Wunder eines Sommers - Holger Niederhausen - E-Book

Wunder eines Sommers E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Der 16-jährige Tom hat es nicht leicht: Sein arbeitsloser Vater hat ein Alkoholproblem, seine Freundin Lea hat etwas gegen sein ‚Gegrapsche’, er selbst will cool sein, läuft vor Fehlern aber schnell davon und fühlt sich ebenso schnell wie das fünfte Rad am Wagen. Durch spezielle Umstände begegnet er einem alten Holzschnitzer – und diese Begegnung ist der Beginn einer fundamentalen Wende in seinem Leben ... die zugleich seine ganze Umgebung in eine ganz ungeahnte Veränderung mit hineinzieht.

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen…

Er hatte schlechte Laune – und das war weit untertrieben. Es war mitten in den Sommerferien, und seine idiotischen Eltern hatten nicht einmal genug Kohle, um irgendwie Urlaub zu machen. Vor acht Monaten hatte sein Vater seinen Job bei einer Spedition verloren, den er ebenfalls nicht lange gehabt hatte. Und seine Mutter? Saß nur zuhause und las Frauenzeitschriften. Jetzt saß sein Vater auch zuhause und hatte ein Alkoholproblem.

Und er? Er saß hier fest mit diesen idiotischen Eltern, in diesem absolut öden, langweiligen Ort, in dem alle Welt Ferien machte, während er hier täglich leben musste. Noch zwei Jahre, dann war er erwachsen. Und dann? Dann hätte er noch knapp zwei Schuljahre vor sich, weil er in dieser bescheuerten siebten Klasse einmal sitzengeblieben war. Danach endlich Abitur – und dann Schluss mit dem ganzen Mist. Was dann kam, das wollte er jetzt überhaupt noch nicht wissen. Auf jeden Fall was anderes als seine Eltern! Raus – weg von zuhause, wie auch immer.

Aber wie sollte er verdammt nochmal jetzt erst einmal die letzten Ferienwochen überstehen? Er schickte eine SMS an Lea. Er war mit ihr seit drei Monaten zusammen. David und Jan hatten ganz schön geguckt, als er Arm in Arm mit ihr angekommen war. Die Versager versuchten sich auch mal an der und mal an jener – und konnten von Glück sagen, dass sie zur Zeit auch beide eine Freundin hatten, Nina und Anna. Man konnte Wetten abschließen, wie lange das hielt!

Am liebsten würde er jetzt mit Lea ein Eis essen gehen und danach hier auf dem Brunnen am Marktplatz sitzen und mit ihr rumknutschen. Aber nein – sie war natürlich im Urlaub! Zum Glück waren David und Jan bereits wieder da. Er rief sie an, und sie verabredeten sich beim Eiscafé.

Er wartete noch zehn Minuten, dann glitt er vom Brunnenrand und schlenderte gemütlich die Straße entlang. Am anderen Ende kamen ihm die beiden auch schon entgegen. Sie wohnten fast nebeneinander und konnten sich so nie verfehlen.

„Hi, Tom“, sagte David.

„Hi“, sagte er. Tom war sein Spitzname – Tom für Thomas.

„Na, zur Feier des Tages ‘n Eis? Weil wir auch diesen Ferientag schon halb überlebt haben?“

Die beiden grinsten.

„Klar“, sagte Jan.

Sie schlenderten zur nahegelegenen Terrasse des Eiscafés. Als sie diese fast erreicht hatten, hielt er die beiden kurz an. Er zeigte auf einen Tisch, an dem ein alter Mann und ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen saßen. Vielleicht könnte man die Kleine ein bisschen ärgern. Sie verstanden.

Er steuerte auf den Tisch zu, und Jan und David folgten ihm. Als sie zwei Tische weiter Platz genommen hatten, beobachtete er das Mädchen. Löffelte ihr Eis und lächelte zwischendurch brav den Alten an – wie blöd war das denn! Opa und Enkelin, wie rührend! Der Alte war vielleicht sogar von hier, das Mädchen sicher nicht, er hatte sie definitiv noch nie gesehen.

„Rührend, was?“, sagte er spöttisch und grinste den beiden anderen zu.

Die lachten, laut genug, dass man es hören konnte.

Der Alte war so ein typischer Berg-Opa. Er könnte direkt von einer Alm heruntergekommen sein. Ein bisschen Respekt konnte man vor so einem stämmigen Opa mit grauem Bart schon haben, aber das interessierte ihn jetzt nicht – und diese Grenze würde er jetzt ganz bewusst übertreten.

„Wie Heidi und der Öhi!“, flüsterte Jan.

Stimmt! Das, war das Stichwort.

Er fixierte die Kleine – sie war jedenfalls mindestens ein Jahr jünger als er – und sagte laut in ihre Richtung:

„Na? Bist du mit deinem Opa Eisessen?“

Er warf seinen Kumpels einen kurzen Blick zu. Die beiden konnten sich das Lachen kaum verkneifen.

Das Mädchen tat so, als hörte es nichts. Natürlich hatte sie es gehört, das war deutlich zu bemerken. Er sammelte seinen Spott und fragte genüsslich:

„Bist du das Heidi?“

Die Kleine schaute ihren Opa an. Wirklich rührend! Aber plötzlich blickte sie giftig zu ihm herüber und sagte wütend:

„Ihr habt überhaupt keine Ahnung! Haltet lieber die Klappe!“ Jetzt wurde es interessant. Diese harmlose Kleine! Er verstellte seine Stimme und konstatierte süßlich:

„Oho, das Heidi wird frech…“

Jan und David lachten nun ganz offen.

Da wandte der Alte ihnen sein Gesicht zu. Während einer langen Sekunde fühlte er dessen Blick auf sich ruhen, dann erfasste dieser Blick auch seine beiden Kumpel. In einer merkwürdigen Weise fühlte er sich durchschaut. Nun sagte der Alte:

„Wie alt seid ihr Jungs? Sechzehn? Ihr wollt bald erwachsen sein, oder nicht? Habt ihr so etwas wirklich noch nötig?“

„Ja, warum nicht?“

Das war Jan. In seinem Schutz wagte er sich vor und versuchte zu provozieren. Typisch! Na klar, sie könnten jetzt Stress machen, aus Spaß Ernst werden lassen und gucken, wie weit sie noch gehen konnten. Aber sie hatten längst verloren. Alles Weitere würde nur noch peinlich für sie werden.

„Überleg mal“, sagte der Alte trocken und wandte sich wieder ab.

Okay, das war’s. Es war bereits absolut peinlich. Er stand auf.

„Kommt, wir gehen.“, sagte er.

Jan und David folgten ihm ohne ein weiteres Wort.

Als sie außer Hörweite waren, schloss Jan zu ihm auf.

„He, warte mal. Wieso bist du denn einfach gegangen?“

„Frag nicht so blöd“, erwiderte er gereizt.

„Wieso blöd? Ich dachte, wir wollten das Mädel ein wenig ärgern?“

„Du hast den Alten doch gehört?“

„Ja und? Von dem hätten wir uns doch nicht einschüchtern lassen brauchen.“

„Ach nein? Du traust dich doch eh nur, wenn wir dabei sind!“

„Und du? Du traust dich noch nicht mal dann.“

Er stoppte – und sie hielten an. Wütend fixierte er Jan und sagte:

„Halt du jetzt die Schnauze!“

Sie setzten ihren Weg zum Brunnen am Marktplatz fort und kamen schweigend dort an.

Er setzte sich wieder auf den Rand und nahm das Gespräch erneut auf:

„Ist doch einfach nur ein Scheißtag heute!“

„Wann kommt Lea wieder?“, fragte Jan versöhnlich.

„In zweieinhalb Wochen – am letzten Ferientag.“

„Und…“, setzte David an.

„Was?“

„…habt ihr neulich…?“

„Sex gehabt?“

Natürlich wollten die beiden es wissen. Er hatte sich eh schon gewundert, wie sie die Frage so lange zurückhalten konnten. Er hatte ihnen erzählt, dass er es mit Lea machen würde, und dann waren ihre Eltern an einem Abend ins Theater gegangen, und sie hatten es getan…

„Ja“, fragte nun auch David, „habt ihr?“

„Natürlich – hab ich doch gesagt“, erwiderte er trocken.

„Und?“, fragten die beiden fast wie aus einem Mund.

„Wie war es?“, fügte David hinzu.

„Einfach nur geil.“

„Erzähl doch mal“, drängte David nun mutiger.

„Geht dich gar nichts an. Bist du noch nicht aufgeklärt, oder was?“

„Hey, du kannst doch deinen Freunden wohl mal ein bisschen was erzählen?“, sagte Jan.

„Mann, ich habe gesagt, es war geil. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Mach’s doch selber!“

Er genoss seinen uneinholbaren Vorsprung in vollen Zügen. Nina und Anna würden die beiden sicher nicht so schnell an sich ranlassen, wenn überhaupt, da ging er fast jede Wette ein. Ein leises Murren von Jan bestätigte seine Vermutungen.

„Sag doch Anna einfach, dass du es willst – dann wird sie schon –“

„Ha, ha“, erwiderte Jan langgezogen, „wenn das so einfach wäre!“

„Wie – nicht?“, fragte er ironisch. „Ihr knutscht doch auch überall rum. Wieso nicht ein wenig tiefer gehen…“

Jan atmete hörbar aus.

„Das wird so schnell nichts.“

„Dann musst du’s wohl noch ne Weile allein machen.“

„Idiot!“

Er grinste.

„Selber.“

„Du hast gut lachen“, mischte sich David nun wieder ein.

„Wie hast du das denn geschafft?“

Er stöhnte genervt, jedenfalls tat er genervt.

„Mann, Dave, frag sie einfach. Nein, quatsch, sag es Nina einfach, dass du es willst – und dann macht ihr’s.“

Jetzt stöhnte auch David, resigniert.

„Ich hab gar nichts geschafft“, antwortete er nun auf Davids Frage, „Lea wollte es genauso wie ich.“

„Du hast’s gut“, kommentierte David.

„Tja“, sagte er gespielt locker. „Vielleicht seid ihr den Mädels noch nicht reif genug…“

„Idiot!“, sagte Jan wieder. „Mann, jetzt tu doch nicht so! Einmal Sex gehabt und tut jetzt ganz groß!“

„Na, dann frag halt nicht.“

Er hätte sie gerne noch länger gequält. Darum machte er noch einen Ansatz:

„Warte halt, bis die Reihe auch an dich kommt, wenn du’s nicht selbst herbeiführen kannst…“

*

Sie hatten dann nicht mehr sehr viel mit sich anzufangen gewusst. Als schließlich jeder wieder nach Hause ging, musste Thomas sich eingestehen, dass dieser Tag gründlich schief gelaufen war.

Die Wahrheit war es auch nicht ganz gewesen, womit er vor den beiden so geprahlt hatte. Ja, es war geil gewesen. Aber irgendwie musste er sich doch etwas ungeschickt angestellt haben. Denn so toll es wohl auch Lea gefunden hatte – gekommen war sie nicht… Was natürlich sicher daran gelegen hatte, dass es bei ihm auf einmal so furchtbar schnell gegangen war. Er wollte es bei ihr dann mit der Hand machen, aber sie hatte seine Hand dann weggeschoben…

Lustlos stieg er die drei Stockwerke bis zu seiner Wohnung hoch. Er schloss auf. Seine Mutter war noch einkaufen, sein Vater saß vor dem Fernseher, natürlich mit der Bierflasche in der Hand. Er schloss ohne zu grüßen die Wohnzimmertür, ging zurück in sein eigenes Zimmer, warf sich aufs Bett und drehte die Stereoanlage auf.

Als seine Mutter wiederkam, ging er in die Küche. Er wollte einen Joghurt essen.

„Hi.“

„Hallo, Thomas.“

„Wo ist der Joghurt?“

„Oh, den habe ich vergessen.“

Stöhnend fragte er:

„Und was soll ich jetzt essen?“

„Was du willst.“

„Na, toll!“

„Kauf doch selbst ein, anstatt mit deiner Mutter so zu reden!“, hörte er die scharfe Stimme seines Vaters hinter sich. Plötzlich stand dieser wie aus dem Nichts da. Vielleicht hatte er einmal zur Toilette gemusst und sie dabei gehört.

„Ich habe ihr extra gesagt, sie soll Joghurt kaufen!“, verteidigte er sich ebenso scharf.

„Dann kaufst du eben selbst welchen!“, entgegnete sein Vater noch wesentlich drohender als vorher.

„Scheiße…“, zischte er wütend.

„Was!?“, fragte sein Vater herausfordernd.

„Scheiße hab ich gesagt.“

„Du kriegst gleich was hinter die Ohren!“

Er hatte in Wirklichkeit noch nie etwas bekommen, aber wenn die ‚Gespräche’ bis hierhin eskaliert waren, hatten sie immer einen Punkt erreicht, den er nicht zu überschreiten wagte, denn er wusste, dass sein Vater die Drohung wahrmachen konnte.

Wütend hielt er dem Blick seines Vaters stand, sagte aber nichts mehr… Provokativ ging er an ihm vorbei in sein Zimmer.

Von dort hörte er dann, wie sein Vater mit seiner Mutter in Streit geriet. Er hörte nicht die Worte, aber es war immer dasselbe… Und wie immer hörte er mit einer Mischung aus Triumph und Selbsthass zu. Triumph, weil er wusste, dass seine Mutter ihn irgendwie verteidigte, jedenfalls mit seinem Vater nicht einverstanden war. Selbsthass, weil er wusste, dass er allein Schuld an dem Streit war, den nun auch seine Mutter auszubaden hatte.

Wann würde er dies endlich nicht mehr miterleben müssen?

Zwei Wochen später hatte er die Zeit ohne Lea fast überstanden. Er saß wieder einmal alleine auf dem Brunnenrand und beobachtete die Leute. David und Jan waren jetzt ebenfalls verreist. Nun musste er einige Tage völlig allein überleben. Ein Scheißleben war das…

Irgendjemand, der ihm bekannt vorkam, kam auf einmal auf ihn zu. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ihm dämmerte, dass dies der Alte vom Eiscafé neulich war. Als ihm dies klar wurde, war es für jede vernünftige Reaktion oder eventuell sogar Flucht längst zu spät. Nun stand er bereits vor ihm und sagte:

„Erinnerst du dich?“

Wieder fühlte er sich von diesem festen Blick gemustert, nein, nicht so sehr gemustert, eher festgehalten oder, ja… durchschaut. Er versuchte, ihm standzuhalten, und erwiderte wie nichtsahnend:

„Was denn?“

„Was sollte das neulich?“, war die ruhige, aber doch auch fordernde Antwort.

„Was denn?“, versuchte er es noch einmal.

Der Alte schaute ihn unverwandt an.

„Kannst du nicht ehrlich zu dir selbst stehen?“

Siedendheiß durchströmte es ihn. Das war die falsche Frage…

„Was denn…“, sagte er ein drittes Mal, nun beschwichtigend.

„Ich hab doch nur ein bisschen Spaß gemacht.“

Obwohl der Alte vor ihm stehen musste, während er auf dem erhöhten Brunnenrand saß und versuchte, betont lässig zu sein, fühlte er sich innerlich wesentlich kleiner als der Mann vor ihm. Dieser sagte nun:

„Spaß…“

Die Stille nach diesem Wort ließ ihn noch kleiner werden.

„Denkst du bei dem Spaß eigentlich auch einmal an diejenigen Menschen, die du als Opfer wählst?“

Und noch etwas kleiner… Er versuchte, sich zu behaupten.

„Hey, Mann, Spaß – okay? Spaß…!“ Er spürte, wie er wieder Oberwasser bekam. Darum fügte er hinzu: „Wer sich wie ein Opfer fühlt, ist doch selbst schuld…“

„Oh ja!“, sagte der Alte nun wie zustimmend. „Damit machst du dir die Sache natürlich sehr einfach. Du kannst deinen Spaß haben, wie du es willst, und wer diesen ‚Spaß’ nicht mitmacht oder einfach von dir nicht belästigt werden möchte, der ist im Unrecht, wie?“

Auf eine solche Diskussion war er nicht vorbereitet. Doch der Alte fügte noch hinzu:

„Woher nimmst du dir eigentlich das Recht, Menschen zu beleidigen?“

Kurz spürte er, dass er die Wahl hatte: die Wahl, sich nun ganz und gar klein und schuldig zu fühlen – oder alles von sich abzuwerfen und diesen moralisierenden Alten einfach nur stehen zu lassen. In der nächsten Sekunde fühlte er schon seinen Ärger aufsteigen und hörte sich selbst sagen:

„Ach, leck mich doch!“

In diesem Moment wusste er, dass der Alte ihm nichts anhaben konnte. Er beeilte sich darum auch nicht, als er vom Brunnenrand herunterglitt, und ging dann an ihm vorbei in dieselbe Richtung weg, aus der der Alte ihm entgegengekommen war. Es kostete ihn einige Mühe, sich nicht umzudrehen, aber er schaffte es…

Als er nach endlosen Sekunden schließlich um die nächste Ecke gebogen war, hatte er nicht nur eine halbe Ewigkeit die Blicke des Alten in seinem Rücken gespürt, sondern auch die ganze Zeit gewusst, dass dies die falsche Reaktion gewesen war. Er hatte stark sein wollen – und war äußerlich auch stark gewesen –, aber er hatte ein zweites Mal verloren, diesmal noch stärker, und diesmal erst recht nicht gegen den Alten, sondern gegen sich selbst…

Während er mechanisch weiterging, begann die Erkenntnis zu ihm durchzudringen, dass der Alte ihm leidtat. Nicht, dass er glaubte, dieser wäre hilflos zurückgeblieben – aber immer stärker spürte er, dass der Alte ehrlich mit ihm gesprochen hatte, während er nichts anderes hatte tun können, als ihn erst recht aufs Stärkste zu beleidigen. Im Grunde war alles wahr, was der Alte gesagt hatte – und er hatte nur weglaufen können. In ihm stieg ein Entschluss auf. Doch seine Füße marschierten einfach weiter.

Erst nach etwa zwanzig Schritten konnte er stoppen. Dann dauerte es noch ganze zwei Minuten, bis er den Mut fand, seine Schritte wieder in Bewegung zu setzen… in die andere Richtung, aus der er gerade gekommen war. Er hoffte und fürchtete, dass der Alte noch da wäre. Hoffentlich war er noch da.

Aber als er den Platz wieder erreichte, war er nicht mehr da…

Vier Tage später war Lea wieder da. Sie trafen sich beim Brunnen. Es war der letzte Ferientag.

„Hey, Tom.“

„Hallo Lea!“

Er küsste sie. Und schon standen sie knutschend mitten auf dem Marktplatz, während die Leute an ihnen vorbeigingen…

Irgendwann wurde er noch mutiger und wollte ihre Brüste berühren, aber sie schob seine Hand weg und sagte:

„Lass das!“

„Tschuldige!“, verteidigte er sich.

„Was soll das, hier mitten auf dem Marktplatz!“, sagte sie ärgerlich.

„Wieso, wir küssen uns doch hier auch?“

„Spinnst du?“, erwiderte Lea. „Soll ich dir etwa auch mal an die Hose fassen?“

Er spürte, wie er rot wurde. War das etwa das Gleiche?

„Hey, ich hab mich doch entschuldigt…“

„Ja, aber verstanden hast du’s nicht!“

„Hey, Lea, wir sehen uns gerade erst wieder…“

„Warum machst du es dann gleich kaputt?“

„Das wollt’ ich doch nicht.“

„Hast du aber.“

„Wie oft soll ich mich denn noch entschuldigen.“

„Du sollst es einmal so meinen.“

„Na gut – Entschuldigung…“, sagte er, ein wenig zu schnell.

„Typisch Jungs, nicht mal das könnt ihr!“

„Hey, Mann, Lea, jetzt hab dich nicht so!“, sagte er halb ärgerlich und halb ratlos. Er fühlte sich nun lange genug verurteilt.

„Ich mich haben? Ich mich haben? Dann zieh’ mich doch gleich hier öffentlich aus! Hey, mir reicht’s jetzt!“

Sie drehte sich um und ließ ihn stehen…

Was war jetzt bloß wieder los? Er verstand die Welt und vor allem die Mädchen nicht mehr. Drei Wochen hatte er so auf diesen Moment gewartet, und nun das! Er verfluchte diese ganze Welt…

Zehn Minuten später rief er sie auf dem Handy an.

„Was ist?“, hörte er Leas Stimme.

„Lea, ich, äh…“

„Was?“

„Ich wollte mich entschuldigen.“

„Und wieso machst du so was erst?“

Das war ja ein tolles Gespräch per Handy!

„Mann, Lea, ich –“

„Ich bin kein Mann!“

„Jaaa, ich weiß.“

„Also?“

„Na ja, weil… Ach, Mann, Lea – ich meine, nicht Mann… Ich… mag dich einfach so doll…“

Versöhnliches Schweigen am anderen Ende… Dann sagte sie:

„Trotzdem muss man nicht gleich öffentlich rumgrapschen!“

„Jaja, schon gut…“

Er hatte es geschafft, sie war wieder besänftigt.

„Aber mach das bloß nicht noch einmal!“

„Nein…“

Als er dann bei ihr zuhause war, ließ sie ihn schließlich doch auch an ihren Pullover und wehrte ihn erst ab, als er sie ausziehen wollte. Ihre Mutter war schließlich in der Wohnung…

Drei Tage später sah er nach der Schule zufällig den Alten wieder. Dieser hatte ihn nicht gesehen, konnte dies auch gar nicht, denn er erkannte ihn aus einer Seitenstraße heraus, während der Alte in Richtung Marktplatz unterwegs war. Niemand verfolgte ihn also, niemand konnte ihn zur Rechenschaft ziehen, und doch fühlte er sich auf einmal wiederum von der Szene auf dem Marktplatz verfolgt.

‚Ach, leck mich doch!’, waren seine Worte gewesen, die er nun wiederum sich selbst in sich sagen hörte. Er sah sich selbst, wie er den Alten da am Brunnen stehen ließ und wegging. Wieder stieg in ihm eine Art Mitleid mit dem Alten auf, wieder spürte er, welches Unrecht er ihm mit diesen Worten angetan hatte…

Natürlich konnte er nach diesen Worten erst recht nicht wagen, ihm wieder zu begegnen. Und doch zog es ihn hinter dem Alten her, wollte irgendetwas in ihm ihn nicht ein weiteres Mal aus den Augen verlieren.

Nun sah er, wie der Alte an einem Gemüsestand einkaufte. Warum beobachtete er ihn überhaupt? Was sollte, was konnte er denn machen? Glaubte er wirklich, dass er zu ihm hingehen und irgendetwas sagen könnte? Und wenn ja, was?

Nun ja, ihm war natürlich klar, dass er sich irgendwie entschuldigen wollte. Aber das war natürlich ganz ausgeschlossen. Es trieb ihn dazu, aber alles in ihm wehrte sich dagegen. Er stellte sich vor, wie er mutig hinging, sich ehrlich entschuldigte und mutig wieder wegging, während der Alte mit großen Augen zurückblieb… Aber solche Vorstellungen waren leicht, in Wirklichkeit bekam er nicht einen Fuß vor den anderen gesetzt. Der Alte ging weiter.

Er hatte schon Angst, ihn zu verlieren, aber da sah er ihn an einem anderen Stand Eier kaufen. Kurze Zeit später, war er auch damit fertig – und nun kam er in seine Richtung! Erschrocken versteckte er sich hinter einem Stand und sah den Alten schließlich vorübergehen und wieder die Richtung nehmen, aus der er gekommen war. Mit seinem hellbraunen Lederrucksack auf dem Rücken nahm er nun den Weg in Richtung Hauptstraße.

Ratlos starrte er ihm nach. Er wusste, dass er nicht wusste, wann er ihm wieder begegnen würde – und ob überhaupt. Er wusste, dass er großes Glück gehabt hatte, ihn nach so kurzer Zeit nochmals zu treffen. Und er wusste, dass er ihn nicht wieder verlieren wollte, bevor er sich entschuldigt hatte. Unfähig, ihn anzuhalten oder einzuholen, unfähig zu einem Entschluss, ging er ihm nach. Der Alte ging immer weiter die Hauptstraße entlang, die durch den Ort führte. Wo wohnte er eigentlich? Hier standen doch überwiegend nur die Pensionen und Hotels, in denen die Urlauber wohnten.

Als er, dem Alten folgend, den Ort durchquert hatte, wurde ihm klar, dass dieser überhaupt nicht im Ort wohnte. Aber wo dann? Jetzt war es ohnehin zu spät, ihn noch in Gegenwart anderer Menschen anzusprechen. Nun, dann konnte er ihm auch sonstwohin folgen – und darauf warten, entdeckt zu werden, oder aber herauszufinden, wo er wohnte, um dann da… Er seufzte und folgte ihm einfach.

Während sie in größerem Abstand hintereinander in das nun beginnende Wäldchen gingen, überlegte er weiter. Eigentlich wohnte hier doch überhaupt keiner mehr? Es kam doch erst nach zwei, drei Stunden eine Alm – in der Nähe des Wasserfalls? Oder aber – nun dämmerte ihm etwas. Es gab da nach einer guten halben Stunde doch einen Abzweig zu einer Hütte. Am Beginn des Abzweiges wies ein Schild darauf hin, dass dort Holzsachen verkauft wurden. War der Mann etwa derjenige, der dort wohnte…? Je länger sie den Waldweg hinaufgingen, desto sicherer war er sich, es konnte gar nicht anders sein.

Schließlich stand er vor der Hütte, deren Tür sich eben geschlossen hatte. Hier also wohnte der Alte.

Er schaute sich um. Neben ihm standen einige große Holzengel, die offenbar immer draußen blieben. ‚Du meine Güte’, dachte er. ‚Was für ein Kitsch!’ Sie schienen zwar ganz gut gemacht, aber mit Engeln hatte er es nun wirklich nicht. Wurden die eigentlich nicht geklaut? Na ja, wer würde das schon tun, er jedenfalls nicht…

Aber was sollte er jetzt machen? Etwa klopfen – und auf ein freundliches ‚Herein’ warten? Der Alte hätte dann wahrscheinlich nur auf ihn gewartet und würde seine Entschuldigung mit Freuden annehmen, dachte er ironisch. Wollte er sich überhaupt noch entschuldigen? Seine Motivation sank zusehends. Einfach wieder umkehren… Aber daran hinderte ihn dann doch seine Selbstachtung. Mist. Er würde es jetzt hinter sich bringen. Er wusste nicht mehr, was er noch wollte oder nicht wollte – er wollte die ganze Sache einfach nur los sein.

Er verbannte alle Vorstellungen aus seinem Kopf, wodurch man auch unangenehme Dinge einfach auf sich zukommen lassen konnte, und klopfte an die Tür. Er hörte Schritte, der Alte kam also wieder. Die Tür öffnete sich.

Nun stand der Alte vor ihm.

„Du?“

Er schien erstaunt, aber vor allem war da wieder dieser feste Blick, dem er nun ganz und gar ausgesetzt war.

„Ähm, ja – ich…“ Er riss sich zusammen, brachte seine Unsicherheit unter Kontrolle und die unliebsamen Worte hinter sich: „Ich wollte mich wegen neulich entschuldigen.“

Einen Sekundenbruchteil schien der Alte irritiert, dann… lachte er los! Was war jetzt los?

„Das klang so, als wolltest du eine saure Pflicht hinter dich bringen. Hat dich irgendjemand geschickt?“

„Nei-in!“, sagte er irritiert. „Wieso das denn?“

„Keine Ahnung. Na ja, wer auch. Aber was soll das jetzt? Woher weißt du überhaupt, wo ich wohne?“

Mist – so schnell kam er hier nicht wieder raus. Er sammelte seine Coolness für eine Rechtfertigung in gebotener Kürze:

„Ich… mir tat es neulich am Brunnen hinterher einfach leid. Es war – es war ein bisschen zu grob! So, darum geht’s…“

Reichte das jetzt langsam!?

Wieder lachte der Alte!

„Sag mal“, sagte er noch immer lachend, „machst du das immer so?“

„Was denn?“, fragte er wiederum irritiert und verärgert.

„Diese Friss-oder-Stirb-Methode.“

„Hä, wie?“

Der Alte wurde echt unangenehm. Was wollte er eigentlich?

„Du wirfst mir deine Entschuldigung hin, wie man Fleischbrocken einem Raubtier vorwirft. ‚Klatsch, da hast du’s’. Bloß nicht zu nahe kommen… Willst du das Raubtier überhaupt füttern – oder ist das nur so ein ‚Job’?“

Er kam mit dem Alten kaum mit. Was hatte diese Zoo-Geschichte denn jetzt damit zu tun?

„Hä, was soll denn das jetzt?“, sagte er und wurde nun wirklich wütend. „Also wenn Sie die Entschuldigung nicht wollen, dann hätt ich’s ja auch lassen können. Sorry, ey!“

Er drehte sich um und wollte gehen.

„He, warte mal.“

Er drehte sich erneut um.

„So war das nicht gemeint. Willst du nicht reinkommen?“

Er überlegte fieberhaft, ob er das wollte. Na ja, passieren konnte ja eigentlich nichts.

Wortlos ging er die zwei Schritte wieder zurück, und folgte dem Alten, der, nach einem kurzen Zögern, ebenfalls wortlos vorausging.

Drinnen war eine Art Verkaufsraum mit einer Menge Tieren, vor allem Tieren. Er streifte die Tische und Regale mit einem kurzen Blick und richtete diesen dann wieder auf den Alten. Der musterte ihn erneut einen Moment, dann sagte er:

„Setzen wir uns in die Küche.“

Der Alte ging durch eine Tür am anderen Ende des Raumes.

Als er ihm folgte, kam er in einen kleinen Raum mit Herd, Kühlschrank, Spüle, einem Tischchen und zwei Stühlen. An der Wand waren einige Regale, in denen er getrocknete Kräuter sah.

Er setzte sich auf den Stuhl, den der Alte ihm anbot.

Wieder schaute der ihn musternd an.

Er begann gerade, sich unglaublich darüber zu ärgern, als der Alte plötzlich ruhig sagte:

„Es hat dir am Brunnen wirklich leidgetan…?“

„Ja. Das war – nicht nett.“

Wieder brach der Alte in Lachen aus.

„Nein… nett war es wirklich nicht!“

Ihm war die ganze Situation unangenehm. Am liebsten wäre er möglichst schnell wieder verschwunden. Doch nun fragte der Alte:

„Wann hat es denn angefangen, dir leidzutun?“

Erstaunt bemerkte er, dass die Stimme des Alten so klang, als ob er es wirklich wissen wollte. Wie eine über den Tisch gereichte Hand, wie ein ausgerollter Teppich…

„Was weiß ich? Na ja, irgendwie gleich schon…“

„Gleich nach dem Sprechen?“

„Ja, sozusagen. Warum!?“

„Warum hast du dich dann denn nicht sofort entschuldigt?“, war die ruhige Antwort, und ebenso ruhige Augen schauten ihn nun an.

„Was weiß ich? So ist das nun mal.“

Trotz der ganzen Freundlichkeit des Alten fand er diese Fragerei sehr unangenehm.

„Also du konntest es nicht… oder du wolltest es nicht“, stellte der Alte ruhig fest.

Er dachte an die Situation zurück. Wie er weggegangen war. An seine Schritte, die ihm nicht gehorchten. An seine Umkehr. An den Moment, wo er sah, dass der Alte schon weg gewesen war…

„Vielleicht konnte ich nicht, vielleicht wollte ich nicht – was soll das jetzt?“, fragte er gereizt.

„Wie heißt du denn?“

„Thomas. Wozu die ganze Fragerei?“

Der Alte blickte auf den Tisch und atmete einmal hörbar aus, eine Art stiller Seufzer…

Dann sah er ihn wieder an und sagte:

„Thomas, du verstehst doch sicher, was ich mit den ‚Fleischbrocken’ meinte – oder nicht…“

Keine Ahnung – verstand er es?

„Weiß ich doch nicht. Was meinten Sie denn damit?“ Er spielte den Ball einfach wieder zurück.

„Du verstehst es ganz sicher sehr gut. Und doch willst du nur nicht…“

Nein, er wollte nicht.

„Du meine Güte – ist das wichtig?“

Der Alte schien kurz zu überlegen. Dann sagte er:

„Nein – es ist nicht wichtig. Wie das ganze Leben.“

„Was?“

„Es ist genauso wenig wichtig wie das ganze Leben…“, wiederholte der Alte ruhig.

„Was soll denn das jetzt?“

„Thomas…“, sagte der Alte mit seiner warmen Stimme, „ich versuche eigentlich die ganze Zeit, dich irgendwie zu erreichen, dich irgendwie zu einem Erlebnis zu führen – aber du läufst sozusagen immer wieder weg. Warum bist du eigentlich gekommen…?“

Erstaunt schaute er auf den Alten, auf dieses ruhige Gesicht. Wie – ‚erreichen’? Was hieß hier ‚Weglaufen’? Er stellte die Frage.

Der Alte sagte:

„Ich finde es sehr schön, dass du gekommen bist, dass du mir hinterhergegangen bist…“

Soweit hatte er ihn inzwischen also durchschaut.

„…aber ich finde es schade, auch für dich schade, dass du so wenig weißt, was du eigentlich willst…“

Nun atmete er selbst innerlich gleichsam hörbar aus. Er fühlte sich irgendwie total durchschaut und verstand trotz allem noch immer nur die Hälfte.

„Wieso weiß ich das nicht? Natürlich weiß ich das!“

„Dann sag es mir doch einmal…“

Ruhig schaute der Alte ihn an.

Er stöhnte, genervt.

„Ich wollte mich entschuldigen. Und das habe ich doch auch getan, oder nicht? Das war’s, was ich wollte. Reicht das jetzt langsam?“

Der Alte sah ihn einen Moment an, irgendwie traurig. Dann sagte er tatsächlich traurig, leise:

„Ja… das reicht…“

Nun stand der Alte auf, wie als ob das Gespräch zuende sei, ebenfalls langsam, traurig.

Irgendetwas in ihm zog sich zusammen. So hatte er es wieder nicht gemeint…

Er war unfähig, sich zu bewegen, aufzustehen. Kreisend suchten seine Gedanken einen Ausweg.

„Ich…“, setzte er an.

Der Alte drehte sich zu ihm um, sah ihn noch immer mit diesem traurigen Blick an.

„Ich… es tut mir ehrlich leid…“

Still sah der Alte ihn an.

„Tut es das wirklich…“

„Ja“, wiederholte er, und er fühlte es auch so.

Langsam setzte sich der Alte und schien nachzudenken, schweigend…

Dann sah er auf, sah ihn an und sagte:

„Thomas… Was will ich eigentlich sagen…“

Es klang wie eine Einleitung. Und tatsächlich, dem festen Blick des Alten folgten nun seine Worte…

„Ich wollte dich so gerne erreichen. Aber du machst immer einen Rückzieher. Und du weißt auch, was damit gemeint ist… Vielleicht nicht ganz und gar klar, aber doch eigentlich sehr klar. Dass du dann immer wieder zurückweichst, führt dazu, dass du sozusagen glaubst, dir einredest, es nicht zu wissen. Du denkst einfach nicht weiter nach, spielst den Ball einfach wieder zurück. Und indem du nicht nachdenkst, brauchst du dich mit deinen eigenen Gefühlen, deinem eigenen Sein, mit dem realen Thomas nicht wirklich zu konfrontieren…“

Der Alte schwieg einen Moment. Auf einmal wusste er noch weniger, wohin mit seinem Blick, wie diesem Blick standhalten…

„Ich will dich nicht beschämen“, fuhr der Alte fort. „Denk nicht oder fühle nicht, dass es das ist, was ich will. Denn das ist es absolut nicht. Ich will dich erreichen. Aber erreichen kann ich dich nur, wenn der wirkliche Thomas auch da ist. Da ist er aber nur, wenn er auch fühlt, was er fühlt. Wenn er auch denkt, was er weiß und erkennt. Verstehst du? Kannst du verstehen, was ich meine? Nur, wenn du nicht zurückweichst, sondern wenn du wirklich dableibst