipien sollten die Menschen freilassen –, um so auch selbst erlöst zu werden. Und ich habe damals gesagt: Ich werde nie eure wahre Gestalt vergessen. Ich werde mich nicht von euch reiten lassen und glauben, ich würde euch reiten, sondern ich werde immer wissen, wer ihr in Wahrheit seid, und werde euch helfen, erlöst zu werden. Nun ... ich weiß nicht, wie ich das tun kann. Aber ich denke, einfach schon dadurch, dass ich mit Wolf zusammen bin, wird dieses eine Prinzip ein Stück weit befreit. Die anderen Menschen sind von ihm noch immer besessen, aber durch mich sieht es seine wahre Gestalt, nämlich, dass es kein hässliches, zwingendes Prinzip ist, sondern dass es die Menschen auch freilassen könnte. Und vielleicht tut es das eines Tages ... auch durch mich und vielleicht auch durch andere Mädchen.

Damit habe ich ja schon einiges gesagt. Aber dadurch, dass ich damit gleich erst einmal anfangen musste, zeigt sich ja schon, wie mächtig dieses Prinzip heute noch ist. Es hat mir sogar den Anfang meines Tagebuchs aufgedrängt...

Die Menschen wissen nichts davon, dass sich die Wege von zwei Menschen von Anfang an aufeinander zubewegen können. So sehr, dass der eine von beiden eigentlich schon nach dem anderen sucht, bevor dieser überhaupt geboren ist. Und dass er dann noch immer Jahre um Jahre warten muss, bis dieser alt genug ist. Und wie können die anderen Menschen glauben, er sei noch nicht alt genug, wenn dieser andere schon so lange gewartet und gesucht hat? Und dann treffen sie sich in einem einzigen Augenblick, was nur möglich ist, wenn tausend andere Dinge vorher passiert sind und genau so und nicht anders – und sie können sich auch nur deshalb kennenlernen, weil sonst das Mädchen weggelaufen wäre, und das ist es ja auch, aber es ist wiedergekommen.

Selbst mein Papa, der so unglaublich dagegen war, hat mitgeholfen, weil er mir die Party verboten hatte. Sonst wäre es so nicht passiert! Also mir kann keiner erzählen, dass es alles Zufall gewesen wäre. Ich weiß nicht, ob es Zufall gibt – hier jedenfalls gab es ihn nicht. Wenn auch nur etwas zufällig anders gewesen wäre, wären wir uns nie begegnet. Es musste alles so sein, wie es war, schon Jahre vorher... Ich meine, vielleicht hätten die Engel noch andere Wege gefunden, uns trotzdem zusammenzubringen. Ausmalen möchte ich es mir nicht – es hätte zu viel schiefgehen können...

Ach, mein lieber Papa! Wie lange hat er gebraucht, um es verstehen zu können! Wie sehr wäre es fast alles völlig auseinandergegangen zwischen uns. Wie sehr habe ich schon geglaubt, ich hätte ihn völlig verloren, ich wäre schon mit fünfzehneinhalb erwachsen geworden, weil ich keinen Papa mehr hatte, nur noch einen herumwütenden, schreienden, drohenden Mann, den ich überhaupt nicht mehr als meinen Papa wiedererkennen konnte. Wir waren schon ganz auseinander, und dann war es Wolf gewesen, der uns gerettet hat – meinen Papa und mich. Ausgerechnet er! Er, den mein Vater so gehasst hat, obwohl er ihn überhaupt nicht kannte.

Wolf war es, der, als ich mit meinem Vater schon abgeschlossen hatte, so von ihm sprach – von dem, was ein Vater ist und was er alles tut und getan hat –, dass ich weinen musste. Ich musste wirklich weinen, ohne Ende, ich weiß es noch heute so, als wäre es erst gerade eben gewesen. Und das hat Wolf gemacht!

Und dann habe ich meinem Vater eine einzige Frage gestellt, nämlich, warum er mich nicht mehr liebhat, und dann hat es nur wenige Minuten gedauert, und wir lagen uns beide weinend in den Armen – und von da an war alles anders, von da an hatte ich meinen Papa wieder... Und ich meine, er hat noch immer Monate gebraucht, bis er begreifen konnte, dass es wirklich Liebe war, und ich glaube, er akzeptiert Wolf bis heute noch nicht, aber als ich siebzehn war, hat er es erlaubt, dass ich zu Wolf ziehe. Das hätte er nicht tun müssen. Er hätte bis achtzehn warten können. Aber er hat erlebt, dass es mir für immer ernst damit sein wird, und er hat nicht auf seinem Recht bestanden, nur bis dahin, und dafür liebe ich ihn, meinen Papa. Er ist nicht nach der Tabelle gegangen. Am Ende nicht mehr.

Wenn ich daran denke, dass er am Anfang noch gedroht hatte, Wolf ins Gefängnis zu bringen, weil es diesen Paragraphen mit der eventuell mangelnden ,Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung’ gibt! Wolf musste mir das alles erklären und auch, dass ich sehr wohl die Fähigkeit hatte, weil mir eben alles sehr klar war und ich nichts anderes wollte als das, was ich wollte. Aber ich glaube, diese Fähigkeit sprechen mir die Blicke, die uns begegnen, auch heute noch immer wieder ab, weil sie es nicht glauben. Oder sie glauben es vielleicht, aber sie wollen selbst bestimmen, mit wem ich ein sexuelles Verhältnis eingehe. Das ist es eigentlich! Die Leute haben ihre Tabellen im Kopf und schütteln bedenklich diesen Kopf, in dem die Tabelle ist, und sagen: ,Tststs... liebes Kind, so geht das aber nicht. Du hast schön sexuell aktiv zu sein mit einem Mann, den wir dir vorgeben. Wir bestimmen nach wie vor über deine Sexualität, auch wenn du jetzt achtzehn geworden bist.’ Es ist eigentlich unglaublich, wie sehr diese Blicke ins intime Privatleben gehen, wenn man es einmal genau betrachtet!

Dabei wissen diese Menschen nicht einmal, was wir tun. Sie sehen uns nur – sie sehen nur, dass wir zusammen sind, und das reicht schon. Wie absurd ist das denn? Sie wissen nicht, ob wir überhaupt etwas machen, wenn wir zu Hause und unbeobachtet in unseren eigenen vier Wänden sind. Sie wissen nicht, ob wir uns vielleicht nur zärtlich küssen oder streicheln, aber mit Sicherheit wäre ihnen auch schon das zuviel. Ich kann das nicht begreifen! Ich kann nicht begreifen, wie Menschen dahin kommen können, zu beurteilen, was andere Menschen dürfen und was nicht. Dass ein Mann kein Mädchen streicheln darf, dass ein Mädchen keinen Mann streicheln darf, dass es auch dafür Tabellen gibt, Verbote, Gedanken, die aus den Blicken das und nichts anderes sagen.

Und ich glaube, den Leuten ist überhaupt nicht klar, was sie da tun. Sie begreifen es selbst nicht einmal ansatzweise. Sie wissen überhaupt nicht, dass es in ihren Köpfen Tabellen gibt und dass sie nicht das Recht haben, andere Menschen zu beurteilen und nach ihren Tabellen mit ihren Blicken ,tststs...’ zu sagen und sich im Kopf auszumalen, was wir noch alles machen könnten, und dass schon das bloße Zusammensein auf der Straße ein Verbrechen ist, viel mehr aber noch das, was wir hinter verschlossenen Türen machen könnten. Wie können Menschen so sein!? Wie können sie nicht bei dem bleiben, was sie hinter verschlossenen Türen machen, und alles andere anderen überlassen, nämlich uns?

Das müsste man in der Schule lernen. Man müsste die Blicke erziehen! Aber dabei lernt man das doch sogar schon. Man lernt Toleranz, Verständnis für andere, von früh bis spät lernt man das. Und warum wendet man es dann nicht an? Warum wendet man es da, in diesem konkreten Fall, nicht an?

Weil man neidisch ist? Der Mann auf Wolf? Und die Frau? Worauf sind die Frauen neidisch, die so gucken? Vielleicht auch darauf, dass sie nie gemacht haben, was sie eigentlich wollten? Und deswegen verurteilt man die anderen? Weil sie es einfach gemacht haben? Dabei kann doch jeder machen, was er will. Ich verstehe diese Blicke einfach nicht. Letztlich verurteilen sie ja fast alle Wolf, mich schon viel weniger. Aber wenn ihn jemand verurteilen darf, dann doch ich? Und warum sollte ich das tun? Ich meine, ich komme immer wieder an denselben Punkt: Warum überlassen die Leute es nicht mir – mir und uns?

Man kann in der Schule noch so sehr über Toleranz reden, wenn man nicht begreift, was es ist. Und es bedeutet nichts anderes als: Ich darf nicht glauben, zu wissen, was gut und richtig ist und was nicht. Ich darf es zwar glauben, aber wenn mir etwas anderes begegnet, dann muss ich es ihm überlassen, das zu tun, was diese Menschen für richtig halten. Ich darf einfach nicht über Andere urteilen! Das ist Toleranz, das und nichts anderes.

Wenn ich bloß sage ,ich toleriere es’, aber urteile doch – das ist keine wirkliche Toleranz. Dann hätte man nämlich genau diese ganzen Blicke, die in Wirklichkeit sagen: ,Ich toleriere es eigentlich nicht.’ Wie sollte das dann Toleranz sein? Ist es etwa Toleranz, wenn man mich oder Wolf gerade so nicht ins Gefängnis steckt? Das sagen die Blicke nämlich fast! Da kann man ja gleich sagen: ,Also wenn Hitler das gesehen hätte...’ Die Leute haben ihren eigenen Hitler im Kopf. Nämlich irgendetwas, was über den anderen bestimmen will, ganz und gar. Sie wollen nicht glauben, dass sie das gar nicht dürfen, nicht mal mit ihren Blicken. Sie wollen nicht glauben, wieviel das eine mit dem anderen zu tun hat.

Und dann gibt es die Engel unter den Menschen. Man könnte ja meinen, dass die Blicke der Leute immer schlimmer werden, je älter sie werden, weil es eben früher alles immer noch strenger war. Aber gerade in Wolfs Haus lebt eine alte Frau, die das Gegenteil beweist. Auch in seinem Haus haben viele sehr, sehr komisch geguckt, als sie es mitbekamen – also uns. Aber diese Frau nicht. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt jemals komisch gucken kann. Ich glaube, sie kann alles verstehen – alles, was man eben verstehen könnte, wenn man es nur versuchen würde.

Und so habe ich mich einmal mit ihr unterhalten, und natürlich kam das Gespräch dann auch auf diese Frage, und ich habe sie gefragt: ,Denken Sie denn gar nichts Komisches über uns?’ – ,Und sie sagte: Ach, Kindchen, ich sehe doch, wie es mit euch ist. Es ist schon alles in der Ordnung...’ – In der Ordnung, sagte sie! Das bedeutet soviel wie in Ordnung. Oder sogar noch mehr als das. Und ich fragte sie: ,Wieso sehen Sie das und andere nicht?’ Und sie sagte: ,Die anderen sehen nicht mit dem Herzen.’ Das ist es nämlich!

Und ich fragte sie ganz ehrlich: ,Stört Sie der Altersunterschied nicht?’ Und da erzählte sie von den Altersunterschieden früher, und dass es da ganz egal war, wie alt das Mädchen war, und dass das heute ganz anders ist. Aber dass es heute wie damals eigentlich nur darauf ankam, dass man einander wirklich lieben würde, und das würde sie ja sehen...

Eine bessere Antwort kann man eigentlich gar nicht geben! Wenn zwei Herzen sich lieben, dann sieht man das ebenfalls mit dem Herzen – und dann ist doch alles in der Ordnung. Ich meine, welche Ordnung sollte es denn noch geben als die der Liebe? Es kann keine andere Ordnung geben. Höchstens noch die des Kopfes. Da sind dann die Tabellen. Aber das ist keine Liebe mehr! Das sind Tabellen, böse Blicke und ein Mangel an Liebe. Das ist nicht in Ordnung. Das ist nicht in der Ordnung der Liebe – und deswegen falsch.

Seitdem habe ich fast keinen Menschen so gern gehabt wie diese alte Frau – außer Wolf und einige wenige andere. Sie hat es verstanden!

Ich schreibe morgen weiter...

Ich will dieses wunderschöne Tagebuch gar nicht weiter mit negativen Gedanken belasten. Nach dem, was ich gestern von der alten Frau schrieb, ist eigentlich auch nichts mehr weiter darüber zu sagen.

Nur vielleicht, dass es mich schon enttäuscht, wie selbst mir nahestehende Menschen darüber dachten und manchmal noch immer denken. Ich meine, ich war schon immer eher eine Einzelgängerin. Aber als ich in der zehnten Klasse Wolf kennenlernte, war ich mit einem anderen Mädchen locker befreundet. Sie hieß Sophia. Und sie ging dann auf Abstand, unsere Bekanntschaft zerbrach. Dabei bedeutet ihr Name Weisheit! Offenbar hatte sie Angst davor. Das, was ,man’ darüber dachte, war ihr zu mächtig – und sie konnte nicht etwas anderes darüber denken. Wenn doch nur die alte Frau auch ihre Nachbarin gewesen wäre...

An der Schule zog es auch große Kreise. Ich weiß nicht, wie viele mich auch dort gefragt haben, manche immer wieder. Und manche haben mich eben wirklich auch verspottet. Das ging so eine Zeitlang, bis es sich verlief. Er hätte auch anders kommen können. Wahrscheinlich war es nur deshalb nicht der Fall, weil die Jungen mich selbst hübsch fanden. In der Tat hat mich das glaube ich gerettet. So lebte an unserer Schule doch ziemlich viel Toleranz – viel mehr als in der äußeren, übrigen Welt. Da machte mein Aussehen die Blicke eher noch böser...

Und ich meine, gerade das werfen sie Wolf ja vor – dass er sich ein schönes Mädchen geschnappt hat. Sogar der Name stimmt dann auf einmal: Der Wolf und das Rotkäppchen. Nur dass das Rotkäppchen vom Wolf geschnappt werden wollte! Aber sie wissen gar nicht, wie Wolf eigentlich ist – und auch der Wolf, der nämlich ein friedliches, sehr soziales Tier ist.

Es ist völlig klar, dass Wolf sich auch in mein Aussehen verliebt hat. Das hat er nie abgestritten. Aber alle denken immer, das wäre alles gewesen. Sie übersehen, dass Rotkäppchen mehr war als nur ein schönes Mädchen. Ich habe ja selbst lange gebraucht, um es zu verstehen. Immer wieder sprach er davon – und es war mir immer zuviel, ich glaubte jedes Mal, dass er maßlos übertreibe; aber ich sah, dass er es so meinte! Und irgendwann musste ich einfach akzeptieren, dass es so war. Dass er das sah – und dass er etwas sah, was da war. Ich habe es mir damit wirklich nicht einfach gemacht. Ich habe immer wieder gestaunt, was er da sah...

Also die Leute gehen nur nach dem Äußeren. Sie sehen ein hübsches Mädchen – und sie sind neidisch. Das ist alles. Neidisch auf Wolf. Der, der das Rotkäppchen gefressen hat. Sie durften es nicht, aber er durfte.

Aber was sie nicht sehen, ist, wie sehr der Wolf das Rotkäppchen leben ließ – ja, sogar weglaufen. Wie sehr er gar nichts anderes getan hatte, als zu sagen: Ich liebe dich... Ja, genau so war es. Er hat im Prinzip nichts anderes getan, als dies zu sagen: Ich liebe dich. Was kann ich tun, um deine Liebe zu gewinnen? Nicht mit diesen Worten, aber genau so. Und das – das und nichts anderes hat dem Wolf die Liebe des Rotkäppchens gewonnen. Dass er nichts tat – wirklich und buchstäblich nichts. Er tat nichts, als zu zeigen, was für ein wunderschönes Tier ein Wolf eigentlich ist. Äußerlich hässlich, bedrohlich, aber nur für die äußeren Augen. Innerlich aber das schönste Tier überhaupt. Man könnte darüber ein völlig neues Märchen schreiben.

Wolf ist wirklich das Schaf im Wolfspelz – äußerlich Wolf, weil er scheinbar schon viel zu alt ist, aber innerlich ein Mensch, den ich so nie wieder gefunden habe. Ich bin so froh, dass die kleine Naemi nur ein- oder zweimal weggelaufen ist – aber dass sie immer wiedergekommen ist und dass sie am Ende geblieben ist. Geblieben, weil sie gemerkt hat, was los ist. Nämlich, dass sie gar nicht anders konnte, als sich schließlich auch in ihn zu verlieben. Arme, kleine Naemi – bis sie das begriffen hatte! Aber das gehört nach wie vor zu den schönsten Tagen und Wochen meines Lebens. Diese unglaublichen Augenblicke, dieses absolute Märchenreich.

Der Moment, wo er mich das erste Mal in den Arm genommen hat – wohlgemerkt: weil ich es wollte. Wo er so zaghaft und ängstlich war, wieder etwas falsch zu machen, und wo ich ihm sagen musste: Nein, richtig, nimm mich bitte richtig in den Arm... Ich weiß nicht, wie viele Menschen das haben, mit ihren gleichaltrigen Partnern, ich wünsche es jedem, ich hoffe, dass es viele haben – so wie ich.

Dieses absolute Glück. Immer wieder. Jeden Tag. Und immer anders.

Ich glaube, ich bin schon lange erwachsen. Wahrscheinlich hat Wolf das Ganze absolut beschleunigt. Ich meine, nicht nur dadurch, dass wir dann miteinander geschlafen haben. Einfach auch durch sein Alter. Durch das, worüber wir sprachen und sprechen, durch das, war er tat und tut, was er eben einfach ist. Er ist ein Mann, ein sehr reifer und eigentlich auch sehr weiser Mann. Ich kenne auch niemanden, der sich mehr Fragen stellt als er. Oder gestellt hat. Weiser als er ist vielleicht höchstens die alte Frau, die hier bei ihm im ersten Stock wohnt.