Drachengesang - Anne McCaffrey - E-Book

Drachengesang E-Book

Anne McCaffrey

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Beschreibung

Die Macht der Musik

Pern, ein von Menschen besiedelter und von telepathisch begabten Echsen bewohnter Planet, zieht seine Bahn in einem Doppelsternsystem. Der kleine rote Begleiter der Hauptsonne nähert sich etwa alle 200 Jahre dem Planeten. Er wirft Sporenfäden aus, die in die Atmosphäre Perns eindringen, alles verbrennen und sich blitzschnell in den Boden eingraben. Nur die Drachenreiter können die Bevölkerung davor schützen. Menolly, die jüngste Tochter des Burgherrn Yanus, erlebt eine solche Zeit des Sporenfalls. Sie ist ein überaus musikalisches Kind und wurde von einem Harfner ausgebildet. Doch Musik ist auf Pern Männersache, und ihr Vater verbietet es Menolly, in der Öffentlichkeit ein Instrument zu spielen. Sie macht sich auf in die Wildnis, um zu musizieren, und gelangt zu den einsamen Höhlen an der Bucht, wo die Feuerechsen, die kleinen Verwandten der Flugdrachen, ihre Gelege haben. Dort erkennt sie mit Erstaunen, welche Macht ihr Gesang über die kleinen telepathischen Tiere hat …

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ANNE McCAFFREY

 

 

DRACHENGESANG

Die Drachenreiter von Pern

Band 3

 

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Pern, ein von Menschen besiedelter und von telepathisch begabten Echsen bewohnter Planet, zieht seine Bahn in einem Doppelsternsystem. Der kleine rote Begleiter der Hauptsonne nähert sich etwa alle 200 Jahre dem Planeten. Er wirft Sporenfäden aus, die in die Atmosphäre Perns eindringen, alles verbrennen und sich blitzschnell in den Boden eingraben. Nur die Drachenreiter können die Bevölkerung davor schützen. Menolly, die jüngste Tochter des Burgherrn Yanus, erlebt eine solche Zeit des Sporenfalls. Sie ist ein überaus musikalisches Kind und wurde von einem Harfner ausgebildet. Doch Musik ist auf Pern Männersache, und ihr Vater verbietet es Menolly, in der Öffentlichkeit ein Instrument zu spielen. Sie macht sich auf in die Wildnis, um zu musizieren, und gelangt zu den einsamen Höhlen an der Bucht, wo die Feuerechsen, die kleinen Verwandten der Flugdrachen, ihre Gelege haben. Dort erkennt sie mit Erstaunen, welche Macht ihr Gesang über die kleinen telepathischen Tiere hat …

 

 

 

 

Die Autorin

Anne McCaffrey wurde am 1. April 1926 in Cambridge, Massachusetts, geboren, und schloss 1947 ihr Slawistik-Studium am Radcliffe College ab. Danach studierte sie Gesang und Opernregie. In den Fünfzigerjahren veröffentlichte sie ihre ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, ab 1956 widmete sie sich hauptberuflich dem Schreiben. 1967 erschien die erste Story über die Drachenreiter von Pern, »Weyr Search«, und gewann den Hugo Award im darauffolgenden Jahr. Für ihre zweite Drachenreiter-Story »Dragonrider« wurde sie 1969 mit dem Nebula Award ausgezeichnet. Anne McCaffrey war die erste Frau, die diese beiden Preise gewann, und kombinierte die beiden Geschichten später zu ihrem ersten Drachenreiter-Roman »Die Welt der Drachen«. 1970 wanderte sie nach Irland aus, wo sie Rennpferde züchtete. Bis zu ihrem Tod am 21. November 2011 im Alter von 85 Jahren setzte sie ihre große Drachenreiter-Saga fort, zuletzt zusammen mit ihrem Sohn Todd.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

 

DRAGONSONG

 

Aus dem Amerikanischen von Birgit Reß-Bohusch

 

 

 

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1976 by Anne McCaffrey

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Karte: Andreas Hancock

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-21008-3V002

Personen

 

Burg in der Halbkreis-Bucht, tributpflichtig dem Benden-Weyr:

Yanus, Burgherr

Mavi, Burgherrin

Menolly, ihre jüngste Tochter

Sella, zweitjüngste Tochter

Alemi, dritter von insgesamt sechs Söhnen

Petiron, der alte Harfner

Elgion, sein Nachfolger

Soreel, Frau des Ersten Pächters

Onkelchen, Menollys Urgroßvater

 

Benden-Weyr:

F'lar, Weyrführer – Bronzedrache Mnementh

Lessa, Weyrherrin – Drachenkönigin Ramoth

N'ton, Geschwaderführer – Bronzedrache Lioth

T'gellan, Geschwaderführer der Halbkreis-Bucht – Bronzedrache Monarth

T'gran, Drachenreiter – Brauner Drache Branth

T'sel, Drachenreiter – Grüner Drache Trenth, Bronze-Echse Rill

F'nor, Geschwader-Zweiter – Brauner Drache Canth, Gold-Echse Grall

Brekke, Königinreiterin – Drachenkönigin Wirenth, tot, Bronze-Echse Berd

Manora, Aufseherin der Unteren Höhlen

Felena, ihre Stellvertreterin

Oharan, Weyr-Harfner

Mirrim, Pflegetochter von Brekke – Grüne Echse Reppa, Grüne Echse Lok, Braune Echse Tolly

Sanra, Erzieherin der Weyr-Kinder

Robinton, Meisterharfner

Nicat, Bergwerksmeister

 

Menollys Feuerechsen:

Gold-Echse Prinzessin

Bronze-Echsen Rocky und Taucher

Braune Echsen Faulpelz, Spiegel und Brownie

Blaue Echse Onkelchen

Grüne Echsen Tantchen Eins und Tantchen Zwei

Vorwort

 

Rubkat im Sagittarius-Sektor war eine goldene Sonne vom G-Typ. Sie besaß fünf Planeten, zwei Asteroiden-Gürtel und einen Wanderstern, den sie eingefangen und während der letzten Jahrtausende festgehalten hatte. Als sich erstmals Menschen auf Rubkats dritter Welt niederließen und sie Pern nannten, schenkten sie dem Stern, der in einer stark schwankenden Ellipse ihre Sonne umkreiste, wenig Beachtung. Zwei Generationen lang kümmerten sich die Kolonisten nicht um ihn, bis der Weg des Roten Wanderers nahe am Perihel seiner Stiefschwester vorbeiführte.

Da nämlich wirbelten Sporen, die in Massen auf der brodelnd heißen Oberfläche des Roten Sterns gediehen, in den Raum hinaus und überbrückten die Kluft nach Pern. Die Sporen fielen als dünne Fäden auf den fruchtbaren Planeten mit seinem gemäßigten Klima und fraßen sich durch alle organischen Stoffe zum warmen Innern von Pern durch, um dort neue Sporenmassen zu entwickeln.

Die Kolonisten erlitten furchtbare Verluste. Menschen starben an den Ätz- und Brandwunden, die Ernten verkümmerten, die Vegetation wurde zerstört. An der Oberfläche konnte nur Feuer die Fäden vernichten, und nur Fels oder Metall hemmte ihr Vordringen in den Schoß des Planeten. Auch im Wasser wurden sie abgetötet, doch die Kolonisten konnten nicht gut auf dem Meer leben.

Die Menschen gaben nicht auf. Sie schlachteten ihre Transportschiffe aus, verließen den ungeschützten Süd-Kontinent, auf dem sie gelandet waren, und siedelten sich in den Naturhöhlen des Nord-Kontinents an. Und sie entwickelten einen Zwei-Phasen-Plan zur Bekämpfung der Fäden. Zum einen begannen sie eine hochspezialisierte Abart einer heimischen Lebensform zu züchten. Die »Drachen« (so genannt wegen ihrer Ähnlichkeit zu dem mythischen Geschöpf der alten Heimat) besaßen zwei enorm nützliche Eigenschaften: Sie konnten sich durch Teleportation von einem Ort zum anderen bewegen, und sie stießen, wenn sie phosphathaltiges Gestein fraßen, ein Flammengas aus. Mit ihrem heißen Atem verwandelten die Flugdrachen die Sporen schon in der Luft zu Asche, ohne dass ihnen selbst etwas zustieß.

Männer und Frauen mit hohem Einfühlungsvermögen oder angeborenen telepathischen Fähigkeiten lernten diese außergewöhnlichen Geschöpfe reiten, was zu einer lebenslangen, sehr engen Partnerschaft zwischen Mensch und Tier führte.

Die erste Höhlenburg in der Ostflanke der hohen Westberge wurde jedoch bald zu eng, sowohl für die Kolonisten wie auch für die großen Drachen. So errichtete man ein Stück weiter im Norden eine zweite Anlage, günstig an einem großen See und in der Nähe höhlendurchzogener Klippen gelegen. Aber auch die neue Burg Ruatha war nach wenigen Generationen übervölkert.

Dann stieg wieder der Rote Stern auf, und man beschloss, sich auch in den Ostbergen anzusiedeln, falls dort günstige Wohnquartiere zu finden waren. Die alten Kavernen eines erloschenen Vulkans in den Benden-Bergen erwiesen sich als ideal für die Drachenreiter und ihre Tiere, und so begann man in ganz Pern nach ähnlichen Plätzen zu suchen. Die Burgen Fort und Ruatha überließ man den Leuten, die nichts mit den Drachen anzufangen wussten. Sie bildeten fortan die Schicht der Landbarone.

Allmählich versagten die großen Steinbohrer, die man ursprünglich von der Erde mitgenommen hatte, um die spärlichen Metallvorkommen von Pern zu schürfen; die späteren Burgen und Weyr mussten von Hand in den Fels gehauen werden.

Die Drachenreiter der Weyr, die Burgherren mit ihren ausgedehnten Ländereien sowie die Bewohner der Höhlendörfer gingen ihren verschiedenen Aufgaben nach und entwickelten so eigene Gewohnheiten, die zum Brauch und zur Tradition erstarrten und schließlich Gesetz wurden.

Als sich der Rote Stern zum dritten Male zeigte, gab es auf Pern eine vielschichtige soziale, politische und wirtschaftliche Struktur. Man hatte sechs Weyr, deren Hauptaufgabe darin bestand, ganz Pern zu beschützen. Jeder Weyr hatte ein geographisch genau umrissenes Gebiet des Nord-Kontinents buchstäblich unter seinen Fittichen. Die übrige Bevölkerung, vor allem die Burgen, leisteten Tribut an die Weyr, da die Drachenreiter in ihren Vulkantrichtern kein eigenes Weide- und Ackerland hatten und auch gar keine Zeit zu Viehzucht und Ackerbau fanden; sie mussten das Land vor dem Fädeneinfall bewahren.

Burgen entstanden, wo immer man natürliche Höhlen entdeckte; einige waren reich, weil in der Nähe von Quellen und gutem Boden errichtet, andere kleiner und weniger von der Natur bevorzugt. An der Spitze standen starke Führer, die während des Sporenregens die verängstigten Burgbewohner zur Vernunft zwangen; dazu brauchte man eine tüchtige Verwaltung, um Vorräte für Notzeiten anzulegen, in denen man keine Felder bestellen konnte. Eine gewisse Wachstumskontrolle gewährleistete, dass sich das Volk gesund und tüchtig weiterentwickelte, bis der nächste Durchgang des Roten Sterns bevorstand. Oft wuchsen die Kinder einer Familie in einer fremden Burg auf, damit das genetische Erbe breit gefächert wurde und keine Inzucht entstand. Man kannte diese Praxis der »Pfleglinge« übrigens auch in den Gilden, wo handwerkliche Talente für Bergbau und Schmiedekunst, Tier- und Saatzucht oder Fischerei ausgebildet und gefördert wurden. Die Gilden besaßen Unabhängigkeit von den Baronen, in deren Einflussbereich sie sich niedergelassen hatten, da man verhindern wollte, dass die Burgherren die Erzeugnisse »ihrer« Handwerker anderen vorenthielten. Eigene Meister standen den sogenannten Gildehallen vor, und sie wählten bei Bedarf geeignete junge Leute aus, um sie zu erziehen.

Hätte sich nicht alle zweihundert Jahre der Rote Stern am Himmel gezeigt – das Leben auf Pern wäre recht angenehm gewesen.

Es kam eine Zeit, da der Rote Stern aufgrund einer besonderen Konstellation von Rubkats eigenen Planeten nicht nahe genug an Pern vorüberzog, um seine Sporen abzuwerfen. Und die Pern-Bewohner vergaßen die Gefahr, die über ihnen schwebte. Der Reichtum wuchs, immer mehr Burgen entstanden, und die Barone waren so sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass ihnen entging, wie die Zahl der Drachen immer geringer wurde. Bald gab es nur noch einen einzigen Weyr auf dem ganzen Planeten. Und wenige Generationen später begannen die Nachfahren der Burgherren daran zu zweifeln, dass der Rote Stern je wiederkehren würde. Die Drachenreiter fielen in Ungnade: Weshalb sollte ganz Pern diese Leute mit ihren gefräßigen Tieren erhalten? Die Sagen vergangener Heldentaten gerieten in Vergessenheit, ja, man begann das kleine Häuflein der Tapferen zu schmähen.

Aber die Zeit verstrich, und wieder stand der Rote Stern über Pern, blinzelte mit seinem tückisch glimmenden Auge das auserkorene Opfer an. F'lar, der Reiter des Bronzedrachen Mnementh, glaubte immer noch an den wahren Kern der alten Legenden und überzeugte mit seinen Argumenten schließlich F'nor, seinen Halbbruder, der den Braunen Drachen Canth ritt. Während das letzte goldene Ei der sterbenden Drachenkönigin in der Brutstätte des Benden-Weyr heranreifte, ergriffen F'lar und F'nor die Gelegenheit und rissen die Macht im Weyr an sich. Auf der Suche nach einer neuen starken Weyrherrin fanden sie Lessa, die Letzte des stolzen Ruatha-Geschlechts. Ihr gelang es, Ramoth, die neue Drachenkönigin, für sich zu gewinnen. Damit wurde sie zur Herrscherin auf dem Benden-Weyr. Und F'lars Bronzedrache Mnementh beflog die neue Königin Ramoth.

F'lar, F'nor und Lessa warnten die Burgherren und Gildemeister vor der drohenden Gefahr und zwangen sie, den nahezu schutzlosen Planeten auf den Fädeneinfall vorzubereiten. Aber es stand von Anfang an fest, dass die knapp zweihundert Drachen des Benden-Weyr niemals die weitverstreuten Burgen mit ihren großen Ländereien verteidigen konnten. Sechs volle Weyr hatte man in alter Zeit benötigt, und da war die Bevölkerung weit geringer gewesen. Als Lessa mit ihrer Drachenkönigin den Sprung ins Dazwischen übte, entdeckte sie durch Zufall, dass Drachen nicht nur einen anderen Ort, sondern auch eine andere Zeit ansteuern konnten. Unter Lebensgefahr für sich und die einzige Königin von Pern begab sich Lessa in die Vergangenheit, vierhundert Jahre zurück, in die Zeit kurz nach dem letzten Durchzug des Roten Sterns.

Die fünf Weyrführer, die nur den Verlust ihrer Macht sahen und sich nach einem kampfgewohnten Leben langweilten, beschlossen, Lessa in die Zukunft zu folgen, wo man ihre Hilfe dringend benötigte.

Drachengesang beginnt sieben Planetendrehungen später.

1

 

Rührt die Trommeln für den Krieg,

Schlagt die Harfe für den Sieg.

Feuer, friss dich tief ins Land,

Bis der Rote Stern gebannt.

 

Fast, als beweinten die Elemente den Tod des gütigen alten Harfners, heulte seit drei Tagen ein Südoststurm, der sogar die Totenbarke in der Dockhöhle festhielt.

Der Sturm ließ dem Burgherrn Yanus zuviel Zeit, über sein Problem nachzusinnen. Er ließ ihm auch Zeit, jeden Mann aufzusuchen, der auch nur einigermaßen Rhythmus und Melodie beherrschte, aber sie gaben ihm alle die gleiche Antwort: Die Totenklage zu Ehren des alten Harfners konnten sie nicht singen; das schaffte einzig und allein Menolly.

Worauf Yanus jedes Mal mit einem unwilligen Knurren davonstapfte. Es ärgerte ihn, dass er seiner Ohnmacht und seiner Unzufriedenheit mit dieser Antwort nicht richtig Ausdruck verleihen konnte. Denn Menolly war nur ein Mädchen – und obendrein zu hochgeschossen und zu schlaksig für ein richtiges Mädchen. Die Einsicht, dass sie die einzige in der ganzen Halbkreis-Bucht war, die jedes Instrument ebenso gut spielen konnte wie der alte Harfner, verbitterte ihn. Ihre Stimme traf jeden Ton, ihre Finger griffen Saiten, Trommelstock und Pfeifenlöcher gleich sicher – und sie kannte die Totenklage. Wenn Yanus sich nicht täuschte, hatte dieses widerspenstige Gör den Gesang eingeübt, seit den alten Petiron das Fieber dahinraffte.

»Sie wird ihm die Ehren erweisen müssen, Yanus«, erklärte seine Frau Mavi an dem Abend, als der Sturm abflaute. »Es geht schlicht und einfach darum, dass wir Petiron zur letzten Ruhe betten, wie es sich geziemt. Wer die Totenklage gesungen hat, braucht später keiner zu erfahren.«

»Der Alte wusste doch, dass es mit ihm zu Ende ging. Warum hat er nicht noch einen der Männer unterwiesen?«

Eine gewisse Schärfe lag in Mavis Antwort. »Weil du nie einen Mann frei hattest, solange die Boote auslaufen konnten!«

»Der junge Tranilty ...«

»Den hast du nach Ista in Pflege geschickt.«

»Oder Forolts Jüngster ...?«

»Er ist im Stimmbruch. Komm, Yanus, finde dich damit ab! Menolly wird singen.«

Yanus haderte immer noch gegen das Unvermeidliche, als er in seine Schlafpelze kroch.

»Haben dir das nicht schon alle anderen gesagt? Warum also versteifst du dich?« – Yanus schloss resigniert die Augen.

»Morgen macht ihr bestimmt einen reichen Fang«, fuhr Mavi mit einem Gähnen fort. Sie sah es lieber, wenn er draußen auf dem Meer war, anstatt in der Burg herumzupoltern, mürrisch und streitsüchtig durch die erzwungene Untätigkeit. Sie wusste, dass er der beste Baron war, den die Halbkreis-Bucht je gesehen hatte. Die Burg gedieh, und in den Vorratshöhlen türmten sich die Tauschgüter; sie hatten seit mehreren Planetendrehungen weder Schiff noch Mann verloren – ein Beweis für seinen guten Wetterinstinkt. Aber Yanus, der sich nur auf einem sturmgepeitschten Deck wohlfühlte, war verloren, wenn es galt, an Land unerwartete Schwierigkeiten zu meistern.

Mavi spürte recht gut, dass Yanus mit seiner Jüngsten unzufrieden war. Sie selbst verzweifelte manchmal schier an dem Mädchen. Gewiss, Menolly arbeitete hart, und sie besaß eine außergewöhnliche Fingerfertigkeit – aber die zeigte sie meist nur, wenn sie ein Instrument der Harfner-Gilde in die Hand nahm. Vielleicht, dachte Mavi, war es unklug gewesen, Menolly in der Umgebung Petirons zu lassen, nachdem sie die alten Lehrballaden alle auswendig kannte. Aber die Kleine hatte ihr die Last abgenommen, den alten Mann zu versorgen, und außerdem hatte er selbst ihre Gesellschaft gewünscht. Keiner missachtete die Wünsche Petirons. Ach was, überlegte Mavi und zog einen Strich unter das Vergangene, sicher kam bald ein neuer Harfner, und dann konnte man Menolly Aufgaben zuweisen, die sich besser für ein junges Mädchen schickten.

Am Morgen darauf hatte sich der Sturm gelegt. Der Himmel war wolkenlos, die See ruhig. Man schmückte die Totenbarke in der Dockhöhle und legte Petirons Leichnam, in blaue Gildetücher gewickelt, auf das Kippbrett. Die gesamte Flotte der Meeres-Bucht folgte dem Ruderboot hinaus in die starke Strömung oberhalb der Nerat-Untiefen.

Menolly saß am Bug der Barke und sang die Elegie; ihre klare, kräftige Stimme scholl bis hin zu den großen Schiffen; die Männer an den Rudern summten die Begleitmelodie.

Mit den letzten Klängen ließ man Petiron ins Meer gleiten. Menolly senkte den Kopf. Dann warf sie die Trommel mitsamt dem Stock in die Fluten. Wie konnte sie je wieder das Instrument benutzen, das Petirons Totenklage begleitet hatte? Sie hatte seit dem Dahinscheiden des Harfners ihre Tränen zurückgehalten, weil sie wusste, dass sie seine Elegie singen würde, und das konnte sie nur, wenn die Kehle nicht zugeschnürt war vom Schmerz. Nun aber ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf, und die Tränen vermischten sich mit der salzigen Gischt. Ihr Schluchzen untermalte die Wende-Kommandos des Steuermanns.

Petiron war ihr Freund, ihr Verbündeter und ihr Lehrmeister gewesen. Sie hatte aus dem Herzen gesungen, wie er es stets verlangte – aus tiefstem Herzen. War es möglich, dass er da, wo er jetzt weilte, ihre Klage gehört hatte?

Sie hob den Blick zu den Küsten-Palisaden, zu dem weißen Sandstreifen zwischen den beiden Armen der Halbkreis-Bucht. Der Himmel hatte drei Tage lang geweint – ein angemessener Tribut. Und die Luft war kalt. Sie zitterte trotz ihrer dicken Wherleder-Jacke. Wäre sie zu den Ruderbänken hinuntergeklettert, so hätte sie wohl Schutz vor dem Wind gefunden. Aber sie konnte sich nicht vom Fleck rühren. Ehre und Verantwortungsgefühl gehörten zusammen, und es geziemte sich, dass sie hier am Bug blieb, bis die Totenbarke die Steine der Dockhöhle erreichte.

Die Burg in der Halbkreis-Bucht würde ihr jetzt noch leerer erscheinen als zuvor. Petiron hatte auszuharren versucht, bis sein Nachfolger eintraf. Er hatte gewusst, dass er den Winter nicht überleben würde und deshalb an Meisterharfner Robinton geschrieben. Seiner Botschaft hatte er zwei von Menollys Liedern beigefügt.

»Frauen haben im Kreis der Harfner nichts zu schaffen«, hatte sie verwirrt und scheu erklärt, als sie davon erfuhr.

Petiron wich aus, wie so oft. »Einer von hundert hat ein gutes Gehör«, hatte er geantwortet. »Einer von zehntausend findet eine annehmbare Melodie und schöne Worte dazu. Wärst du ein Junge, so gäbe es überhaupt keine Probleme.«

»Ich bin nun mal ein Mädchen. Daran können wir beide nichts ändern.«

»Du würdest auch einen hübschen, kräftigen Jungen abgeben«, murmelte Petiron eigensinnig.

»Und was hast du gegen ein hübsches, kräftiges Mädchen einzuwenden?«, hatte Menolly halb im Scherz, halb im Ärger gefragt.

»Nichts natürlich. Nichts.« Und Petiron hatte ihr zugelächelt und ihre Hand getätschelt.

Sie hatte ihm das Abendessen eingeflößt, denn die alten Hände waren so verkrüppelt, dass selbst der leichteste Holzlöffel schlimme Furchen in den geschwollenen Fingern hinterließ.

»Außerdem ist Meisterharfner Robinton ein gerechter Mann. Das kann keiner auf Pern bestreiten. Er wird meine Botschaft ernst nehmen. Er kennt seine Pflichten, und ich bin immerhin im Gilden-Senat. Ich habe mein Handwerk noch früher gelernt als er. Ich werde ihn dazu bringen, dass er dich anhört.«

»Hast du ihm wirklich diese Balladen geschickt, die ich auf dein Geheiß in Wachsplatten kratzte?«

»Gewiss. Das zumindest war ich dir schuldig, Kind.«

Er hatte mit solchem Nachdruck gesprochen, dass Menolly seinen Worten Glauben schenkte. Armer alter Petiron. In den letzten Monaten war sein Gedächtnis immer schlechter geworden. Er verwechselte die Planetendrehungen und vergaß selbst die Ereignisse vom Vortag.

Jetzt braucht er die Zeit nicht mehr, und ich werde ihn nie vergessen, dachte Menolly. Ihre nassen Wangen prickelten vor Kälte.

Der Schatten der Halbkreis-Bucht fiel über sie. Die Barke kehrte heim in die Bucht. Menolly hob den Kopf. Hoch droben am Himmel erkannte sie die Umrisse eines Drachen. Ein stolzer Anblick! Aber wie hatte man im Benden-Weyr vom Tod des alten Harfners erfahren? Unsinn, der Drachenreiter befand sich auf einem Patrouille-Flug. Seit die Fäden nicht mehr so regelmäßig fielen wie früher, kreisten des Öfteren Drachen über der Halbkreis-Bucht, die inmitten ausgedehnter Sumpfgebiete lag, abgeschnitten von den Nachbarburgen. Wie dem auch sein mochte, der Drache schwebte im rechten Moment am Himmel, und Menolly sah darin einen Tribut für Petiron, den Harfner.

Die Männer hoben die schweren Ruder aus dem Wasser, und die Barke glitt langsam zu ihrem Liegeplatz am anderen Ende der Docks. Fort und Tillek rühmten sich, dass sie die ältesten Burgen am Meer waren, aber nur die Halbkreis-Bucht besaß eine Höhle, groß genug, um die gesamte Fischfangflotte aufzunehmen und sie vor Fädeneinfall und schlechtem Wetter zu schützen.

Die Dockhöhle hatte Liegeplätze für dreißig Boote, Lagerraum für alle Netze, Trocken- und Lüftgestelle für die Segel und eine Flachzone, wo man die Schiffe reparieren und von Seetang befreien konnte. Ganz am Ende der riesigen Höhle befand sich ein Felsensims, wo die Werftleute neue Boote bauten, sobald sie genug Holz für einen Rumpf beisammen hatten. Dahinter lag die kleine Innere Höhle, wo man das kostbare Holz stapelte, trocknete oder zu Rahmen verwand.

Die Totenbarke stieß leicht an den Pflock.

»Menolly?« Der erste Ruderer hielt ihr die Hand entgegen.

Erstaunt über die unerwartete Aufmerksamkeit, die einem Mädchen ihres Alters gar nicht zukam, wollte sie von selbst nach unten springen. Doch dann las sie in seinen Augen den Respekt, den er ihr in diesem Moment zollte, und die Hand, die sich um ihre schloss, dankte ihr mit einem leisen Druck für den Gesang. Auch die anderen Männer blieben stehen und warteten, dass sie als erste die Barke verließ. Sie straffte die Schultern, auch wenn sie sich wieder den Tränen nahe fühlte, und setzte ihren Fuß stolz auf den Stein.

Als sie sich umdrehte und zur Landseite der Höhle hinüberging, sah sie, dass die anderen Boote ihre Passagiere still und in aller Hast abluden. Das Schiff ihres Vaters, das größte der Halbkreis-Flotte, machte sich bereits zum Auslaufen fertig, und die Stimme des Burgherrn scholl über die Wellen, das Knarren der Ruder und die gedämpften Gespräche hinweg.

»Rasch jetzt, Leute! Eine Brise kommt auf, und nach dem langen Sturm werden die Fische wie wild anbeißen.«

Die Ruderer der Barke eilten an ihr vorbei zu ihren jeweiligen Booten. Es erschien Menolly ungerecht, dass die Burgbewohner, denen der Harfner bis zuletzt treu gedient hatte, ihren Lehrer und Sänger so leicht vergaßen. Und doch – das Leben ging weiter. Man musste auf Fischfang gehen, wenn man die kargen Wintermonate ohne Hungersnot überdauern wollte. Kein schöner Tag während der kalten Monate einer Planetendrehung durfte vergeudet werden.

Menolly beschleunigte ihre Schritte. Sie musste in einem weiten Bogen um die Höhle herumgehen, und sie fror. Außerdem wollte sie in der Burg sein, ehe ihrer Mutter auffiel, dass sie die Trommel nicht mehr bei sich hatte. Wenn Yanus Müßiggang nicht ausstehen konnte, so hasste Mavi Verschwendung.

Die Frauen und Kinder, sowie die Männer, die zu alt waren, um aufs Meer hinauszufahren, bildeten einen langen Trauerzug landeinwärts, ehe sie sich in kleinere Gruppen aufsplitterten und zu ihren Höfen entlang dem Südbogen der Schutzpalisade heimkehrten.

Menolly sah, wie Mavi die Kinder des Burghaushalts in Arbeitsgruppen einteilte. Jetzt, da kein Harfner mehr da war, der sie in den alten Balladen und Lehrgesängen unterwies, mussten sie anders beschäftigt werden. Sie erhielten den Auftrag, den weißen Sandstrand vom Treibgut des Sturms zu säubern.

Vielleicht stand noch die Sonne am Himmel und der Braune Drache zog seine Kreise – aber der Wind blies eisig, und Menolly begann mit den Zähnen zu klappern. Sie sehnte sich nach der Wärme des großen Herdfeuers in der Burgküche und einem Becher heißen Klahs.

Ein paar Wortfetzen drangen an ihr Ohr:

»Sie hat jetzt gar nichts zu tun, Mavi, während ich noch ...«

Menolly huschte hinter eine Gruppe von Erwachsenen und entging so dem suchenden Blick ihrer Mutter. Das sah Sella ähnlich. Nur sie konnte in diesem Moment daran denken, dass Menolly nun nicht mehr die Aufgabe – oder die Ausrede, wie ihre Schwester es nannte – hatte, den kranken Harfner zu pflegen. Dicht vor Menolly glitt eine der alten Tanten aus und rief mit ihrer dünnen Keifstimme um Hilfe. Menolly lief an ihre Seite, stützte sie und erhielt dafür laute Dankesbekundungen.

»Einzig und allein Petiron zuliebe habe ich meine alten Knochen heute der Kälte ausgesetzt«, jammerte die Alte und krallte sich mit unerwarteter Kraft an Menolly fest. »Die ewige Ruhe wünsch ich ihm – er hat sie verdient. Du bist ein gutes Kind, Menolly, ja, das bist du. Das ist doch meine kleine Menolly, oder?« Sie blinzelte zu ihr auf. »Und jetzt sei so lieb und führ mich hinauf zu Onkelchen, damit ich ihm alles erzählen kann. Der Ärmste – ohne seine Beine ist er eben ganz an die Burg gefesselt!«

So musste Sella die Kinder hüten, und Menolly gelangte ans Feuer, wenigstens so lange, bis sie nicht mehr vor Kälte zitterte. Dann meinte die Tante, dass Onkelchen sicher auch über einen Schluck Klah froh wäre, und als Mavi auf einen Sprung in die Küche kam, um nach ihrer jüngsten Tochter zu suchen, fand sie Menolly mit dem alten Mann beschäftigt.

»Brav so, Menolly! Mach es Onkelchen bequem, und dann kümmerst du dich um die Leuchten.«

Menolly trank noch eine Tasse heißen Klah mit Onkelchen und ließ ihn dann mit der Tante allein, in ein langes Gespräch über frühere Bestattungen vertieft. Die Leuchten gehörten seit der Zeit, da sie ihrer älteren Schwester Sella über den Kopf gewachsen war, zu ihrem Aufgabenbereich. Das hieß, dass sie treppauf, treppab durch die Außen- und Innenkammern und die Gänge der weitläufigen Burg rennen musste, aber sie hatte ein eigenes, zeitsparendes System entwickelt, das ihr die Arbeit erleichterte und sogar ein wenig Spielraum ließ, ehe Mavi wieder nach ihr zu suchen begann. Früher hatte sie diese kostbaren freien Minuten beim alten Harfner verbracht, um an seinen Instrumenten zu üben. So lenkte sie auch an diesem Tag ganz mechanisch ihre Schritte zu Petirons Wohnung.

Zu ihrer Verblüffung hörte sie im Innern Stimmen. Sie wollte eben wütend die angelehnte Tür aufstoßen, als sie den Tonfall ihrer Mutter erkannte.

»Der Raum sieht noch gut aus. Viel gibt es für den neuen Harfner nicht herzurichten.«

Menolly zog sich in den Schatten des Korridors zurück. Der neue Harfner?

»Ich möchte wissen, Mavi, wer die Kinder unterrichten soll, bis er kommt.« Das war Soreel, die Frau des Ersten Pächters und deshalb Wortführerin der anderen Pächterfrauen, wenn es darum ging, etwas mit der Burgherrin zu besprechen. »Sie hat ihre Sache heute gut gemacht. Das musst du ihr lassen, Mavi.«

»Yanus wird die Botschaft mit dem Schiff abschicken.«

»Aber weder heute noch morgen. Das richtet sich nicht gegen den Burgherrn, Mavi; wir verstehen, dass der Fischfang vorgeht und er keinen Mann entbehren kann. Aber es bedeutet, dass vier oder fünf Tage vergehen werden, ehe der Bote Igen erreicht. Falls sich ein Drachenreiter von Igen herablässt, die Nachricht weiterzubefördern ... Aber wir alle kennen die sturen Alten von Igen. Also rechnen wir lieber weitere zwei, drei Tage hinzu, bis die Harfner-Trommeln von Igen nach Fort durchgedrungen sind. Dann muss Meisterharfner Robinton einen geeigneten Mann auswählen und ihn zu uns schicken, erst auf dem Landweg, dann per Schiff. Und bei dem unberechenbaren Fädeneinfall kommt man in einem Tag nicht weit voran. Es wird sicher Frühling, ehe wir den neuen Harfner sehen. Sollen die Kinder etwa monatelang ohne Unterricht bleiben?«

Soreel hatte ihre Worte mit heftigem Bettenschütteln untermalt. Nun schwieg sie, und man hörte, dass der Raum des verstorbenen Harfners geputzt und gescheuert wurde. Zwei schüchterne Stimmen unterstützten Soreel.

»Petiron war ein guter Lehrmeister ...«

»Das sieht man an ihr«, fiel Soreel der Burgherrin ins Wort.

»Der Harfner-Beruf ist Männersache ...«

»Gut. Wenn der Baron einen Mann dafür freistellt ...« Soreels Stimme klang beinahe aufsässig, denn jeder kannte die Antwort darauf. »Sei doch ehrlich! Das Mädchen hat die Balladen besser gesungen als der alte Mann. Du weißt, wie sich sein Geist im Laufe der letzten Planetendrehungen verwirrte.«

»Yanus wird schon das Rechte veranlassen«, sagte Mavi scharf und beendete damit die Debatte.

Menolly hörte Schritte, die sich der Tür näherten, und hetzte den Korridor zurück, wischte um die nächste Kurve und lief hinunter ins Küchengewölbe.

Es störte Menolly, dass künftig ein anderer, selbst wenn er ein Harfner war, in Petirons Zimmer wohnen sollte. Andere störten sich eher daran, dass noch kein Nachfolger für den alten Mann gefunden war. Im allgemeinen stellte sich dieses Problem überhaupt nicht. Jede Burg konnte sich rühmen, einen oder zwei musikalische Männer zu besitzen, und jede Burg legte Wert darauf, dass diese Talente gefördert wurden. Harfner ließen sich während der langen Winterabende am Kamin gern von anderen Spielern und Sängern begleiten. Und es war auch klug, Ersatz heranzuziehen – eben für den Notfall, wie er sich jetzt in der Halbkreis-Bucht zeigte. Aber die Fischerei machte die Hände rau und klobig: die schwere Arbeit, das kalte Wasser, das Salz und der Tran ließen Gelenke anschwellen und die Finger steif werden. Fischerleute waren oft tagelang auf Fangfahrten. Nach einer Planetendrehung oder zwei an Netz, Reuse oder Segelleine verloren die jungen Männer ihr Talent und konnten nur noch die einfachsten Melodien spielen. Die Lehrgesänge der Harfner aber erforderten flinke, geschickte Finger und ständiges Üben.

Dass Yanus sofort nach der Bestattung des alten Harfners in See stach, war eine Art Flucht. Er versuchte Zeit zu gewinnen, bis er eine Lösung des Problems fand. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Kleine gut singen und gut spielen konnte, und sie hatte an diesem Morgen weder der Burg noch dem Harfner Schande gemacht. Und sicher dauerte es eine Weile, bis er nach einem neuen Harfner geschickt hatte und dieser die Halbkreis-Bucht erreichte. Inzwischen durften die Kinder ihr Grundwissen nicht wieder vergessen.

Aber Yanus hatte eine Menge Skrupel, die große Last und Verantwortung des Lehrens auf die Schultern einer noch nicht Fünfzehnjährigen zu legen. Zu seinen Vorbehalten gehörte nicht zuletzt Menollys schlimme Angewohnheit, selbst Melodien und Reime zu erfinden. Gewiss, es machte Spaß, hin und wieder etwas Neues zu hören; das verscheuchte die Langeweile des Winters. Aber solange der alte Petiron gelebt hatte, war es leicht gewesen, Menolly in ihren Schranken zu halten. Yanus dagegen konnte nicht sicher sein, dass sie ihre Kapriolen ließ, wenn sie die Kinder unterrichtete. Woher sollten die Jüngsten wissen, dass die Lieder, die sie ihnen beibrachte, nicht zu den Lehrballaden gehörten? Dumm war nur, dass ihre Melodien im Gedächtnis haften blieben – dass er selbst sie manchmal vor sich hinpfiff, ohne es zu wollen.

Die Schiffe machten reichen Fang in den Untiefen und liefen zurück in den Heimathafen, aber Yanus hatte immer noch keinen Kompromiss gefunden. Es tröstete ihn auch nicht, dass von den Pächtern kein Widerspruch zu erwarten war. Hätte Menolly an jenem Morgen schlecht gesungen ... aber das hatte sie nicht. Als Baron der Halbkreis-Bucht war er verpflichtet, die Jüngsten des Burg-Bereichs in der Tradition von Pern zu erziehen, damit sie später danach handelten. Er schätzte sich äußerst glücklich, dass er dem Benden-Weyr unterstand, mit F'lar, dem Reiter des Bronzedrachen Mnementh als Weyrführer und Lessa auf Ramoth als Weyrherrin. Deshalb nahm er seine Aufgabe, Tradition und Sitte zu erhalten, besonders ernst. Das junge Volk musste die Lehrgesänge beherrschen – selbst wenn ein Mädchen den Unterricht erteilte.

An diesem Abend, nachdem der Fang entladen und eingesalzen war, bat er Mavi, ihre Tochter in die Kammer neben dem Großen Saal zu bringen, wo er die Geschäfte der Burg verwaltete und ein Archiv angelegt hatte. Mavi hatte die Harfner-Instrumente bis zum Eintreffen von Petirons Nachfolger auf dem Kaminsims verstaut, damit sie nicht zu Schaden kamen.

Wie es sich geziemte, überreichte Yanus Menolly die Gitarre von Petiron. Sie nahm das Instrument ehrfürchtig entgegen, ein Zeichen für den Burgherrn, dass sie um ihre Verantwortung wusste.

»Du bist ab morgen von deinen Vormittagspflichten befreit«, erklärte er, »weil du dich um den Unterricht der Kleinen kümmern wirst. Aber ich dulde nicht, dass du deine eigenen Melodien spielst!«

»Als Petiron noch lebte, hat es dir nichts ausgemacht.«

Yanus sah seine hochgewachsene Tochter mit gerunzelter Stirn an.

»Petiron ist aber tot, und du wirst mir gehorchen ...«

Über die Schulter des Vaters sah Menolly, wie Mavi warnend den Kopf schüttelte. Sie schluckte gerade noch eine gereizte Antwort hinunter.

»Also, denk an meine Worte! Du bringst den Kindern die Lehrballaden bei und sonst nichts!« Und Yanus fasste grimmig an seinen breiten Ledergürtel.

»In Ordnung.«

»Fang gleich morgen an – es sei denn, wir erleben einen Sporenregen. In diesem Fall müssen die Kinder Angelhaken mit Ködern bestücken.«

Yanus schickte die beiden Frauen fort und begann eine Nachricht an den Meisterharfner aufzusetzen. Sobald er ein Schiff entbehren konnte, sollte es hinüber nach Igen segeln, und die Botschaft dort abliefern. Wurde ohnehin höchste Zeit, dass man in der Halbkreis-Bucht erfuhr, was es Neues auf Pern gab. Außerdem konnten die Leute einen Teil des Räucherfisch-Tributs mitnehmen, dass sich die Fahrt auch lohnte.

Draußen im Gang umklammerte Mavi hart den Arm ihrer Tochter. »Wehe, du tust nicht, was er sagt, Kind!«

»Was ist denn so Schlimmes an meinen Liedern? Du weißt, dass Petiron ...«

»Ich mache dich noch einmal darauf aufmerksam, dass der alte Mann tot ist. Und das verändert eine ganze Menge. Benimm dich anständig, solange du die Stelle eines Mannes vertrittst! Keine selbsterfundenen Melodien, ja? Geh jetzt schlafen – und vergiss nicht die Leuchten auszumachen! Wir müssen sparen ...«

2

 

Lob gebührt dem Drachenreiter,

Zollt es ihm durch Wort und Tat,

Seine starken Hände greifen

Lenkend in das Schicksalsrad.

 

Drachenreiter, Maß lass walten,

Machtgier bringt den Untergang.

Achte das Gesetz der Alten,

So des Weyrs Fortbestand.

 

Es fiel Menolly anfangs leicht genug, während des Unterrichts ihre eigenen Melodien zu vergessen. Der neue Harfner sollte bei seiner Ankunft eine gut vorbereitete Klasse finden; das war sie Petiron schuldig. Die Kinder lernten gern; das war schöner als Fische ausnehmen und einpökeln, schöner als Netze flicken und Köder aufspießen. Außerdem herrschten in diesem Jahr die schlimmsten Winterstürme seit vielen Planetendrehungen, und der Unterricht vertrieb allen ein wenig die Langeweile.

Wenn die Flotte nicht auslaufen konnte, stapfte Yanus gelegentlich in den Großen Saal und horchte hinüber in den Kleinen Saal, wo Menolly ihre Stunden abhielt. Mit düsterer Miene beobachtete er dann seine Tochter. Zum Glück blieb er nie lange, denn er machte die Kinder nervös. Einmal sah sie, wie sein Fuß im Takt mitwippte; er schnitt eine wütende Grimasse, als er sich dabei ertappte, und ging dann rasch hinaus.

Drei Tage nach dem Bestattungs-Ritual hatte er eine Schaluppe zur Burg Igen geschickt. Die Besatzung brachte Neuigkeiten heim, die Menolly wenig bedeuteten, den Erwachsenen aber Kopfzerbrechen zu bereiten schienen – etwas über die Weyrführer der Vergangenheit; Dinge, die junge Mädchen nichts angingen, wie es hieß. Also kümmerte sich Menolly nicht weiter darum. Die Männer lieferten auch eine Wachstafel ab, die an Petiron gerichtet war und das Siegel des Meisterharfners trug.

»Armer, alter Petiron!«, seufzte eine der alten Tanten und tupfte sich die Augen trocken. »Er hat sich immer so auf Robintons Botschaften gefreut. Ach ja, nun bleibt das Päckchen wohl verschlossen, bis der neue Harfner eintrifft. Er wird wissen, was damit zu geschehen hat.«

Es dauerte eine Weile, bis Menolly herausfand, wo die Tafel aufbewahrt wurde: Sie hatte einen Ehrenplatz auf dem Kaminsims in der Archivkammer ihres Vaters. Menolly war absolut sicher, dass die Botschaft etwas mit ihr zu tun hatte, mit ihren Liedern, die Petiron dem Meisterharfner geschickt hatte. Der Gedanke quälte sie so, dass sie eines Tages Mavi fragte, weshalb Yanus das Paket nicht öffnete.

»Eine versiegelte Nachricht vom Meisterharfner an einen Toten?« Mavi starrte ihre Tochter ungläubig, ja entsetzt an. »So etwas würde dein Vater nie wagen. Die Zeilen eines Meisterharfners sind für Gildeangehörige bestimmt und für niemand sonst.«

»Mir fiel nur ein, dass Petiron eine Nachricht an Robinton geschickt hatte. Ich meine, vielleicht steht etwas über seinen Nachfolger drin. Das heißt, ich dachte ...«