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Der Deutsche Idealismus, vorbereitet durch Lessing, Herder, Kant und die Spinoza-Renaissance, war das leuchtendste Ereignis der europäischen Geistesgeschichte. Innerhalb weniger Jahre strahlte hier eine Geistigkeit auf, die bis heute ihresgleichen sucht: Goethe, Schiller, Fichte, Novalis, Schelling, Hegel. Dieser umfassende Band macht erlebbar, wie damals die Frage nach dem tiefsten Wesen des Menschen aufgeworfen wurde - und wie sehr diese heute verschüttet ist.
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Seitenzahl: 1040
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Einleitung
Begriff und Bedeutung
Die Vorgeschichte
Descartes
Spinoza
Leibniz
Sturm und Drang
Der junge Goethe und Spinoza
Lessing
Christentum zwischen Empfindsamkeit und Intellekt
,
Die Erziehung des Menschengeschlechts
’
Herder: ,Ideen zur Philosophie...’
Die Spinoza-Renaissance
Das Lessing-Gespräch
Herder und Goethe
Kant
,
Kritik der reinen Vernunft’
,
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten’
,
Kritik der Urteilskraft’
Goethe
Goethe als Wissenschaftler
Die Urpflanze
Methodische Schriften
Goethe und Du Bois-Reymond
Goethes Geistesart
Goethes Optik
Natur und Mensch
Jena
Schiller
,
Philosophie der Physiologie
’
,
Philosophische Briefe’
,
Die Räuber’ und Oden an ,Laura’
,
Die Aufgabe des Theaters’
,
Die Götter Griechenlands’ und ,Die Künstler’
Antrittsvorlesung in Jena
Wende zur Kunst
,
Über Anmut und Würde’
Freundschaft mit Goethe
,
Briefe über die ästhetische Erziehung’
,
Über naive und sentimentalische Dichtung’
,
Das Mädchen aus der Fremde’ und ,Würde der Frauen’
Xenien und Balladen
Deutsche Größe – Idealismus
Fichte
,
Zurückforderung der Denkfreiheit...’
,
Beitrag zur Berichtigung der Urteile...’
,
Über die Bestimmung des Gelehrten’
Die Wissenschaftslehre
Intellektuelle Anschauung
,
Die Bestimmung des Menschen
’
,
Der geschlossene Handelsstaat’
,
Reden an die deutsche Nation’
Herder: Humanität
Novalis
Sophie von Kühn
Fichte-Studien
Sophies Tod
,
Blütenstaub’
,
Glauben und Liebe’
Bergakademie und Chiffren der Natur
Magischer Idealismus
,
Die Lehrlinge zu Sais’
,
Geistliche Lieder’
,
Die Christenheit oder Europa’
,
Hymnen an die Nacht’
,
Heinrich von Ofterdingen’
Krankheit, Tod und Wesen
Schelling
Die ,Ichschrift’
Schöpferische Natur und absolutes Wollen
,
Ideen zu einer Philosophie der Natur’
,
Von der Weltseele’
Entwurf eines Systems der Naturphilosophie
,
System des transzendentalen Idealismus’
Identitätsphilosophie und das Sein
,
Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft’
Hegel
,
Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems’
Goethe und die Entwicklung der Logik
,
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie’
,
Phänomenologie des Geistes’
,
Wissenschaft der Logik’
,
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften’
Die Eule der Minerva
Die Antrittsvorlesung in Berlin
,
Wer ein System glaubt...’
Der Staat als Gipfel
,
Philosophie der Geschichte’
Nachwort
Literatur
Register
Der Deutsche Idealismus – den meisten Menschen heute nicht einmal mehr dem Wort nach bekannt, geschweige denn, seinem Inhalt oder gar Wesen nach – ist gleichwohl einer der erstaunlichsten Bewusstseinsimpulse gewesen, die sich in der Menschheit je ereignet haben. Vergleichbar ist ihm vielleicht nur noch das allmähliche Aufleuchten eines friedvollen, auch die Natur einschließenden Menschheitsbewusstseins in unserer Zeit in immer mehr Menschen.
Angesichts tiefgreifendster Krisen ist dieses Zunehmen eines allein wahrhaft Zukunft ermöglichenden Bewusstseins verständlich. Und mit Bangen fragt man sich, ob dieser Prozess noch rechtzeitig genug zu Veränderungen führen wird, die das menschliche Leben in einer Weise verändern können, wie es noch nie dagewesen ist – hin zu einer tief menschlichen Welt voller Beziehungen, gegenseitiger Sorge, für die gesamte belebte und sogar unbelebte Welt. Oder ob eine größtenteils blind bleibende Menschheit in die bereits sichtbaren und klaffenden Abgründe hineinrasen wird, alles rücksichtslos und unvermeidlich mit sich reißend...
Der Deutsche Idealismus jedoch leuchtete auf ohne eine solche offenbare, immer drängendere Notlage des ganzen Planeten. Dieser Impuls fast ,aus dem Nichts’ ist darum um so erstaunlicher. Er war keine Reaktion – er war ein regelrecht voraussetzungsloses Suchen des menschlichen Geistes nach sich selbst – nach dem eigenen Wesen und dem Wesen von allem. Voraussetzung war offensichtlich allein, dass die Menschheitsgeschichte an einem Punkt angekommen war, wo dieses welthistorische Geschehen möglich geworden war – und sich ereignete.
Wer diese Jahrzehnte der menschlichen Bewusstseinsgeschichte und ihre Vertreter aus bornierter Blindheit heraus nur als ,haltlose Spekulationen’ oder ähnliches abtun will, hat nicht das Geringste verstanden – auch von sich selbst nicht. Nochmals: Es ging um ein Ringen des menschlichen Wesens mit seiner innersten Natur, um das, was man schon immer die letzten Fragen nannte. Wer dies geringschätzt, der offenbart nur, wie tief der menschliche Geist seitdem wieder gesunken ist – bis hin zu einem erschütternden Desinteresse am eigenen Wesen, in eine demütigende Sklavenschaft materialistischer Dogmen und Vorurteile, aber auch von Pragmatismus, Hedonismus und einer Oberflächlichkeit, die noch zwei Jahrhunderte zuvor nicht einmal vorstellbar gewesen wäre.
Wer sich aber heute aus auch selbstlosen Gründen um die Zukunft des Planeten sorgt, der kann auf die Jahrzehnte des Deutschen Idealismus nur dann verständnisarm blicken, solange er sie im Grunde gar nicht versteht. Denn was damals in den führenden Geistern dieser lichtvollen Epoche lebte, war nichts anderes als das, was insbesondere jungen Seelen heute ein tiefes Verbundenheitsgefühl mit dem Schicksal der ganzen Erde gibt.
Aber der damalige Impuls ging viel tiefer. Er betraf noch die gesamte menschliche Seele – eine Seele, die noch unbetroffen war von Informationsflut, Sinnes-Bombardement, Digitalisierung, virtueller Welt, Bildschirmzeiten, Konsumterror, Werbeherrschaft; eine Seele, die noch viel unmittelbarer, viel inniger mit der Seele der Mitmenschen verbunden war, in einer Weise, die sich die Wenigsten heute noch vorstellen können, weil man immer die eigene Erfahrungswelt zum Normalzustand, ja oft zum einzig möglichen, erklärt.
Den Deutschen Idealismus in seiner ganzen Tiefe wiederzuentdecken, wäre gerade in der heutigen Zeit und angesichts bereits der nächsten Zukunft eine allerwichtigste Aufgabe, man kann geradezu sagen, ein tief not-wendiges Abenteuer. Meine Hoffnung ist es, mit dem hier vorliegenden Werk1 dieses Notwendige mit zu ermöglichen.
1 Eine deutlich umfangreichere Ausgabe (768 Seiten) erscheint zeitgleich unter dem Titel ,Der Deutsche Idealismus und das Schicksal der Menschheit’.
Unter dem Begriff ,Deutscher Idealismus’ wird hier nicht nur verstanden, was in Fachkreisen darunter gefasst wird, nämlich nur die Philosophie ab und nach Kant bis hin zu Hegel – sondern der gesamte geistige Impuls, der sich in dieser Zeit im deutschsprachigen Raum offenbarte. Es ist eigentlich unfassbar, wie die Fachwelt dieses Phänomen so vernachlässigen kann, dass sie ihr Begriffsverständnis nicht an die Wirklichkeit anpasst.
Neben Fichte, Schelling und Hegel gab es auch Schiller, Goethe und Novalis – und in ihnen sprach sich nicht minder ein absolut revolutionärer Idealismus aus, den man nur dann als solchen übersehen kann, wenn man bereits mit vorgefassten Schubladen der Begrifflichkeit hantiert, also schlicht unfrei. Aber die Freiheit war gerade der absolute Kernbegriff des Deutschen Idealismus! Will man also auch ihn selbst richtig fassen, darf man seine bedeutendsten Vertreter nicht übersehen!
Weil man auf die Philosophie fixiert ist, ordnet man Schiller und Goethe so nichtssagenden bzw. altbackenen anderen Begriffen zu wie ,Weimarer Klassik’, Novalis wiederum wird dann sehr verschämt in die ,Romantik’ wegsortiert,2 der man auch so verstaubte Gestalten wie Tieck und Eichendorff zuordnet.3 Selbstverständlich wird dann auch der Ansatz der Romantik gar nicht mehr auch nur ansatzweise verstanden. Wie kann dies alles sein? Wie kann man mit einem derartigen Schubladendenken seinen eigenen Horizont regelrecht vernageln?
Schiller, Goethe, Novalis und noch viele andere – sie alle trugen einen grenzenlosen Idealismus in ihrem Wesen, leuchtende Ideen und leuchtende Ideale. Sie nicht originär und zentral zum ,Deutschen Idealismus’ zu zählen, würde unrettbar den ganzen Begriff korrumpieren, denn er wäre, trotz aller philosophischer Größen, bloßes Rudiment. Was der Deutsche Idealismus wirklich ist und war, offenbart sich erst, indem der Begriff sein ganzes Leben entfalten darf; indem er vollständig und wahr wird.
*
Selbst jene aber, die ihn auf die streng philosophische Seite beschränken – reduzieren, muss man eigentlich sagen –, sind sich darüber einig, dass die letztlich nur wenige Jahre4 umfassende Epoche dieses ,Deutschen Idealismus’ geistesgeschichtlich absolut einzigartig dasteht. So heißt es in einem Sammelband:5
Außer Zweifel steht freilich, daß in der nicht eben kurzen Geschichte menschlichen Denkens die Philosophie selten auf einer solchen Höhe stand wie in den wenigen Jahrzehnten um das Jahr 1800. Einem Vergleich hält wohl nur die Blüte der klassischen Philosophie im Athen des Platon und Aristoteles stand.
Beginnen wir also unsere Reise...
2 Man kann durchaus signifikante Unterschiede zwischen dem Idealismus im engeren Sinne und der Frühromantik sehen, wie Frank, der als Unterscheidung vorschlug, ein ,idealistisches’ Denken führe die Wirklichkeit auf Leistungen des Geistes zurück, für ein ,frühromantisches’ dagegen beruhe das Bewusstsein auf einer Voraussetzung (,Sein’), über die nicht zu verfügen sei. Manfred Frank: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt am Main 2007, S. 68. • Darum geht es hier aber nicht. Im Folgenden geht es um die tiefe Gemeinsamkeit all jener großen Geister, die darin besteht, dass sie mit größter Tiefe um die Frage(n) des Menschseins rangen – und im Geistig-Idealischen definitiv einen essenziellen Schlüssel sahen.
3 Das ,verstaubt’ selbstverständlich nur aus der ignorant ,postmodernen’ Sicht gesprochen.
4 Die größte Spanne wären fünfzig Jahre von Kants ,Kritik der reinen Vernunft’ (1781) bis zu Hegels Tod 1831.
5 Rüdiger Bubner (Hg.): Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Deutscher Idealismus. Stuttgart 2004, S. 7. • Und Bubner fügt hinzu, unter welchen Bedingungen dies geschah: ,Das geistige Klima in Deutschland war durchweg provinziell, das intellektuelle Leben gegenüber dem westlichen Europa rückständig. Der deutschen Kleinstaaterei mangelte ein Zentrum, wie es etwa Paris [...] darstellte.’ Ebd., S. 22.
Schon früh legte Francis Bacon mit seinem Werk ,Novum organum scientiarum’ (1620) die Grundlage des Empirismus. Er war ein machtvoller Begründer genauer Beobachtung und objektiver Wissenschaft. Bereits ganz zu Beginn heißt es in den ersten drei Abschnitten:6
Der Mensch, als Diener und Erklärer der Natur, wirkt und weiss nur so viel, als er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder seinen Geist beobachtet hat; mehr weiss und vermag er nicht.
Weder die blosse Hand noch der sich selbst überlassene Geist vermag Erhebliches; durch Werkzeuge und Hülfsmittel wird das Geschäft vollbracht; man bedarf dieser also für den Verstand wie für die Hand. Und so wie die Werkzeuge die Bewegung der Hände erwecken und leiten, so müssen auch die Werkzeuge des Geistes den Verstand stützen und behüten.
Wissen und Können fällt bei dem Menschen in Eins, weil die Unkenntniss der Ursache die Wirkung verfehlen lässt. Die Natur wird nur durch Gehorsam besiegt [...].
Bacon degradierte die Natur zum Objekt. Nennt er den Menschen eingangs rätselhaft noch ,Diener’ der Natur, soll sie bereits kurz darauf ,besiegt’ und dem Gehorsam unterworfen werden. Unterwerfung – das ist das Schlüsselwort. Die Natur soll durch Unterwerfung ihre Geheimnisse preisgeben. Das ist weit mehr als nur das Streben nach Erkenntnis – es geht um Beherrschung. In dem Werk ,Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften’ heißt es bereits 1605:7
Denn ihr müsst der Natur nur folgen und sie gleichsam auf ihren Wanderungen verfolgen, und ihr werdet imstande sein, sie, wenn ihr wollt, nachher wieder an denselben Ort zu führen und zu treiben. Ich bin auch nicht der Meinung, dass in dieser Geschichte der Wunder abergläubische Erzählungen von Zaubereien, Hexereien, Zaubersprüchen, Träumen, Weissagungen und dergleichen, wo es eine Gewissheit und klare Beweise für die Tatsache gibt, ganz ausgeschlossen werden sollten. Denn es ist noch nicht bekannt, in welchen Fällen und inwieweit Wirkungen, die dem Aberglauben zugeschrieben werden, an natürlichen Ursachen teilhaben; und wie sehr auch der Gebrauch und die Ausübung solcher Künste zu verurteilen ist, so kann doch [...], wenn sie sorgfältig enträtselt werden, ein nützliches Licht gewonnen werden, [...] auch für die weitere Aufdeckung der Geheimnisse der Natur. Niemand sollte Skrupel haben, in diese Löcher und Winkel einzudringen, wenn die Suche nach der Wahrheit sein einziges Ziel ist [...].
Die Inquisition8 und die patriarchale Unterwerfung der Frau werden hier mit der Erforschung der Natur unmittelbar in Zusammenhang gebracht, bis tief in die Sprache hinein, denn englisch heißt es: ,Neither ought a man to make scruple of entering and penetrating into these holes and corners, when the inquisition of truth is his sole object [...].’9
Gegen haltlose Spekulationen schrieb er auch: ,Sonach soll man dem menschlichen Geist keine Flügel, sondern eher ein Bleigewicht beigeben, was alles Springen und Fliegen hemmt.’10 So richtig dies einerseits sein mag, gerade in einem Zeitalter des Aberglaubens und der Dogmatik, zeichnen Sätze dieser Art andererseits doch bereits den ganzen Weg tief hinein in einen immer trostloseren Materialismus vor. Bleigewichte!
Der Franzose René Descartes (1596-1650) gilt dann als Begründer des modernen Rationalismus.
1637 veröffentlicht er sein auf hohem Niveau populärwissenschaftlich angelegten ,Discours de la méthode’, 1641 folgen zunächst lateinisch ,Meditationen über die Erste Philosophie’, in denen die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird’.11
Berühmt sind vor allem seine Gedanken des Zweifels. Was kann die Wahrheit verbürgen? Überall ist Täuschung möglich: Die Sinne können täuschen, oder man nimmt oft nicht rein wahr, und auch der Verstand kann zu falschen Schlüssen und Irrtümern verführt werden. Auf diese Weise kommt Descartes dann zu der berühmten Erkenntnis, dass man zunächst an allem zweifeln könne, nicht aber daran, dass man zweifle – spätestens hier ist man seiner eigenen Existenz als Denkender sicher. Die klassische Passage ,Cogito, ergo sum’ findet sich in seinem ,Discours’ (1637), wo er zunächst alles bis hin zur Existenz eines wirklichen Körpers, ja der Welt überhaupt bezweifelt:12
Ich forschte nun, Wer ich sei. Ich fand, dass ich mir einbilden konnte, keinen Körper zu haben, und dass es keine Welt und keinen Ort gäbe, wo ich wäre; aber nicht, dass ich selbst nicht bestände; vielmehr ergab sich selbst aus meinen Zweifeln an den anderen Dingen offenbar, dass ich selbst sein müsste; während, wenn ich aufgehört hätte zu denken, alles Andere, was ich sonst für wahr gehalten hatte, mir keinen Grund für die Annahme meines Daseins abgab. Hieraus erkannte ich, dass ich eine Substanz war, deren ganze Natur oder Wesen nur im Denken besteht, und die zu ihrem Bestand weder eines Ortes noch einer körperlichen Sache bedarf; in der Weise, dass dieses Ich, d.h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, vom Körper ganz verschieden und selbst leichter als dieser zu erkennen ist; ja selbst wenn dieser nicht wäre, würde die Seele nicht aufhören, das zu sein, was sie ist.
Demnächst untersuchte ich, was im Allgemeinen zur Wahrheit und Gewissheit eines Satzes nöthig sei; denn nachdem ich einen solchen eben gefunden hatte, so müsste ich nunmehr auch wissen, worin diese Gewissheit besteht. Ich bemerkte, dass in dem Satz: „Ich denke, also bin ich“, nichts enthalten ist, was mich seiner Wahrheit versicherte, ausser dass ich klar einsah, dass, um zu denken, man sein muss. Ich nahm davon als allgemeine Regel ab, dass alle von uns ganz klar und deutlich eingesehenen Dinge wahr sind, und dass die Schwierigkeit nur darin besteht, die zu erkennen, welche wir deutlich einsehen.
Aus diesen Zweifeln heraus kommt Descartes unmittelbar darauf auch zu einem Gottesbeweis, einer Sicherheit, dass Gott existieren müsse. Der Mensch kann den Begriff des Vollkommenen, auch des Unendlichen fassen. Beides kommt aber in der Natur nicht vor – es muss also eine reale, andere Quelle haben. Und selbst das Dasein Gottes ist mit der Vorstellung eines vollkommenen Wesens untrennbar verknüpft – während dies für bloß Vorgestelltes wie etwa eine Schimäre nicht gilt. Descartes führt daraufhin aus:13
Wenn Manche meinen, dass es schwer sei, Gott zu erkennen, und auch schwer, ihre Seele zu erkennen, so kommt es davon, dass sie ihren Geist nie über die sinnlichen Dinge erheben, und dass sie so an dieses bildliche Vorstellen gewöhnt sind, was eine besondere Art des Denkens für die körperlichen Dinge ist, dass sie Alles, was sie nicht bildlich vorstellen können, auch nicht für begreiflich halten. Dies ist die Folge davon, dass selbst die Philosophen in den Schulen als Grundsatz lehren, es gebe in dem Verstande nichts, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen sei.14 Nun ist es aber jedenfalls gewiss, dass die Vorstellungen von Gott und von der Seele niemals in den Sinnen gewesen sind [...].
Hier bildet er den genauen Gegensatz zu Bacon, dem an einer äußeren Naturwissenschaft gelegen war. Der weitere Verlauf dieses Pfades führt dazu, dass man die Seele und das Göttliche ganz aus dem Sinn verliert. Was für Descartes die klarste Einsicht überhaupt war, wird in den folgenden Jahrhunderten immer weiter verschüttet, weil man sich immer ausschließlicher nur noch der Sinneswelt zuwendet – bis der Glaube entsteht, man sei selbst auch nicht mehr...
Wenden wir uns Descartes’ ,Meditationes’ zu, in denen er Einiges noch vertiefter ausführt.15 Hier nimmt er zunächst sogar an, dass ein ,boshafter Geist’ den Verstand fortwährend zu täuschen versuche. Auch hier kommt er dann zu der Erkenntnis, dass das Erleben der eigenen inneren Tätigkeit nicht bezweifelt werden kann.[30,32]
In der dritten Untersuchung ,Über Gott, und dass er ist’ stellt er zunächst die Regel auf, dass all dasjenige wahr ist, was man ,völlig klar und deutlich weiß’.[44] Hier erhebt sich aber sogleich die Frage, wie dies zu beurteilen ist. Denn hat man zunächst nicht ganz vieles als ,völlig gewiss’ angenommen? Die klarste Erkenntnis bieten mathematische Wahrheiten, etwa eine einfache Addition. Dies zu bezweifeln, wäre nur möglich, wenn tatsächlich ein boshafter Geist den Verstand in sämtlichen Schlüssen irreführen würde. Zunächst, so Descartes, sei also zu prüfen, ob Gott existiere und ob er ein Betrüger sein könne. Vorher könne über nichts irgendeine Gewissheit erlangt werden.[44f]
Täuschungen können nun nur von Urteilen herrühren. Vorstellungen, Empfindungen und Affekte sind, wie sie sind – erst wenn man ein Urteil damit verknüpft (zum Beispiel in Bezug auf die Existenz oder die konkrete Entfernung eines Dinges), sind Irrtümer möglich.[47] Descartes kommt sogar zu einem sehr modern wirkenden Relativismus, wenn er schreibt, man könne zunächst nicht einmal wissen, ob Kälte ein Mangel an Wärme sei oder umgekehrt.[58]
Anderes dagegen ist sehr wohl eine klare Vorstellung, die man aus sich selbst heraus entnehmen kann, so die Substanz (gemeint ist ein in sich selbst bestehendes Sein, nicht nur ein Zustand oder eine Eigenschaft eines solchen), Dauer, Zahl, aber auch Ausdehnung, Gestalt, Lage und Bewegung. Die letzteren sind zwar im denkenden Wesen selbst formal nicht enthalten – hier trifft Descartes die bekannte Unterscheidung zwischen ,res cogitans’ und ,res extensa’ (denkendes und ausgedehntes Ding) –, aber die Substanz umfasst doch offenbar sehr wohl das, was bloße Eigenschaften sind:[59f]
Was aber das Klare und Deutliche in den Vorstellungen der körperlichen Dinge anlangt, so kann ich Einzelnes von der Vorstellung meiner selbst entlehnt haben, nämlich die Substanz, die Dauer und die Zahl, und was sonst etwa dem ähnlich ist. [...] Ebenso wenn ich denke, dass ich jetzt bin und mich entsinne, dass ich auch früher eine Zeit lang bestanden habe, und wenn ich verschiedene Gedanken habe, deren Zahl ich bemerke, so gewinne ich die Vorstellungen der Dauer und der Zahl, die ich dann auf andere Gegenstände übertragen kann. Alles Uebrige aber, aus dem die Vorstellungen der körperlichen Dinge gebildet werden, nämlich Ausdehnung, Gestalt, Lage und Bewegung, ist zwar in mir, der ich nur ein denkendes Etwas bin, formal nicht enthalten; allein da es nur gewisse Zustände der Substanz sind, ich selbst aber eine Substanz bin, so können sie im Uebermaass (eminenter) in mir enthalten sein.
Zurückkommend auf die Vorstellung Gottes, bemerkt Descartes nun, dass Zweifel, Begehren nach etwas Mangelndem etc. unvollkommene Zustände sind, die man aber gar nicht als unvollkommen erkennen könnte, wenn man nicht den Begriff des Vollkommenen hätte.[62] Zuletzt weist er nach, dass Gott nicht betrügerisch sein könne, denn es sei offenbar, dass ,aller Betrug und Täuschung von einem Mangel abhängig’ sei,[69] das heißt, ein unvollkommenes Wesen kennzeichnen würde, dem zum Beispiel die Liebe mangeln würde.
In der fünften Untersuchung ,Über das Wesen der körperlichen Dinge und nochmals über Gott, dass er besteht’ erkennt Descartes, dass etwa mathematische Begriffe ihr Wesen und ihre Gesetzmäßigkeiten in sich selbst tragen:[84]
Wenn ich z.B. ein Dreieck mir vorstelle, so ist, wenn auch vielleicht eine solche Figur nirgends ausser meinen Gedanken besteht oder je bestanden bat, doch dessen Natur durchaus bestimmt, in seinem Wesen und seiner Gestalt unveränderlich und ewig und nicht von mir gemacht, noch von meiner Seele abhängig. Dies erhellt daraus, dass von diesem Dreieck verschiedene Eigenthümlichkeiten bewiesen werden können [...].
Die Vorstellung eines unendlichen, vollkommenen Wesens ist aber nun genauso deutlich wie diese klarsten Gewissheiten. Ja, mehr noch:[86]
[...] und ich erkenne ebenso klar und deutlich, dass das Immer-Sein zu ihrer Natur gehört, wie dass das, was ich über eine Figur oder Gestalt beweise, zur Natur dieser Figur oder Gestalt gehört. [...] so müsste doch das Dasein Gottes für mich wenigstens denselben Grad von Gewissheit haben, den bisher die mathematischen Wahrheiten gehabt haben.
Auch hier also wieder der Gedanke, dass zum Begriff Gottes notwendig auch seine Existenz gehört. Ein geflügeltes Pferd etwa kann man sich vorstellen und zugleich wissen, dass es (wohl) nicht existiert; einen Berg kann man ohne Tal nicht denken und doch müssen beide nicht existieren – aber Gott könne man nur existent denken:[87]
Aber bei Gott kann ich ihn nur daseiend denken, und so folgt, dass das Dasein von Gott untrennbar ist, und dass er deshalb in Wahrheit besteht; nicht, weil mein Gedanke dies bewirkt oder einem Dinge eine gewisse Nothwendigkeit auflegt, sondern umgekehrt, weil die Nothwendigkeit der Sache selbst, nämlich des Daseins Gottes, mich bestimmt, dies zu denken. Denn es hängt nicht so von mir ab, Gott ohne Dasein zu denken (d.h. ein vollkommenstes Wesen, dem eine Vollkommenheit abgeht), wie ein Pferd mit oder ohne Flügel vorzustellen.
Ein vollkommenes Wesen, das nicht existieren würde, wäre nicht vollkommen. Das vollkommene Wesen muss also gleichzeitig existieren.
In der letzten Untersuchung ,Über das Dasein der körperlichen Dinge und den wirklichen Unterschied der Seele vom Körper’ weist Descartes zunächst auf den Unterschied zwischen Vorstellungen und dem reinen Denken bzw. Erkennen hin. So könne man etwa ein ,Tausendeck’ nicht mehr wirklich vorstellen, sehr wohl aber denken und auch in seinen Eigenschaften untersuchen. Descartes kommt dann zu dem wegweisenden Gedanken, dass auch für das Vorstellen noch der Körper verantwortlich sein könnte.[95f]
Nachdem nun alles andere hinterfragt wurde, kommt die Erkenntnis dahin, die ohne eigenes Zutun, ja oft gegen den eigenen Willen empfangenen gegenständlichen Vorstellungen (Wahrnehmungen) jeweils einer wirklichen Substanz mit körperlicher Natur zuzuschreiben, die diese Vorstellungen bewirkt. Zwar könne auch Gott diese Vorstellungen verursachen, aber da er nicht täuscht, ,haben die körperlichen Dinge wirklich Dasein’.[103] Es ist zwar, im Gegensatz zur reinen Mathematik, nicht alles so, wie es unmittelbar erscheint, aber der nicht täuschende Gott hat dem Menschen auch die Fähigkeit gegeben, alle Irrtümer jeweils auch korrigieren zu können.[104f]
Wie wesentlich dieser Gedanke ist, zeigt sich, wenn wir ihn kurz auf den Materialismus übertragen. Möglicherweise ist dieser, geschlossen aus der scheinbaren Tatsache, dass wir überall nur Materielles wahrnehmen, ein tiefer Irrtum – aber Gott hat dem Menschen auch ein Vermögen gegeben, diesen zu berichtigen... Welche Tragik, wenn man dieses Vermögen ungenutzt ließe!
Wir sehen bei Descartes also eine sehr sorgfältige Prüfung von allem und ein klares, seiner selbst gewisses Bewusstsein. Jedoch vertrat er mit seinem Geist-Körper-Dualismus eine Anschauung, die geeignet war, das Gebiet der Mitte völlig aus dem Blick zu verlieren: das Herz, das Fühlen, dasjenige, was mehr als nur Vorstellung, Gedanke und die dualistische Frage nach ,Irrtum oder kein Irrtum’ ist.
Wie fatal dies ist, zeigt bereits sein eigener, kurz vor seinem Tod erschienener Aufsatz ,Les Passions de l’âme’ (1649) über ,die Leidenschaften der Seele’.16 So vergleicht er hier die Funktion des Körpers mit einer Maschine.[5f] Die Funktion des Körpers beschreibt er so, dass Muskelbewegungen und Sinneseindrücke von den Nerven abhängen, die aus dem Gehirn kommen. Wie eine Art feine Luft bewegen sich ,Lebensgeister’ aus dem Gehirn in die Nerven und regen jene ,Lebensgeister’ an, die sich im Muskel befinden und die dadurch dessen Kontraktionen hervorrufen. Auch die Sinneseindrücke steuern den Lauf der Lebensgeister.[7-10]
Zur selbstbestimmten Tätigkeit der Seele gehören für Descartes das gezielte Denken an etwas Bestimmtes oder das Wollen, das den Körper bewegt. Die Seele kann also die ,Lebensgeister’ nach ihrem Willen stimulieren.[35f] In ähnlicher Weise ruft sie Erinnerungen im Gehirn wach, auf die sie sich besinnen will.[42] Das Übrige sind Zustände, die der Seele geschehen – die sie also ,erleidet’, buchstäblich Leidenschaften. Die Seele empfängt diese ,Erregtheiten’ ebenso wie die Gegenstände der Sinne.[28] Das Herz werde für die Leidenschaften nur deshalb irrtümlich für ursächlich gehalten, weil die Bewegung der Lebensgeister die im Gehirn entstehenden Wirkungen über einen kleinen Nerven auch zum Herzen leitet, wo sie dann scheinbar empfunden werden.[33]
Descartes’ ganze Ausführungen zu diesem Reich der Seele sind hochgradig inkonsistent und fragwürdig. An seinem letzten Werk also erweist sich die ganze Fatalität dessen, was mit ,Cogito ergo sum’ begann – das Zerbrechen des ganzheitlichen menschlichen Mysteriums in ,Geist’ (res cogitans) und ,Körper’ (res extensa). In diesem Dualismus wird das tiefe Geheimnis der Seele regelrecht verkannt und geht ganz unter. So sehr, dass selbst das Seelischste dem Körper und den Sinnen und ihren Wirkungen zugeschrieben werden kann. Descartes sieht Affekte, er sieht Mechanismen – aber er begreift nicht mehr, dass es eine Sphäre gibt, wo dieses Gebiet bloßer Kausalitäten fundamental verlassen wird. Wo die Seele, auch in ihren Emotionen, das wahrhaft menschliche Gebiet betritt.
Wir kommen nun zu einem Denker, der für die Geschichte des Idealismus eine höchst bedeutsame Rolle spielte: Spinoza (1632-1677).
Baruch de Spinoza, sechs Jahre nach Bacons Tod in Amsterdam geboren, war der Sohn jüdisch-portugiesischer Einwanderer. Als er starke Zweifel an zentralen Glaubenslehren äußerte, wurde er 1656 schließlich aus der dortigen portugiesischen Synagoge ausgeschlossen, verflucht, und jeder Kontakt mit ihm wurde verboten.17
1663 veröffentlichte er unter seinem Namen ein Werk über Descartes, 1670 dann anonym den ,Tractatus theologico-politicus’. Darin vertritt er, dass auch in Bezug auf Religionen die kritische Vernunft der Maßstab sein müsse. Übernatürliche Phänomene seien nicht real, und auch Gott handle nach Regeln, die seinem Wesen gemäß seien und Naturgesetzen gleichkämen. Spinoza ist der Begründer der modernen Bibelkritik, indem schon er durch textkritische Analyse zu dem Schluss kommt, dass die fünf Bücher Mose über einen langen Zeitraum hinweg zusammengestellt wurden. Ferner seien alle Völker vor Gott gleich, die Vorstellung der Auserwähltheit sei nur ein Konstrukt des Judentums. Im politischen Teil tritt er für die Unabhängigkeit des Staates von der Religion und die Denkfreiheit der Bürger ein.18
Schon in der Einleitung schreibt Spinoza: ,Ich habe mich oft gewundert, wie Menschen, die sich rühmen, der christlichen Religion, also der Liebe, der Freude, dem Frieden, der Mässigkeit und der Treue gegen Jedermann, zugethan zu sein, vielmehr in Unbilligkeit mit einander kämpfen und täglich den erbittertsten Hass gegen einander zeigen können.’ Und im vierzehnten Kapitel betont er noch einmal ausführlich das Liebesgebot als einziges.19
Die Kirche bemühte sich noch im selben Jahr um ein Verbot der Schrift, womit sie zwei Jahre später erfolgreich war. Daraufhin arbeitete Spinoza an seiner ,Ethik’ und erhielt in Den Haag unter anderem Besuch von Leibniz, der vom ,Tractatus’ stark beeindruckt war. An lebenslanger Tuberkulose leidend, starb Spinoza 1677 mit nur vierundvierzig Jahren. Noch im Todesjahr erschien ein Band mit seinen nachgelassenen Schriften – der ,Ethica, ordine geometrico demonstrata’, einem ,Tractatus politicus’ und dem ,Tractatus de intellectus emendatione’.
Die letztere Schrift enthielt eine propädeutisch-methodologische Erkenntnistheorie, die beiden übrigen Traktate eine politische Philosophie – und sein Hauptwerk umfasste eine Metaphysik und eine darauf basierende Ethik. Dieser ,Ethik’ wollen wir uns nun zuwenden.20Spinoza führt hier durch aufeinander aufbauende Lehrsätze, die er jeweils beweist, zu der Erkenntnis, dass Gott die einzige Substanz sei, die existiert. Zunächst gibt er folgende Definitionen:[23]
1. Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann. [...]
3. Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird; d.h. etwas, dessen Begriff nicht den Begriff eines andern Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden.
4. Unter Attribut verstehe ich dasjenige an der Substanz, was der Verstand als zu ihrem Wesen gehörig erkennt. [...]
6. Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Wesen, d.h. die Substanz, welche aus unendlichen Attributen besteht, von denen ein jedes ewiges und unendliches Sein ausdrückt. [...]
7. Dasjenige Ding wird frei heißen, das bloß vermöge der Notwendigkeit seiner eigenen Natur existiert und bloß durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird; notwendig oder vielmehr gezwungen wird ein Ding heißen, das von einem andern bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu existieren und zu wirken.
Die wesentlichen Lehrsätze dieses ersten Teiles ,Über Gott’ lauten dann:[26-33] 21
5. In der Natur kann es nicht zwei oder mehrere Substanzen von gleicher Beschaffenheit oder von gleichem Attribut geben.
6. Eine Substanz kann von einer andern Substanz nicht hervorgebracht werden.
8. Alle Substanz ist notwendig unendlich.
11. Gott oder die Substanz, welche aus unendlichen Attributen besteht, von denen jedes ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt, existiert notwendig.
14. Außer Gott kann es eine Substanz weder geben, noch kann eine solche begriffen werden.
15. Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein noch begriffen werden.
Nichts kann aus sich heraus begriffen werden – außer Gott, der nur auf sich selbst beruht. Alles andere existiert nur durch Gott und in Gott. Und so setzen sich seine Lehrsätze fort:[45-59]
16. Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muß Unendliches auf unendliche Weisen (d.h. alles, was von dem unendlichen Denken erfaßt werden kann) folgen.
17. Gott handelt nur nach den Gesetzen seiner Natur und von niemand gezwungen.
25. Gott ist nicht nur die wirkende Ursache der Existenz, sondern auch des Wesens der Dinge.
26. Ein Ding, welches bestimmt ist, irgend etwas zu wirken, ist notwendig von Gott also bestimmt worden, und ein Ding, welches von Gott nicht bestimmt worden ist, kann nicht sich selbst zum Wirken bestimmen.
27. Ein Ding, das von Gott bestimmt ist, etwas zu wirken[,] kann nicht sich selbst zu einem nichtbestimmten machen.
29. In der Natur gibt es kein Zufälliges, sondern alles ist vermöge der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken.
Wir sehen hier einen absoluten Determinismus. Gott ist das Allumfassende – und alles ist von der göttlichen Natur zu seinem jeweiligen Wirken bestimmt.
Ferner heißt es im Zusammenhang mit dem 17. Lehrsatz, ,daß zur Natur Gottes weder Verstand noch Wille gehört’.[47] Vielmehr ,ist die Allmacht Gottes von Ewigkeit her wirksam gewesen und wird in alle Ewigkeit in derselben Wirksamkeit verharren’.[48] Würde man bei Gott von Verstand und Wille sprechen, so glichen sie dem unsrigen ,nicht anders, als das Sternbild Hund und das bellende Tier Hund einander gleichen’.[48f] Der ,Verstand Gottes’ sei ,die Ursache der Dinge sowohl ihres Wesens als auch ihrer Existenz’.[49]
Ausdrücklich formuliert Spinoza dann auch:[61-64]
31. Der wirkliche Verstand (die wirkliche Erkenntnis), mag er endlich oder unendlich sein, wie auch der Wille, die Begierde, die Liebe usw. müssen zur geschaffenen Natur, nicht aber zur schaffenden Natur gerechnet werden.
32. Der Wille kann nicht freie Ursache, sondern nur notwendige heißen.
33. Die Dinge konnten auf keine andere Weise und in keiner andern Ordnung von Gott hervorgebracht werden, als sie hervorgebracht worden sind.
Und damit ist letztlich sogar Gott determiniert. Das absolute Wesen ist so absolut, dass es sich und seine Wirkungen gleichsam überallhin ausbreitet, dass es alles erfüllt – und dass all sein Sein und Wirken selbst notwendig ist, nicht anders möglich. Man kann nur noch sagen: Diese einzige, unendliche, ewige, absolute Substanz ist.
In der Anmerkung zum 29. Lehrsatz führt Spinoza die beiden Begriffe ,schaffende Natur’ (natura naturans) und ,geschaffene Natur’ (natura naturata) ein. Erstere ist Gott, ,sofern er als freie Ursache betrachtet wird’, letztere alles andere.[60f] Frei ist Gott insofern, als er von nichts anderem bestimmt wird. Aber seine eigene Notwendigkeit bestimmt sehr wohl alles, auch sein eigenes Sein.
Später, im Vorwort zum vierten Teil, setzt Spinoza ,Gott oder Natur’ (das berühmte ,deus sive natura’) sogar regelrecht synonym:
[...] habe ich gezeigt, daß die Natur nicht um eines Zweckes willen handelt. Jenes ewige und unendliche Wesen, das wir Gott oder Natur nennen, handelt vielmehr mit derselben Notwendigkeit, mit welcher es existiert. [...] Der Grund also oder die Ursache, weshalb Gott oder die Natur handelt und weshalb Gott oder die Natur existiert, ist eine und dieselbe. Wie sie also um keines Zweckes willen existiert, so handelt sie auch um keines Zweckes willen [...].[255]
In der Anmerkung zum 17. Lehrsatz führt Spinoza Folgendes aus: Wie bei einem Dreieck in alle Ewigkeit dessen Winkelsumme folgt, so ist auch ,die Allmacht Gottes von Ewigkeit her wirksam gewesen und wird in alle Ewigkeit in derselben Wirksamkeit verharren’. Wer demgegenüber vertritt, dass Gottes Allmacht darin bestünde, alles, was er jeweils denkt, auch erschaffen zu können, gleichsam in der Zeit verlaufend, der würde diese Allmacht eigentlich leugnen – denn hätte Gott einmal alles erschaffen, wäre seine Allmacht erschöpft, und er würde auf diese Weise unvollkommen werden. Da dies Gottes Natur widerspricht, darf man ihn gar nicht in dieser Weise vorstellen.[48]
Diese Unwandelbarkeit Gottes hatten schon frühere Lehrsätze festgestellt:[50-52]
19. Gott oder alle Attribute Gottes sind ewig.
20. Die Existenz Gottes und sein Wesen sind eins und dasselbe.
21. Alles, was aus der absoluten Natur eines Attributs Gottes folgt, mußte immer und unendlich existieren oder ist eben durch dieses Attribut ewig und unendlich.
Und im Beweis zu diesem letzten Lehrsatz heißt es: ,Da aber das Denken als Attribut Gottes angenommen wird, so muß es sowohl notwendig als auch unveränderlich existieren [...].’[53]
Dasselbe gilt für den Willen. Auch dieser ist laut Beweis zum 32. Lehrsatz ,nur eine gewisse Form des Denkens’ und muss ,ebenfalls zum Existieren und Wirken von Gott bestimmt werden’. Daraus folgt, ,daß Gott nicht aus freiem Willen wirkt’.[63]
Aus dem 33. Lehrsatz folgt für ihn ,klar, daß die Dinge in höchster Vollkommenheit von Gott hervorgebracht worden sind da sie ja aus der gegebenen vollkommensten Natur mit Notwendigkeit erfolgt sind’.[65] Damit hat er über drei Jahrzehnte vor Leibniz sozusagen den Grundsatz von der ,besten aller möglichen Welten’ aufgestellt – nur dass für Spinoza andere Welten eben auch gar nicht möglich waren.
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Am Ende des ersten Teils rechnet Spinoza in einem Anhang mit allem ab, was seiner Ansicht nach bloßer Anthropomorphismus ist – das Sichvorstellen der Welt nach dem Muster, wie man selbst als Mensch die Dinge sieht.
Da der Mensch nach Zielen und Zwecken handelt, schreibt man solche auch Gott zu – etwa, er habe alles um des Menschen willen gemacht.[70] Sich selbst wiederum halten die Menschen für frei, da sie sich ihres Wollens und Begehrens bewusst sind, nicht aber der Ursachen, die sie dazu bestimmen.[71] Da alles als Mittel angesehen wird, schließt man auf ,Lenker der Natur’. Den Wahn der Behauptung, alles sei zum Nutzen des Menschen, gibt man sogar angesichts von Katastrophen und Krankheiten nicht auf, sondern spricht vom ,Zorn Gottes’.[72] Selbst da, wo dem Frommen wie dem Nichtfrommen gleichermaßen Nützliches und Schädliches zuteil wird, bleibt man bei den eingewurzelten Vorurteilen.[73]
Die Lehre der Endzwecke, so Spinoza, stellt die Natur völlig auf den Kopf, betrachtet die Ursache als Wirkung und verkehrt das Höchste zum Unvollkommensten.[73] Am vollkommensten sei das, was Gott unmittelbar hervorbringe. Wenn er damit erst einen Zweck erreichen wollte, wäre er offenbar unvollkommen. Zudem würde dies bedeuten, dass er bis dahin etwas entbehrt habe.[74] Und zu den viel zu anthropomorphen Vorstellungen führt er ferner aus:[78f]
Viele pflegen [...] zu argumentieren: Wenn alles aus der Notwendigkeit der vollkommensten Natur Gottes erfolgt ist, woher kommen dann so viele Unvollkommenheiten in der Natur, wie das Faulen der Dinge, sogar bis zum Übelriechen, die ekelerregende Häßlichkeit gewisser Dinge, die Unordnung, das Schlechte, die Sünde usw.? – Sie sind aber, wie gesagt, leicht zu widerlegen. Denn die Vollkommenheit der Dinge ist nur nach ihrer Natur und ihrem Vermögen zu schätzen, folglich ist ein Ding deshalb nicht mehr und nicht weniger vollkommen, weil es einen der menschlichen Sinne ergötzt oder beleidigt, weil es der menschlichen Natur zusagt oder nicht zusagt.
Denen aber, welche fragen, warum Gott nicht alle Menschen so geschaffen hat, daß sie sich von der Vernunft allein leiten lassen, antworte ich nur: weil er Stoff hatte, alles zu schaffen, vom höchsten Grad der Vollkommenheit bis zum niedrigsten.
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Weil alles auf die eine Substanz Gottes zurückgeht, ist auch jeder Geist-Körper-Dualismus überwunden. So heißt es im zweiten Teil ,Über die Natur und den Ursprung des Geistes’ als die ersten beiden Lehrsätze, dass sowohl Denken als auch Ausdehnung Attribute Gottes sind.[83] Später heißt es in der Anmerkung zum siebten Lehrsatz:22 ,So ist auch die Daseinsform der Ausdehnung und die Idee dieser Daseinsform ein und dasselbe Ding, aber auf zwei Arten ausgedrückt.’[88] Wichtig ist hierbei, dass Gott aus unendlichen Attributen besteht – und nur der Mensch allein zwei, Denken und Ausdehnung, zu erfassen vermag.23
Beides ist dasselbe: ,[...] weil der Körper der Gegenstand der Seele ist; weil die Seele nichts als der sich denkende Körper, und der Körper nichts als die sich ausdehnende Seele ist.’24 Und alles geht auf die eine Substanz Gottes zurück, daher ist auch die Natur eines.[105]
Im dritten Teil Teil ,Über den Ursprung und die Natur der Affekte’ spricht Spinoza ausdrücklich von ,Geist und Körper’ als demselben, nur unter zwei verschiedenen Attributen begriffen.[160] Jene, die meinen, der Geist könne den Körper bewegen, verweist Spinoza auf die Tierwelt, die sich ganz ohne Geist bewegt. Ja, der Nachtwandler tut im Schlafe vieles, was der wache Geist nicht einmal wagen würde.[161] Auf den Einwand, der Körper könne keinen Tempel erbauen, wenn der Geist ihn nicht bestimme und anleite, entgegnet er mit dem Verweis auf den menschlichen Körper selbst, der ein noch viel größeres Kunstwerk ist.[162]
Fortwährend glauben die Menschen, ,sie wären frei, weil sie ihrer Handlungen bewußt, der Ursachen aber, von denen sie bestimmt werden, unkundig sind’. Die Erfahrung lehre aber, dass ,die Entschlüsse des Geistes nichts anderes sind als die Begierden selbst, die je nach der verschiedenen Disposition des Körpers verschieden sind’.[163] Was unter dem Attribut des Denkens gesehen ,Entschluss’ genannt wird, ist unter dem der Ausdehnung Bestimmung.[164] ,Wer also glaubt, daß er nach freiem Entschluß des Geistes rede oder schweige oder irgend etwas tue, der träumt mit offenen Augen.’[165]
Hier greift Spinoza zu kurz. Anstatt Geist und Körper als dasselbe zu sehen, könnte man ihre gegenseitigen Bezüge studieren. Dann könnte sich auch erweisen, dass der Körper sehr wohl Weisheit hat, dass es auch im Tierreich ungeheure Weisheit gibt – aber die Frage würde auftauchen, was eigentlich das Subjekt dieser Weisheit ist. Eine sehr wesentliche, tiefgehende, spannende Frage!
Für Spinoza gibt es im Grunde nur Unvernunft – und den Weg zur Vernunft. Dieser läuft über Einsicht und eine zunehmende Befreiung von den Affekten. Diese jedoch zeichnet er nach einer Art ungeheurer Gesetzmäßigkeit. Dadurch verschwinden auch in seinem Werk alle Zwischentöne, die das Herz betreffen, insofern es aufhört, bloßes Objekt von Effekten zu sein. Es gibt für Spinoza nur ungenügende Einsicht und zunehmende Einsicht, alles verläuft auf diesem Wege. Er kennt sozusagen keinen Weg des Herzens.
Obwohl Spinoza die Phänomene des Seelenlebens auf eine ungeheuer exakte Weise zu beschreiben vermag – einschließlich ihrer Gesetzmäßigkeiten –, vermisst man etwas, geht in dieser ,Mathematik und Geometrie der Seele’ etwas Wesentliches verloren. Und man möchte sagen: Es ist das Geheimnis des guten Willens selbst. Dieser gründet auch in der Einsicht, sehr wohl und durchaus. Dennoch kann viel wesentlicher eine tief verborgene Sehnsucht nach dem Guten das eigentlich Entscheidende sein. Und dieser Aspekt kommt bei Spinoza gar nicht vor. Für ihn gilt: Solange die Menschen noch nicht die klare Einsicht haben, sind sie noch Opfer ihrer Affekte, ihrer unklaren Regungen, die man eben wie geometrische Gesetzmäßigkeiten beschreiben kann. Genau das aber unterschlägt geradezu heilige Zwischentöne der menschlichen Seele.
Symptomatisch ist es, wenn er etwa schreibt: ,Unter Edelmut aber verstehe ich die Begierde, wonach jemand bestrebt ist, nach dem bloßen Gebot der Vernunft seinen Mitmenschen wohlzutun und sie sich durch Freundschaft zu verbinden.’[230] Dass eine Seele auch nach dem Gebot des Herzens handeln könnte und eine Sehnsucht nach Harmonie mit den Mitmenschen haben könnte, ohne sich fortwährend auf der Ebene der ,Vernunft’ zu bewegen, kommt bei Spinoza gar nicht vor. Einen dem vernunftorientierten Edelmut korrespondierenden Begriff etwa der Gutherzigkeit sucht man bei ihm vergebens. Und das bedeutet: Auf Männer ist sein Traktat unmittelbar anwendbar – aber was wäre, wenn ein gutherziges Mädchen seine Ausführungen lesen würde? Würde es sich wiederfinden können? Ich meine nicht.
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Bei Spinoza geht es um das Sich-Erheben zu einer reinen Vernunft. Die Vernunft ist laut Spinoza das wahre Wesen des Menschen, insofern Tätigkeit des Geistes (und eben nicht Leiden) nur aus adäquater Erkenntnis hervorgehen kann. Damit ergibt sich: ,Absolut aus Tugend handeln ist nichts anderes in uns, als nach der Leitung der Vernunft handeln, leben, sein Sein erhalten (diese drei Ausdrücke bezeichnen dasselbe) aus dem Grunde, daß man den eigenen Nutzen sucht.’[283] Die Vernunft strebt überhaupt immer nach Erkenntnis – und so ist der Weg zu dieser das einzig Nützliche.[284]
Und nun werden die Dinge essenziell. Denn der achtundzwanzigste Lehrsatz dieses Teils lautet: ,Das höchste Gut des Geistes ist die Erkenntnis Gottes, und die höchste Tugend des Geistes ist, Gott erkennen.’
Wer der Tugend folgt, wünscht das, was er für sich begehrt, auch den anderen – und zwar ,um so mehr, je größer seine Erkenntnis Gottes ist’.[296] Die wahre Tugend ist nun letztlich nichts anderes, ,als nach der Leitung der Vernunft allein leben’.[298] Die Vernunft schafft frei von Affekten fortwährend das Fruchtbare: ,Wer nach der Leitung der Vernunft lebt, strebt, soviel er kann, den Haß, den Zorn, die Verachtung usw. anderer gegen ihn durch Liebe oder Edelsinn zu vergelten.’[309]
In der Vernunft sieht der Geist die Dinge unter dem Licht der Ewigkeit, das Zukünftige ist nicht weniger bedeutsam als das Gegenwärtige, ,und folglich würde er notwendig auf ein geringeres gegenwärtiges Gut um eines größeren zukünftigen Guts willen verzichten’.[327] Scharf wendet sich Spinoza gegen jene, die (etwa religiös) stattdessen mit Furcht arbeiten.
Dies mündet dann in den fünften und letzten Teil ,Über die Macht der Erkenntnis, oder die menschliche Freiheit’, in dem es Spinoza um die Mittel und Wege geht, ,die zur Freiheit führen’, indem die Vernunft sich als stärker erweist als die Affekte.[352] Und nun münden auch hier die Leitsätze immer mehr in die Erkenntnis Gottes:[369-371]
14. Der Geist kann bewirken, daß alle Körpererregungen oder Vorstellungen der Dinge auf die Idee Gottes bezogen werden.
15. Wer sich und seine Affekte klar und deutlich erkennt, liebt Gott und um so mehr, je mehr er sich und seine Affekte erkennt.
16. Diese Liebe zu Gott muß den Geist am meisten einnehmen.
17. Gott ist frei von allen Leiden und wird von keinem Affekt der Lust oder Unlust erregt.
Da Gott keine Affekte kennt, gilt: ,Gott liebt und haßt im eigentlichen Sinne niemand.’[371]
Und weiter gilt, da Erkenntnis ,Lust’ ist: ,Sofern wir die Ursachen der Unlust erkennen, insofern hört dieselbe auf, ein Leiden zu sein [...], d.h. [...] Unlust zu sein. Sofern wir daher Gott als Ursache der Unlust betrachten, insofern empfinden wir Lust.’[372] Weiterhin ist die Liebe zu Gott nicht von Eifersucht behaftet, im Gegenteil:[373]
Diese Liebe zu Gott kann weder durch den Affekt des Neids noch der Eifersucht getrübt werden, sondern sie wird desto mehr genährt, je mehr Menschen wir uns durch dasselbe Band der Liebe mit Gott verbunden vorstellen.
Und nun fährt Spinoza mit folgenden Lehrsätzen fort:[376-379]
21. Der Geist kann nur, solange der Körper dauert, sich etwas vorstellen und sich der vergangenen Dinge erinnern.
22. In Gott gibt es jedoch notwendig eine Idee, welche das Wesen dieses oder jenes menschlichen Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ausdrückt.
23. Der menschliche Geist kann mit dem Körper nicht absolut zerstört werden, sondern es bleibt von ihm etwas übrig, was ewig ist.
24. Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, um so mehr erkennen wir Gott.
25. Das höchste Bestreben des Geistes und die höchste Tugend ist, die Dinge nach der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen.
Der Geist kann das Wesen der Ewigkeit und was zu ihr gehört erkennen – denn Erkenntnis ist ja gerade sein Wesen:[378]
Es ist [...] diese Idee, welche das Wesen des Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ausdrückt, eine gewisse Form (Modus) des Denkens, welche zum Wesen des Geistes gehört und welche notwendig ewig ist. – Dennoch ist es unmöglich, daß wir uns erinnern, vor dem Körper existiert zu haben, da es ja im Körper keine Spuren davon geben und die Ewigkeit weder durch die Zeit definiert werden noch irgendeine Beziehung zur Zeit haben kann. Dessenungeachtet aber wissen und erfahren wir, daß wir ewig sind. Denn der Geist weiß jene Dinge, die er durch das Erkennen begreift, nicht minder als jene, die er im Gedächtnis hat. Denn die Augen des Geistes, mit welchen er die Dinge sieht und beobachtet, sind eben die Beweise.
Hiermit ist auf ein intuitives Erkennen, gleichsam ein direktes Anschauen hingewiesen. Dies nun ist auch die ,dritte Erkenntnisgattung’ – sie ,schreitet von der adäquaten Idee gewisser Attribute Gottes zur adäquaten Erkenntnis des Wesens der Dinge fort’.[378] Und hier nun kommt der Geist zu sich selbst, seinem eigenen Wesen.[380]
Der dreißigste Lehrsatz lautet dann: ,Sofern unser Geist sich und den Körper unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit erkennt, insofern hat er notwendig eine Erkenntnis Gottes und weiß, daß er in Gott ist und durch Gott begriffen wird.’[382] Aus der dritten Erkenntnisgattung entspringe notwendig die intellektuelle Liebe zu Gott – eine geistige, anschauende, in ihrem Wesen ewige Liebe.[384f] Das Ewige hat nichts mehr mit Vorstellung oder Erinnerung zu tun, die ebenso vergänglich sind wie der irdische Leib.[386] Spinozas Ausführungen gipfeln in dem Lehrsatz:[387]
Die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott ist eben die Liebe Gottes, womit Gott sich selbst liebt, nicht sofern er unendlich ist, sondern sofern er durch das Wesen des menschlichen Geistes, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit betrachtet, ausgedrückt werden kann. Das heißt, die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott ist ein Teil der unendlichen Liebe, womit Gott sich selbst liebt.
Und er erläutert, ,daß Gott, sofern er sich selbst liebt, die Menschen liebt, und folglich, daß die Liebe Gottes zu den Menschen und die intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott eins und dasselbe sind.’ Und weiter: ,Hieraus erkennen wir deutlich, worin unser Heil oder unsere Glückseligkeit oder Freiheit besteht. Sie besteht nämlich in der beständigen und ewigen Liebe zu Gott oder in der Liebe Gottes zu den Menschen.’[388] ,Es gibt in der Natur nichts, was dieser intellektuellen Liebe entgegengesetzt wäre oder sie aufheben könnte.’[389]
Hiermit hat Spinoza seinen Endpunkt erreicht. Die höchste Glückseligkeit des Menschen ist das Wahrmachen der wahren Natur seines Geistes – in der Erkenntnis Gottes in einer ewigen Liebe. Spinozas Gott aber ist absolut unpersönlich – er ist letztendlich alles.25
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Nicht nur die jüdische Gemeinde hatte Spinoza ausgeschlossen, auch auf christlicher Seite galt er so sehr als ein Atheist, dass etwa das Verdikt ,Athée de Systême’26 des einflussreichen Dictionnaire von Pierre Bayle repräsentativ für die gesamte Zeit war. In Holland war sein ,Traktat’ bereits 1674 verboten worden, die 1677 posthum erschienene ,Ethik’ teilte ein Jahr später das gleiche Schicksal.[23] 27
Bayle bezeichnete Spinozas Lehre als ,la plus monstrueuse Hypothese qui se puisse imaginer, la plus absurde’ und kolportiert eine Behauptung, dieser habe den Charakter der Verworfenheit (reprobation) im Gesicht getragen, muss aber gleichzeitig fast bewundernd Spinozas völlig tadellose, vorbildliche Lebensführung zugeben.[27] 28 Dies ändert nicht das Geringste daran, dass der Spinozismus Ende des 17. Jahrhunderts ein Skandal ist.[32]
In einem Brief bekannte Spinoza 1675 seinen Glauben mit folgenden Worten:[76] 29
Und weil wir wissen, (um mit dem Apostel Johannes I. Brief cap. 4. vers 13 zu sprechen), dass wir in Gott bleiben und Gott in uns, so folgt, dass Alles, was die Römische Kirche von anderen Kirchen unterscheidet, überflüssig, daher nur durch Aberglauben eingerichtet ist. Denn um mit Johannes zu sprechen, die Gerechtigkeit und Nächsten-Liebe ist das einzige sichere Zeichen des wahren katholischen Glaubens und die Frucht des wahren heiligen Geistes; wo diese gefunden werden, da ist Christus in Wahrheit, und wo sie fehlen, da fehlt auch Christus. Nur durch Christi Geist können wir in der Liebe der Gerechtigkeit und Mildthätigkeit erhalten werden.
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), vierzehn Jahre nach Spinoza in Leipzig geboren, lernte schon mit acht Jahren dank der Bibliothek des kurz zuvor verstorbenen Vaters selber Latein und Griechisch und entwickelte mit zwölf bei logischen Fragestellungen die Anfänge einer mathematischen Zeichensprache. Als junger Mann entwickelte er eine Rechenmaschine für die vier Grundrechenarten und wurde Mitglied der ,Royal Society’ in London, bald darauf auch der Akademie der Wissenschaften in Paris. Das von ihm weiterentwickelte duale Zahlensystem ist die Basis der heutigen Informationstechnologie.30
Auf der Rückreise aus Paris besuchte Leibniz 1676 auch ,seinen philosophischen Lieblingsfeind Spinoza’.31 Er wurde dann als Hofbibliothekar in die herzogliche Residenzstadt Hannover berufen – und trug fast vier Jahrzehnte später durch juristische Gutachten noch dazu bei, dass Kurfürst Georg Ludwig 1714 als Georg I. König Englands wurde (Personalunion Hannover-England). Mit Georgs Schwester Sophie Charlotte, Gemahlin des Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg, der sich ab 1701 ,König Friedrich I. in Preußen’ nannte, stand Leibniz in engem Austausch. Sie trug wesentlich dazu bei, dass Friedrich in Berlin die Akademie der Wissenschaften gründete, deren erster Präsident Leibniz wurde.
Leibniz war im Grunde der letzte Universalgelehrte. Zu seinen Erkenntnissen und Initiativen zählen unter anderem die Gründung einer Witwen- und Waisenkasse, die Staffelwalze der mechanischen Rechenmaschine, die Integral- und Differentialrechnung, ein Beweis für das Unbewusste, wesentliche Impulse zur Begründung der modernen Sprachwissenschaft (vor allem der Indogermanistik), eine Modernisierung des Rechts und die Idee einer europäischen Föderation.
1710 veröffentlicht Leibniz seine ,Essais de Théodicée’, in denen er vertritt, dass unsere Welt ,die beste aller möglichen Welten’ sei, die die größtmögliche Mannigfaltigkeit besitze. Voltaire hat diesen Gedanken in seinem ,Candide’ (1759) scharf parodiert. Leibniz jedoch meinte, dass das Gute auch von Gott nicht mit weniger Übel verwirklicht werden könne – und dass es nicht um den jetzigen Zustand gehe, sondern um das Entwicklungspotential. Laut Leibniz habe Gott die Summe aller möglichen Welten ebenso vorgefunden wie die logischen Wahrheiten mathematischer Sätze – und die beste gewählt und wirklich werden lassen.
Leibniz sieht den absoluten Determinismus nicht im Widerspruch zur Freiheit. Wikipedia formuliert es folgendermaßen:
Obwohl mit der Wahl der Welt jede Handlung eines Menschen zum Beispiel vollständig unverrückbar festliegt, so ist die Tatsache, dass sich ein Mensch in einer Situation so und nicht anders verhält, völlig frei (im Sinne von unvorhersehbar). Dass sich ein Mensch so verhält (so verhalten würde), ist gerade der Grund, warum die Welt gewählt wurde. Ein anderes Verhalten wäre entweder logisch nicht möglich (nicht kompossibel mit dem Rest der Welt) oder würde eine moralisch schlechtere Welt bedingen.
1714 veröffentlicht Leibniz seine ,Monadologie’. Alles besteht sozusagen aus Monaden, Urbestandteilen der Weltsubstanz, sozusagen spirituelle Atome, die durch Gott vereint werden – woraus die ,prästabilierte Harmonie’ hervorgeht, ein für Leibniz zentraler Begriff. Ähnlich wie für Spinoza in gewisser Weise Geist und Körper zwei Seiten desselben sind, ist für Leibniz Materie nur ein ,Anderssein der Seele’. Bei Leibniz kommt aber der prägnante Gedanke der Harmonie hinzu – die Gott bei der Schöpfung der Monaden diesen gleichsam eingeschrieben habe. In diesem Zusammenhang vergleicht Leibniz Gott regelrecht mit einem Uhrmacher.
Der Harmonie-Gedanke ermöglichte Leibniz auch die Anschauung eines psychophysischen Parallelismus: Körper und Seele sind nicht in irgendeiner Richtung kausal abhängig voneinander, sondern körperliche Vorgänge folgen dem Kausalprinzip, seelische dagegen dem Prinzip von Zielen und Zwecken (Teleologie).
Heinrich Heine sieht sowohl Leibniz als auch John Locke (1632-1704) in der Nachfolge Descartes’ – mit polarem Ansatz. In seinem unnachahmlichen Stil schreibt er 1834, Locke habe den menschlichen Geist zu einer von der Außenwelt abhängigen englischen Maschine gemacht (Materialismus), während Leibniz die ,angeborenen Ideen’ aufgriff (Idealismus):32
In Deutschland popularisierte Christian Wolff (1679-1754) die Leibnizsche Lehre und ,schuf als erster in Deutschland ein System, das alle grundlegenden Bereiche des philosophischen Wissens umfaßte’. Die Wolffsche Schule verband die Vernunft mit dem christlichen Glauben, der rational interpretiert wurde. Zentrum der ,Popularphilosophie’ war Berlin.33 Heine zeichnet auch diese Strömung sehr deutlich und macht erlebbar, wie das Christentum hier eigentlich immer mehr in bloßer Ratio erstarrt.34
Das Lebensgefühl der jungen Generation des ,Sturm und Drang’ verkörperte vor allem Johann Gottfried Herder (1744-1803).35 In Ostpreußen geboren und als Student in Königsberg vor allem auch Hörer der Vorlesungen Kants, wird Herder zunächst an die Domschule in Riga berufen, polemisiert leidenschaftlich gegen die orthodoxe Theologie und entflieht 1769 den beengten Verhältnissen in Riga schließlich durch eine Seereise nach Frankreich für immer. 1770 inspiriert er in Straßburg den fünf Jahre jüngeren Goethe, indem er ihn unter anderem auf Shakespeare hinweist.[49]
Auf dem Meer erfasste auch Herder die gewaltige Sehnsucht, ganz ureigen zu werden.[50] 36 Er erkannte immer mehr, dass es darum ging, die lebendige, bewegende Grundkraft in allem, vom Stein bis zum menschlichen Bewusstsein, zu erfassen, als schöpferische Lebendigkeit zu fühlen. Was der Verstand durch den Begriff der Kausalität als Notwendigkeit deutet, ist in Wirklichkeit eine tiefe, aller Schöpfung innewohnende Freiheit.[50] Diese ist das geheime Ziel der Schöpfung – und der Mensch muss dies mit lebendigen Begriffen erkennen und selbst Zusammenhänge schaffen, denen dieses Ziel innig zugrundeliegt. Safranski formuliert:[51]
Alle Bereiche [...] – von der Poesie bis zur Politik, vom Animalischen bis zur Völkerkunde, von den Mineralien bis zu den Göttern – sollten mit diesen lebendigen Begriffen neu verstanden werden [...] Das Leben muß gesellschaftlich so organisiert werden, daß jeder seinen individuellen Lebenskeim entfalten kann. [...] Auf die Entwicklung des Individuums kommt es an. In jedem steckt ein Genie, aber in der Regel wird es erstickt [...].
Die rationale Metaphysik der Wolffschen Schule konnte die jüngeren Geister nicht mehr befriedigen – ebenso wenig aber der Materialismus, wie er mit Francis Bacon († 1626) und, Thomas Hobbes († 1679) aufkam und dann vor allem von französischen Philosophen vertreten wurde, extrem unter anderem von Julien Offray de La Mettrie († 1751) und Paul-Henri Thiry d’Holbach († 1789). So erklärte La Mettrie in ,L’Homme-Machine’ (der Mensch eine Maschine, 1748), nicht er sei der Autor seiner Bücher, sondern sein Körper.[67]
Gegen diesen Reduktionismus erhoben die edleren Geister aus innerstem Erleben heraus Einspruch – Shaftesbury († 1713), Rousseau († 1778) und Herder († 1803) etwa. Sie erkannten, dass durch diese primitive Weltanschauung ,der Reichtum des gelebten Lebens mit seiner Spontaneität, seinen Gefühlsqualitäten und schöpferischen Kräften’ geleugnet wurde.[68]
Shaftesbury etwa verwies sehr tief auf den ,Gemeinsinn’ (Sensus Communis), eine unmittelbare Empfindung des Miteinander, des Zusammenstimmens, des Wohlwollens. Für ihn ist offensichtlich, dass jeglicher Egoismus nicht das Wesen des Menschen ausmacht.[69] Mit dem Fühlen hatte die Seele ihre Mitte gefunden: Weder erdrückende Metaphysik noch reduktionistische Körper-Wissenschaft, sondern die Freude, ein Mensch zu sein: das alles zusammenfassende Ich-Gefühl, in dem jederzeit aber auch die ganze Welt aufleben konnte. Und erst hier, im Fühlen, begann wirklich das Reich der Freiheit...[70]
Und damit sind wir wieder bei Herder. Er sah überall das Individuelle in seiner jeweils einzigartigen, lebendigen, schöpferischen Ausdrucksgebärde. Zentral ist nicht der ,Logos’, sondern die ,Poiesis’.[71] 37
Dem Einfluss der Hermetik und Alchemie auf den jungen Goethe nachzugehen, ist hier nicht der Raum. Verfolgen wollen wir jedoch seine bald einsetzende Nähe zu Spinoza.38
In seinem Aufsatz ,Zum Schäkespears Tag’ (1771) heißt es, ,was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die so nothwendig zu seiner Existenz, und in das Ganze gehört [...]’.[174] Bei Shakespeare formuliert es Hamlet: ,[...] an sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu’.[188] 39 Es ist Goethes starkes Credo, nicht bloß-menschliche Maßstäbe an alles anzulegen, vielmehr allem seinen Eigenwert zuzugestehen.
Schon dem jungen Goethe ist die Verehrung von Heiligen oder persönlichen Gottesgestalten fremd.[92] 1773 erhielt er dann über Merck eine Ausgabe mit Werken Spinozas.[88] In den ersten vier Monaten des Jahres 1774 entsteht der ,Werther’. Dieser nennt Christus den ,Lehrer der Menschen’ – wie Spinoza, für den Christus ,bloß allgemeine Sittengesetze’ lehrte, sowie Lessing, für den Christus ebenfalls ein ,von Gott erleuchteter Lehrer’ ist.[71] 40
In ,Dichtung und Wahrheit’ erinnert sich der alte Goethe:41
Dieser Geist, der so entschieden auf mich wirkte, und der auf meine ganze Denkweise so großen Einfluß haben sollte, war Spinoza. Nachdem ich mich nämlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehn hatte, geriet ich endlich an die „Ethik“ dieses Mannes. Was ich mir aus dem Werke mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen haben, davon wüßte ich keine Rechenschaft zu geben, genug, ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt aufzutun. Was mich aber besonders an ihn fesselte, war die grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satze hervorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: „Wer Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß Gott ihn wieder liebe“, mit allen den Vordersätzen, worauf es ruht, mit allen den Folgen, die daraus entspringen, erfüllte mein ganzes Nachdenken. Uneigennützig zu sein in allem, am uneigennützigsten in Liebe und Freundschaft, war meine höchste Lust, meine Maxime [...]. [...] Die alles ausgleichende Ruhe Spinozas kontrastierte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise, und eben jene geregelte Behandlungsart, die man sittlichen Gegenständen nicht angemessen finden wollte, machte mich zu seinem leidenschaftlichen Schüler, zu seinem entschiedensten Verehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn suchten sich mit notwendiger Wahlverwandtschaft, und durch diese kam die Vereinigung der verschiedensten Wesen zustande.
Und eine weitere Passage beschreibt, wie sehr Goethe sich durch Spinoza auch insofern eins mit der Natur fühlte, als er auch seine ganze Dichtergabe als Natur betrachtete:42
Insofern mir aber die Hauptpunkte jenes Verhältnisses zu Spinoza unvergeßlich geblieben sind, indem sie eine große Wirkung auf die Folge meines Lebens ausübten, will ich so kurz und bündig als möglich eröffnen und darstellen.
Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte. Alle Menschen sind hierin, unbewußt, vollkommen einig. Man bedenke, wie eine Naturerscheinung, die auf Verstand, Vernunft, ja auch nur auf Willkür deutet, uns Erstaunen, ja Entsetzen bringt. [...]
Ein ähnliches Entsetzen überfällt uns dagegen, wenn wir den Menschen unvernünftig gegen allgemein anerkannte sittliche Gesetze, unverständig gegen seinen eignen und fremden Vorteil handeln sehen. Um das Grauen loszuwerden, das wir dabei empfinden, verwandeln wir es sogleich in Tadel, in Abscheu [...].
Diesen Gegensatz, welchen Spinoza so kräftig heraushebt, wendete ich aber auf mein eignes Wesen sehr wunderlich an, und das Vorhergesagte soll eigentlich nur dazu dienen, um das, was folgt, begreiflich zu machen. | Ich war dazu gelangt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr, als ich darauf gewiesen war, die äußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor.
Ganz ähnlich war der Einfluss Spinozas auf Herder. Dieser hatte bereits in Straßburg (1770) Spinozas ,Traktat’ gelesen,[142] Ende 1774 dann die ,Ethik’, und Anfang 1775 schrieb er an Gleim, anknüpfend an eines seiner Gedichte:[145] 43
Eine Idee, von der unser Occident ganz fern ist [...]: nämlich daß der Himmel überall sei, daß vor Gott Raum und Zeit verschwinde, daß er aber nur, wo Gedank’ ist, wohnen könne, und, wo der reinste Gedank’ ist, wirkende Liebe! daß diese Gott ist, Gott in jedem Punkt, oder vielmehr in keinem Punkte: sie ist, wie sie handelt, in der Ewigkeit [...], umfaßt alles, fließt mit allem, was so denkt und liebt, zusammen, thut also alle Werke, die in der Welt geschehen, ist Gott! – Die Ideen lauten schwärmerisch und sind die kälteste, eigentlichste Metaphysik. Lesen Sie Spinozas Moral [...].
Herder kannte damals Goethes Werke kaum, nach der Straßburger Zeit erneuerte sich ihre Freundschaft erst 1776 in Weimar, ,und wieder vereinigten sich beide in der Verehrung Spinozas, des Heiligen und Bruders Christi’.[146] Im Erbe des Sturm und Drang kann Herder Spinoza und johanneisches Christentum unmittelbar zusammenbringen. Ähnlich ist es bei Goethe und mehr noch Lessing. Diesem nun wollen wir uns jetzt zuwenden.
6 Neues Organon, Erstes Buch, 1.-3. Abschnitt. Zeno.org, dort zitiert nach Franz Bacon's Neues Organon. Berlin 1870.
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