Läuternde Lauterkeit - Holger Niederhausen - E-Book

Läuternde Lauterkeit E-Book

Holger Niederhausen

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Beschreibung

Von dem wahren Wesen des Mädchens geht ein unaussprechlicher Zauber aus. Bereits das Ewig-Weibliche 'zieht hinan', wie Goethe sagt, doch schon für Faust war es ein Mädchen. Dieses Buch vertieft sich in den Zauber des Mädchens, seiner Unschuld, das Mysterium des heiligen Eros und das Geheimnis der Läuterung, die das Mädchen mit seinem ganzen Wesen auf die männliche Seele ausübt.

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Das Menschenwesen hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren und Guten. Diese kann von vielem anderen verschüttet worden sein, aber sie ist da. Und seine andere Sehnsucht ist, auch die eigene Seele zu einer Trägerin dessen zu entwickeln, wonach sich das Menschenwesen so sehnt.

Diese zweifache Sehnsucht wollen meine Bücher berühren, wieder bewusst machen, und dazu beitragen, dass sie stark und lebendig werden kann. Was die Seele empfindet und wirklich erstrebt, das ist ihr Wesen. Der Mensch kann ihr Wesen in etwas unendlich Schönes verwandeln, wenn er beginnt, seiner tiefsten Sehnsucht wahrhaftig zu folgen...

The modest Rose puts forth a thorn:

The humble Sheep, a threatning horn:

While the Lilly white, shall in Love delight,

Nor a thorn nor a threat stain her beauty bright.

- William Blake

INHALT

Vorwort

Vom Wesen der Sehnsucht

Über die Begriffe

Beginn

Minnesang

Verdienst der Frauen

Rousseau

Humboldt

Schiller

Novalis

,

Faust’

Märchen

Engel auf Erden

Vom Wesen

Ruskin

Twains Jeanne d’Arc

Altenberg

Stilles Leuchten

Polaritäten

Zauber

Tragik

Eros des Mädchens

Novalis heute

Physiologie der Unschuld

Zukunft

Anhang: Eindrücke

,

Onanie’

Rückkehr ins Leben

Um Gottes willen

Der Verlorene

Die lichtlose Nacht

Der Drache

Feuerbahn

Mädchenklima

Wintermädchen

Lolitas Apologie

Epilog

Vertiefung

VORWORT

Ende der 70er Jahre entstand die dreiteilige Reihe der ,Familie Robinson in der Wildnis’. Irgendwann habe ich den zweiten oder dritten Teil im Fernsehen gesehen.

In einer Szene sah man Jenny, gespielt von der dreizehn- oder vierzehnjährigen Heather Rattray, in einem Badezuber. Man konnte ihre junge Brust erahnen. Wahrscheinlich war ich wenig jünger als sie. Die Szene berührte mich tief, natürlich auch erotisch – auf sehr zarte, heilige Weise erotisch.

Ich verliebte mich in dieses so berührende Verletzliche. Es ist eine einzigartige Schönheit, wie sie nur ein Mädchen hat.

Ein Junge hat nichts, was er dort verbergen müsste – er könnte sich stets ausziehen, wie ein Huckleberry Finn vielleicht. Ein Mädchen hat etwas Heiliges unmittelbar in diesem Bereich des Herzens ... und der sinnlich-sittliche Eindruck ist für einen empfindsamen Jungen überwältigend. Ein Mädchen wird durch diese Schönheit, die von ihm ausstrahlt, zu einer Art Engel. Es ruft in der eigenen Seele etwas hervor, was reine Kräfte der Verehrung sind.

Damals wusste ich noch nichts von diesen Begriffen. Ich wusste auch noch nichts von dem Wort ,Läuterung’. Aber meine Seele war sozusagen eingetaucht in ihre Wirklichkeit.

In diesem Buch versuche ich erlebbar zu machen, warum das Mädchen so sehr mit diesen Kräften zu tun hat.

VOM WESEN DER SEHNSUCHT

Verehrungskräfte leben nur in einer Seele, die die Sehnsucht kennt.

Sehnsucht ist eine Form der Hingabe ... und man sollte auch dieses Buch mit Hingabe zu lesen versuchen. Denn nur so wird man tiefe Entdeckungen machen können. Nur so wird man auch beschenkt werden können. Und warum sollte man ein Buch sonst lesen? Warum hätte man sonst gerade dieses Buch erworben?

Hingabe ist ein tiefes Loslassen ... aber zugleich auch ein tiefes Eintauchen – es ist ein Passivwerden und eine zarte Aktivität zugleich. Es ist ein Loslassen des klaren, zentrierten, selbstbewussten ,Normalstandpunktes’, buchstäblich ein Weichwerden des Bewusstseins, ein Flüssigwerden. Aber es ist nicht nur ein Sich-Einlassen, es ist auf zarte Weise mehr als nur das. Es ist ein liebendes Hinein-Tauchen, ein liebendes Eintauchen und dann zart die Augen öffnen. Liebe. Gerade weil man nicht mehr bei sich ist – denn man hat sich hingegeben. Man ist jetzt ganz bei dem anderen. Und das ist zarte, heilig-zarte Aktivität...

Und wenn man so lesen könnte ... dann würde man alles selbst miterleben, zutiefst real. Man würde nicht nur gedankliche ,Informationen’ aufnehmen und ein bisschen ,nachvollziehen’ – sondern man würde zutiefst real auch selbst in ein Erleben eintauchen. In jeder Sekunde. In jeder Zeile...

*

Verehrungskräfte leben also in einer Seele, die die Sehnsucht kennt. Aber vielleicht lebt die Sehnsucht auch nur in einer Seele, die Verehrungskräfte kennt... Das Gegenteil von Sehnsucht jedenfalls ist Nüchternheit ... und Pragmatismus.

Bereits hier können wir empfinden, dass Sehnsucht etwas zu tun hat mit Idealen.

Wenn sich die Sehnsucht an ein Mädchen anknüpft, weil dieses Mädchen die Sehnsucht erweckt, dann ist es zunächst nicht erreichbar. Oder seine Erwiderung (zunächst: von was auch immer) ist nicht erreichbar. Oder wird für unerreichbar gehalten. Die Sehnsucht bleibt scheinbar auch passiv. Sie wird jedenfalls äußerlich nicht in dem Maße aktiv, dass sie das Mädchen erreichen könnte – aus welchen Gründen, das möge zunächst offenbleiben.

Doch wir sahen bereits, dass die Sehnsucht eine geheimnisvolle innere Aktivität offenbart – denn das Innere, die Seele, ist sehr wohl sehr aktiv. Denn sie gibt sich hin... In der Sehnsucht ist die Seele vielleicht unendlich aktiver als eine andere Seele, die sich ganz im Äußerlichen verliert.

Eine Seele, die die Sehnsucht nicht kennt, sich aber auch von einem Mädchen angezogen fühlen würde, würde entweder Sympathie empfinden – oder, wenn die Anziehung noch intensiver ist, Begehren. Und sie würde dieses dann entweder beiseite schieben und sich ,auf andere Gedanken’ bringen – oder aber pragmatisch und unkompliziert versuchen, das Mädchen kennenzulernen, eine Bekanntschaft zu schließen, sich in ein gutes Licht zu setzen, auch bei dem Mädchen Sympathie zu erregen – oder vielleicht auch mehr –, und so weiter.

Warum die Dinge kompliziert machen, wenn sie auch einfach sein können? So würde eine solche Seele denken.

Für die andere Seele aber sind die Dinge nicht so einfach. Und sie will sie in letzter Hinsicht auch überhaupt nicht so einfach. Auch wenn sie dies vielleicht gar nicht in klare Gedanken oder auch Worte fassen könnte. Eine Seele, die wirklich die Sehnsucht kennt, ist tiefer und komplexer ,gestrickt’ als jene Seele, die sehr unkompliziert den direkten Weg geht.

*

Letztlich hat das Nicht-sofort-Handeln als Ursache immer ein Abstands-Erlebnis. Die Seele wagt es nicht. Entweder, weil sie schüchtern ist, oder weil sie sich selbst nicht würdig genug empfindet – oder auch beides.

Wenn sie aber nicht generell schüchtern ist, sondern nur bei diesem einen Mädchen, dann ist sehr deutlich, dass sie sich verliebt hat. Dadurch gewinnt ein anderes Wesen einen so hohen Wert, dass ein Scheitern ,keine Option’ ist. Wessen Seele sich jetzt pragmatisch sagen würde: ,Man kann es doch nur versuchen und fertig’, weiß im Grunde noch überhaupt nicht, was es heißt, sich wirklich zu verlieben. Wenn man sich wirklich verliebt hat, dann ist Scheitern keine Option...

Das Wesen, das diese Liebe in einem auslöst, strahlt einen unendlichen Wert aus, es ist kostbarer als alles andere, einschließlich man selbst... Und schon lebt man in einer bedingungslosen Hingabe. Und Sehnsucht. Und man idealisiert, hat es bereits getan und tut es in jedem Moment. Das geliebte Wesen ist ein Ideal. Alles, was es tut, bekommt einen Zauber – aber es hatte diesen schon vorher. Doch jetzt weitet dieser sich sogar noch mehr aus. Alles, was es tut, jede kleinste Bewegung, ist reinste Schönheit...

In ,Wilhelm Meisters Lehrjahre’ singt Mignon: ,Nur wer die Sehnsucht kennt, / Weiß was ich leide!’

Sehnsucht ist ein potenziell unendliches Sich-hin-Wünschen zu dem anderen Wesen, während doch eine Vereinigung so aussichtslos erscheint... Und unendlich ist dieses Empfinden deshalb, weil das andere Wesen als etwas grenzenlos Ersehnenswertes, Leuchtendes erscheint, zu diesem Leuchtenden gemacht wird – mit aller Kraft des Idealisierens, die in der liebenden Seele lebt.

Wer dies belächelt oder verspottet, der weiß nicht, dass der Mensch ganz real ein transzendentes Wesen ist. Das bedeutet, die Grenzenlosigkeit ist dem Menschen wesenseigen – und wer sie nicht kennt, lebt an seinem eigenen Wesen vorbei, macht es überhaupt nicht wahr. Mit anderen Worten: Der wahrhaft Verliebte und zutiefst Liebende ist zum ersten Mal mit seinem Wesen vereint, spürt dessen Wirklichkeit. Er tritt heraus aus der Endlichkeit und betritt ein ganz anderes Reich – den des Wunders. Und das geliebte andere Wesen scheint ganz aus diesem Reich zu kommen...

*

Wir sahen, wie erst der Abstand und das geheimnisvolle Idealisieren diese Erfahrung ermöglichen.

Wer die Sehnsucht nicht kennt, der leidet vielleicht auch nicht – aber er liebt auch nicht wirklich. Denn was soll das sein, eine wenn auch tiefe Sympathie, die aber allenfalls in ein ... Begehren mündet? Wissen solche Seelen überhaupt, was man empfinden könnte? Nein, sie wissen es nicht. Und ihnen entgeht darum auch Unendliches – buchstäblich.

,Nur wer die Sehnsucht kennt, / Weiß was ich leide!’ Ja – und auch nur, wer die Sehnsucht kennt, weiß, wie sehr Mignon geliebt hat. Mehr als jede andere Seele in dem Roman. Deswegen ist sie an ihrer Liebe sogar gestorben. Auch das kann heute fast niemand mehr begreifen – und dies wiederum zeigt nur, wie selbstbezogen die Seelen geworden sind, damit aber immer mehr unfähig zu einer Liebe, die erschütternd wäre in ihrer ... Selbstlosigkeit.

Das wird heute nicht einmal mehr begriffen. Es kommen dann die ganzen ,aufgeklärten’ und ,altklugen’ Sprüche wie etwa: ,Um selbstlos lieben zu können, muss man erst einmal ein Selbst haben’ und all das und ähnliches. Aber all die aufgeklärten Seelen, die also angeblich ein ,Selbst’ haben ... sind noch immer nicht fähig, so zu lieben wie Mignon!

Die Antwort auf derlei Sprüche, ist: Wer so selbstlos lieben kann wie Mignon, hat bereits bewiesen, dass er ein Selbst hat – aber dieses Selbst lebt in einer heiligen Hingabe, es sprengt die Grenzen des ach so modernen Selbstbezuges ... und offenbart so auf Erden eine Liebe, die ihresgleichen sucht. Und im Falle von Mignon war diese heilige Sehnsucht nach ihresgleichen vergeblich...

*

Sind wir auf Erden, um ,glücklich’ zu sein? Unser Glück zu finden und zu machen, möglichst pragmatisch und einfach? Sind wir auf Erden für Konsum, für Spaß, Fun und Easy-Going? Dies ist und bleibt existenziell eine Frage des gesamten Menschenbildes. Wer den Menschen aber als ein wahrhaft transzendentes und sich reinkarnierendes Wesen begreift, für den ist deutlich, dass auch der Sinn des Lebens nicht der oben genannte sein kann – sondern vielmehr der ist, immer mehr das wahre, transzendente Wesen des Menschen zu offenbaren. Eines Wesens, das unendlich fähig ist, das Unendliche in die Welt hineinzutragen – in erschütternder Liebe...

Und dann erhebt sich die große Frage, ob Mignon mit all ihrer Liebe hier nicht schon wesentlich weiter war als alle anderen, die sie umgaben...

Der tiefste Sinn des Lebens ist es, immer tiefer die Liebe zu lernen, zu entdecken, zu begreifen, sich mit ihr zu durchdringen und von ihr durchdrungen zu werden. Von ihrem Mysterium.

Und die Sehnsucht ist hier eine heilige Schule, ein heiliger Tempel – denn sie ist zugleich eine Schule der Selbstlosigkeit. Wir erinnern uns: Die Sehnsucht lebt in fortwährender Hingabe... Wo also könnte der Same der Liebe heiliger wachsen als im zarten Reich der Sehnsucht? Ist die Liebe zunächst ein Same, so ist die Sehnsucht die gute Erde...

Wenn also Mignon diese tief berührenden Worte singt: ,Nur wer die Sehnsucht kennt, / Weiß was ich leide!’, so können wir darauf antworten: Nur wer die Wahrheit kennt, weiß (oder aber: Die Engel wissen), was dabei noch geschieht... Denn blicken wir tiefer, so gehört Mignon zu jenen unendlich seltenen Seelen, die mit all ihrem Sein zugleich Menschheitszukunft vorbereiten und behüten...

*

Liebe und Idealisieren gehören zusammen. Denn nur, wenn das geliebte andere Wesen unsagbar leuchtend ist, wird die in unserer Zeit erst recht naturgemäß selbstbezogene Seele von diesem ihrem Selbstbezug losgerissen und richtet sich in ihrem ganzen Sein auf ein anderes, dem sie hingegeben ist... Die Seele wird selbstlos, weil ihr etwas anderes eindeutig überlegen ist, schon an reiner Schönheit...

Es mag sein, dass dies vor allem ein (mögliches) Erleben der männlichen Seele ist – und dies hat sofort mehrere Gründe. Der erste ist, dass die männliche Seele von Anfang an – und auch hier wäre wieder eine spirituelle Menschenkunde vonnöten – stärker in den Selbstbezug hinabgestiegen ist. Sie ist also auch erlösungsbedürftiger. Die weniger stark selbstbezogene weibliche Seele ist dementsprechend innerlich viel schöner, dasselbe gilt für die weibliche Erscheinung überhaupt. Die Regung der Bewunderung, des Berührtwerdens der männlichen Seele ist also unmittelbar natürlich...

Während die männliche Seele von ihrem Selbstbezug losgerissen werden muss, hat es die weibliche Seele (noch) viel einfacher, im Zustand der Hingabe zu leben. Man könnte sagen, ein Teil der weiblichen Seele tut dies immer. Und gerade das ist es, was die männliche Seele berührt.

Und wenn wir für einen zarten Moment zu jener einen Szene zurückkehren, wo Jenny Robinson im Badezuber zu sehen ist, so berührte ihre gesamte, zarte Verletzlichkeit, ihre heilige Schönheit, einfach, weil sie ein Mädchen ist... Ein Mädchen kann im Grunde gar nicht anders, als verletzlich zu sein, sich verletzlich darzubieten, als verletzlich zu offenbaren...

Man könnte sagen: Der Mann ist schon in seinem ganzen Körperbau ,pragmatisch’ und ,nüchtern’ – allenfalls imponierend, im übrigen aber nichtssagend. Ein weibliches Wesen, ein Mädchen dagegen... Ein Mädchen ist schon in seiner ganzen Leiblichkeit berührend. Zart berührend. Und in dieser Leiblichkeit lebt zugleich so sehr sein Wesen. Denn das Mädchen ist verletzlich – nicht nur sein Leib...

*

Und was tut die Sehnsucht? Sie sieht dies alles – dieses ganze Wesen, dieses Wunder an Wesen, dieses in umfassender Weise überhaupt nicht mehr Beschreibbare. Die Sehnsucht sieht es – weil sie als Hingabe zu einem tiefsten, zartesten inneren Sinnesorgan geworden ist. Die Hingabe nimmt so viel auf und wahr wie kein anderes Vermögen der Seele – und so kann man mit vollem Ernst sagen: Erst der Hingabe, erst der Sehnsucht sind die Augen aufgetan.

Natürlich fallen einem hier sofort die Worte des Fuchses aus dem ,Kleinen Prinzen’ ein: ,Man sieht nur mit dem Herzen gut’. Die Sehnsucht aber ist ganz Herz geworden...

Aber man kann auch an die Worte der Genesis denken – wo dem ersten Menschenpaar ,die Augen aufgetan’ waren, als sie vom ,Baum der Erkenntnis’ gegessen hatten und sie nun sahen, dass sie nackt waren.1 In anderer Weise ist dies auch für die Sehnsucht eine Wahrheit – denn auch ihre Augen sind aufgetan, und sie sieht, dass das ersehnte Wesen so unendlich viel schöner ist ... und dass sie eigentlich nackt dasteht und nichts in der Hand hat, um es ihm darzubieten...

Und immer wieder können andere Seelen dies belächeln und sagen: ,Was für eine verkorkste Kompliziertheit!’ Aber dann haben sie noch immer nicht begriffen. Denn wir stehen hier vor etwas absolut Heiligem. Eine Seele, die in tiefster, zartester Weise liebt – so selbstlos, dass sie sich selbst so gering achtet und sich selbst überhaupt nicht sehen kann. Denn auch sie ist in diesem Moment wunderschön, unendlich schön. Denn sie besitzt jene Selbstlosigkeit und Hingabe, die all jene Seelen, die sie belächeln, niemals haben werden (gar nicht wollen), auch ihre eigene Hässlichkeit überhaupt nicht wahrnehmend...

So ist die Sehnsucht also ein Mysterium. Sie führt die Seele in einen Zustand tiefer Selbstlosigkeit – und dies, obwohl die Seele doch augenscheinlich sehr selbstbezogen etwas für sich ersehnt. Aber das ist eben nur der ganz äußere Aspekt. In Wirklichkeit lebt die Seele im Zustand der Hingabe – und da ist nichts von Selbstbezogenheit, sie lebt mit allen Kräften in der Hin-Gabe ihres Selbstes... Sie entfaltet mit ihrem ganzen Sein Kräfte der Verehrung, der zarten, tiefen Liebe zu einem anderen Wesen...

Und dieses andere Wesen ist (in diesem Fall, und das ist kein Zufall) ein Mädchen...

1 1 Mos 3,7.

ÜBER DIE BEGRIFFE

Der alte, heute überhaupt nicht mehr benutzte Begriff ,lauter’ bedeutet ,rein, ungetrübt, aufrichtig’.2 Auch die noch verwendete Bedeutung ,lauter’ mit Substantiv im Sinne von ,nur, ausschließlich’ geht auf dieses Wort zurück. Eine Wiese mit ,lauter Blumen’ ist also gewissermaßen aufrichtig eine reine Blumenwiese, ohne etwas anderes, ganz ungetrübt...

Schon das mittelhochdeutsche ,lūter’ bedeutete ,hell, rein, klar, unvermischt’ – und bezog sich einerseits auf Substanzen, andererseits dann auch auf Wesen und Charakter, also die Substanz der Seele...

Im Weiteren konnte diese gleichsam leuchtende Eigenschaft dann auch ein Prozess werden – dann sprach man von ,läutern’ und ,Läuterung’. Noch heute findet sich dies in dem Wort erläutern – hier wird dann die reine Klarheit von etwas für das denkende Begreifen erzeugt.

Doch kehren wir zurück zur physischen Substanz. Metallhaltige Erze wurden durch den Prozess der Läuterung in einer Schmelze von ihren unreinen Beimischungen befreit, die hierbei entweder verbrennen oder sich als Schlacke ablagern. Es ist natürlich kein Zufall, dass man bei der Suche im Internet vor allem auf biblische Zusammenhänge stößt, denn die Übertragung auf den Bereich der Seele liegt auf der Hand.

Man muss hier auch gar nicht an das läuternde ,Fegefeuer’ denken – schon in der Sehnsucht verbrennen die Neigungen der Selbstsucht, weil die Seele eben nicht sich selbst sucht, sondern das geliebte andere Wesen... Es ist auch eine tiefe Wahrheit, dass Leiden selbstlos macht, wie es auch bei Jesaja heißt: ,Siehe, ich habe dich geläutert, aber nicht wie Silber, sondern ich habe dich geprüft im Glutofen des Elends.’3 Aber, wie wir wissen, auch die Sehnsuchtist ein Leiden – denn es ist ein Getrenntsein von dem, was einem am meisten bedeutet.

Der Pragmatiker würde sagen: ,Was ich nicht erreiche, interessiert mich nicht, weg mit dieser Belastung...’ Aber der Liebende sehnt sich – und lebt mit ganzer Seele und ganzem Gemüt in dieser Empfindung. Und sie – sie läutert ihn bis auf den Grund.

Sie tut es, wenn die Empfindung aufrichtig ist. Etwas anderes ist es, wenn der Verliebte seinen Zustand im Grunde vor allem leise genießt. Das ist wieder etwas anderes. Man kann sehr ,wohlig’ an Liebeskummer ,leiden’. Auf Mignon traf dies jedoch nicht zu – sie starb sogar daran. Hier ist nicht einmal im Ansatz irgendein Selbstgenuss zu finden.

Etwas Wohliges hat auch Liebeskummer immer, denn es ist Liebes-Kummer – und die Liebe ist das Allerhöchste. Wo sie lebt, kann es keine absolute Verzweiflung geben – oder ist selbst der Tod schön, denn man stirbt als liebendes Wesen und damit im Zustand einer tiefen Wahrheit seines Wesens und zugleich in einer tiefsten Aufrichtigkeit... Die Liebe ist mit sich immer im Reinen – sie hat sich nichts vorzuwerfen, sie ist so lauter wie Gold, und sie ist in voller Wahrheit das Seelengold...

Was im Märchen dem Sterntaler-Mädchen oder der Goldmarie geschieht, das ist, in ein heiliges Bild gebracht, nichts anderes als die Wahrheit ihres bereits inneren Zustandes. Dieser wird von den Himmelswelten gleichsam bestätigt und für alle Augen offenbart. Es ist die Offenbarung eines offenbaren Geheimnisses – wie Goethe sagen würde.

Im Märchen ,Die Sternthaler’ heißt es 1819:4

Endlich kam es in einen Wald und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein und das fromme Mädchen dachte: es ist dunkle Nacht, da kannst du wohl dein Hemd weggeben; und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte, blanke Thaler, und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Thaler hinein und ward reich für sein Lebtag.

Dieses fromme Mädchen lebt in tiefer Hingabe an die Not der Menschen, die ihm begegnen – und mit reinem, mit tief lauterem Herzen gibt es, was es hat, hin... Und als seine Hingabe vollständig ist, da wird es gleichsam von Sternen überkleidet und mit einem tiefsten Reichtum gesegnet... Es ist dies aber jener heilige ,Schatz im Himmel’, von dem auch das Evangelium spricht.5 Dieses Mädchen hat ein Herz aus Gold... Aus Sternengold...

Und wenn man nun sagen wollte: ,Ja, aber in der wirklichen Welt ist das Mädchen sicherlich in den nächsten Tagen verhungert’, so hat man wieder nicht begriffen. Denn die Märchen schildern keine nackte, pragmatische ,wirkliche’ Welt. Sie schildern die noch viel wirklichere Welt der Seele – und sie schildern eine Welt, in der Außen und Innen noch nicht getrennt sind, in der das Gute und das Eigensüchtige und das Böse tatsächlich noch ,ihren Lohn’ bekommen, unweigerlich.

Es sind Wahrbilder einer moralischen Weltordnung, eines heiligen Kosmos – wie er in dem Zeitalter der Freiheit, in das der Mensch im Grunde schon seit dem ,Sündenfall’ mehr und immer mehr eingetreten ist, seine volle Wirklichkeit eigentlich nur noch im menschlichen Herzen selbst hat. Dieses ist heute der Kosmos, in dem sich dies alles abspielt. Eine eigensüchtige Seele spricht sich selbst das Urteil. Sie wird am Ende ihres Lebens tot und leer wie eine Schlacke sein ... die liebende Seele aber wird so leuchtend und lebendig sein wie das Sonnengold, die Quelle des Lebens selbst. Sie wird selbst eine Sonne sein, reines Leben...

Und warum? Weil sich der wahre Himmel mit ihr vereinigt hat – und sie sich mit ihm. Die heilige Hochzeit... All dies sind tiefste Realitäten, realste Wirklichkeiten, man muss nur begreifen, wie man sie begreifen kann als das, was sie sind. Diese Wirklichkeiten sind nicht ,pragmatisch’ zu begreifen, sondern nur mit tiefster Aufrichtigkeit. Der Pragmatiker ist letztlich so irreal wie ein Windhauch. Er bringt sein Leben zu – und das war es...

Lassen wir auch noch ,Frau Holle’ auf uns wirken:6

Sie nahm es darauf bei der Hand und führte es vor ein großes Thor. Das ward aufgethan und wie das Mädchen darunter stand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so daß es über und über davon bedeckt war.

Auch dieses Mädchen lebte in tiefer Hingabe an das, was die Dinge und Wesen um sie herum erbaten und in ihrer Not be-nötigten... Liebe im Herzen wird zur Gold-Substanz des Herzens... Die faule Schwester dagegen wurde mit Pech, also mit echter Schlacke ,belohnt’ – auch dies das Wahrbild für ihren längst erreichten inneren Zustand.

Manch feministischer Ansatz betont heute, mit einem solchen Märchen würden Mädchen darauf konditioniert, gehorsam und fügsam, willig und dienstbar zu sein. Das kann man von einem selbstbezogenen Zeitalter aus, in dem selbst der buchstäbliche ,Ego-Shooter’ ein geringerer ,Aufreger’ ist als ein scheinbar völlig ,unemanzipiertes’ Mädchen, natürlich so sehen. Jede Seele muss ihren eigenen Zustand ja zunächst einmal schönreden...

Tatsache ist aber, dass es hier nicht um Emanzipation oder nicht Emanzipation geht, sondern um viel grundlegendere Wahrheiten: um die Realität der Seele, um ihre Substanz – und wer an die Ewigkeit dieser Seele nicht glaubt, der mag sich in selbstbezogenen Emanzipationen noch und noch bis zur Schlacke erschöpfen – oder glauben, er sei der Gipfel der Evolution, während er auf das ,unemanzipierte’ Mädchen herablächelt oder Schlimmeres.

Tatsache ist, dass ein Zeitalter, in dem Frauen sich emanzipieren (müssen), noch immer aus der maskulinen Schlacke überhaupt nicht herausgekommen ist – nur die Frauen angefangen haben, zu glauben, ebenfalls in diese Schlacke hineinsteigen zu müssen. Welch ein Irrtum!

Das ,unemanzipierte’ Mädchen aber macht es als einzige Seele weit und breit richtig – denn es hat sich von dem Glauben emanzipiert, sich emanzipieren zu müssen, in die Schlacke hinein. Obwohl es von allen belächelt wird, geht es unbeirrbar und lauter seinen Weg – in seinem Herzen längst das lautere Gold, das längst nicht mehr vom Himmel regnet, darum aber nicht weniger existent ist... Und unsichtbar regnet es vielleicht immer noch... Das Mädchen ist die einzige Seele, die sich emanzipiert hat. Alle anderen beten noch immer den Gott der Schlacke an, auf die eine oder andere Weise...

Das Mysterium der Läuterung. Wie ernst nehmen wir es wirklich?

Für die meisten ist dieses Mysterium so tot wie der ganze Begriff. Aber vielleicht sind ihre Seelen ebenso tot, in demselben Maße, wie sie auf all dies ,pfeifen’? Vielleicht pfeifen sie ja auch in Bezug auf die Substanz ihrer Seele bereits ... auf dem letzten Loch?

*

Aufrichtige Sehnsucht könnte von dieser Todeskrankheit der Seele sofort wieder zart heilen ... denn in der Sehnsucht kehrt sich eben alles um. Und so wird die Sehnsucht selbst zu einer realen Umkehr – ob sich die Seele dessen sogleich bewusst wird oder nicht.

Eines aber wird sie sich definitiv bewusst: Des Abstandes zwischen sich und dem geliebten anderen Wesen, das so sehr die lautere Sehnsucht entzündet hat... Und dieser Abstand ist ein Abstand der Heilung. Denn die vielleicht geradezu niederschmetternde ,Geringheit’, derer sich das eigene Wesen dadurch plötzlich bewusst wird, ist ein Erlebnis, das radikal selbstlos macht, das alle Selbstheit zu verbrennen beginnt, in Schutt und Asche legt. Aber zurück bleibt nicht etwa nichts, sondern ein kleiner, kleiner Rest von Gold – wie klein auch immer. Es ist der neue Anfang...

Und das Mädchen lächelt ... denn es hat das Gold gesehen...

2 Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache. www.dwds.de. Auch für die ersten drei Absätze insgesamt.

3 Jes 48,10.

4 Wikisource: Die Sternthaler (1819).

5 ,Jesus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!’ (Mt 19,21).

6 Wikisource: Frau Holle (1819).

BEGINN

Historisch beginnt die tiefe Anziehung des Mädchens an dem Punkt, wo überhaupt die Kindheit als eigene Sphäre entdeckt wird – und damit auch die Jugend sich ausdehnt, als etwas mit einem absoluten Eigenrecht und auch einer eigenen Heiligkeit. Wir sind hier in der Zeit von Rousseau – und werden bald darauf zurückkommen.

Das lautere und läuternde Element des Weiblichen schlechthin ist jedoch viel älter. Dieses Geheimnis gründet unter anderem in dem Mysterium der Wehrlosigkeit.

Man muss dies wirklich in eigenem Erleben versuchen, von innen heraus zu empfinden und zu begreifen. Das Wehrlose rührt etwas in jedem Innersten eines mit Seele begabten Wesens. Und wer nicht berührt ist, offenbart damit nur, dass er nur noch sehr wenig Seele hat – oder brutal selbst über seine eigene Seele hinweggeht. Das Wehrlose berührt zutiefst – und es ist innig verbunden mit der Unschuld.

Selbst ein tief schuldiges Wesen wird im Moment der Wehrlosigkeit unschuldig – denn alles, was im nächsten Moment passieren könnte, würde als Schuld auf den dann Angreifenden zurückfallen.

Wir können dies alles mit so vielsagend klingenden Begrifflichkeiten wie ,Tötungshemmung’, ,Beißhemmung’ und so weiter rationalisieren – aber solche scheinbaren ,Erklärungen’ erklären letztendlich überhaupt nichts, denn auch sie beschreiben nur das Mysterium. Wo ein am Boden liegendes wehrloses Opfer angegriffen wird, da hat selbst die heiligste innerste Stimme versagt – und die ganze eigene Seele durchdringt sich mit Hässlichkeit. Wenn Wehrlosigkeit nicht berührt, dann ist die eigene Seele zu Stein geworden.

Das Wehrlose schlechthin ist aber nun eben das Weibliche – nicht unbedingt absolut, aber doch stets relativ gegenüber dem Männlichen, betrachtet in Bezug auf die schlichte Körperkraft, dann aber auch in Bezug auf das Seelische überhaupt. Das Männliche hatte schon immer die Tendenz zum Nüchternen, zum Erobernden, zum Harten, sich Verhärtenden – während das Weibliche schon immer mehr mit allem verbunden blieb, auch mit den eigenen heiligeren Regungen des Seelischen, mit dem Leben überhaupt, mit allem anderen.

Das sind keine Ideologien, es sind Tatsachen. Denn es war von Anbeginn an und über Jahrmillionen das Weibliche, das gebar, das neues Leben hervorbrachte, das dieses Leben hütete und nährte, barg und beschützte – und das auch deshalb wehrlos preisgegeben war, wenn es angegriffen wurde. Nicht völlig wehrlos, aber immer in der Tendenz. Das Weibliche aber stand immer für das Leben – und das Männliche oft genug, viel zu oft, für das Gegenteil.

*

Bereits im alten Griechenland offenbarte sich bisweilen, dass das Heilige gerade von dem Weiblichen vertreten wurde. Selbst in einer Kultur also, die regelrecht eingenommen war von einem Kult des Männlichen (und der homoerotischen Beziehungen) war letztlich das Geheimnis bekannt, dass das Unschuldige und Wehrlose auch das Reinere war.

Geradezu ,klassisch’ ist die Tragödie ,Antigone’ (442 v. Chr.) von Sophokles, in der Thebens Tyrann Kreon die Bestattung des Polyneikes verbietet, da er gegen die eigene Stadt Krieg geführt hatte. Als dessen Schwester Antigone das Verbot übertritt, lässt Kreon sie lebendig einmauern. Daraufhin nehmen sich nacheinander diese selbst, ihr Verlobter Haimon und Eurydike das Leben, die letzteren Kreons Sohn und Ehefrau.7

Antigone steht dabei einerseits für das seit jeher vom Weiblichen empfundene moralisch Richtige und Gute, zugleich aber für etwas sehr Zukünftiges, nämlich das sich auch gegen Tyrannei wehrende Individuelle.8 Sie verteidigt die Blutsbande zu ihrem Bruder, die eigenen Gesetze der Totenwelt, die ewig geltenden moralischen Gesetze, vor allem aber die Liebe – gegen den Hass. Und wie ein Leuchtfeuer gehen ihre Worte zu Kreon in die Welt und die damaligen und heutigen Herzen:9

Kreon: Und du bringst doch Gottlosen einen Dank? Antig.: Das läßt gewiß nicht gelten der Entschlafne. Kreon: Freilich. Wenn dir als eins Gottloses gilt und anders. Antig.: Nicht in des Knechtes Werk, ein Bruder ist er weiter. Kreon: Verderbt hat der das Land; der ist dafür gestanden. Antig.: Dennoch hat solch Gesetz die Totenwelt gern. Kreon: Doch Guten gleich sind Schlimme nicht zu nehmen. Antig.: Wer weiß, da kann doch drunt’ ein andrer Brauch sein. Kreon: Nie ist der Feind, auch wenn er tot ist, Freund. Antig.: Aber gewiß. Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich.10

Das Weibliche steht also für das Mysterium der Liebe. Und wir dürfen uns Antigone durchaus als das junge Weibliche vorstellen – das dann um so wehrloser ist. Sie hat nichts auf ihrer Seite ... nur die Wahrheit. Die Unschuld der Wahrheit und die Wahrheit der Unschuld...

*

Im alten Rom wiederum waren die Vestalinnen die Priesterinnen der reinen Unschuld. Sie hüteten das ewige Feuer im Tempel der Vesta. Es waren stets sechs jungfräuliche Priesterinnen – und eine unkeusche Vestalin wurde aus der Priesterschaft entfernt und konnte lebendig begraben werden. Die absolute Unschuld wurde also bis hin zur Todesstrafe gehütet.11

Nach einer alten Prophezeiung sollte das Römische Reich untergehen, wenn das ewige Feuer, das die Vestalinnen hüteten, einmal erlösche. Dann aber wurde das Christentum Staatsreligion, und die nichtchristlichen Kulte wurden verboten. Im Jahr 394 verließ die letzte Vestalin das heilige Atrium Vestae – und sechzehn Jahre später bedeutete die Plünderung Roms durch die Westgoten (410) den Beginn des Unterganges.12

Wir können all diese Ereignisse auch als tiefe Bilder begreifen. Wo das Weibliche in seiner heiligen Mission nicht mehr zugelassen, ja nicht einmal mehr begriffen wird, da sind notwendigerweise Tod und Untergang die Folge. Denn mit dem Weiblichen verliert sich auch die Seele.

Der Ur-Sündenfall des Christentums war die Verbindung des jungen, heiligen Impulses mit der Macht. Der wahre Impuls des Christentums besteht gerade immer in der Machtlosigkeit – in der reinen, wehrlosen Liebe. Alles andere verrät ihren Impuls.

Kaum etwas macht den Christus-Impuls so erlebbar wie jene Szene mit der ,Ehebrecherin’ – die von den Pharisäern vor Jesus geführt wird, um ihn zu prüfen und verklagen zu können.13 Er aber spricht zu der Menge, derjenige solle den ersten Stein (der realen Steinigung!) werfen, der unter ihnen allen ohne Schuld wäre... Und alle gehen, die Ältesten und damit auch Weisesten zuerst. Am Ende steht Jesus allein mit der Frau, die noch immer in der unsichtbaren Mitte steht ... und auch er verurteilt sie nicht, denn das gerade ist die heilige Substanz des Christus: nicht zu verurteilen.

Das Christusgeheimnis hat nichts zu tun mit moralischen Normen, die von außen gegeben werden – es ist ein zartes, ätherisches inneres Geheimnis. Es ist die Realität des Moralischen, das in der eigenen Seele erwacht, als ein höheres inneres Leben. Die Seele beginnt zu leben, weil sie sich mit etwas verbunden hat, was immer schon bei ihr war, in ihrer Nähe, ohne dass sie es begriffen und ergriffen hätte. Jetzt aber hat sie es ... und ein ewiges Leben hebt an, in ihr zu weben...

Ebenso berührend wie die Szene mit der ,Ehebrecherin’ ist auch jene mit der ,Sünderin’:14

Es bat ihn aber einer der Pharisäer, mit ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu netzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl. Da aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn mehr lieben? Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er mehr geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt? Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Unendlich kann dieses Geschehen berühren. Es macht zutiefst offenbar, dass die wahre Realität keinerlei äußere ,moralische Norm’ ist, sondern dass es nur um eines geht: die heilige Wirklichkeit des Seelischen selbst. Und hier geht es um Reue, um Aufrichtigkeit, um die Essenz des Mysteriums der Liebe. Und wenn es heißt ,sie hat viel geliebt’, so betrifft dies auch all jenes, was vor den Augen der äußeren Welt als ,Sünde’ galt, was aber in höherer Hinsicht immer schon geheilt und ge-recht-fertigt war durch diese Tatsache: Sie hat geliebt. Und zwar wahrhaft...

Und wieder haben wir dasselbe Phänomen: Ein Weibliches, das nichts hat als seine eigene Unschuld (während diese vor der Welt sogar als Schuld gilt), seine Wehrlosigkeit, sein Ausgeliefertsein. Von Christus aber wird es aufgehoben, gerechtfertigt, auf einen heiligen Thron gesetzt, in seinem wahren Wesen offenbart.

Immer wieder spricht Christus vom Geheimnis der Hingabe:15

Und wer Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt um meines Namens willen, der wird’s hundertfach empfangen und das ewige Leben ererben. Aber viele, die die Ersten sind, werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.

Dann aber vor allem in der so einzigartigen Bergpredigt:16

[...] Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ,Auge um Auge, Zahn um Zahn.’17 Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ,Du sollst deinen Nächsten lieben’18 und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.

Ein männliches Wesen kann versuchen, dies mit starker, heroischer Innigkeit wahrzumachen, obwohl alles an ihm wehrhaft wäre. Ein weibliches Wesen dagegen ist bereits in vielerlei Hinsicht wehrlos – und darum zu diesem umfassenden Liebesimpuls viel geneigter, viel fähiger, er ist ihm viel verwandter. Und nicht umsonst waren es vielfach gerade die Frauen, die das wahre, aufrichtige Christentum in den ersten Jahrhunderten verbreitet haben und unter denen es sich verbreitet hat. Und während Männer sich regelrecht kasteiten und in die Wüste zurückzogen, lebte der Christusimpuls in den Frauenherzen auf eine tief natürliche Weise auf...

Nicht zuletzt gehört es auch zu dieser tiefen, berührenden Wehrlosigkeit, dass die weiblichen Wesen in den kommenden Jahrhunderten zuließen und zulassen mussten, was die männlichen Wesen glaubten, über sie verhängen zu dürfen und zu müssen – als Forderungen, Anforderungen, als Dogmen, Normen und Demütigungen.

Es geht hier nicht um die emanzipative Frage – es geht um die Tatsache der Wehrlosigkeit selbst ... und dass dies etwas Erschütterndes, etwas zutiefst Berührendes ist. Etwas, was die männliche Seele in tiefster Weise heilen könnte von all ihren Abirrungen – wenn sie es zulässt. Wenn sie es wahrzunehmen beginnt. Wenn sie sich berühren lässt. Und die Berührung ist dann bereits der unmittelbare Beginn einer zarten, in ihrer Zartheit aber gerade umfassenden Läuterung.

Die Seele wurde berührt von dem Lauteren... Von dem Unschuldigen... Dem Wehrlosen...

7 Wikipedia: Antigone (Sophokles).

8 Anders Ismene, die sie davon abhalten will: ,Weiber sind wir / Und dürfen so nicht gegen Männer streiten.’ Erster Akt, erste Szene. Übersetzung von Friedrich Hölderlin. Projekt Gutenberg.

9 Zweiter Akt, erste Szene. Ebd.

10 Eine andere Übersetzung lautet: ,Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil.’

11 Wikipedia: Vestalin.

12 Jack Holland. A Brief History of Misogyny. The World’s Oldest Prejudice. London 2006, p. 44, 292.

13 Joh 8,2-11.

14 Lk 7,36-50.

15 Mt 19,20-30.

16 Mt 5,38-48.

17 2 Mos 21,24.

18 3 Mos 19,18.

MINNESANG

Mit dem Minnesang begann eine ganze Epoche der Läuterung – eine Epoche, in der Männer sich von der Liebe zu einer Frau – oder einem Mädchen – gleichsam grenzenlos verwunden ließen und in Liedern tiefster Innigkeit von dieser Liebe zu dem verehrten Wesen Zeugnis ablegten.

Schon vor dem Minnesang wurde die Liebe besungen, auch die persönliche. So heißt es in einem altfranzösischen Liebeslied aus dem Norden, gesungen von einem Mädchen:19

Welche Not hat mein Herz mir gebracht,

Man schlägt mich bei Tag und bei Nacht

Für ihn, der den Sinn mir betört.

Ach, je mehr die Mutter mich schlägt,

Desto stärker die Liebe sich regt

Zu ihm, dem mein Herz gehört.

Und in einem weiteren Lied wird die Liebe sehr erotisch angedeutet:20

O Gott, wie schön ist doch der Wald! [...]

Vom Veilchenposter sanft gewiegt,

Das ihren jungen Leib umschmiegt,

So lockend weich das Mädchen liegt.

,Ach, müd, so müde bin ich nun,

Komm, lieber Freund,

Komm, laß uns ruhn.’

Immer aber offenbart sich die tiefe Unschuld des Mädchens – im ersten Lied liebt es so unschuldig, dass es selbst Schläge erträgt, im zweiten so unschuldig, dass es sich seiner eigenen unendlichen Verführungskraft überhaupt nicht bewusst ist. Es ist reine Schönheit – noch nichts davon wird bewusst eingesetzt, das tötende ,Kalkül’ ist diesem Mädchen abgrundtief fern. Es ist Unschuld, Aufrichtigkeit, Reinheit...

Tief lieblich ist auch ein weiteres Gedicht, in dem ein schönes blondes Schäfermädchen einsam am Waldesrand steht, sich im Mäntelchen vor dem Frost schützt und auf ihrer Flöte um ihren abwesenden Freund klagt. Der Ich-Erzähler, der sich unmittelbar in sie verliebt hat, spricht sie an, sie könne ihm vertrauen. Er will mit ihr ,ein Schutzdach baun / Und miteinander zärtlich sein’. Doch sie erwidert:21

„Herr, hebt Euch rasch hinweg von hier,

Schon oft ward solche Rede mir.

Nicht jedem, glaubt mir, bin ich hold,

Der einfach sagt: komm her zu mir!

Das wirkt nicht Eures Sattels Gold,

Daß Garinet mein Herz verlier!“ – Ae!

Der Mann bietet ihr, zum ,Du’ wechselnd, an, Herrin in (s)einem Schloss zu werden, sie lehnt ab. Er fordert sie auf, ihre alte Liebe zu vergessen, denn er begehre sie allein, doch sie erwidert, das Lied abschließend:22

„Genug! Ich bitt Euch, Herr, zu gehen.

Nicht soll durch mich solch Falsch geschehn.

Denn lieber will ich armen Lohn,

Will mit dem Freund am Laubbaum stehn,

Als daß im Goldgemach ich wohn.

Und keiner braucht nach mir zu sehn!“ – Ae!

Was für eine anmutige Keuschheit spricht aus dieser letzten Zeile!

*

Und dann bricht die Zeit des wirklichen Minnesangs an. Vielfach wurde von feministischer Seite darauf hingewiesen, dass die Frau auch hier aus einer ,Objektrolle’ gar nicht herauskomme – nun sei sie eben bloßes ,Liebesobjekt’. Nach wie vor verschwinde sie als handelnde Person.

Dieser Standpunkt verkennt völlig das Wesentliche. Denn mit einer noch viel tieferen Berechtigung kann man auch den entgegengesetzten Standpunkt einnehmen: Der Mann verschwindet als handelnde Person, weil er ganz auf die ,Gnade’ und ,Huld’ der von ihm geliebten, einzigartigen Frau angewiesen ist. Souverän kann die Frau diese Gnade gewähren oder auch nicht. Der Minnesang ist eine einzige große Schule der Hingabe – und zwar der männlichen...

Um 1170 – eine Generation vor der Thronbesteigung durch Richard Löwenherz – entstanden die ,Lais’ der Marie de France, zwölf Versnovellen, geschrieben von einer Frau, die zwar aus Frankreich stammte, aber offenbar für den englischen Hof schrieb.23 Als Beispiel sei hier nur das hoch erotische ,Lied von Lanval’ herausgegriffen. Lanval ist ein treuer Ritter im Dienste von König Artus, der ihn als Einzigen aber übersieht, als er an alle Treuen Land verteilt. Betrübt reitet Lanval aus, da begegnet er zwei lieblichen Fräulein, die ihn zum Zelt ihrer Herrin bringen:24

Und eine Jungfrau liegt darin,

Vor deren Schönheit schwindet hin

Der Lilie Glanz, der Rose Glühen,

Die jung in Sommertagen blühen. [...]

Allein vom leichten Hemd umschmiegt,

So ruht ihr Leib nur halb bedeckt

In ihres Mantels Pracht versteckt.

Hervor aus Purpur und Hermin

Enthüllt die volle Hüfte schien,

Und bloß war Antlitz, Hals und Brust,

Die war so zart wie Weißdornblust.

Es ist eine Fee, die nur für ihn von weither kam – und die sich ihm in Minne hingibt. Sie schenkt ihm auch unversieglichen Reichtum. Sie will ihm für immer angehören, aber er darf niemandem von ihrer Liebe erzählen. Wo auch immer er es aber will, wird sie ihm erscheinen:

Wenn Euer Herz verlanget mein,

So wird kein Ort auf Erden sein,

Auf dem man mag mit Ehren

Nach seinem Lieb’ begehren,

Wo ich nicht alsbald Euch erscheine

Und Euch in Minne mich vereine.

Kein Mensch hört meiner Stimme Laut

Und nur von Euch werd ich erschaut.

Doch die Königin begehrt ihn auf einmal und will ihm all ihr ,heimlich Minnen weihn’. Der treue Lanval wehrt jedoch ab, worauf sie ihm böswillig unterstellt, er verkehre mit Knaben. Im Zorn entgegnet er ihr unbedacht, noch die ärmste Dienerin seiner Freundin sei äußerlich und innerlich schöner als sie, die Königin. Diese verleumdet ihn nun bei Artus selbst, er habe sie erst bedrängt und danach derart verhöhnt.