Die Chroniken von Pern - Ankunft - Anne McCaffrey - E-Book

Die Chroniken von Pern - Ankunft E-Book

Anne McCaffrey

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Beschreibung

Wie alles begann

Dies ist die Geschichte des Planeten Pern, der vor Urzeiten von Menschen besiedelt wurde, die zusammen mit den Delfinen von der Erde kamen. Sie erzählt von den Abenteuern der allerersten Forschungsmission und der Landung des ersten Kolonistenschiffes vom ersten Sporenregen, der beinahe alles Leben auf dem Planeten auslöscht, von einer gewaltigen Katastrophe, die die Bewohner des Südkontinents zum Exodus zwang, von der ersten Weyr, den Drachenhorten, und den Geheimnissen der Drachenreiter …

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ANNE McCAFFREY

 

 

 

DIE CHRONIKEN VON PERN:

ANKUNFT

Die Drachenreiter von Pern

Band 13

 

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Wie alles begann.

Dies ist die Geschichte des Planeten Pern, der vor Urzeiten von Menschen besiedelt wurde, die zusammen mit den Delfinen von der Erde kamen. Sie erzählt von den Abenteuern der allerersten Forschungsmission und der Landung des ersten Kolonistenschiffes, vom ersten Sporenregen, der beinahe alles Leben auf dem Planeten auslöscht, von einer gewaltigen Katastrophe, die die Bewohner des Südkontinents zum Exodus zwang, von der ersten Weyr, den Drachenhorten, und den Geheimnissen der Drachenreiter …

 

 

 

 

Die Autorin

Anne McCaffrey wurde am 1. April 1926 in Cambridge, Massachusetts, geboren, und schloss 1947 ihr Slawistik-Studium am Radcliffe College ab. Danach studierte sie Gesang und Opernregie. In den Fünfzigerjahren veröffentlichte sie ihre ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, ab 1956 widmete sie sich hauptberuflich dem Schreiben. 1967 erschien die erste Story über die Drachenreiter von Pern, »Weyr Search«, und gewann den Hugo Award im darauffolgenden Jahr. Für ihre zweite Drachenreiter-Story »Dragonrider« wurde sie 1969 mit dem Nebula Award ausgezeichnet. Anne McCaffrey war die erste Frau, die diese beiden Preise gewann, und kombinierte die beiden Geschichten später zu ihrem ersten Drachenreiter-Roman »Die Welt der Drachen«. 1970 wanderte sie nach Irland aus, wo sie Rennpferde züchtete. Bis zu ihrem Tod am 21. November 2011 im Alter von 85 Jahren setzte sie ihre große Drachenreiter-Saga fort, zuletzt zusammen mit ihrem Sohn Todd.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

 

THE CHRONICLES OF PERN: FIRST FALL

 

Aus dem Amerikanischen von Ingrid Herrmann-Nytko

 

 

 

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1993 by Anne McCaffrey

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Karte: Andreas Hancock

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-20884-4V002

 

 

 

Dieses Buch widme ich mit allem Respekt

Jay A. Katz – aus vielen guten Gründen

INHALT

 

 

Zeittafel für Die Chroniken von Pern: Ankunft

Die Erkundung: P.E.R.N.k

Die Delfinglocke

Die Furt des Red Hanrahan

Der Zweite Weyr

Rettungsmission

 

Zeittafel für

DIE CHRONIKEN VON PERN: ANKUNFT

 

Jahr 1: Die Landung

Torene Ostrovskij geb.

Jahr 8,6: Der Erste Fädenfall

Jahr 10: Die ersten Drachen schlüpfen

Michael Connell geb.

Burg Fort wird gegründet

Die Evakuierung von Landing –

Die Delfinglocke

Jahr 16: Das Fieberjahr

Emily Boll stirbt

Jahr 17: Pierre de Courcis gründet die Festung Boll

Jahr 19: Red Hanrahans Erzählung –

Die Furt des Red Hanrahan

Jahr 22: Michael wird im Alter von 12 Jahren von Brianth erwählt

Ongola verlässt mit seinen Leuten Burg Fort und gründet eine eigene Niederlassung

Jahr 26: Paul Benden stirbt

Jahr 27: Der Kampf der Königinnen –

Porth, Evenath, Siglath

Jahr 20FF 28: Sean ruft drei neue Weyr aus –

Der Zweite Weyr

 

 

 

 

DIE

ERKUNDUNG:

 

P.E.R.N.k

Uns interessiert der dritte Planet in diesem perniziösen System«, quengelte Castor in einem unsachlichen, gebieterischen Ton, den Blick unverwandt auf den Bildschirm gerichtet. »Wie sieht es mit der Berechnung der Sinuskurve aus, Shavva?«

Von ihrem Terminal aufschauend, verzog Shavva kurz das Gesicht, ehe sie antwortete. »Die gute Nachricht lautet, dass alles bestens klappen wird. Schade, dass wir uns die Peripherie des Systems nicht näher ansehen können«, fügte sie hinzu. »Ich würde zu gern mehr über diese massereichen Planeten und die Oort'sche Wolke hier erfahren, doch darauf müssen wir verzichten, wenn unser Eintrittswinkel in die Ekliptik normal verlaufen soll. Wie die Dinge stehen, dürfen wir uns nicht länger als zehn Tage auf der Planetenoberfläche aufhalten, weil wir sonst den Katapulteffekt verpassen.« Erwartungsvoll blickte sie ihn an.

Er stöhnte. »Wir müssen schon wieder Doppelfunktionen übernehmen.« Als er ihre halb ernste, halb spöttische Miene sah, fuhr er fort: »Verflixt noch mal, Shavva, nachdem wir so lange zusammenarbeiten, kennen wir uns in den jeweiligen Fachgebieten der Kollegen gut genug aus, um einen fairen Bericht abzufassen.«

»Fair?«, mischte sich Ben Turnien mit staunend hochgezogenen Augenbrauen ein. »Fair? Wem gegenüber?«

»Menschenskind, Ben, es genügt doch zu wissen, ob ein Planet von Humanoiden bewohnt werden kann. Wir brauchen keinen Zoologen mehr, der uns erklärt, welche Viecher Raubtiercharakter haben. Und jeder von uns hat wohl genug absonderliche Lebensformen, giftige Atmosphären und unwirtliche Gegenden kennengelernt, um zu entscheiden, wann ein Planet als unbewohnbar gilt.«

Es herrschte eine beklemmende Stille, als die vier restlichen Teammitglieder der erst kürzlich eingetretenen Todesfälle gedachten: Sevvie Asturias, der Paläontologe und Arzt, und Flora Neveshan, die als Zoologin sowie Botanikerin fungiert hatte, waren auf dem letzten Planeten, den das Erkundungs- und Vermessungs-Team ansteuerte, ums Leben gekommen. Über das entsprechende Protokoll hatte Castor die deutlich ins Auge fallenden Buchstaben T.B. gesetzt. Todbringend.

Terbo, der Zoologe/Chemiker, verunglückte tödlich bei einem Erdrutsch, der den ersten Planeten ihrer gegenwärtigen Erkundungstour heimsuchte; doch da diese Welt eindeutig intelligente Lebensformen beherbergte, schloss der Bericht mit den Initialen I.L.F. ab.

Auf der dritten Welt verloren sie Beldona, die Copilotin und Archäologin, durch denselben Unfall, bei dem Castor verletzt wurde: Ein Planet, dem sie die Bezeichnung E.E.D.I. verpassten – eingeschränkt empfehlenswert für diverse Interessen. Über Sonden hatten sie von einem Planeten, den sie umkreisten, ausreichend Informationen erhalten, um ihn als V.A.T. zu klassifizieren – Vorsicht! Absolut tödlich!

In einem Team, das bereits fünf gemeinsame Expeditionen hinter sich hatte, wurde jeder einzelne Todesfall als persönlicher, schwerer Verlust empfunden. Und diese Mission war noch nicht einmal zu Ende. Das System, das sie gerade erreicht hatten, fünf Planeten, die den Zentralstern Rubkat umkreisten, war das fünfte der sieben Sonnensysteme, die sie auf ihrem derzeitigen Flug durchs All erforschen sollten.

»Mit der Geologie, der Biologie und der Chemie kommen wir zurecht«, dozierte Castor weiter, während er stirnrunzelnd sein in einer Gelschiene ruhendes Bein betrachtete. Der mehrfach gebrochene Knochen war noch immer nicht verheilt. »Jedenfalls kann ich die Analysen vornehmen, wenn ihr mir entsprechende Proben mitbringt. Flora und Fauna können wir nicht so akribisch studieren wie sonst, aber auf alle Fälle werden wir die erforderlichen fünf geeigneten Landeplätze aussuchen, feststellen, ob regelmäßig größere Meteoriteneinschläge zu erwarten sind, drastische geologische Veränderungen identifizieren und herausfinden, ob eine dominante Lebensform existiert.«

»Planeten, die Leben begünstigen, sind selten genug, aber Numero Tres scheint wirklich interessant zu sein«, bemerkte Mo Tan Liu mit seiner sanften Stimme. »Die Werte bezüglich der Atmosphäre und Schwerkraft sehen nicht übel aus. Ich finde, wir sollten ein paar Sonden losschicken.«

»Ab damit«, bestätigte Castor. »Sonden haben wir mehr als genug.«

»Unsere Flugbahn lässt auch den Abschuss einer Peilkapsel zu«, ergänzte Liu. »Die Konföderation Vernunftbegabter Rassen sollte über die T.B.-Situation auf Flora Asturias Bescheid wissen.« Gemäß der bizarren und vielleicht auch makabren Praxis des Erkundungs- und Vermessungs-Corps hatten sie den letzten Planeten nach den Team-Mitgliedern benannt, die bei der Oberflächenerforschung getötet worden waren. »Es ist unsere Pflicht, jede T-B. und V.A.T.-Einstufung unverzüglich zu melden.«

»Na schön, von mir aus«, entgegnete Castor gereizt.

»Soll ich den Bericht abfassen?«, fragte Shavva.

»Den hab ich bereits geschrieben«, beschied Castor ihr in einem Ton, der dem Gespräch ein Ende setzte. Er rief das Programm ab, und als die Kopie fertig war, rollte er sie zusammen, um sie in die Peilkapsel zu stecken. Ein paar Wochen vor ihrer geplanten Rückkehr würde die Nachricht ihr Mutterschiff erreichen. »Es wird sie auch interessieren, dass wir noch eine Oort'sche Wolke entdeckt haben. Ist es jetzt die fünfte oder sechste?«

»Die sechste, einschließlich dieser. Trotzdem glaube ich nicht an die Theorie von den Viren aus dem Weltall«, entgegnete Ben, froh, auf ein weniger deprimierendes Thema überwechseln zu können.

»Das System Nummer Vier war jedenfalls tot«, stellte Shavva mit Nachdruck fest.

»Man kann nicht beweisen, dass die Oort'sche Wolke daran schuld ist. Außerdem«, fuhr Ben fort, »lassen die unzähligen großen und kleinen Krater darauf schließen, dass der Planet von Meteoriten bombardiert wurde. Die Einschläge zertrümmerten die Oberfläche und ließen einen beträchtlichen Teil der Wassermenge in den Ozeanen verdampfen. Wie im Fall von Shaula Drei. Dieses System hatte auch eine Oort'sche Wolke.«

»Doch dort hatten einmal Lebewesen existiert. Wir alle haben die Fossilien in den Steilhängen der Klippen gesehen«, wandte Castor ein.

»Sie erinnerten mich an ein Hinweisschild: Früher gab es hier Leben.« Die Landung hatte Shavva arg mitgenommen. Zehn Tage auf einer öden, trostlosen Welt waren für sie neunundeinhalb Tage zuviel gewesen. Die Atmosphäre war gerade noch erträglich. Um kein Risiko einzugehen, hatten sie Atemschutzgeräte benutzt. Eine grobe Schätzung ergab, dass die Verwüstung vor rund tausend Jahren stattgefunden hatte. »Als auf der Erde das finstere Zeitalter anbrach, wurde alles Lebendige auf diesem Planeten ausgelöscht.«

»Eigentlich ein Jammer. Diese Welt muss sehr schön gewesen sein. Land- und Wassermassen perfekt ausgeglichen«, warf Ben ein.

»Von der Hoyle-Wickramansingh-Theorie hast du nie viel gehalten, oder?«

»Hat man diese Viren aus dem All je gefunden? Oder auch nur eine Spur davon in irgendeiner Oort'schen Wolke?« Mit einem Anflug von Kampfeslust reckte Ben das Kinn vor. »Diese Theorie von den Weltraum-Viren halte ich für Blödsinn, vor allem, wenn ein Planet mit Kratern vom Umfang einer Großstadt übersät ist. Beides zusammen bedeutete Overkill, und das Universum verschleudert nicht seine Ressourcen. Ob Virus oder Meteoreinschläge – das eine tötet genauso sicher wie das andere.«

»Ich habe in der Bibliothek nach Angaben über weitere Planeten gesucht, auf denen plötzlich alles Leben ausgelöscht wurde. Asturias erfüllt in jeder Hinsicht die üblichen Kriterien«, sagte Liu, den Bildschirm fixierend. »Wenn man überhaupt von Kriterien sprechen kann.« Er stand auf, streckte sich und gähnte. »Was wir wirklich brauchen, ist ein Planet, der gerade von einem Vernichtungsschlag heimgesucht wird.«

Shavva stieß ein bellendes Lachen aus. »Da können wir lange warten.«

Liu zuckte mit den Achseln. »Irgendetwas verursacht das Massensterben. Dennoch halte ich die Virustheorie für extrem unwahrscheinlich, während Meteore etwas ganz Normales sind. Überlegt doch nur, was in der Kreidezeit und im Tertiär auf unserer Erde passierte. Wir hatten bloß Glück gehabt! Die Sonden sind unterwegs, Captain«, meldete er Castor förmlich. »Ich bin dafür, dass wir jetzt etwas essen, dann packe ich die Sachen ins Shuttle, und es kann losgehen.«

»Ich helfe dir«, erbot sich Shavva. »Ich will sicher sein, dass wir dieses Mal tatsächlich alles dabei haben, was wir brauchen«, setzte sie mit leiser, grimmiger Stimme hinzu, während sie erbittert daran dachte, dass Floras Nachlässigkeit zwei Menschenleben gekostet hatte. Nun übernahm Shavva die Leitung dieses unterbesetzten Teams, und sie wollte dafür sorgen, dass sich solche Fahrlässigkeiten nicht wiederholten.

Als junge Biologin mit einem guten Gespür für Koordination hatte sie sich dem Erkundungs- und Vermessungs-Corps angeschlossen, weil sie die vielfältigen Aufgaben reizten und obendrein die Aussicht, als einer der ersten Menschen unbekannte Welten zu betreten und neue Lebensformen zu katalogisieren. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, auf diesen Expeditionen liebgewordene Freunde zu verlieren.

In EVC-Teams entwickelten sich starke persönliche Bindungen, da man sich in gefährlichen, abenteuerlichen und anstrengenden Situationen blind aufeinander verlassen musste; die Gruppen waren Strapazen und Zerreißproben ausgesetzt, die in keinem Handbuch, ja nicht einmal in den meisten Team-Protokollen standen.

Dies war ihr vierter Einsatz, doch die erste Tour, auf der es Todesfälle zu beklagen gab. Jetzt mussten drei Leute die gesamte Feldarbeit erledigen – sie selbst, Liu und Ben –, derweil Castor, immer noch gehandicapt von seiner Beinverletzung, an Bord blieb, währenddessen das Forschungsschiff auf einer engen elliptischen Bahn den dritten Planeten umkreiste.

Auf diesem Trip musste Shavva die Aufgaben einer Botanikerin mitübernehmen. Zum Glück hatte sie von Flora genug gelernt, um sich ein Bild über die Ökologie der einheimischen Vegetation verschaffen zu können. Es galt festzustellen, ob es genügend Bestäuber für die Übertragung des Blütenstaubs zum Zwecke der Befruchtung gab, welchem natürlichen Wettbewerb die Pflanzen ausgesetzt waren, inwieweit sich einheimische Sorten als Nahrungsergänzung eigneten. Außerdem kam es darauf an, eventuelle Krankheitserreger sowie deren Übertragungswege zu identifizieren.

Ben, der Geologe mit einem Grundwissen in Chemie, würde sich mit den fundamentalen Lebensbedingungen, dem Pulsschlag des Planeten, befassen; dazu gehörten die Zusammensetzung der Luft, die Verteilung der Land- und Wasserflächen, die Struktur der Kontinentalplatten, die Gezeitenrhythmen, die Temperaturen, die allgemeine Topographie und – ganz besonders – Formen seismischer Aktivität. Aus einer Fülle von Daten musste er die Entstehungsgeschichte dieser Welt mindestens eine Million Jahre weit zurückverfolgen. Wenn die Erkundung problemlos verlief, würde er versuchen, noch tiefer in die Vergangenheit einzudringen. Mitunter ergaben sich Hinweise auf Umpolungen der Magnetfelder oder ein Massensterben der einheimischen Lebensformen.

Als Nexialist beschäftigte sich Liu mit allen nur erdenklichen Aspekten dieses Planeten, wobei es darauf ankam, in kürzester Zeit möglichst viel an Informationen einzuheimsen. Das hieß, falls die Sonden Ergebnisse brachten, die einen Besuch dieser Welt ratsam erscheinen ließen. Numero Tres sah in der Tat vielversprechend aus, doch Shavva wusste aus Erfahrung, dass in diesem Job der äußere Eindruck erheblich täuschen konnte.

Die Messwerte, die die Sonden anzeigten, wurden mit äußerster Skepsis betrachtet; sie waren zu schön, um wahr zu sein.

»Ausgewogene Verteilung von Land- und Wassermassen«, erklärte Liu. »Die üblichen Eiskappen, Gebirge, weite, einladende Ebenen. Viele Parallelen zur Erde. Als Anfangsbuchstaben schlage ich P.E. vor, Castor.«

»Die Atmosphäre ist atembar, der Sauerstoffgehalt liegt etwas über normal. Dafür ist die Schwerkraft mit Null Komma neun auf der Skala ein wenig geringer«, steuerte Ben bei. »In der Inselkette auf der südlichen Hemisphäre gibt es beachtliche vulkanische Aktivitäten. Zur Zeit findet jedoch kein größerer Ausbruch statt. Alles in allem ein hübscher kleiner Planet.«

»Dort wächst auch jede Menge Grünzeug«, ergänzte Shavva. »Was zum Teufel ist das denn?«, rief sie verblüfft, als der Computer anfing, die topographischen Daten bildlich darzustellen. »Seht auch mal diese komischen Kreise an.«

Die Sonde befand sich nun im Tiefflug über dem Planeten und funkte detaillierte Angaben über den südlichen Kontinent herauf. Ganz deutlich ließen sich Gruppen von runden Flecken erkennen, die einander wie Kräuselwellen überlappten, hingegen starr in den Boden eingeprägt waren.

»Hast du so was schon mal gesehen, Ben?«, fragte sie, während sie sich wünschte, Flora Neveshan wäre noch bei ihnen, die Xenobotanikerin mit langjähriger Felderfahrung.

»Nicht dass ich wüsste. Sieht fast wie ein einheimischer Fungus aus, der sich über eine riesige Fläche verbreitet. Befällt anscheinend sämtliche Gegenden, in denen es überhaupt Pflanzenwuchs gibt, nicht nur grasbedeckte Flächen.«

»Feenkreise?«, mutmaßte Shavva aufgeregt.

»Ha! Was für ein esoterisches Zeug hast du schon wieder geschmökert?« Ben funkelte sie wütend an.

»Egal, was es ist, ihr passt verdammt gut auf euch auf, kapiert?«, befahl Castor in herrischem Ton. »Wir müssen noch zwei weitere Systeme erforschen, und langsam gehen mir die Initialen aus.«

»Wo sind all die Helden hin?«, trällerte Ben in dem Versuch, Castors Stimmung ein bisschen aufzuhellen. Er wusste, dass Castor sich den Tod von Asturias und Neveshan niemals verzeihen würde. Er war der erfahrenste Kletterer der Gruppe und hätte die Katastrophe vermutlich verhindert, wenn er drunten auf dem Planeten gewesen wäre. Der Umstand, dass keiner Castor einen Vorwurf machte, linderte nicht seine Schuldgefühle.

 

Shavva landete das Shuttle auf der großen Ebene im Osten der südlichen Hemisphäre, ein paar hundert Meter von einem Cluster der einander überschneidenden Kreise entfernt, die sie auf dem Monitor gesehen hatten. Sie, Ben und Liu hielten sich an die übliche Routine und checkten vor dem Aussteigen Atmosphäre, Temperatur und Windgeschwindigkeit. Sicherheitshalber trugen sie ihre unbequemen Schutzanzüge, doch wenigstens konnten sie auf Gesichtsmasken und die bleischweren Sauerstofftanks verzichten. Sie alle atmeten tief die frische Luft ein, die eine steife Brise ihnen entgegenpeitschte.

»Herrlich!«, schwärmte Shavva und lächelte erfreut. »Auf dieser Welt lässt es sich leben.« Plötzlich war sie ganz erpicht darauf, diesen Planeten für bewohnbar zu erklären. Aus dem All beobachtet, glich er der alten Erde, wie sie sich in historischen Aufnahmen darstellte. Sie vergegenwärtigte sich, dass solche beruhigenden Vergleiche nicht nur töricht, sondern schlechtweg gefährlich waren, trotzdem, fand sie, dürfe man hoffen.

Der Boden der mit Gräsern bewachsenen Ebene federte unter ihren Schritten, und von den Pflanzen, die sie unter ihren klobigen Stiefeln zerquetschten, stieg ein angenehmer, intensiver Duft auf. Schweigend marschierten sie zum ersten der geriffelten Kreise; Ben und Liu setzten sich in die Hocke und nahmen ihn in Augenschein. Shavva holte eine Probensonde aus der Gerätetasche, schob sie geschickt in das Erdreich und verschloss sie unmittelbar, nachdem sie sie herausgezogen hatte. Liu stocherte mit einem behandschuhten Finger in dem Loch herum, zerkrümelte den Schmutz, der an dem Plastik haften blieb und ließ die Körner dann wieder sorgsam in die Mulde zurückrieseln.

»Eigenartig. Fühlt sich wie Erdkrume an. Wie ganz gewöhnlicher Mutterboden. Grobkörnig, bröselig.«

»Der empirische Test«, frotzelte Ben.

»Lasst uns anfangen, Jungs«, bestimmte Shavva. »Uns bleiben gerade mal zehn Tage, um die Arbeit von acht Leuten zu tun, und wir müssen einen ganzen Planeten begutachten.«

»Ein Kinderspiel!«, zog Ben sie mit frechem Grinsen auf. »Zuerst schalte ich meinen Geologenverstand ein.« Er verzog sich an den Rand des nächsten Kreises und sammelte weitere Proben aus den bleichen, verschossenen Stellen im Boden. »Heh, hier gibt es eine ökologische Sukzession«, rief er überrascht und zeigte auf Abschnitte, in denen neues Grün spross.

Shavva und Liu eilten zu ihm und begutachteten die vorwitzigen Pflanzenbüschel.

»Die Windbedingungen auf diesem Planeten sind äußerst günstig. Die Luftströmungen sind kräftig genug, um sowohl Pollen, Samen wie auch Erdkrume zu transportieren«, bemerkte Shavva und hielt ihr Gesicht in die frische Brise. »In wenigen Jahrzehnten wird sich das Gras, oder was immer dieses Gewächs ist, vollständig regeneriert haben. Na ja, mal sehen, was die Analysen der Proben ergeben. Entnimm ein paar Stichproben direkt aus den Bereichen, wo das junge Grün keimt, Ben. Vielleicht finden wir heraus, ob es irgendetwas gibt, das das Wachstum fördert.«

An ihrem ersten Tag auf der Oberfläche konzentrierten sie sich darauf, Boden- und Vegetationsproben aus der Ebene zusammenzutragen, indem sie sich von Osten nach Westen vorarbeiteten, um das Tageslicht so gut wie möglich zu nutzen.

Sie stachen mit ihren Sonden tief in die Schichten der fruchtbaren Grasniederungen hinein und bohrten das Felsgestein an, um auch von dort Testmaterial heimzubringen. Der Trupp wanderte in südlicher Richtung landeinwärts, Orte anpeilend, an denen man Erzvorkommen vermutete, obschon die ersten metallurgischen Sondierungen nicht auf leicht zugängliche Mineralien oder Metalllagerstätten hindeuteten. Die erste Nacht verbrachten sie auf einer breiten Landzunge, am Sandstrand einer ausgedehnten Bucht.

In den Ozeanen schien es von den verschiedenartigsten Lebewesen nur so zu wimmeln; allein die zahlreichen mit Exoskeletten versehenen Kreaturen und die fremdartigen Wasserpflanzen reichten aus, um einen Meeresbiologen ein Leben lang zu beschäftigen. Liu trug Proben von grünen und roten Algen zusammen und entdeckte längs der Küstenlinie ein paar interessante Fungi, von denen sich einige aus eigenem Antrieb bewegten.

In der Abenddämmerung tauchten draußen in der Bucht gelegentlich größere Meerestiere auf, vermutlich um zu jagen und zu fressen.

Die Entdecker verbrachten ein paar erquickliche Stunden damit, den Strand nach Exemplaren von pflanzlichem und tierischem Leben abzusuchen. Aus Ästen und abgestorbenen Farnwedeln entfachte Liu auf dem Sand ein Feuer. Nachdem sie ihre Schutzmonturen abgelegt hatten, setzten sie sich hin und verputzten ihre Essensrationen, wobei sie gelegentlich Insekten einfingen, die von den Flammen angezogen wurden.

»Wahrscheinlich sind das die Bestäuber, die wir brauchen«, sinnierte Liu, während er in das Glasrohr mit den erbeuteten Insekten starrte. Eines hielt in seinem panischen Flug inne, so dass sich die Doppelflügel erkennen ließen. »Lauter kleine Krabbler. Mir wäre etwas wohler, wenn wir auf größere Viecher stoßen würden. Die Aufnahmen von den Sonden hätten auf den Grasebenen eigentlich irgendwelche Wiederkäuer oder Pflanzenfresser zeigen müssen.«

»Und was ist mit diesen enormen geflügelten Biestern, die wir vor kurzem gesehen haben?«, wandte Ben ein und schnob durch die Nase. »Irgendwie erinnern sie mich an fliegende Barkassen, dickbäuchig, schwerfällig und vollgestopft.«

»Sicher, aber was fressen sie? Und wem dienen sie wiederum als Beute?«, fragte Liu mürrisch.

»Vielleicht befindet sich der Planet in einer Zwischeneiszeit«, spekulierte Shavva. Sie wollte nicht, dass man an dieser Welt etwas auszusetzen fand, obwohl sie wusste, wie unprofessionell diese Einstellung war – und höchst bedenklich obendrein. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, ›nach Hause‹ gekommen zu sein, und dieser unerklärliche Eindruck von Geborgenheit beeinflusste immer mehr ihr Urteil über diese Welt.

Kritisch zog Liu die Nase hoch. »Die Umweltbedingungen sind wie geschaffen für große Pflanzenfresser. Es muss sie einfach geben.«

»Wenn es sie gibt, finden wir sie auch. Falls nicht ...« Resigniert zuckte Shavva die Achseln.

Anderntags wagten sie sich bis zur Eiskappe der südlichen Hemisphäre vor, sammelten Proben der gefrorenen Kruste und der tiefergelegenen Erdschichten, soweit sie sie mit ihrem Bohrgerät erreichen konnten. Danach widmeten sie sich der Nordhalbkugel, die der Winter fest im Griff hatte. Mittlerweile hatte sich Liu bis hin zur Paranoia in das Thema der nicht vorhandenen größeren Lebensformen verbissen. Bis jetzt hatten sie lediglich ein paar Reptilien gesehen, mit einem Schuppenpanzer versehene Echsen, die sich in der Sonne aalten.

»Für meinen Geschmack sind die groß genug, vielen Dank«, kommentierte Shavva, als sie nur um Haaresbreite den Annäherungsversuchen eines zehn Zentimeter dicken, sieben Meter langen Exemplars entgangen war.

Und überall sichteten sie Scharen von Lius fliegenden Barkassen.

»Wherries, so nannte man sie damals«, platzte er unvermittelt an jenem Nachmittag heraus. »Frachtkähne, die zwischen England und dem europäischen Festland hin und her pendelten. Wherries! Und im Protokoll muss erwähnt werden, dass sie anscheinend die größten Lebewesen auf diesem Planeten darstellen. Vielleicht übernimmt man den Ausdruck.« Es kam nur selten vor, dass Liu vom Vorrecht des EV-Teams Gebrauch machte, Neuentdeckungen mit Namen zu versehen.

Es gab zwei unterschiedliche Typen dieser kräftigen vogelartigen Geschöpfe, die durch heiseres Gekrächze und ein aggressives, räuberisches Verhalten auffielen: Grellbunt gefiederte, kleinere Flieger, und dann noch tausend verschiedene Arten von ›ekligen Krabbeltieren‹, wie Shavva sie nannte, sowohl im Binnenland als auch an den Küsten.

An den südlichen Stränden hatten sie auch Eierschalen entdeckt, deren Splitter und Scherben vermutlich im Sand vergrabene Nester bedeckten. Von den eierlegenden Kreaturen oder der ausgeschlüpften Brut bekamen sie kein einziges Exemplar zu Gesicht.

In einer gewaltigen Teergrube stießen sie auf die Überreste von Fossilien, die gut und gern fünfzigtausend Jahre alt waren. Ein Stück war so gut erhalten, dass sich das abgenutzte Gebiss eines Pflanzenfressers erkennen ließ. Vielleicht stellten diese Fossilien die Wiederkäuer dar, nach denen Liz so hartnäckig fahndete. Zwar ähnelte die kurzstängelige, grünliche, dornenartig spitze Vegetation Gras, doch sie war keines. Diese Pflanze enthielt keine Silikate, die Halme besaßen einen dreieckigen Grundriss und die Farbe changierte zu einem satten Blauton hin.

»Ich gebe mich erst zufrieden, wenn ich auch noch lebendige Vertreter dieser Weidetiere sehe«, beharrte Liu. Doch es beruhigte ihn schon ein bisschen, diese für ihn unabdingbare Spezies wenigstens in einer früheren Epoche dieser Welt entdeckt zu haben.

Außerdem spürten sie eine Diamanten führende Schicht auf, dicht unter der Erdoberfläche in einem gigantischen Senkungsgraben, der durch eine Verwerfung entstanden war.

Sie gruben Rohdiamanten von beachtlichem Umfang aus, einer war so groß wie Shavvas Faust. Ein paar behielt das Team als Souvenirs; einen besonders hohen Wert besaßen sie nicht, denn in der Galaxis wurden Edelsteine gefördert, die wesentlich exotischer waren, obwohl man Diamanten wegen ihrer Haltbarkeit und Härte in der Technik nach wie vor einsetzte.

»Ich empfinde es eher als Erleichterung, nicht ständig auf der Hut sein zu müssen«, gestand Ben in der dritten Nacht auf diesem Planeten, als Liu sich schon wieder über das Fehlen größerer Tierarten ausließ. »Erinnert ihr euch noch, was auf Closto los war, dieser Todesfalle, die wir bei unserer letzten Tour ansteuerten? Ich wagte kaum zu atmen, aus Angst, irgendeine Bestie könnte mich angreifen.«

Liu prustete verächtlich. »Wenn irgendetwas durch Abwesenheit glänzt, das eigentlich da sein müsste, ist das in meinen Augen genauso unheimlich.«

»Vielleicht hat sich der Neigungswinkel der Planetenachse geändert, und an den Stellen, wo sich jetzt die Eiskappen befinden, lagen früher die Habitate dieser Pflanzenfresser«, mutmaßte Shavva. »Sie wurden von Schneestürmen überrascht und sind erfroren. Möglicherweise finden wir Gewebe und Knochenfragmente in den Eisproben, die wir entnommen haben.«

»Na ja, die Achse dieser Parallel-Erde ist lediglich um fünfzehn Grad gekippt. Die Magnetpole liegen ganz in der Nähe des ekliptischen Nordens und Südens, höchstens fünfzehn Grad von der Schräge entfernt.«

»Wir wissen mehr, sowie wir wieder auf dem Schiff sind und Gelegenheit hatten, alles gründlich zu studieren. Ist alles vorbereitet, damit wir die heutigen Proben zu Castor hochschicken?«

»Klar, aber ich wünschte, er würde uns langsam verraten, zu welchen Ergebnissen er gekommen ist. Zeit zum Prüfen hat er wohl genug gehabt.« Mit gerunzelter Stirn reichte Liu Ben seine Container, die mit der Sonde zum Raumschiff zurückgesandt werden sollten.

»Vielleicht sind die Tiere alle in den Norden abgewandert«, schlug Ben in einer Anwandlung von Hilfsbereitschaft vor.

»Wo jetzt Winter herrscht?«

»Auf diesem Kontinent hat der Sommer auch noch nicht seinen Höhepunkt erreicht.«

»Also, unerträglich heiß wird es hier sicher nie, nicht bei diesen Windsystemen.« Liu wollte sich einfach nicht beschwichtigen lassen.

Weiter nordwärts machten sie halt auf der größten Insel eines Archipels. Die Basaltfelsen waren mit Höhlen durchsetzt, und das gesamte Eiland protzte mit einer üppigen, verschwenderisch wuchernden Vegetation, wie man sie für gewöhnlich in tropischen Klimata findet. Sie gewahrten mehrere fremdartig anmutende Reptilien, kräftige, schlangenähnliche Kreaturen von wahrhaft abstoßendem Äußeren.

»Ich hab schon hässlichere Viecher gesehen«, meinte Ben, während er aus sicherer Entfernung ein schwieliges Monstrum beäugte, sieben Zentimeter breit und fünf hoch, das kampfeslustig die Tentakel und Klauen schwenkte. Man konnte weder Ohren noch ein Maul erkennen. Das Olfaktometer zeigte beträchtliche Werte an, und der Rücken des Ungeheuers war mit anhaftenden Insekten übersät.

»Externes Verdauungssystem?«, überlegte Shavva, während sie das Scheusal inspizierte. »Und ... ach du meine Güte!«

Unverhofft vollführte das Wesen einen Satz nach vorn; sein hinteres Ende war plötzlich mit winzigen Stacheln übersät. Gleichzeitig spielte das Olfaktometer verrückt, weil die Skala nicht mehr ausreichte, um die aufgenommenen Duftstoffe zu verarbeiten. Ein ekelhafter Gestank verpestete die Luft auf der kleinen Lichtung.

»Seht doch, es hat mit dem Schwanz diese stachelige Pflanze berührt«, erklärte Ben, auf den kleinen, wehrhaften Busch deutend. »Und erhielt eine Ladung Pfeile in den Arsch.«

Einen großen Abstand haltend, berührte Shavva mit einem langen Stock einen der noch am Strauch befindlichen Stacheln und wurde mit einer zweiten Salve belohnt.

»Ganz schön clever, die Pflanze. Verschießt ihre Munition nicht wahllos in alle Richtungen. Ob es etwas gibt, das sie lahmlegt?«

»Kälte vielleicht?«, mutmaßte Liu.

»Hier ist ein kleines Exemplar«, bemerkte Shavva. Sie besprühte es mit dem Kryo-Mittel und stieß sie versuchsweise mit dem Stecken an. Als sie nicht reagierte, packte sie sie in eine Präparatebox.

Abends, als sie dabei waren, die Ausbeute des Tages zu Castor hinauf zu befördern, stieß Liu einen Schrei der Überraschung aus und hielt einen hell funkelnden Probenzylinder hoch, damit die anderen ihn sehen konnten.

»Dieses Gewächs, das ich in der großen Höhle fand! Eine Art lumineszierender Pilz!« Er schirmte das Röhrchen mit einer Hand ab. »Tatsächlich! Jetzt schaut mal alle her ...« Er öffnete die Hand, und der Zylinder begann erneut zu glühen. »Und nun hört es auf zu leuchten.« Abermals schloss er die Faust und spähte durch den Spalt zwischen zwei Fingern. »Ob Sauerstoff die Lumineszenz auslöst?«

»Heute Nacht gehst du mir nicht in die Höhle zurück, Liu!«, befahl Shavva streng. »Wir haben nicht die speläologische Ausrüstung, die verhindert, dass du dir deinen dämlichen Hals brichst.«

Er zuckte die Achseln. »Lumineszierende Flechten oder Organismen sind ohnehin nicht mein Fachgebiet.« Sorgfältig wickelte er den Zylinder in lichtundurchlässige Plasfolie. »Das Zeug soll seine Leuchtkraft nicht erschöpfen, ehe Castor es gesehen hat.«

Später am Abend wurden sie von piepsenden und zwitschernden Tönen von ihrem Lager fortgelockt. Das dichte Blattwerk, das sie umgab, vorsichtig mit den Händen teilend, erblickten sie ein wahrhaft spektakuläres Schauspiel.

Anmutige Geschöpfe, völlig verschieden von den tollpatschigen Flugwesen, die sie in der südlichen Hemisphäre gesehen hatten, vollführten in der Luft höchst komplizierte fliegerische Kunststücke. Die tief stehende Sonne spiegelte sich gleißend auf grünen, blauen, braunen, bronzefarbenen und goldenen Rücken, und durchsichtige Schwingen glitzerten wie schwebende, flirrende Juwelen.

»Ob sie die Eier gelegt haben, die wir am Strand fanden?«, fragte Shavva im Flüsterton.

»Sehr gut möglich«, antwortete Liu genauso leise. »Herrlich! Schau, sie spielen Fangen!«

Eine geraume Zeit lang beobachteten die drei Forscher entzückt das ätherische Ballett, bis die schnell hereinbrechende tropische Nacht den Himmel verfinsterte und die geflügelten Wesen ihr Spiel abbrachen.

»Empfindungsfähig?«, sinnierte Shavva, die selbst nicht wusste, ob sie sich darüber freuen oder ärgern sollte, falls sich diese wunderschönen Geschöpfe als die dominante, gefühlsbegabte Lebensform auf dieser Welt entpuppten.

»Minimal«, murmelte Liu. »Wenn sie ihre Eier an einem Küstenstreifen ablegen, wo hoher Wellengang sie jederzeit fortspülen könnte, besitzen sie keine hohe Intelligenz.«

»Dafür um so mehr Grazie«, ergänzte Ben. »Vielleicht entdecken wir größere Vertreter dieser Gattung, die denselben evolutionären Stammbaum haben, und du bist endlich zufrieden, Liu.«

Gelassen hob Liu die Schultern und schickte sich an, zu ihrem Biwakfeuer zurückzugehen. »Wenn wir sie finden, ist es gut; wenn nicht, soll es mir auch egal sein.«

Sie machten sich Notizen von dem, was sie erlebt hatten, dann rüsteten sie sich für die Nacht. Am nächsten Tag erforschten sie die von der Insel ins Wasser vorstoßenden Riffsysteme und besichtigten etliche kleinere Eilande. Ein Abstecher zu der tiefer in die tropische Zone eindringenden östlichen Halbinsel bescherte ihnen ein komplexes Riffgebilde, das aus einem korallenähnlichen Material bestand, und dessen fossile Strukturen nach Bens Schätzung ungefähr fünfhundert Millionen Jahre alt waren.

Wenigstens war dies ein ökologisch potenter Organismus und kein stagnierendes Biotop wie beispielsweise ein tropischer Regenwald, in dem jede lebentragende Nische besetzt war, und ein Element das andere quasi erstickte. Derlei sporadische, vitale Systeme unterstützten eher Bens Theorie von einem kürzlich erfolgten Meteoritenschauer und ließen den Verdacht, der Planet befände sich in einer Phase der Zwischeneiszeit, fragwürdig erscheinen.

Die kahlen, vegetationslosen Kreise fanden sich überall auf dem Planeten, bis auf die Polkappen und einen schmalen Streifen der südlichen Hemisphäre; und obwohl das Erkundungsteam akribische Nachforschungen anstellte, fand man keine Spur von den Meteoriten, die die Ursache für dieses sonderbare Phänomen sein mochten. Außerdem, rätselte Ben, war keine dieser runden Stellen tief genug, um die Folge eines Einschlags zu sein, und auch das Überlappungsmuster sprach nicht für einen ausgedehnten Meteoritenhagel.

Die Nordhalbkugel lag teilweise noch unter einer dicken Schneedecke, trotzdem führte man reichlich Kernbohrungen durch, um später Gesteins- und Bodenproben analysieren zu können. Aus den sumpfigen Niederungen des riesigen Flussdeltas, das die Zentralebene durchschnitt, entstiegen die üblichen hochkonzentrierten Schwefeldämpfe; der Schlamm enthielt eine Überfülle von ungewöhnlichen Bakterien, auf die sich Shavva voller Begeisterung stürzte.

Landeinwärts, am Oberlauf des gewaltigen, schiffbaren Stroms, stießen sie auf nicht geringe Vorkommen von Eisen, Kupfer, Nickel, Zinn, Vanadium, Bauxit und sogar etwas Germanium, doch keines der Metalle und Mineralien war in einer solchen Quantität vorhanden, um Bergbaukonzerne ernsthaft zu interessieren.

Am vorletzten Morgen ihrer Vermessungstour fand Ben in einem mit Geröll gespickten Gebirgsbach Goldnuggets.

»Eine richtig altmodische Welt«, bemerkte er, mit den schweren Nuggets jonglierend. »Früher kam auf der guten alten Erde auch Gold in Flüssen vor. Noch eine Parallele.«

Shavva bückte sich und hob einen Goldklumpen auf, der eine nahezu perfekte Tropfenform besaß. Bewundernd hielt sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Meine Beute«, erklärte sie und verwahrte ihn in ihrer Gürteltasche.

Im oberen Teil der östlichen Halbinsel entdeckten sie eine faszinierende Pflanze, einen kräftigen Baum, dessen Borke einen beißenden Geruch absonderte, wenn man sie mit den Fingern zerrieb. Am Abend stellte sie aus der Rinde einen Aufguss her und schnupperte genüsslich an dem Aroma. Tests ergaben, dass der Sud nicht toxisch war, und nach dem ersten Probeschluck seufzte sie vor Wonne.

»Koste mal, Liu, es schmeckt großartig!«

Misstrauisch beäugte Liu die dünne schwarze Flüssigkeit, doch bei dem Duft lief auch ihm das Wasser im Mund zusammen, und er bekam Appetit, davon zu trinken. »Hmmm, nicht schlecht. Wenn auch ein bisschen fade. Lass es noch ein Weilchen länger ziehen oder nimm weniger Wasser. Womöglich hast du hier eine ganz tolle Entdeckung gemacht.«

Auch Ben probierte den Aufguss, und nachdem Shavva weitere Experimente anstellte, die Borke fein zermahlte und heißes Wasser hindurchfilterte, sagte ihm das Ergebnis zu.

»Schmeckt wie eine Mischung aus Kaffee und Schokolade, finde ich, mit einem pikanten Nachgeschmack. Sehr lecker.«

Shavva hortete einen Vorrat von Borke, und in den nächsten zwei Tagen stellten sie daraus ihre Getränke her. Einen Teil der Rinde verwahrte sie, damit auch Castor in den Genuss einer Kostprobe käme.

Obwohl keiner der drei ein Wort darüber verlor, bedauerten alle, den Planeten verlassen zu müssen; gleichzeitig waren sie froh, dass es keinen Unfall oder irgendein anderes Missgeschick gegeben hatte.

Falls nicht ein unvorhergesehener Umstand eintrat, dass die Analysen der eingesammelten Proben zum Beispiel bedenkliche Werte ergaben, waren alle drei Teammitglieder damit einverstanden, dass Castor diese Welt als P.E.R.N. kennzeichnete – Parallel-Erde, Ressourcen nebensächlich. Rechts oben fügte er ein »k« hinzu, was bedeutete, dass dieser Planet sich für eine Kolonisierung eignete.

Vorausgesetzt, es gab Kolonisten, die sich auf einem ländlichen Planeten niederlassen wollten, der abseits der etablierten Handelsrouten lag und so weit vom zentralen Machtbereich der Konföderation Vernunftbegabter Rassen entfernt, wie es im bislang erschlossenen Teil der Galaxis überhaupt nur möglich war.

 

 

 

DIE

DELPHINGLOCKE

Als Jim Tillek in der Monaco-Bucht mit der Großen Glocke das Signal für die Alarmstufe Rot läutete, traf Teresas Schule binnen weniger Minuten ein; flankiert wurde Teresa von Kibby und Amadeus, die dicht neben ihr in die Höhe sprangen und wieder abtauchten. Im Verlauf einer Stunde versammelten sich die von Aphro, China und Captiva angeführten Schulen – insgesamt siebzig Delfine, einschließlich der drei Kälber, die noch kein Jahr alt waren.

Junge Männchen und Einzelgänger kamen aus allen Richtungen herbeigeschwommen, quietschend, klickend, laut prustend, derweil sie unentwegt die unglaublichste Wasserakrobatik vollführten. Nur wenige Delfine hatten dieses spezielle Glockensignal je gehört, und sie brannten darauf, dessen Bedeutung zu erfahren.

»Warum hast du Roten Alarm geläutet?«, erkundigte sich Teresa, während ihr Kopf vor Jim auf- und abtauchte; die Beine gespreizt, um nicht den Halt zu verlieren, stand Jim auf der heftig schaukelnden schwimmenden Landebrücke, die an der äußersten Spitze von Monaco Wharf verankert war. Teresas schnabelartig gestreckte Schnauze trug zahlreiche Schrammen und Narben, die sowohl von ihrem hohen Alter wie auch von einem aggressiven Charakter zeugten. Sie neigte dazu, sich als Sprecherin der Delfine aufzuschwingen.

Der Ponton besaß beachtliche Ausmaße und fungierte traditionell als Versammlungsplatz, wo sich die Delfineure mit den Schulen oder Individuen berieten. Hierhin wandten sich auch die Tiere, wenn sie der Strandaufsicht ungewöhnliche Vorkommnisse melden wollten oder – was selten vorkam – medizinische Behandlung brauchten. Die äußeren Balken des Floßes waren blank poliert, weil die Delfine sich gern an ihnen scheuerten.

Über der Landebrücke hing die Große Glocke; das Gerüst, an dem sie befestigt war, steckte in einem massiven Kunststoffpfeiler, der tief in den Meeresboden hineinragte. Die Kette, an der die Delfine zogen, um Menschen anzulocken, pendelte nun im Rhythmus mit den Wellen leicht klatschend gegen den Pylon.

»Das Landvolk hat Probleme und benötigt die Hilfe der Delfine«, erklärte Jim. Er zeigte landeinwärts, wo aus zweien der drei sonst schlummernden Vulkane unheilverkündende graue und weiße Rauchwolken gen Himmel stiegen. »Wir müssen diesen Ort verlassen und alle bewegliche Habe mitnehmen. Kommen die anderen Schulen auch?«

»Große Probleme?«, hakte Teresa nach, gemächlich den breiten Landungssteg umkreisend, um sich selbst einen Eindruck von der Situation zu verschaffen. Sie reckte sich hoch aus dem Wasser und wandte erst das eine, dann das andere Auge in die Richtung, in die Jim wies. Ihre Flanken trugen die Spuren etlicher Auseinandersetzungen mit liebeshungrigen oder kampfeslustigen Männchen. »Viel Qualm. Schlimmer als der Young Mountain.«

»So arg war es noch nie«, bekräftigte Jim und verwünschte einen Moment lang den ewig heiteren Gesichtsausdruck der Delfine. Die hochgezogenen Mundwinkel, die ständig ein Lächeln anzudeuten schienen, wirkten äußerst fehl am Platz angesichts der bevorstehenden Katastrophe. Die Hauptsiedlung der Kolonie mit ihren Laboratorien, Wohnhäusern und Warendepots, die harte Arbeit von fast neun Jahren, würde – wenn sie noch einmal Glück hatten – in einem Ascheregen versinken und schlimmstenfalls in die Luft gesprengt werden.

»Wohin geht ihr?« Teresa schwamm zurück und machte vor Jim halt. Alsdann schenkte sie ihm ihre volle, ernsthaft gelassene Aufmerksamkeit. »Wieder zurück auf die Welt mit den kranken Ozeanen?«

»Nein.« Heftig schüttelte Jim den Kopf. Da die Delfine die fünfzehn Jahre dauernde Reise auf den Kolonistenschiffen im Kälteschlaf zugebracht hatten, war ihnen der Zeitbegriff abhanden gekommen. Im Atlantik hatten sie sich damals in ihre mit Wasser gefüllten Transportbehälter begeben und waren erst nach ihrer Ankunft in der Monaco Bay geweckt worden. »Wir flüchten in den Norden.«

Teresa schlug mit ihrer flaschenhalsähnlichen Nase auf das Wasser und spritzte Jim nass, wie wenn sie damit Zustimmung bekunden wollte. Dann tauchte sie ab und erteilte den Mitgliedern ihrer Schule in einer rasant heruntergeratterten Wortfolge Bericht; sie sprach so schnell, dass Jim kaum etwas verstehen konnte, obwohl er in den vergangenen acht Jahren auf Pern viel vom delfinischen Vokabular aufgeschnappt hatte.

Kibby glitt dicht an Teresa heran, und auf ihrer anderen Seite hüpfte Captiva auf den Wellen; alle drei betrachteten Jim mit feierlichem Ernst.

»Sandman und Oregon«, sagte Captiva deutlich, »befinden sich in der West-Strömung. Sie sind schon unterwegs und kommen so schnell wie möglich hierher.«

Plötzlich rauschten Aleta und Maximillian herbei, geschickt eine Kollision mit den anderen Delfinen vermeidend. Auch Pha schlängelte sich zwischen den Leibern hindurch, denn er wollte immer mitten im Geschehen sein.

»Echos von Cass. Sie legen Tempo zu. Treffen bei Sonnenaufgang ein«, verkündete Pha und prustete herzhaft aus seinem Atemloch, um die Bedeutung seiner Mitteilung zu unterstreichen.

»Sie haben den weitesten Weg«, bekräftigte Jim. Diese Schule war in den Gewässern um den Young Mountain beheimatet und half dort dem seismischen Team. Doch Delfine konnten die ganze Nacht hindurch schwimmen, und Cass war eines der ältesten und zuverlässigsten Weibchen.

Mittlerweile dümpelten so viele Delfine dicht an dicht um die Anlegestelle, dass die neu hinzukommende Delfineurin, Theo Force, bemerkte, man könne auf dem Rücken der Tiere die breite Bucht überqueren, ohne sich die Füße nass zu machen.

Einige der neun Delfineure und sieben Lehrlinge brauchten tatsächlich länger als ihre maritimen Freunde, um den Sammelplatz zu erreichen, da die Menschen mit Schlitten von ihren Wohnstätten anreisen mussten. Zum Glück lagen Jim Tilleks vierzig Fuß lange Schaluppe, die Southern Cross, und Per Pagnesjos Perseus, ein Besankutter, im Hafen. Anders Sejby hatte über Funk bekannt gegeben, dass die Mayflower unter vollen Segeln Fahrt machte und gegen Sonnenuntergang einlaufen werde, während Pete Veranera mit seiner Maid bei Einsetzen der Abendflut in See stechen wollte. Von der Pernese Venturer unter Kapitän Kaarvan hatten sie noch nichts gehört. Der Zweimastschoner war das größte Schiff auf Pern, doch dafür das langsamste von allen vier Booten.

Sobald die Menschen vollzählig versammelt waren, gab Jim kurz und bündig bekannt, dass ein Vulkanausbruch bevorstand und Landing evakuiert werden musste; jetzt kam es darauf an, so viele Güter wie möglich nach Kahrain Head in Sicherheit zu bringen. Die größeren Schiffe würden ihre Fracht bis zum Paradiesfluss-Gut befördern; zwar war die Strecke für die kleineren Wasserfahrzeuge zu weit, doch alles, was schwamm, wurde gebraucht, um Material wenigstens nach Kahrain zu transportieren.

»Das alles sollen wir von hier fortschaffen?«, schrie Ben Byrne entgeistert, schwungvoll auf den Pier deutend, wo Schlitten jeglicher Größe massenhaft Transportgüter deponierten. Er war ein kleinwüchsiger, stämmiger Kerl mit drahtigem, von der Sonne beinahe weißgebleichtem Haar. Seine Frau, Claire, die gemeinsam mit ihm am Paradiesfluss arbeitete, stand an seiner Seite. »Dazu reicht unsere Schiffskapazität niemals aus, und wenn du dir einbildest, die Delfine könnten ...«

»Wir müssen das Zeug ja nur bis nach Kahrain expedieren«, schnitt Jim ihm das Wort ab und legte dem jungen Mann beruhigend eine Hand auf die Schulter.

»Klick! Klick!« Mit ohrenbetäubenden Lauten verschaffte sich Teresa Gehör. »Wir helfen! Wir helfen!« Amadeus, Pha und Kibby pflichteten mit hektischem Kopfnicken bei.

»Ihr dämlichen Kreaturen werdet dabei umkommen!«, brüllte Ben aufgebracht, während er wild mit den Armen fuchtelte, um die Delfine zum Schweigen zu bringen.

»Kein Problem für uns! Kein Problem für uns!«, lautete die fröhliche Antwort. Die Hälfte der Delfine, die sich am Ende der Mole tummelten, sprangen vor Begeisterung aus dem Wasser und tanzten auf den Schwänzen stehend über die Wogen. Dabei prallte keiner mit einem Artgenossen zusammen, buchstäblich im allerletzten Augenblick wich man sich gegenseitig aus, obwohl die gesamte Bucht vor zuckenden und sich aufbäumenden Leibern zu kochen schien.

»Siehst du, was du angerichtet hast, Käpt'n!«, entrüstete sich Ben in einem überzogenen Anflug von Verzweiflung. »Ihr verdammten Flossenwedler wollt euch wohl umbringen!«

Manchmal fand Jim Tillek, Ben gebärde sich genauso zügellos wie die ungestümen, temperamentvollen Delfine, die er eigentlich ›managen‹ sollte. Ihr Enthusiasmus und ihre Hilfsbereitschaft ließen sich angesichts der bevorstehenden Aktion nicht mehr bremsen. Jeder ausgewachsene Delfin trainierte eine Zeitlang mit einem menschlichen Partner, um zu lernen, wie er Ertrinkende, Schiffbrüchige und sogar havarierte Boote retten konnte. Nun waren sie außer sich vor Entzücken, das Erlernte in einem derart großen Umfang praktisch anwenden zu können.

Schleppgeschirre von den Trainingsdurchläufen waren verfügbar; man konnte mehrere aneinander koppeln, um Gruppen von Delfinen vor die kleineren Segelboote zu spannen. Ein großes Joch gab es bereits, angefertigt für den wuchtigen Lastkahn, der Erz beförderte. Schon öfter hatten die Delfine die Frachtbarke über den Drake-See geschleppt. Aber noch nie zuvor war eine Situation eingetreten, in der die Siedler alle Delfine um Hilfe ersuchen mussten.

»Wir haben gewusst, dass sich etwas Schwerwiegendes anbahnt«, erklärte Jan Regan; sie strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, wie es sich für die Leitende Delfineurin gehörte. Halbherzig lachend, fuhr sie fort: »Die Delfine schnatterten und quietschten wie verrückt, wenn sie von irgendwelchen Veränderungen unter Wasser berichteten. Es war klar, dass sich in dieser Gegend hier ...« – mit einer Handbewegung deutete sie auf die Bucht, in der das Wasser vor wimmelnden Leibern schäumte – »vulkanische Aktivitäten abspielten. Doch du weißt ja selbst, dass unsere Freunde gelegentlich zum Übertreiben neigen.«

»Hah! Den Rauchwolken nach zu urteilen, die der Picchu ausspuckt, muss sich schon sehr bald was tun!« Ben hatte seine Fassung wiedergewonnen. »Fragt sich nur, wie viel Zeit uns bleibt, ehe der Picchu Ernst macht.«

»Es ist nicht der Picchu, der auszubrechen droht«, wandte Jim so behutsam wie möglich ein. Er wartete ab, bis Ben sich von seiner Verblüffung erholt hatte, ehe er weitersprach. »Sondern der Garben.«

»Es war von Anfang an ein Fehler gewesen, einen Berg nach diesem alten Halunken zu benennen«, stöhnte Ben.

»Hinzu kommt«, fuhr Jim fort, »dass Patrice sich auf keinen engeren Zeitrahmen festlegen kann.« Selbst der sonst so unerschütterliche Bernard Shattuck war bei dieser Hiobsbotschaft wie vom Donner gerührt. »Er kann uns lediglich warnen, wenn der Ausbruch unmittelbar bevorsteht.«

»Was versteht er unter ›unmittelbar‹?«, erkundigte sich Bernard nüchtern.

»Ein, zwei Stunden vor dem großen Knall. Die steigenden Werte für Schwefel und Chlor bedeuten, dass das Magma hochkocht. Ungefähr zwei, drei Tage lang spuckt der Berg bloß Schwefel und Asche aus ...«

»Die Asche geht ja noch. Nur der Schwefel ist widerwärtig«, warf Helga Duff hustend ein.

»Das größte Problem könnte jedoch der pyroklastische Fallout sein, der über die Bucht niedergeht.«

»Der was?« Bei dem Fremdwort verzog Jan das Gesicht. Mit Delfinen kannte sie sich aus wie kaum ein anderer, doch Fachjargon war ihr ein Gräuel.

»Damit sind Gesteinsbrocken gemeint, die der Vulkan ausschleudert«, erklärte Jim geduldig.

»Sind die noch schlimmer als die Asche und der Rauch?«, wollte Efram wissen. Obwohl sie noch nicht lange auf dem Anlegesteg standen, überzog bereits ein grauer Aschefilm ihre Tauchanzüge.

»Kommt auf die Größe der Geschosse an ...«

»Aber heute Nachmittag gibt es einen Fädenfall am Maori-See«, berichtete der junge Gunnar Schultz und schaute bei dem bevorstehenden doppelten Desaster ganz bestürzt drein.

»Wir müssen schleunigst alle bewegliche Habe nach Kahrain bringen, das ist unsere vordringlichste Aufgabe, Leute. Um die Fäden kümmern wir uns später«, legte Jim dar. »Sämtliche verfügbaren Wasserfahrzeuge werden für den Transport eingesetzt, und an die Eigner ist bereits eine diesbezügliche Aufforderung ergangen. Wir müssen nur noch den Leittieren der Schulen erklären, was zu tun ist, und welche Art von Kooperation wir erwarten.«

Er begann, Kopien des Evakuierungsplans zu verteilen, den Emily Boll, die zusammen mit Admiral Paul Benden die Kolonie leitete, ihm vierzig Minuten zuvor gegeben hatte. Besorgt hob er den Kopf und beobachtete drei schwerbeladene Schlitten, die sich auf Kollisionskurs befanden. »Verdammt noch mal! Studiert schon mal die Pläne, während ich so etwas wie eine Luftverkehrskontrolle organisiere.«

Gewissenhaft machten sich die Delfineure mit den Einzelheiten des Evakuierungsplans vertraut; Jan überflog das meiste und widmete sich lediglich den ihnen zugeteilten Pflichten. Die Delfineure waren für all das Zeug verantwortlich, das sich haufenweise am Strand stapelte. Die Ladungen waren farblich gekennzeichnet. Rot und Orange bedeuteten höchste Priorität, wobei Rot zerbrechliches Gut auswies, das unverzüglich nach Kahrain verfrachtet werden musste. Die gelb markierten Container sollten in Fahrzeugen befördert werden, Grün und Blau hießen, dass die Behälter wasserdicht waren und in Schlepp genommen werden durften.

Jim steckte den Kopf aus dem Fenster des Kontrollraums. »Lilienkamp schickt uns Fässer, Bretter, Stricke und ein paar Arbeiter aus seinem Depot, die uns helfen, Flöße zu bauen. Zum Glück ist wenigstens der Wetterbericht günstig. Stellt fest, welche Delfine man mit Schleppaufgaben betrauen kann ...«

»Sie sind alle zuverlässig, durch die Bank!«, fuhr Ben ihm ärgerlich über den Mund.

»Außerdem brauchen wir ein paar umsichtige Delfine, die die kleineren Segelboote begleiten. Jesses, ist der Pilot von Sinnen?« Er beugte seine lange Gestalt gefährlich weit aus dem Fenster und wedelte mit beiden Armen, um den Piloten eines großen Schlittens vor einem Zusammenstoß mit zwei kleineren Flitzern zu warnen, die gleichzeitig den schmalen Landeplatz am Strand ansteuerten. »Gebt euer bestes!«, brüllte er seinem Team zu, zog den Kopf zurück und widmete sich wieder seiner Aufgabe, in den Luftverkehr über der Bucht ein bisschen Ordnung zu bringen.

»Jan, du, Ef und ich erklären den Ablauf«, schlug Ben vor. »Bernard, fang schon mal an, die roten und orangefarbenen Frachten auf die Southern Cross und die Perseus zu bringen. Zum Transportieren der Ladung ziehen wir auch ein paar der kleineren Boote hinzu. Die Anführer der Schulen haben sicher bald spitzgekriegt, was von ihnen erwartet wird und können Eskorten zusammenstellen. Ihr anderen überprüft die Segelboote und stellt fest, wie viel Last sie aufnehmen können. Versucht euch zu merken, wer was befördert ...« Er brach ab, als ihm dämmerte, welch monumentale Aufgabe vor ihnen lag. »Wir brauchen Handrecorder ... An die Arbeit, Leute! Ich besorge die Recorder. Irgendwo muss es welche geben ...« Seine Stimme verklang, als er die Leiter zum Hafenbüro hochkletterte.

»Sowie wir den Delfinen begreiflich gemacht haben, was zu tun ist, organisieren wir eine Art Wasserpolizei, was?«, meinte Bernard.

»Richtig, Mann! Richtig!«, pflichtete Efram ihm von Herzen bei. »Und nun lass uns mit den Schulen reden ...«

Da sämtliche Delfineure Tauchanzüge trugen, liefen sie die Anlegestelle entlang, bis sie die ihnen zugeteilten Schulenführer entdeckten; dann bedeuteten sie den Tieren, ein wenig Platz zu machen und sprangen zu ihnen ins Wasser. Das war der einfachste Weg, den Delfinen ihre individuellen Funktionen zu erläutern.

Das Wasser schäumte und brodelte, als sich die Tiere ihre bevorzugten Schwimmpartner aussuchten. Trotz des Gedränges tauchte Teresa dicht neben Jan Regan auf, und Kibby dümpelte an Eframs Seite. Ein wohlgezielter Schlag mit der rechten Flosse, und Amadeus spritzte Ben einen Schwall Wasser ins Gesicht.

»Lass das Gealber, Ammie! Die Angelegenheit ist zu ernst«, schimpfte Ben.

»Keine Balgereien?«, vergewisserte sich Amadeus und stieß überraschte Schnalzlaute aus.

»Heute nicht«, bekräftigte Ben und kraulte Ammie liebevoll zwischen den Brustflossen, um seiner Ermahnung die Schärfe zu nehmen. Dann steckte er seine Pfeife in den Mund und entlockte ihr drei schrille Töne.

Menschen wie Delfine drehten den Kopf in seine Richtung. Ben setzte sich auf den Landesteg, ließ die Beine baumeln und legte eine Hand leicht auf Amadeus' Schnauze, ehe er das Problem und die Art der erwarteten Hilfeleistung umriss.

»Kahrain nicht weit«, kommentierte Teresa, energisch aus dem Blasloch schnaubend.

»Ihr müsst viele Male hin und zurück schwimmen«, erwiderte Jan und zeigte auf den stetig wachsenden Stapel von Kisten, Containern und Netzen jeglicher Größe und Farbe.

»So?«, versetzte Kibby. »Wir fangen sofort an.«

Efram packte Kibby bei der Brustflosse. »Wir müssen Schneisen einrichten.« Er streckte beide Arme parallel nach vorn. »Korridore für Hin- und Rückwege. Die kleineren Boote brauchen Eskorten. Und für die größeren Flöße und Kähne benötigen wir Teams.«

»Zwei, drei Teams zum Abwechseln, damit Geschwindigkeit nicht nachlässt«, ergänzte Dart, Theo Force anstupsend. »Ich weiß, wer sich für stark hält. Ich suche die Kräftigsten aus. Du holst die Geschirre.« Mit einem der unglaublichen Sprünge, zu denen Delfine imstande sind, schoss Dart, ihrem Namen alle Ehre machend, wie ein Pfeil in die Höhe, flog über mehrere Kameraden hinweg und tauchte geschmeidig wieder ins Wasser ein. Ihre entschwindende Rückenfinne zeigte an, in welch rasantem Tempo sie davonflitzte.

»Ich hole die Geschirre«, bestätigte Theo und zog eine drollige Grimasse. »Ich hole die Geschirre.« Dann schwamm sie mit kräftigen Zügen zur nächsten Pierleiter. »Wieso ist sie mir immer einen Schritt voraus?«

»Weil sie schneller schwimmen kann!«, schrie Toby Duff.

»Kibby und ich schaffen Schneisen«, informierte Oregon Toby. »Nehmen Bojen mit Flaggen?«

Jan begann zu kichern. »Warum geben wir uns überhaupt noch die Mühe, ihnen etwas erklären zu wollen?«

»Flaggenbojen sind schon unterwegs«, bestätigte Toby und kraulte zu der Leiter bei den Lagerschuppen, in denen die Bojen zum Markieren von Regattastrecken lagerten. »Die roten kennzeichnen die Bahn aus der Bucht heraus, Grün signalisiert den Rückweg.«

»Von den Winterregatten müssten noch genug Bojen vorhanden sein«, bemerkte Efram, der sich Toby anschloss.

»Sind das alle Schiffe?«, fragte Teresa, während sie sich auf ihrem Schwanz aufrichtete und die Kaianlage auf und ab spähte.

»Von den Landsitzen längs der Küste und des Flusses müssten noch mindestens ein Dutzend Lugger und Schaluppen eintreffen«, entgegnete Jan. »Die größeren können direkt bis zum Paradiesfluss weitersegeln, aber alles, was bis Kahrain Head befördert wurde, ist bereits in Sicherheit.«

»Viel Arbeit, viel Arbeit«, freute sich Teresa und sah glücklicher aus denn je. »Mal was Neues. Bringt Spaß!«

Jan ergriff ihre linke Flosse. »Das ist kein Spaß, Teresa, sondern bitterer Ernst.« Vor Teresas linkem Auge wackelte sie mit dem Finger. »Gefährlich. Anstrengend. Viele Stunden harter Dienst.«

Teresas Miene drückte gleichmütige Gelassenheit aus. Ein Mensch hätte an ihrer Stelle lässig die Achseln gezuckt. »Mein Vergnügen, nicht dein Vergnügen. Für mich Genuss. Keine Bange, hörst du?«

 

Als Jim Tillek den Luftverkehr geregelt und ein paar Strandwächter in Aufstellung gebracht hatte, waren mit Hilfe von roten und grünen Bojen zwei Schiffskorridore eingerichtet worden. Drei Teams, bestehend aus den kräftigsten Männchen, schleppten den großen Lastkahn, der mit rot markierten Gütern beladen und bereits unterwegs war. Die erste Flottille kleinerer Segler folgte dichtauf; Delfine lotsten sie aus dem überfüllten Hafengebiet bis an eine Stelle, wo sie von günstigen Winden getrieben Kurs auf Kahrain setzen konnten. Zur Sicherheit schwammen ein paar Delfine als Eskorte mit.

»Wir schaffen es niemals, den Verbleib des ganzen Zeugs im Auge zu behalten«, sagte Ben zu Claire. Sie hatte den Delfineuren etwas zu essen besorgt, derweil ihr maritimer Freund, Tory, zusammen mit seinem Team blau und grün gekennzeichnete Frachtstücke zu Dinghis und anderen weniger seetüchtigen Wasserfahrzeugen beförderte.

Sogar die kleineren Kähne, die Kajaks und das große Zeremonialkanu, fanden Verwendung. Allerdings musste man sie aufmerksam beobachten, da sie von relativ unerfahrenen Seeleuten – Jugendlichen und Kindern – gesteuert wurden.

Jim Tillek sorgte dafür, dass alle Rettungswesten trugen und genau wussten, wie man einen Delfin zu Hilfe ruft.

Es waren nicht genug Lockpfeifen für alle da, was einigen der jüngeren Kindern Sorgen bereitete; doch Theo Force ließ Dart demonstrieren, wie schnell sie herbeieilen konnte, wenn man nur kräftig mit beiden Händen auf das Wasser schlug.

»Diese begriffsstutzigen Landratten machen die meisten Probleme«, beschwerte sich Jim, während er hastig den Anlegesteg entlanglief und über Megaphon ein paar Einwohner von Landing zurückpfiff, die Haushaltsgeräte zu den Stapeln mit rot gekennzeichneter wichtiger Fracht stellten. Einige Kolonisten, die in Landing geblieben waren, um dort Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen, glaubten, sie seien mit besonderen Privilegien ausgestattet. Nun, in einer Krisensituation wie dieser mussten sie auf ihre Vorrechte verzichten.

Jim war mit seiner Geduld am Ende. Er marschierte zu dem nächstbesten Schlitten, zerrte den Piloten heraus und befahl ihm, den Krempel, den er soeben abgeladen hatte, unverzüglich wieder einzupacken. Dann flog Jim den Schlitten eigenhändig an das hintere Ende des Strandes, wo die private Habe gelöscht wurde. Trotz der wortreichen Schmähungen des Besitzers gab Jim den Schlitten nicht wieder her, sondern benutzte ihn für den Rest des Tages dazu, die Verladeoperation selbst zu überwachen; er wollte sichergehen, dass niemand seine Siebensachen in Stapel mit Waren der höchsten Prioritätsstufe mogelte. Außerdem hatte er von dem Fluggerät aus einen ungehinderten Blick über die gesamte Bucht.

Vom Meer her blies eine frische Brise die vulkanischen Dämpfe landeinwärts, so dass Monaco Bay größtenteils noch unbehelligt blieb; doch jedes Mal, wenn Jim in Richtung der Vulkane schaute, bekam er einen gelinden Schreck beim Anblick der weißen, grauen und vermutlich giftigen Gaswolken, die der Garben und der Picchu unentwegt ausstießen. Auch überkam ihn eine Anwandlung von Panik, wenn er die gewaltige Masse an Waren betrachtete, die noch in Sicherheit gebracht werden musste, ehe die pyroklastischen Aktivitäten einsetzten. Was sie brauchten, war eine robuste, umfangreiche Armada ... Ein Jammer, dass ihre Kapazität, die Sachen auszufliegen, so bescheiden war.

Nichtsdestoweniger zeigte das beständige Hin und Her von Schlitten aller Größen an, dass ein beträchtlicher Teil der Güter durch die Luft befördert wurde. Sogar die jungen Drachen trugen hinter ihren Reitern so etwas wie Packtaschen.

Während Jim sich mit einem bereits schmutzigen Tuch den Ruß vom Gesicht wischte, beobachtete er, wie die anmutigen Geschöpfe eine Thermik ansteuerten und dann im Gleitflug nach Kahrain Cove schwebten. Er wünschte sich, sie hätten mehr Drachen, mehr Energiezellen, mehr Schiffe, mehr ...

Jemand zupfte an seinem Ärmel: Toby Duff machte ihn auf ein sinkendes Floß aufmerksam.

»Irgendein Idiot hat die Ladung nicht richtig ausbalanciert«, legte Jim los. Unterdessen beeilten sich ein paar Delfine, die bereits im Wasser schwimmenden Fässer und Säcke einzukreisen, damit sie nicht fortgetrieben wurden. »Ich kann nicht überall gleichzeitig sein ...« Er stöhnte.

»Dabei vermittelst du schon den Eindruck, als wärst du es«, versetzte Toby trocken. »Sieh doch, alles ist wieder unter Kontrolle.«

»Aber sie bringen das Floß nicht zurück, um es korrekt zu beladen«, schimpfte Jim.

»Benutz dein Fernglas, Jim. Gunnar ist zur Stelle. Offensichtlich hat er die Lage voll im Griff. Jetzt brauche ich erst mal deinen Rat. Wäre es möglich, ein paar der mit rot und orange markierten Sachen in Plastik zu versiegeln und von den kleineren Delfinen transportieren zu lassen, die mit den schweren Frachten überfordert sind?«

Nachdenklich betrachtete Jim den Berg an vorrangig zu behandelnden Gütern, der kaum kleiner zu werden schien. »Versuchen können wir es. Selbst wenn etwas verloren geht, ist es immer noch besser, als alles zu verlieren, wenn die Vulkane erst richtig loslegen.«

Toby grinste, fing dann an zu lachen und trabte zur Anlegestelle, wo er ins Wasser sprang und die nötigen Vorkehrungen traf.

Viel zu rasch senkte sich die übergangslos hereinbrechende tropische Nacht herab; hektisch versuchte man festzustellen, wer es sicher bis nach Kahrain geschafft hatte, wer noch unterwegs war und Unterstützung brauchte, ob es Verluste oder Opfer zu beklagen gab.

Zu Jims Verblüffung hatten Delfine wie Menschen nur geringfügige Blessuren davongetragen: Schürfwunden, Quetschungen, harmlose Schnitte und Muskelzerrungen. Und obschon Ben sich unentwegt für seine lückenhaften Aufzeichnungen entschuldigte, fand man fast alle transportierten Waren wieder, wobei von der wichtigen Fracht kein einziges Stück verlorengegangen war.

Die Anführer der Delfinschulen meldeten, dass sie nun zum Futtersuchen fortschwimmen und sich am nächsten Morgen zurückmelden würden. Nicht zum ersten Mal beneideten Jim und die Delfineure diese ausdauernden Geschöpfe, die eine Hälfte ihres Gehirns schlafen lassen konnten und dennoch voll reaktionsfähig blieben.

Ein fürsorglicher Mensch hatte den großen Tisch im Hafenbüro gedeckt. Es gab ein Eintopfgericht, Brot und massenhaft Kekse. Ohne viel Federlesens fielen die ausgehungerten Leute über das Essen her. Dann legten sie sich, übermüdet wie sie waren, in Decken oder warme Bekleidung gehüllt zum Schlafen auf den Fußboden.

Einige der Siedler hatten das Glück gehabt, eine oder gar mehrere der Feuerechsen an sich zu binden, diese wunderschönen Geschöpfe, die im EVC-Protokoll erwähnt wurden. Während ihre menschlichen Kameraden schliefen, hockten die Feuerechsen auf dem Pier, wobei ihre glutvollen Augen mit den zahlreich montierten Scheinwerfern der Notbeleuchtung um die Wette funkelten.

 

Die Große Glocke riss alle aus tiefstem Schlummer; Jim und Efram taumelten benommen nach draußen, um festzustellen, was los war. Kibby und Dart balgten sich darum, wer von ihnen als nächster an der Kette ziehen durfte.

»Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen«, singsangten mehrere hundert Delfine, so frisch und ausgelassen wie eh und je; die Bergungsaktion fassten sie als einen kolossalen Spaß auf, den ihre Landfreunde sich ausgedacht hatten, um ihnen eine Freude zu bereiten.

Stöhnend, im Halbschlaf, lehnten sich Jim und Efram aneinander. Der Wind hatte gedreht und wehte nun vom Land in Richtung Meer, das würde ihre Arbeit wesentlich erschweren. Die mit Schwefel- und Chlordämpfen übersättigte Luft ließ die Augen tränen und reizte die Atemwege. Den Delfinen schien die verpestete Atmosphäre zum Glück nicht so viel auszumachen.

Gegen Mittag mussten sich die Menschen mit Atemschutzgeräten ausrüsten. Auch passierten aufgrund von Erschöpfung mehr Unfälle; die meisten Leute waren exzessives körperliches Arbeiten nicht gewöhnt, die Muskeln waren steif, und dennoch gab man sein bestes, um die Leistung vom Vortag noch zu übertreffen.

Jim lenkte die Southern Cross, die bis zum Speigatt mit kostbaren medizinischen Gütern beladen war. Pausenlos teilte er per Funk Befehle und Vorschläge aus, derweil er sich bemühte, angesichts dummer Fehler nicht die Beherrschung zu verlieren; gerade in verzweifelten Situationen wie dieser konnten selbst kleinste Patzer ungeahnte Folgen nach sich ziehen.

Auf dem Seeweg zwischen Monaco und Kahrain stauten sich Kähne aller Art, sich mühsam vorwärtsquälend, weil sie hoffnungslos überladen waren. Zweimal passierte die Cross Dinghis, die sich nur mit der Unterstützung von Delfinen über Wasser hielten.

Am dritten Morgen ordnete Jim an, dass sämtliche Boote, die weniger als sieben Meter lang waren, in Kahrain auf Strand gezogen werden mussten. Die meisten Besatzungsmitglieder blieben auch gleich da, um beim Entladen der größeren Schiffe zu helfen; zum Löschen wurden auch die Delfine eingesetzt, die kleinere bis mittelgroße Frachtstücke rascher beförderten als jeder Leichter.

»Ein kluger Schachzug, Jim«, meinte Theo Force am Abend, als sie sich an Bord der Cross versammelten. »Die Kinder fanden es höchst aufregend, wie hurtig ›ihre‹ Delfine hin- und herflitzten. Sie fingen sogar an, Fische zu fangen, um sie mit Leckerbissen belohnen zu können, obwohl in dem aufgewühlten Wasser nicht viel zu holen war.«

»Und ich bin fast umgekommen vor Angst«, gestand Claire Byrne, »wenn ich mir vorstellte, was bei diesem Abenteuer alles hätte schiefgehen können.«

»Das Wetter verschlechtert sich«, bemerkte Bernard Shattuck.

»Zu hoher Wellengang für die Sieben-Meter-Boote?«, fragte Jim mit einem Blick auf die Liste, die angab, welche Fracht noch am Strand der Monaco-Bucht lagerte. Allerdings hatte sich der Stapel erheblich reduziert.

»Für erfahrene Segler dürfte es kein Problem sein«, erklärte Shattuck. »Zur Sicherheit sollten sie von Delfinen begleitet werden. Wie ist es um deren Kondition bestellt?«

Jim schnaubte durch die Nase, und Theo gluckste vergnügt in sich hinein.

»Sie amüsieren sich köstlich bei diesem Spiel«, versicherte Efram, »das wir doch eigens zu ihrer Erbauung inszeniert haben.«

Grinsend beugte sich Ben vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, einen Becher mit einem heißen Getränk in den Händen haltend. »Wisst ihr schon, dass die Schulen untereinander eine Art Wettkampf austragen?«

»Worum geht es dabei?«

»Gewichtheben«, erläuterte Ben. »Ihr habt doch sicher gesehen, wie sie die schweren Ladungen auf dem Rücken balancieren. Sie wiegen sie ab.«

»Hoffentlich machen sie nichts kaputt«, erwiderte Jim. Er gab sich Mühe, ernst zu bleiben, obwohl die Vorstellung von den wetteifernden Delfinen ihn zum Lachen reizte. Diese Tiere waren halt die geborenen Clowns. Er bedauerte es, dass die Otter auf der Erde bereits ausgestorben waren, als die Kolonistenschiffe nach Pern aufbrachen. Auch diese Geschöpfe hatten es verstanden, mit den unmöglichsten Dingen zu spielen. Er seufzte. »Wir können es uns nicht leisten, irgendetwas von den Sachen, die für Kahrain bestimmt sind, zu verlieren.«

»Wie geht es weiter, wenn alles erst einmal dort ist?«, erkundigte sich Gunnar.

»Nun, meine Lieben, dann entscheiden wir, was per Schiff weiter in den Norden befördert wird.« Bei dem allgemeinen Gemurre, das einsetzte, zwang er sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. »Aber dieses Mal brauchen wir nichts zu überstürzen.«