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Kindans Abenteuer
Der junge Kindan lebt mit seiner Familie in einem Bergarbeitercamp auf Pern. Dort wird im riskanten Untertagebau Kohle gewonnen, das geläufigste Brennmaterial auf Pern. Den Arbeitern zur Seite stehen Wachwhere, kleine Drachen mit photosensitiven Augen, die selbst im Dunkeln noch perfekt sehen können. Obwohl er lieber einer jener Harfner wäre, fahrende Sänger, deren Aufgabe es ist, die Traditionen der Drachenreiter zu pflegen, scheint es beschlossene Sache, dass Kindan ebenfalls in den Minen arbeiten wird. Doch als sein Vater bei einem Grubenunglück stirbt, wird klar, dass das Schicksal Kindan für einen gänzlich anderen Weg ausersehen hat …
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Seitenzahl: 520
ANNE & TODD McCAFFREY
DRACHENWEGE
Die Drachenreiter von Pern
Band 17
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Der junge Kindan lebt mit seiner Familie in einem Bergarbeitercamp auf Pern. Dort wird im riskanten Untertagebau Kohle gewonnen, das geläufigste Brennmaterial auf Pern. Den Arbeitern zur Seite stehen Wachwhere, kleine Drachen mit photosensitiven Augen, die selbst im Dunkeln noch perfekt sehen können. Obwohl er lieber einer jener Harfner wäre, fahrende Sänger, deren Aufgabe es ist, die Traditionen der Drachenreiter zu pflegen, scheint es beschlossene Sache, dass Kindan ebenfalls in den Minen arbeiten wird. Doch als sein Vater bei einem Grubenunglück stirbt, wird klar, dass das Schicksal Kindan für einen gänzlich anderen Weg ausersehen hat …
Anne McCaffrey wurde am 1. April 1926 in Cambridge, Massachusetts, geboren, und schloss 1947 ihr Slawistik-Studium am Radcliffe College ab. Danach studierte sie Gesang und Opernregie. In den Fünfzigerjahren veröffentlichte sie ihre ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, ab 1956 widmete sie sich hauptberuflich dem Schreiben. 1967 erschien die erste Story über die Drachenreiter von Pern, »Weyr Search«, und gewann den Hugo Award im darauffolgenden Jahr. Für ihre zweite Drachenreiter-Story »Dragonrider« wurde sie 1969 mit dem Nebula Award ausgezeichnet. Anne McCaffrey war die erste Frau, die diese beiden Preise gewann, und kombinierte die beiden Geschichten später zu ihrem ersten Drachenreiter-Roman »Die Welt der Drachen«. 1970 wanderte sie nach Irland aus, wo sie Rennpferde züchtete. Bis zu ihrem Tod am 21. November 2011 im Alter von 85 Jahren setzte sie ihre große Drachenreiter-Saga fort, zuletzt zusammen mit ihrem Sohn Todd.
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Titel der Originalausgabe
DRAGON'S KIN
Aus dem Amerikanischen von Ingrid Herrmann-Nytko
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 2003 by Anne McCaffrey & Todd McCaffrey
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
Karte: Andreas Hancock
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-21005-2V002
Für meinen Bruder, Kevin McCaffrey
alias »Der Kleinste Drachenjunge«
Anne McCaffrey
Für Ceara Rose McCaffrey – natürlich!
Todd McCaffrey
Als die Menschen das erste Mal Rubkat erreichen, einen Stern vom Typ G im Sagittarius-Sektor, besiedelten sie seinen dritten Planeten und nannten ihn Pern. Die Kolonisten waren in den Weltraum aufgebrochen, um nach den verheerenden Kriegen mit dem Volk der Nathi eine idyllische, auf Landwirtschaft beruhende Gesellschaft zu gründen, ein Paradies für Farmer und Viehzüchter. Wenig Aufmerksamkeit zollten sie Perns Nachbarplaneten, da das gesamte Sonnensystem bereits erforscht und für eine gefahrlose Erschließung freigegeben worden war.
Weniger als acht Jahre – oder »Planetenumläufen«, wie die Perneser sagten – nach ihrer Ankunft näherte sich Perns erratischer Schwesterplanet, der Rote Stern, dessen stark elliptische Umlaufbahn ihn periodisch vom Rand des Rubkat-Systems an Pern heranführte.
Und dann regnete es »Fäden« vom Himmel. Die dünnen, silbrig glänzenden Streifen sahen vollkommen harmlos aus – bis sie mit etwas Organischem, seien es Menschen, Tiere, Pflanzen oder auch dem Erdreich in Berührung kamen. Dann verschlangen sie alles, wobei sie sich aufblähten, indem sie die Nährstoffe in sich hineinsogen. Sie verätzten das Muskelgewebe von Lebewesen und ließen nur das blanke Knochengerüst übrig; an den Stellen, an denen sie sich in den Boden eingruben, wuchs nichts mehr, ehemals fruchtbare Landstriche wurden steril. Lediglich Metall, karger Felsen und Wasser – in dem die Fäden ertranken – waren vor ihnen sicher.
Der erste Fädenfall, der die Kolonisten völlig unvorbereitet traf, hatte katastrophale Folgen. Tausende Menschen starben, noch mehr wurden verstümmelt, und ganze Herden von mitgebrachten Nutztieren ausgelöscht.
Obendrein setzte die Annäherung des Roten Sterns auf Pern seismische Bewegungen in Gang, und die Kontinentalplatten begannen sich unter dem Sog der Schwerkraft zu verschieben. Es gab Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche.
Die überlebenden Kolonisten mussten sich neu orientieren. Sie verließen den mit natürlichen Ressourcen reich ausgestatteten Südkontinent und siedelten statt dessen auf dem Nördlichen Kontinent, der eine stabilere Tektonik aufwies. Eine nach Osten weisende Steilklippe bauten sie als Festung aus, die sie das »Fort« nannten. Den Kolonisten diente sie als »Fluchtburg«.
Doch damit war es nicht getan. Die von zu Hause mitgebrachte Hochtechnologie musste über kurz oder lang versagen, und ohne angemessene Schutzmaßnahmen vor den Fäden konnten die Siedler keine Äcker und Felder bestellen, auf deren Ernteerträge sie angewiesen waren. Sie benötigten eine dauerhafte, speziell auf Pern zugeschnittene Lösung für ihr Problem; es galt, eine Methode zu finden, um die vom Himmel fallenden Fäden zu vernichten.
Die Biologen unter den Kolonisten, angeführt von der auf Eridani ausgebildeten Kitti Ping, wandten ihr Augenmerk den einheimischen Feuerechsen zu, kleine, flugfähige Eidechsen, die Miniaturdrachen glichen. Mithilfe raffinierter gentechnischer Manipulationen züchteten die Perneser aus diesen Feuerechsen große »Drachen«. Wenn diese Tiere ein phosphinhaltiges Gestein kauten, vermochten sie Flammengarben aus dem Maul zu speien und die Fäden noch in der Luft zu verbrennen, ehe sie auf den Erdboden fielen.
Die Drachen waren telepathisch mit ihren menschlichen Reitern verbunden und dienten fortan als wichtigste Waffe der Kolonisten, um die Fäden zu bekämpfen.
Kitti Pings Tochter, Windblüte, setzte die Experimente mit den Feuerechsen fort, und aus einem Versuch, den man damals für misslungen hielt, gingen kleinere, muskulöse, hässliche Kreaturen mit übergroßen, lichtempfindlichen Augen hervor. Man bezeichnete sie als Wachwhere. Für den Einsatz gegen die Fäden kamen sie bei Tageslicht nicht in Frage. Doch die einfallsreichen Perneser entdeckten, dass die Wachwhere sich ideal dazu eigneten, dunkle Orte auszuforschen, zum Beispiel die Höhlensysteme, in denen die Kolonisten Zuflucht suchten. Auch in den Bergwerken kamen die Wachwhere zum Einsatz.
Das Fort, wie die Kolonisten ihre erste Ansiedlung in der von Tunneln und Kavernen durchzogenen Steilklippe nannten, wurde schon bald zu klein für die sich rasch vermehrende Bevölkerung. Als Erste suchten sich die Drachenreiter eine neue Heimstatt, indem sie den Kraterkessel eines erloschenen Vulkans bezogen. Diesen in luftigen Höhen gelegenen Wohnsitz bezeichneten sie als Fort-Weyr.
Später verteilten sich die Kolonisten über den gesamten Nördlichen Kontinent. Die Drachenreiter gründeten weitere Weyr auf den höchsten Gipfeln der Berge. Derweil ließen sich die Farmer und Viehzüchter in festungsartigen Bauten in den Tiefebenen nieder.
Unter der Leitung der Burgherren und der Weyrführer entwickelte sich eine Gesellschaft, in der handwerkliches Geschick und besondere Fertigkeiten gefragt waren. Bestimmte Berufe, zu deren Ausübung mitunter eine jahrelange Schulung vonnöten war, schlossen sich zu Gilden oder Zünften zusammen. Es gab Innungen der Schmiede, der Bergarbeiter, der Farmer, der Fischer, der Heiler und der Harfner. Um den jeweiligen Ausbildungsstand zu kennzeichnen, übernahm man die alten Begriffe, die früher auf der Erde üblich waren: Lehrling, Geselle und Meister. Jedem Verband stand ein von seinen Mitgliedern gewählter Zunftmeister vor, der die internen Angelegenheiten regelte. Man kannte einen Meisterschmied, einen Bergwerksmeister, einen Fischereimeister, einen Saatmeister, einen Meisterheiler und einen Meisterharfner.
Den Gesetzen der Himmelsmechanik folgend, entfernte sich der Rote Stern nach fünfzig Planetenumdrehungen wieder soweit von Pern, dass die Wolken aus Fäden, die er gleichsam wie eine Schleppe hinter sich her zog, Pern nicht mehr erreichten, und die Gefahr war gebannt. Doch nur vorübergehend, denn nach zweihundert Planetenumläufen näherte sich der Rote Stern von neuem, und der nächste Vorbeizug begann.
Nun jedoch stiegen die Drachen mit ihren Reitern in den Himmel hinauf, um Feuersalven zu speien und die Fäden zu verbrennen, so dass sie als unschädliche Ascheflocken abregneten. Wenn dann nach fünfzig Planetenumdrehungen der tödliche Spuk vorbei war, brachen für die Siedler wieder ruhigere Zeiten an und sie schwärmten aus, um die natürlichen Reichtümer von Pern zu erkunden.
Nach einem »Intervall« aus zweihundert friedvollen Planetenumläufen kehrte der Rote Stern jedoch zurück, und der Kampf gegen die Fäden begann aufs Neue.
Gegen Ende des Zweiten Intervalls, nur sechzehn Planetenumläufe vor dem Dritten Vorbeizug des Roten Sterns, standen die Bergleute vor einem Problem. Die Perneser waren auf Kohle als Brennstoff und Energiespender angewiesen. Ohne Kohle, vor allem der hochwertigen Anthrazitkohle, die große Hitze erzeugte, konnte der Meisterschmied keinen Stahl herstellen. Aus Stahl wiederum formte man Pflugscharen für die Farmer, Bänder zum Bereifen der Räder an den Karren und Wagen der Händler; außerdem die Beschläge, welche die Lederkleidung der Drachenreiter zusammenhielt, die sie trugen, wenn sie einen Einsatz gegen die Fäden flogen. Doch mittlerweile waren die Kohlevorkommen, die man im Tagebau hatte fördern können, erschöpft.
Der Bergwerksmeister Britell, der der Zunfthalle in der Burg Crom vorstand, begriff schnell, worauf es nun ankam. Um neue Lagerstätten zu erschließen, musste man Stollen ins Gebirge{1} hineingraben. Und seine Kumpel mussten sich die alten Techniken des Bergbauwesens wieder aneignen, wie man Schächte abteufte{2} und Stollen anlegte.
Anhand uralter geologischer Karten fand der Meister einige Orte, an denen sich für den Bergbau lohnenswerte Kohleschichten befanden. Er schickte seine besten Gesellen los, um neue Bergwerke zu gründen. Die Kumpel, die Erfolg hatten, sollten in den Rang eines Meisters befördert werden, und ihre Camps erhielten den Status von rechtlich anerkannten Zechen; gesellschaftlich gesehen standen diese Männer somit auf der gleichen Stufe wie der Herr einer kleineren Burg, dessen persönlicher Einfluss und Wohlstand sich sehen lassen konnten.
Der Bergwerksmeister Britell hütete sich, es laut auszusprechen, aber die größten Hoffnungen setzte er auf seinen Gesellen Natalon und die Gruppe schwer schuftender Kumpel, die ihn begleiteten.
Natalon hatte sich bereit gezeigt, zu experimentieren, und nur jemand, der erfinderisch und wagemutig war, konnte die neue Methode des Untertagebaus zum Erfolg führen.
Zur Sicherheit hatte er Wachwhere angefordert, die mit ihren photosensitiven Augen Tunnelschlangen entdecken konnten und in der Lage waren, vor dem gefährlichen Methangas und vor schlagenden Wettern{3} zu warnen. Sie vermochten das geruchlose, tödliche Kohlenmonoxid aufzuspüren, das einen Bergmann vergiften konnte.
Nach dem, was Britell gehört hatte, galten die Wachwhere als mysteriöse Kreaturen. Ihre Begabung wurde von vielen verkannt und als unbedeutend abgetan.
Britell nahm sich vor, Natalons Camp sorgfältig zu beobachten. Vor allem wollte er ein Auge auf die Wachwhere und ihre Führer werfen, die mit ihrem Tier auf eine sonderbare Art und Weise verbunden waren.
Am Morgenhimmel, stolz und leise,
Zieht ein Drache seine Kreise.
Kindan war so aufgeregt, dass er mit jedem Schritt, den er bergauf rannte, beinahe in die Luft sprang. Er konnte es kaum erwarten, die Anhöhe zu erreichen, auf der Camp Natalon die große Nachrichtentrommel, das Signalfeuer und den Wachposten stationiert hatte.
»Sie sind da! Sie sind da!«, schrie Zenor zu ihm hinunter. Mehr bedurfte es nicht, um Kindan zu noch größerer Eile anzuspornen.
Außer Atem erreichte er seinen Freund, der auf dem Gipfel, der als Beobachtungsposten ausgebaut war, schon auf ihn wartete. Wenn er ins Tal hinabspähte, sah er ganz deutlich die großen Lastkarren, die schwerfällig auf das Hauptcamp zurollten. Die Spitze bildeten die kleineren, in knallbunten Farben bemalten Wohnwagen, in denen die Reisenden hausten.
Von der Bergkuppe aus ging der Blick ungehindert über den See bis hin zu der Wegbiegung, an der sich die Karawane der Sicht entzog. Kindan vermochte sogar die frisch gepflügten Felder an der anderen Seite des Sees auszumachen, auf der in Kürze das erste Saatgut ausgestreut werden sollte.
In der Nähe des Aussichtspostens gabelte sich der Pfad. Die wesentlich ausgefahrenere Abzweigung führte zu dem Depot, in dem die geförderte und in Säcken abgefüllte Kohle lagerte; auf dem schmaleren, flacheren Weg gelangte man zu den am diesseitigen Seeufer gelegenen Hütten der Bergleute.
Die meisten dieser kleinen Häuser säumten in Dreierreihen einen zu einer Seite hin offenen Platz, so dass ihre Anordnung ein U bildete. Am nördlichen Ende, wo sich die Lücke befand, führte die Straße vorbei. Dort hatte man kleine Gewürzgärten angelegt. Und just vor dieser Gartenanlage waren Hochzeitsvorbereitungen im Gange – für Kindans Schwester, die im Begriff stand, sich zu vermählen.
Keines der Häuschen war so solide gebaut, dass es einem Fädenfall hätte standhalten können. Doch bis zum Dritten Vorbeizug des Roten Sterns mussten noch sechzehn Planetenumläufe vergehen, und die Kumpel waren froh, bis dahin in ihren behaglichen Privatquartieren weilen zu können, die bequem nahe an der neuen Zeche lagen.
An der Straße, die vom Platz zum Hügel führte, standen auf halber Strecke ein einzelnes Haus und ein großer Schuppen. In dem Haus wohnte Kindan, und der Schuppen beherbergte Dask, den einzigen noch verbliebenen Wachwher des Camps. Dask war mit Kindans Vater, Danil, verbunden.
Von der Wachstation auf der Bergkuppe nicht zu sehen, hinter einer Wegbiegung, erhob sich ein weitaus stattlicheres und massiveres Gebäude, eine Art Festung aus Stein, die Natalon, dem Obersteiger{4} des Camps gehörte. Nördlich davon, getrennt durch einen von einer Mauer umfriedeten Kräutergarten, lag eine kleinere, aber beinahe ebenso stabil gebaute Unterkunft, in der der Harfner des Camps lebte.
Gleich hinter der Behausung des Harfners, von der vom Aussichtspunkt aus gerade noch eine Wand zu sehen war, machte der Bergrücken – ein Ausläufer des mächtigen Gebirges im Westen – einen jähen Knick. Die sich davor erstreckende Ebene wurde von einem zwei Kilometer weiter liegenden Gebirgssporn begrenzt und bildete ein breites, flaches Tal. Einhundert Meter westlich des Aussichtspostens befand sich der Eingang zur Zeche.
Die Jungen kannten sich bestens in dem Tal aus, obwohl sich das Landschaftsbild ständig änderte; selbst Kindan war ortskundig, dabei weilte er erst seit sechs Monaten im Camp. Die herrliche Aussicht von der Bergkuppe hatte heute für sie keinen Reiz. Nicht einmal die Hochzeitsvorbereitungen interessierten sie. Die beiden Knaben hatten nur Augen für die Handelskarawane, die sich am Seeufer entlang schlängelte.
»Wo ist Terregar?«, fragte Zenor. »Kannst du ihn sehen?«
Kindan blinzelte und beschattete die Augen mit der Hand, doch die Geste diente lediglich der Effekthascherei. Die Entfernung war viel zu groß, als dass er eine bestimmte Person hätte erkennen können.
»Noch nicht«, entgegnete er gereizt. »Aber irgendwo da drunten muss er ja sein.«
Zenor lachte. »Das kann man nur hoffen. Falls nicht, bringt deine Schwester ihn um.«
Kindan funkelte ihn wütend an. »Solltest du nicht zu Natalon laufen und ihm Bescheid sagen?«
»Ich?«, wehrte Zenor ab. »Ich stehe Wache, ich bin kein Kurier.«
»Splitter und Scherben!«, stöhnte Kindan. »Ich bin ganz außer Puste.« Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Außerdem weißt du, wie Natalon auf diese Nachricht reagieren wird.«
Zenor riss die Augen auf. »Und ob ich das weiß! Er hat sich so sehr gewünscht, dass deine Schwester bei uns im Camp bleibt. Darüber ist hier jeder informiert.«
»Genau«, pflichtete Kindan ihm bei. »Stell dir vor, wie wütend er sein wird, wenn ich ihm die Botschaft überbringe.«
»Ach, komm schon, Kindan«, wiegelte Zenor ab. »Es gibt auch eine gute Nachricht – eine ganze Handelskarawane ist zu uns unterwegs. Das wiegt die Hiobsbotschaft, dass es eine Hochzeit gibt, wieder auf.«
»Eine Hochzeit, die Natalon ausrichten muss«, hielt Kindan ihm entgegen. Er seufzte. »Na ja, wenn du darauf bestehst, spiele ich den Kurier.« Er legte eine theatralische Pause ein und fasste seinen kleineren Freund lauernd ins Auge. »Sis{5} hat gesagt, dass ich heute Abend Dask baden soll.«
Zenor kniff leicht die Augen zusammen und dachte kurz nach. »Willst du damit sagen, dass ich dir helfen darf, den Wachwher zu baden, wenn ich den Kurierdienst übernehme?«
Kindan grinste. »Richtig geraten!«
»Tatsächlich?«, vergewisserte sich Zenor hoffnungsvoll. »Und dein Dad hätte auch nichts dagegen?«
Kindan schüttelte den Kopf. »Er darf es nur nicht herausfinden.«
Die Vorstellung, nicht nur etwas Besonderes, sondern gleichzeitig etwas Unerlaubtes zu tun, brachte Zenors Augen zum Strahlen. »Abgemacht. Ich lauf runter.«
»Toll!«
»Einen Wachwher zu baden ist natürlich nicht dasselbe, wie einen Drachen einzuölen«, fuhr Zenor fort. Jedes Kind auf Pern hegte insgeheim den Wunsch, einen Drachen für sich zu gewinnen und mit einem dieser gigantischen, feuerspeienden Wesen, die den Planeten verteidigten, telepathisch verknüpft zu sein. Aber die Drachen schienen Kinder zu bevorzugen, die aus einem Weyr stammten. Nur wenige Drachenreiter kamen aus Burgen oder einer der Gildehallen. Und bis jetzt hatte sich noch kein einziger Drache in Camp Natalon blicken lassen.
»Ich habe schon welche gesehen«, trumpfte Zenor auf.
Jeder in Camp Natalon wusste, dass Zenor Drachen gesehen hatte; es war sein Lieblingsthema. Kindan unterdrückte ein gelangweiltes Stöhnen. Stattdessen gab er ermutigende Laute von sich, derweil er hoffte, Zenor möge seine Geschichte nicht zu sehr ausmalen; andernfalls konnte Natalon sich wundern, wieso kein Kurier eintraf, und sich den Namen des Jungen merken, der mit einer wichtigen Nachricht trödelte.
»Sie waren wunderschön! Und sie flogen in einer perfekten V-Formation. Ganz hoch am Himmel. Die Farben konnte man deutlich unterscheiden – bronze, braun, blau, grün ...« Zenors Stimme ebbte ab, als er sich den Vorfall ins Gedächtnis zurückrief. »Sie sahen so weich aus ...«
»Weich?«, fiel Kindan ihm ins Wort. Seine Stimme klang skeptisch. »Wie konnten sie weich aussehen?«
»So war es aber! Sie waren ganz anders als der Wachwher deines Vaters.«
Kindan, der sich bemüßigt fühlte, Dask zu verteidigen, hütete jedoch seine Zunge, denn er wollte ja, dass Zenor den Kurierdienst für ihn übernahm.
»Ist die Handelskarawane schon näher gekommen?«, lenkte er ab.
Zenor spähte hinunter, nickte und sprintete los. »Du wirst unsere Verabredung aber nicht vergessen, oder?«, rief er über die Schulter zurück.
»Natürlich nicht!«, erwiderte Kindan. Er freute sich schon darauf, den einzigen Wachwher der Zeche zu baden. So kurz vor einer bedeutenden Hochzeitsfeierlichkeit musste die Pflege sehr gründlich ausfallen.
Nach dem langen, schweißtreibenden Abstieg blieb Zenor am Fuß des Berges stehen und schaute zum Gipfel empor, auf dem Kindan nun Wache schob. Hier drunten im Tal herrschten wärmere Temperaturen als oben auf den Höhen; die Luft war übersättigt mit der von den Feldern aufsteigenden Feuchtigkeit und dem Rauch der Campfeuer. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, begab er sich auf die Suche nach Natalon. Er steuerte auf die größte Gruppe von Leuten zu, die er entdeckte, in der Annahme, dort könnte sich der Leiter des Camps aufhalten. Er hatte Recht.
Natalon war ein groß gewachsener, stattlicher Mann. Zenors Vater, Talmaric, hatte ihn einmal einen »jungen Schnösel« genannt, aber nur mit verhaltener Stimme. Zenor, der dies hörte, hatte versucht, sich Natalon als jung vorzustellen, doch vergeblich. Obwohl Talmaric fünf Planetenumdrehungen älter war als Natalon, kam der Leiter des Camps Zenor, der erst zehn Lenze zählte, uralt vor.
Zenor überlegte, ob er Natalon rufen sollte, doch er wusste nicht recht, wie er ihn anzusprechen hatte. Noch herrschte eine beträchtliche Unklarheit über dessen Titel. Wenn das Camp sich bewährte und den Status einer regulären Zeche erhielt, wäre er »Lord Natalon«; doch bis jetzt war in dieser Hinsicht noch nichts geschehen, und infolgedessen hatte er noch keinen Anspruch auf einen Titel. Also entschloss sich Zenor, sich durch die Menschentraube zu schlängeln und einfach nach Natalons Arm zu greifen.
Steiger Natalon war alles andere als erfreut, als jemand mitten in einer Diskussion an seinem Rockärmel zerrte. Er senkte den Blick und schaute in das verschwitzte Gesicht von Talmarics Sohn, dessen Name ihm auf Anhieb nicht einfiel. Noch vor sechs Monaten wäre ihm dies nicht passiert, aber da hatte das Camp nur aus ihm und ein paar weiteren Kumpeln bestanden, die nach neuen Kohleflözen suchten. Nachdem sie fündig geworden waren, folgten ihnen arbeitswillige Männer mit ihren Familien, und es entstand eine kleine Siedlung. Doch genau darauf hatte Natalon ja gehofft – eine Niederlassung zu gründen und die Kohleabbaustätte zu einer ordentlich eingetragenen Zeche erklären zu lassen.
Abermals zupfte Talmarics Sohn an seinem Ärmel. »Was gibt's?«, erkundigte sich Natalon.
»Die Handelskarawane trifft bald ein, Sir«, erwiderte Zenor und hoffte, er habe die korrekte Anrede gewählt.
»Wie bald, Junge? Weißt du nicht, wie man richtig Meldung erstattet?«, ließ sich eine quengelnde Stimme vernehmen. Zenor drehte sich um und erkannte Tarik, Natalons Onkel. Mit Tariks Sohn, Cristov, war Zenor einige Male aneinander geraten, und von der letzten Rauferei hatte er immer noch blaue Flecken.
Man munkelte, Tarik sei wütend, weil der Bergwerksmeister der Burg Crom nicht ihn damit beauftragt hatte, nach neuen Flözen zu suchen. Und ein paar Buben aus dem Camp flüsterten sich hinter vorgehaltener Hand zu, Tarik unternähme alles in seiner Macht Stehende, um nachzuweisen, dass Natalon als Leiter des Camps ungeeignet sei, und dass dieser Posten von Rechts wegen ihm, Tarik, gebührte. Die letzte Prügelei zwischen Zenor und Cristov hatte damit begonnen, dass Zenor eine ungebührliche Bemerkung über dessen Vater von sich gab.
»Wie lange dauert es wohl noch, bis die Karawane hier eintrifft, Zenor?«, wandte irgendjemand in wesentlich freundlicherem Ton ein. Es war Danil, Kindans Vater und der Partner des einzigen noch lebenden Wachwhers des Camps.
»Ich entdeckte sie, als sie den Taleingang erreichte«, antwortete Zenor. »In ungefähr vier, höchstens sechs Stunden müssten die Wagen hier sein.«
»Es ginge schneller, wenn die Straße gepflastert wäre«, murrte Tarik und bedachte Natalon mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Wir müssen unsere Arbeitskraft klug einsetzen, Onkel«, gab Natalon diplomatisch zurück. »Ich hielt es für wichtiger, Bäume zu fällen, um die Stämme zum Abstützen der Stollen zu verwenden.«
»Noch mehr Grubenunfälle können wir uns nicht leisten«, pflichtete Danil ihm bei.
»Und unseren letzten Wachwher dürfen wir auch nicht verlieren«, ergänzte Natalon. Zenor verbiss sich ein Grinsen, als er sah, wie Kindans Vater resolut nickte.
»Wachwhere sind doch zu nichts nütze«, knurrte Tarik. »Früher sind wir auch ohne sie ausgekommen. Zwei sind mittlerweile fort, und bis jetzt hat uns der Verlust nicht geschadet.«
»Wenn ich mich nicht irre, hat der Wachwher Wensk dein Leben gerettet, Tarik«, warf Danil mit einem bitteren Unterton ein. »Und das, obwohl du seine Warnung ignoriert hast. Ich für mein Teil glaube, dass dein schändliches Benehmen Wenser bewogen hat, seinen Wachwher zu nehmen und uns zu verlassen.«
Tarik schnaubte verächtlich durch die Nase. »Wenn wir den Stollen mit ausreichend Strebebalken gesichert hätten, wäre die Decke nicht eingebrochen.«
»Aha!«, trumpfte Natalon auf. »Dann gibst du mir also Recht, Onkel, wenn ich der Gewinnung von Holz Vorrang einräume.«
Tarik strafte seinen Neffen mit einem bösen Blick ab. Das Thema wechselnd, herrschte er Zenor an: »Aus wie vielen Wagen besteht die Karawane, Junge?«
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Zenor, sich zu erinnern. Sowie er die Antwort wusste, machte er die Augen wieder auf. »Es waren sechs Lastkarren und vier Wohnwagen.«
»Hmmph!«, grummelte Tarik. »Also, Natalon, wenn der Junge sich nicht verzählt hat, fehlen der Karawane zwei Karren, um den gesamten Kohlenvorrat abzutransportieren, der bei uns auf Halde liegt.« In nörgelndem Ton brummte er in seinen Bart: »Wir haben uns halb zu Tode geschuftet, um die Kohle zu fördern, die wir jetzt nicht los werden. Stattdessen hätten wir lieber eine massive Unterkunft für alle Campbewohner bauen sollen. Was passiert, wenn die Fäden fallen?«
»Bergmann Tarik«, warf einer der Umstehenden ein. »Bis zum ersten Fädenfall vergehen noch sechzehn Planetenumläufe. Ich schätze, bis dahin haben wir dieses Problem gelöst.«
Zenor schaute sich um, als sich eine Hand leicht auf seine Schulter legte. Hinter ihm stand Jofri, der Harfner des Camps. Zenor lächelte den jungen Mann an, bei dem er während der letzten sechs Monate jeden Vormittag zur Schule gegangen war. Auf Pern nahmen die Harfner die Stelle von Lehrern ein; außerdem fungierten sie als Archivare, Nachrichtenübermittler und gelegentlich Richter. Jofri war nicht nur ein guter Lehrer, sondern auch ein erstklassiger Musiker.
Er stand im Rang eines Gesellen. Bald würde er in die Harfnerhalle zurückkehren, um dort seine Ausbildung fortzusetzen, bis er zum Meisterharfner avancierte. Danach wäre es vermutlich unter seiner Würde, in einer so unbedeutenden Ansiedlung wie dem Camp Natalon zu arbeiten. Wahrscheinlich, dachte Zenor, bekäme er einen Posten in einer großen Burg – vielleicht sogar in Crom –, um dort die Kinder und Jugendlichen zu unterrichten. Darüber hinaus unterstanden ihm sämtliche Harfnergesellen, die in den umliegenden kleineren Anwesen und Compounds ihren Dienst ableisteten. Denn indem sich die Bewohner der mächtigen Burg Crom über das Land verteilten, entstanden immer mehr kleine Siedlungen.
Aber ein neuer Harfner verstand vielleicht mehr von der Heilkunst als Jofri, der mittlerweile akzeptierte, dass Kindans älteste Schwester, Silstra, ihm in diesen Dingen weit überlegen war. Zenor schluckte krampfhaft, als ihm wieder einfiel, dass in der Handelskarawane Silstras künftiger Ehemann mitreiste, der den Beruf eines Schmiedes ausübte. Als seine Gemahlin würde Silstra Camp Natalon für immer verlassen.
»Du hast gut reden, Jofri«, höhnte Tarik. »Wenn es soweit ist, bist du ohnehin längst weitergezogen.«
»Onkel«, unterbrach Natalon den Wortwechsel, ehe er zu einem hitzigen Streit ausufern konnte, »ich habe die Entscheidungen getroffen und werde sie auch verantworten.«
Natalon wandte sich wieder an Zenor. »Lauf rasch zu den Frauen, die an den Kochfeuern beschäftigt sind, und sag ihnen Bescheid, dass unsere Gäste eintreffen.«
Zenor nickte und nahm die Beine in die Hand, denn er hatte keine Lust, sich noch mehr von Tariks gehässigen Sticheleien anzuhören. Als er losrannte, bekam er gerade noch mit, wie Danil mit lauter Stimme fragte: »Glaubst du, dass der Harfner, der dich ablösen soll, sich auch in der Karawane befindet, Jofri?«
Oh nein!, jammerte Zenor in Gedanken. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Jofri schon so früh abgelöst würde.
Von seinem Aussichtsposten aus beobachtete Kindan Zenor, bis sich der Junge in der Menschenmenge verlor. Nervös wartete er ab, um erleichtert aufzuatmen, als sein Freund wieder auftauchte. Offensichtlich hatte es keine Probleme gegeben, und das bedeutete, dass auch er keinen Rüffel würde einstecken müssen. Er sah, wie Zenor von dem Plateau zu den tiefer gelegenen Häusern und Feldern eilte, und dachte sich, dass man ihn losgeschickt hätte, um die anderen Campbewohner vom Nahen der Karawane in Kenntnis zu setzen. Zur Begrüßung gäbe es heute Abend ein großes Fest.
Zenor verlangsamte sein Tempo, als er die Kate des Harfners erreichte. Zu Kindans Verwunderung blieb Zenor stehen, um kurz darauf zur Vorderseite des Häuschens zu flitzen – wo er sich Kindans Blicken entzog –, vermutlich, um hineinzugehen. Was hatte Zenor im Sinn? Kindan mutmaßte, jemand, der sich drinnen aufhielt, hätte ihn gerufen. Er nahm sich vor, die näheren Umstände zu ergründen.
Dann lenkten ihn die ersten vernehmlichen Geräusche der heranrollenden Wagen ab, und er widmete seine volle Aufmerksamkeit der Karawane.
Eine linde Brise trug den schwachen Duft von Kiefernharz in die Kate des Harfners. Das würzige Aroma war durchsetzt mit anderen Gerüchen, die Nuella in Gedanken mit einer bestimmten Person verband. »Zenor, bist du es?«, flüsterte sie.
Durch das Fenster hörte sie deutlich, wie jemand mitten im Lauf innehielt und schlitternd zum Stehen kam. Gleich darauf zischte Zenor: »Was tust du denn hier?«
Verärgert über den ruppigen Ton, furchte Nuella die Stirn. »Komm rein, dann erkläre ich dir alles«, antwortete sie gereizt.
»Ist ja schon gut«, brummte Zenor. »Aber lange kann ich nicht bleiben. Ich muss etwas ausrichten.« Nuella entging nicht der Unterton von Wichtigkeit, und sie wusste, dass Zenor als Kurier unterwegs war.
Ihre nächste Frage behielt sie für sich, bis sie Zenors Schritte auf der vorderen Treppe hörte. Von der im rückwärtigen Teil der Kate liegenden Küche ging sie durch die Diele zur Eingangstür. Als Zenor ins Haus trat, brachte er einen Luftschwall mit sich, der durchtränkt war mit der vom See aufsteigenden Feuchtigkeit.
»Ich dachte, Kindan sei der Kurier und du würdest Wache halten«, sagte sie.
Zenor seufzte. »Wir haben getauscht.« Hastig und mit freudiger Stimme fügte er hinzu: »Ich darf ihm helfen, den Wachwher zu baden.«
»Wann?«
»Heute Abend«, gab Zenor zurück. »Die Handelskarawane ist eingetroffen ...«
»Das habe ich schon gehört«, fiel Nuella ihm stirnrunzelnd ins Wort. »Weißt du vielleicht, ob der neue Harfner dabei ist? Ich möchte ihn gern kennen lernen.«
»Du willst mit ihm sprechen? Und was wird dein Vater dazu sagen?«, wandte Zenor ein.
»Das ist mir einerlei«, gab Nuella unumwunden zurück. »Wenn ich mich schon die ganze Zeit über verstecken muss, dann möchte ich zumindest von dem Harfner etwas lernen. Er kann mir neue Stücke für meine Flöte beibringen ...«
»Und wenn jemand etwas merkt?«
»Die Karawane ist doch im Anmarsch, nicht wahr? Also gibt es heute Abend ein Fest, richtig? Und du bist unterwegs, um den Leuten auf dem Platz Bescheid zu sagen«, sagte Nuella. »Wenn ich mich anziehe wie jemand, der zur Karawane gehört, wird keinem etwas auffallen.«
»Die Händler werden sofort wissen, dass du nicht zu ihnen gehörst«, gab Zenor zu bedenken.
»Na und? Sie werden glauben, ich sei eine Bewohnerin des Camps und würde zu Ehren unserer Gäste diese Kleidung tragen.«
»Und was ist mit deinen Eltern – oder Dalor?«
Nuella hob die Schultern. »Du musst dafür sorgen, dass ich ihnen nicht versehentlich über den Weg laufe. So schwer dürfte das nicht sein. Schließlich rechnen sie nicht damit, mir hier zu begegnen.«
»Aber ...«
Nuella streckte den Arm nach ihm aus, drehte ihn herum und schob ihn zur Tür. »Lauf jetzt lieber los, sonst fragt dich noch jemand, warum du gebummelt hast.«
Als Kindans Ablösung ein paar Stunden später eintraf, hatte er Zenor bereits vergessen. Sein Magen knurrte und ihm lief das Wasser im Munde zusammen, als von den großen Kochfeuern, die man draußen entzündet hatte, der Duft von gewürztem und geröstetem Wherry den Hang hinauf wehte.
Normalerweise nahmen die Familien im Camp Natalon die Mahlzeiten in ihren eigenen Quartieren ein. An diesem Abend jedoch brannten in den Gruben im Zentrum des Platzes gewaltige Feuer, und ringsum standen lange hölzerne Tische mit Bänken für die Campbewohner und die Mitglieder der Handelskarawane.
Harfner Jofri und ein paar andere Musikanten spielten lebhafte Weisen, während die Leute mit herzhaftem Appetit die Speisen verputzten.
Kindan nahm sich einen Teller und suchte sich ein ruhiges Plätzchen abseits vom allgemeinen Rummel, damit man ihn nicht mit weiteren Aufgaben plagte. Derweil er sich an dem pikant gewürzten Wherryfleisch gütlich tat – das Rezept stammte von seiner Schwester und mundete ihm persönlich am besten – und dazu frisch gepressten Beerensaft trank, hielt er Augen und Ohren offen. Seine Blicke huschten mal hierhin, mal dorthin, und er bemühte sich, jeden Gesprächsfetzen aufzuschnappen, teils, um unliebsamen Störungen zu entgehen – falls jemand ihm eine Arbeit auftragen wollte –, teils, um interessante Klatschgeschichten nicht zu verpassen.
An der Haupttafel, um die herum sich die anderen Tische gruppierten, entdeckte Kindan den Führer der Karawane und seine Gemahlin, doch immer wieder musste er seine Schwester und ihren Verlobten, Terregar, anschauen. Der Schmied war mittelgroß, aber mit kräftigen Muskeln bepackt. Er trug einen gepflegten, kurzgetrimmten Bart, durch den sich häufig ein Lächeln stahl, begleitet von einem fröhlichen Aufblitzen der strahlend blauen Augen. Kindan hatte Terregar gleich bei ihrer allerersten Begegnung gemocht.
Terregar und Silstra – die Namen hatten einen guten Klang. Aber für ihn und alle anderen Bewohner des Camps würde seine Schwester stets nur »Sis« bleiben. Kindan fragte sich, ob es in der Halle der Schmiedezunft in Telgar bereits eine »Sis« gäbe. Aber vielleicht heiratete diese Dame ja einen Mann, der kein Schmied war, und man brauchte einen Ersatz. In Camp Natalon würde man seine »Sis« schmerzlich vermissen, soviel stand für ihn jetzt schon fest. Denn niemand konnte seine große Schwester ersetzen.
Kindan merkte, dass seine Augen tränten, und er redete sich ein, der Wind müsse die Richtung gewechselt und ihm ein wenig Asche von den Feuern ins Gesicht geblasen haben. Dass sein Herz plötzlich schwer wie ein Stein wurde, ignorierte er. Er wusste, wie glücklich Sis sein würde; immer und immer wieder hatte sie dies gesagt. Und er konnte nicht abstreiten, dass Terregar ein wirklich netter Mann war. Trotzdem ... ohne seine Schwester würde er sich sehr einsam fühlen, denn sie hatte sich seit dem Tod ihrer Mutter um die gesamte Familie gekümmert.
Nun blies der Wind tatsächlich aus einer anderen Richtung, und die auffrischende Brise trug einen neuen Duft heran – es roch intensiv nach süßen Pasteten. Kindan leckte seine Lippen, derweil er versuchte, den Ursprung des Aromas auszumachen. Doch als er aufstehen wollte, drückte eine Hand ihn wieder nach unten.
»Denk nicht mal daran«, knurrte jemand in sein Ohr. Es war sein älterer Bruder, Kaylek. »Dad hat mich geschickt, um nach dir zu suchen. Du sollst Dask baden.«
»Jetzt gleich?«
»Natürlich, was denn sonst!«
»Aber wenn ich zurückkomme, sind alle Pasteten aufgegessen!«, protestierte Kindan.
Kaylek ließ sich nicht erweichen. »Morgen bei der Hochzeitsfeier gibt es auch noch welche«, sagte er achselzuckend. »Und Dask muss ganz sauber sein, sonst zieht Dad dir das Fell über die Ohren.«
»Aber es ist noch nicht dunkel!«, wandte Kindan ein. Wie alle Wachwhere, besaß Dask übergroße Augen, die auf Tageslicht mit Schmerzen reagierten. Am besten sah Dask bei Nacht. Ein Wachwher vermochte selbst in tiefster Finsternis noch etwas zu erkennen. Es gab viele Bergleute, die ihr Leben dem Umstand verdankten, dass ein Wachwher sie nach dem Einsturz eines Stollens unter Felsen und Geröll entdeckt hatte.
Eine hünenhafte Gestalt baute sich drohend vor den beiden jungen Burschen auf. Automatisch zuckte Kaylek zurück; er hatte sich seit jeher vor ihrem Vater gefürchtet, viel mehr als Kindan.
»Ihr zwei stört mit eurem Gezänk die Mahlzeit«, verkündete Danil; von der jahrelangen Arbeit im Kohlenbergwerk hatte seine Stimme einen tiefen, rauen Klang angenommen. Eine große Pranke legte er auf Kayleks Schulter.
»Ich habe ihm gesagt, er soll Dask baden gehen«, erklärte Kaylek.
Kindan hob den Kopf und schaute seinem Vater fragend in die Augen. Danil quittierte den Blick mit einem Nicken.
»Na ja, das hat Zeit, bis du ein paar von den süßen Pasteten gegessen hast«, meinte er. Kindan drohte er mit dem Finger. »Ich verlasse mich darauf, dass ihr uns keine Schande macht. Morgen soll mich jeder von Burg Crom um meinen Wachwher beneiden.«
»Jawohl, Sir!«, bekräftigte Kindan voller Enthusiasmus. Auf einmal kam ihm die verhasste Arbeit als ein Beweis dafür vor, dass sein Vater ihm voll und ganz vertraute. »Ich gebe mein Bestes.«
Danils Hand ruhte immer noch auf Kayleks Schulter, als er vorschlug: »Komm mit, Junge, da ist ein Mädchen aus der Gilde, mit dem ich dich bekannt machen möchte.«
Selbst im abendlichen Zwielicht sah Kindan, dass Kaylek rot anlief. Er war gerade vierzehn Planetenumläufe alt und kaum aus dem Stimmbruch heraus; nicht mehr ein Knabe, und noch kein Mann, verhielt er sich Mädchen gegenüber sehr schüchtern. Kindan musste sich beherrschen, um nicht schallend zu lachen, doch Kaylek sah ihm seine Schadenfreude an und bedachte ihn mit wütenden Blicken. Kindans Heiterkeit verflog schlagartig, denn Kayleks Mienenspiel verhieß nichts Gutes.
Dann reizte der Duft von Pasteten Kindans Nase, und er flitzte los, um sich welche zu organisieren. Kayleks Rache lag noch in der Zukunft – die süßen Pasteten gab es schon jetzt.
Das Abendessen auf dem Platz des Camps war noch in vollem Gange, als Kindan sich auf den Weg zu dem Stall machte, in dem Dask hauste. Während er sich in gemächlichem Tempo von den feiernden Menschen und den Kochfeuern entfernte, löste sich aus der Dunkelheit ein kleiner Schatten und folgte ihm.
»Gehst du jetzt den Wachwher baden?«, flüsterte Zenor, als er seinen Freund einholte. Er war so schnell gelaufen, dass er keuchte.
»Ja.«
»Warum hast du mich nicht geholt?«, fragte Zenor in vorwurfsvollem Ton, denn er fühlte sich verraten.
»Du bist doch hier, oder?«, erwiderte Kindan. »Wenn ich dich in der Menge gesucht hätte, wäre Kaylek aufmerksam geworden und hätte mich zur Rede gestellt.«
»Ach so.« Zenor hatte keine älteren Brüder und war es nicht gewöhnt, eine List anzuwenden, um seinen Willen durchzusetzen. Doch da er gern einen älteren Bruder gehabt hätte, und Kindan sich wiederum einen jüngeren Bruder wünschte, kamen die beiden Jungen prächtig miteinander aus – obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen lediglich zwei Monate betrug. Auf halber Wegstrecke fiel Kindan auf, dass ihnen ein weiterer Schatten hinterher pirschte.
»Was ist das?« Er blieb stehen und deutete mit dem Finger in die Richtung.
»Was meinst du?«, fragte Zenor scheinheilig zurück. »Ich sehe nichts.«
Aber Zenor war ein verflixt schlechter Lügner, und das war einer der Gründe, weshalb Kindan ihn so gern mochte.
»Vielleicht liegt es am Licht der Monde, und es war eine optische Täuschung«, mutmaßte Zenor und zeigte auf die beiden Monde von Pern, Timor und Belior.
Kindan zuckte die Achseln und marschierte weiter. Aus dem Augenwinkel beobachtete er jedoch, dass der Schatten mit ihnen Schritt hielt. Er dachte einen Moment lang nach, dann erkundigte er sich:
»Mit wem hast du dich heute in der Kate des Harfners unterhalten?«
Jählings hielt Zenor im Laufen inne. Und mit einer gewissen Befriedigung bemerkte Kindan, dass auch der Schatten verharrte.
»Wann soll das gewesen sein?«, fragte Zenor und riss die Augen weit auf.
»Nachdem du Natalon Bericht erstattet hattest und zum Platz weitergehen wolltest«, erklärte Kindan. »Zufällig sah ich, wie du bei der Kate anhieltest und mit jemandem sprachst. Allerdings nicht mit dem Harfner, denn Jofri befand sich in der Gruppe von Männern, die um Natalon herumstanden.«
Zenor nahm sich viel Zeit mit der Antwort, und geduldig wartete Kindan ab.
»Ach ja«, platzte Zenor nach einer Weile heraus, wie wenn er sich tatsächlich erinnerte und nicht etwa krampfhaft nach einer Ausrede suchte. »Jetzt weiß ich es wieder. Ich sprach mit Dalor.«
Dalor war Natalons Sohn, ungefähr im selben Alter wie Zenor und Kindan. Kindan verabscheute Dalors angeberische Art, und wie er sich aufspielte, weil er der Sohn des Campleiters war, doch ansonsten hatte er nicht viel an ihm auszusetzen. Dalor war ehrlich, und er hatte sich schon häufig für Kindan eingesetzt, wenn Kaylek ihn wieder einmal piesackte. Kindan wiederum hielt eisern zu Dalor, sowie Cristov, Tariks einziger Sohn, einen Streit vom Zaun brach.
Kindan maß Zenor mit einem prüfenden Blick, doch ehe er die nächste Frage stellen konnte, wechselte Zenor das Thema. »Wird dein Dad nicht wütend sein, wenn er erfährt, dass ich dir geholfen habe, Dask zu baden?«
»Wir müssen halt aufpassen, dass er uns nicht erwischt«, konterte Kindan.
Zenor stapfte eiligen Schrittes los und winkte Kindan, auch er möge sich wieder in Bewegung setzen. »Dann sollten wir mit der Arbeit fertig sein, ehe meine Eltern anfangen sich zu sorgen, wo ich so lange bleibe.«
Kindan spielte mit dem Gedanken, Zenor wegen des Schattens, der sich hartnäckig an ihre Fersen heftete, aufzuziehen, doch nach einem Blick in das Gesicht seines Freundes besann er sich anders.
»Na schön«, entgegnete er lediglich und nahm den Hügel in Angriff, auf deren Kuppe Dasks Stall stand. Gleich daneben befand sich das Haus, das sein Vater gebaut hatte.
Dasks Behausung war recht geräumig, und der Wachwher konnte in dem Stall bequem liegen oder sich bewegen. Auf dem Boden lag eine dicke Schicht Stroh. Leise öffnete Kindan die beiden Türflügel und trällerte eine rasche Tonfolge.
»Dask?«, rief er alsdann mit weicher Stimme. »Ich bin's, Kindan. Dad hat mir aufgetragen, dich zu baden. Morgen findet eine Hochzeit statt, und da musst du sauber sein.«
Der Wachwher, der zusammengerollt im Stroh lag und geschlafen hatte, streckte und reckte sich. Der Kopf tauchte unter den kleinen Schwingen auf, und die glänzenden Augen, die zwei riesigen, mit Edelsteinen besetzten Laternen glichen, reflektierten den letzten Schimmer des Zwielichts, das von draußen hereinfiel.
»Mrmph?«, grummelte der Wachwher. Kindan begab sich zu ihm, wobei er sich schnell, aber doch vorsichtig bewegte, derweil er mit gedämpfter Stimme Worte murmelte. Behutsam fasste er nach dem hässlichen Kopf der Kreatur und kraulte den Knochenwulst über den Augen.
»Mrmph«, brummte Dask mit wachsendem Wohlbehagen. Kindan pustete ihm seinen Atem in die Nüstern, damit er ihn am Geruch erkennen konnte. Dask schnaubte und blies dann selbst Luft aus. Als Nächstes streichelte Kindan die Ohren des Tieres.
»Guter Junge!«, sprach er beruhigend auf ihn ein. Dask krümmte den Hals, zog seinen Kopf aus Kindans Händen und peilte überheblich auf den Knaben hinunter.
»Wir sind gekommen, um dich zu baden«, wiederholte Kindan. Dask beugte sich wieder zu ihm herab, hauchte ihm abermals seinen Atem ins Gesicht, dann hob er den Kopf und spähte in die Richtung der Tür, die von innen mit einem Vorhang verhängt war. Kindan begriff, dass Dask Zenor gesehen hatte. »Zenor hilft mir«, erklärte er. »Du kannst jetzt reinkommen, Zenor.«
»Im Stall ist es stockfinster«, meinte Zenor und rührte sich nicht vom Fleck.
»Natürlich«, bekräftigte Kindan. »Dask liebt die Dunkelheit, nicht wahr, mein Großer?«
Über Kindans Kopf hinweg stieß Dask zustimmend den Atem aus, dann drehte er den Kopf und fasste Zenor neugierig ins Auge.
»Die Sonne ist untergegangen«, erzählte Kindan dem Wachwher und deutete mit ausgestrecktem Arm auf den See. »Möchtest du nicht ein bisschen schwimmen, während Zenor und ich dir ein Bett aus frischem Stroh bereiten?«
Dask nickte und schickte sich an, den Stall zu verlassen. Mit ängstlich geweiteten Augen sprang Zenor zur Seite, als sich der Wachwher an ihm vorbei drängte. Dann stieß Dask einen glücklichen, zwitschernden Laut aus, schlug ein einziges Mal mit den Schwingen und verschwand. Ein kalter Luftstrom strich über Zenor hinweg.
»Kindan, er ist fort!«
»Er ist ins Dazwischen gegangen«, berichtigte Kindan. »Komm und hilf mir, ihm ein neues Lager aus Stroh aufzuschütten. Neben der Tür sind die Strohballen gestapelt.«
»Ins Dazwischen? So wie die Drachen, meinst du?« Zenor suchte mit Blicken den See ab, wo der Wachwher gleich auftauchen musste.
Kindan sah seinen Freund nachdenklich an und zuckte die Achseln. »Ich glaube schon, dass es dasselbe ist. Allerdings war ich noch nie dabei, wenn ein Drache ins Dazwischen eintrat. Es heißt, ihre Reiter sagen ihnen, wohin sie sich begeben sollen – aber Dask macht alles von sich aus. Die hellen Feuer auf dem Platz stören ihn, deshalb wählt er den schnellsten Weg, um an den See zu gelangen.«
Er gab sich einen Ruck. »Und nun beeil dich«, drängte er Zenor. »Hol das Stroh und geh mir zur Hand. Dask wird bald wieder hier sein, und dann fängt die richtige Arbeit erst an.«
Kindan wusste, wovon er sprach. Kaum hatten sie das frische Stroh gleichmäßig zu einer behaglichen Lagerstatt aufgeschichtet, da kündete ein weiterer eisiger Luftzug Dasks Rückkehr an. Die braune Haut des Tieres glänzte vor Feuchtigkeit, und große Wassertropfen perlten von dem wuchtigen Körper ab. Zufriedene Laute von sich gebend, schüttelte sich der Wachwher, Wasser in kleinen Fontänen verspritzend.
»Nein!«, schrie Kindan. »Du sollst dich doch nicht schütteln! Zuerst müssen wir dich von dem ganzen Dreck befreien.«
Kindan schnappte sich eine Bürste mit einem langen Stiel und ein Stück harter Seife. Zenor befahl er, sich einen Eimer mit Scheuersand zu holen. Gemeinsam schrubbten sie den Wachwher Zentimeter für Zentimeter ab, von der Schnauze bis zur Schwanzspitze. Beide Jungen waren verschwitzt und ihre Kleidung durchnässt, als der Wachwher endlich sauber gewaschen und getrocknet war.
»So, das hätten wir, Dask«, freute sich Kindan. »Jetzt bist du wieder blitzblank und wunderschön. Aber bis zu der Hochzeitsfeier morgen darfst du dich nicht im Schmutz wälzen.«
Selbst bei der spärlichen Beleuchtung konnte Kindan sehen, dass in Dasks Facettenaugen grüne und blaue Farbschlieren kreisten, ein Zeichen dafür, dass er sich wohlfühlte.
»Puh!« Erschöpft blies Zenor den Atem aus und sackte neben der Tür zu Boden. »Einen Wachwher zu baden ist Schwerstarbeit! Ich wüsste gern, wie es ist, einen Drachen zu pflegen.«
»Noch viel anstrengender«, erwiderte Kindan. Auf Zenors fragenden Blick hin erläuterte er: »Nun ja, Drachen sind ja viel größer, nicht wahr? Ihre Haut schält sich leicht und muss deshalb regelmäßig eingeölt werden.«
Kindan erhob sich aus seiner knienden Position, umarmte Dask und tätschelte seinen Hals. »Dask hat es da wesentlich einfacher. Er ist robust.«
»Und ich bin müde«, meuterte Zenor. »Stell dir vor, du hättest ihn ganz allein baden müssen.«
»Es wäre rascher gegangen, wenn dein Freund uns geholfen hätte«, erwiderte Kindan.
Zenor sprang auf die Füße. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Außer uns ist hier niemand.«
»Was ist los? Ist irgendwer bei dir, Kindan?«, brüllte jemand von draußen in den Stall. Es war Kaylek. »Wenn du einem Fremden erlaubt hast, Dask anzufassen, wird Dad dir das Fell über die Ohren ziehen!«
Zenor duckte sich in eine düstere Ecke, während Kaylek eintrat und sich argwöhnisch umschaute.
»Was faselst du da, Kaylek?« Kindan mimte den Beleidigten. »Siehst du nicht, dass ich ganz allein hier bin? Noch einen Moment, dann bin ich mit der Arbeit fertig.«
»Du hast nur halb so lange gebraucht, wie ich erwartet hatte«, nörgelte Kaylek und spähte in die schattigen Winkel des Stalls. Kindan, dessen Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah, dass Zenor die Arbeitsutensilien, die er gebraucht hatte, behutsam aus dem Blickfeld räumte.
»Ich bin halt fleißig«, gab Kindan zurück.
»Seit wann?«, versetzte Kaylek. »Ich bin mir sicher, dass jemand dir geholfen hat. Dad wird dir das Fell gerben – du weißt doch, wie sehr er sich aufregt, wenn fremde Leute seinen Wachwher erschrecken. In diesem Punkt versteht er keinen Spaß.« Kindan fragte sich, warum Kaylek niemals Dasks Namen aussprach.
»Wer immer dir zur Hand gegangen ist, muss noch ganz in der Nähe sein«, fuhr Kaylek misstrauisch fort, während seine Blicke in dem düsteren Stall hin und her huschten. »Ich finde ihn und dann ...«
Er brach ab, als draußen ein lautes Gepolter ertönte; es klang, als würde eine kleine Gesteinslawine losgetreten.
»Aha!«, kreischte Kaylek und sauste in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war.
Kindan wartete, bis Kayleks Schritte verhallten, ehe er wieder etwas sagte. »Ich denke, die Gefahr ist gebannt«, wandte er sich an Zenor. »Aber du solltest wohl lieber gehen.«
»Das halte ich auch für das Beste«, stimmte Zenor zu.
»Und bedanke dich bei deinem Freund für die Ablenkung. Hätte er nicht im entscheidenden Moment den Radau veranstaltet, hätte Kaylek dich bestimmt entdeckt.«
Zenor holte tief Luft, wie wenn er widersprechen wollte, doch dann stieß er lediglich einen Seufzer aus und trollte sich kopfschüttelnd. Kindan hörte, wie er in Richtung des Platzes davonrannte. Schließlich verneigte er sich vor Dask, verließ den Stall und schloss hinter sich sorgfältig die Tür.
Draußen blieb er erst einmal stehen. Forschend spähte er in die Richtung, aus der das Getöse gekommen war. Dort verlief der Pfad, der von der Zeche zum Camp führte. Eine geraume Zeit lang verharrte er am selben Fleck und versuchte, die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchdringen. Wäre er mit einem Wachwher verbunden gewesen, so wie sein Vater mit Dask, hätte er seinem kreatürlichen Partner auftragen können, herauszufinden, wer sich dort in der Finsternis versteckte. Zum Schluss gab Kindan seine Bemühungen auf und verlegte sich aufs Raten.
»Hab vielen Dank, Dalor«, rief er in die Dunkelheit hinein, um sich dann in das Haus seines Vaters zu begeben.
Kaum war er außer Hörweite, erklang ein leises Kichern.
Die Haut glänzt wie Bronze,
Die Augen sind grün;
Einen schöneren Drachen
Hab ich niemals gesehn.
»Aufwachen, du Schlafmütze!«, brüllte Sis Kindan an. Kindan verkroch sich tiefer unter die wärmenden Decken. Energisch riss ihm jemand das Kissen unter dem Kopf weg. Vor Schreck entfuhr Kindan ein lautes Stöhnen.
»Du hat Sis gehört! Wirst du wohl aufstehen?«, legte Kaylek ruppig nach und zerrte seinen jüngeren Bruder kurzerhand aus dem Bett.
»Ist ja gut, ist ja gut«, wehrte sich Kindan. »Wozu diese Eile?« Er wünschte sich, ihm wäre noch die Zeit geblieben, um sich an seinen Traum zu erinnern. Seine Mutter kam darin vor, dessen war er sich sicher.
Kindan erzählte es niemandem mehr, wenn er von seiner Mutter träumte. Dieser Fehler war ihm nur einmal unterlaufen. Er wusste, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war, und seine Geschwister ließen es ihn spüren. Sie taten so, als sei er Schuld an ihrem Tod. Aber Sis – und sein Vater, der normalerweise sehr wenig sprach – trösteten ihn und versicherten ihm immer wieder, dass er ganz gewiss nichts dafür könne. Sis beschrieb ihm, wie glücklich die Mutter gelächelt hatte, als sie ihn im Arm hielt. »Ein wunderschöner Junge«, hatte sie zu seinem Vater gesagt, ehe sie verschied.
»Deine Mutter hat dich gewollt«, sagte Danil einmal zu ihm, nachdem Kindan weinend nach Hause gelaufen kam, weil seine großen Brüder behaupteten, er sei ein unerwünschtes Kind gewesen. »Sie wusste um die Risiken einer weiteren Geburt, aber sie meinte, du seist es wert.«
»Ma bezeichnete dich als ein kostbares Geschenk«, erzählte Sis ihm ein anderes Mal. »Um dich zu bekommen, scheute sie nicht die Gefahr.«
An diesem Morgen fühlte sich Kindan indessen zu nichts nütze. Er zwängte sich in seine Kleidung, spritzte sich kaltes Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht und hastete an den Frühstückstisch.
»Kipp das Wasser aus und mach die Schüssel sauber«, knurrte Jakris, während er ihn beim Ohr packte und zu ihrem Zimmer zurückbugsierte. »Du hast sie als Letzter benutzt.«
»Das mach ich später!«, heulte Kindan.
Jakris verstellte ihm den Weg. »Nein, du tust es gleich – oder Sis verpasst dir eine Abreibung.«
Kindan furchte ärgerlich die Stirn und schnappte sich die Waschschüssel. Den Rücken Jakris zugekehrt, streckte er die Zunge heraus. Hätte sein Bruder es gesehen, wäre ihm eine Tracht Prügel sicher gewesen.
Da Kindan die Waschschüssel sauber scheuern musste, kam er zu spät zum Frühstück. Er suchte nach etwas Essbarem. Es gab noch Klah, doch das Getränk war bereits kalt. Ein Rest von Getreideflocken war übrig, aber dazu fehlte die Milch. Seine Brüder schickten sich an, das Haus zu verlassen, doch Sis holte sie gnadenlos zurück, damit Kindan nicht allein das Geschirr abspülen musste.
»Heute Abend wirst du ein sehr gutes Essen bekommen, Kindan«, munterte sie ihn auf, als er traurig die Getreideflocken löffelte. Dabei strahlten ihre Augen in einem ungewöhnlichen Glanz.
Im ersten Moment war Kindan verwirrt, doch dann fiel es ihm wieder ein – es gab eine Hochzeit. Sis, seine große Schwester, heiratete.
»Und nun lauf, für dich gibt es eine Menge zu tun«, scheuchte sie ihn liebevoll nach draußen, als er aufgegessen hatte.
Vor der Tür blieb Kindan unschlüssig stehen. Normalerweise teilte Sis ihm seine Arbeit zu, doch dieses Mal hatte sie ihm nichts aufgetragen. Er wollte schon wieder ins Haus gehen, doch sie rauschte an ihm vorbei nach draußen, offenbar hatte sie es selbst sehr eilig.
»Geh und frag Jenella, was du tun sollst«, rief sie ihm in reizbarer Stimmung zu, noch ehe er den Mund aufklappen konnte.
Jenella war Natalons Gemahlin. Da sie hochschwanger war, hatte Sis ihr oft im Haushalt geholfen. Kindan fürchtete das aufbrausende Temperament seiner Schwester, deshalb machte er sich sofort auf den Weg. Er rannte los, und in seinem Übereifer merkte er erst, dass er viel zu weit gelaufen war, als er den Eingang zum Bergwerk erreichte. Doch anstatt unverzüglich umzukehren, hielt er erst einmal inne und fasste den Einstiegsschacht neugierig ins Auge.
Den jugendlichen Hilfskräften im Camp oblag es, jeden Morgen die Glühkörbe im Pütt{6} auszuwechseln. An diesem Tag war die Zeche wegen der Hochzeit geschlossen, lediglich die Pumpen mussten bedient werden, deshalb fragte sich Kindan, ob man heute darauf verzichtete, das Geleucht{7} zu erneuern. Obwohl an diesem Tag niemand in die Grube einfahren würde, fand Kindan, es sei sinnvoll, die Körbe auszutauschen, damit die Kumpel anderentags nicht in den stockfinsteren Stollen hinein mussten.
Aus dem Stollen drangen Stimmen nach draußen. Einzelne Worte konnte Kindan nicht verstehen, aber er hörte, dass sich ein Mann und ein Mädchen miteinander unterhielten.
»Hallo! Wer da!«, rief er in die Grube hinein. Er dachte, es könnte sich um Mitglieder der Handelskarawane handeln, die sich das Bergwerk ansehen wollten.
Das Gespräch verstummte. Eine Hand an ein Ohr gelegt, lauschte Kindan angestrengt auf jedes Geräusch. Spätnachts, wenn die Kochfeuer im Camp bis auf die Glut heruntergebrannt waren und der eisige Wind von den Bergen ungehindert über den freien Platz fegte, erzählten sich die älteren Jungen alle möglichen Gruselgeschichten, die davon handelten, dass es in den Schächten und Stollen der Mine spukte. Kindan glaubte zwar nicht, dass er soeben die Stimmen von Gespenstern vernommen hatte, doch er war keineswegs erpicht darauf, sich ganz allein in den dunklen Pütt hinein zu wagen.
»Hallo? Ist da jemand?«, rief er abermals nach kurzem Zögern. Ihm war nicht daran gelegen, irgendwelche Berggeister – sollten sich derlei Wesen in der Grube herumtreiben – auf sich aufmerksam zu machen.
Keine Antwort. Plötzlich vernahm Kindan das gemächliche Poltern von Stiefeln, die sich dem Grubenausgang näherten. Vorsichtshalber zog er sich ein Stück zurück. Im düsteren Viereck des Eingangs erschien ein noch dunklerer Schatten, der rasch menschliche Gestalt annahm.
Es war ein alter Mann mit silbergrauem Haar, den Kindan noch nie zuvor gesehen hatte. Er war mager, regelrecht ausgezehrt, und die Augen blickten stumpf, als hätten sie zuviel Traurigkeit gesehen. Der Mann wirkte, als sei jede Lebensfreude aus ihm gewichen. Kindan trat noch einen Schritt zurück und rüstete sich zum Weglaufen. Was war aus dem Mädchen geworden, mit dem sich der Kerl unterhalten hatte? Die Stimme hatte sehr jung geklungen, wie die eines Kindes. Hatte diese Erscheinung es gefressen?
»Heh, du da!«, rief der Mann in Kindans Richtung.
Sowie Kindan den melodischen Bass vernahm, wusste er, dass er kein Gespenst vor sich hatte. Der Mann sprach eindeutig mit dem Akzent von Burg Fort, und der kultivierte Tonfall zeugte von einer Ausbildung in der Harfnerhalle.
»Was ist, Meister?«, antwortete Kindan. Da er keine Ahnung hatte, welchen Status der Mann bekleidete, hielt er es für das Beste, auf Nummer Sicher zu gehen und ihm den gebührenden Respekt zu zollen. War er vielleicht der Harfner, den der Meisterharfner von Crom geschickt hatte, um Jofri zu instruieren? Oder reiste er mit der Handelskarawane mit?
»Was treibst du hier?«, schnauzte der alte Mann.
»Ich wollte nachsehen, ob die Glühkörbe ausgewechselt werden müssen«, erwiderte Kindan.
Der Alte zog die Stirn kraus. Er drehte den Kopf, als wolle er über die Schulter spähen, doch dann schien er sich anders zu besinnen und wandte sein volles Augenmerk wieder Kindan zu. »Man sagte mir, heute würde in der Grube nicht gearbeitet.«
»Das stimmt, wir feiern nämlich eine Hochzeit«, klärte Kindan ihn auf. »Aber ich dachte mir, Natalon könnte trotzdem Wert darauf legen, dass frische Leuchtkörbe in der Mine hängen.«
»Nun, die alten sind tatsächlich beinahe verbraucht«, erwiderte der Mann. Er zuckte leicht zusammen, als hinter ihm ein Stein zu Boden fiel. »Ohne ausreichende Beleuchtung ist es sehr gefährlich da drunten. Aber ich glaube – Moment mal! – bist du nicht Kindan?«
»Ja, Herr, der bin ich«, entgegnete Kindan und wunderte sich, woher der Fremde seinen Namen kannte. Er wusste doch nicht etwa Bescheid über ... Kindan fielen sämtliche Missetaten ein, die er in letzter Zeit begangen hatte, bis der Mann ihn aus seinen Gedanken riss.
»In fünfzehn Minuten hast du dich im Quartier des Harfners einzufinden, junger Mann«, beschied ihn der Alte. Und als Kindan in Richtung auf Jofris Kate losstürmen wollte, fügte er hinzu: »Du sollst nämlich singen, spare also deinen Atem.«
»Ganz bestimmt!«, rief Kindan und flitzte trotz der Ermahnung den Hang hinunter, so schnell ihn seine Beine trugen.
Sowie Kindan außer Hörweite war, drehte sich der Mann zum Grubeneingang um. »Du kannst jetzt herauskommen, er ist weg.«
Leichtfüßig näherte sich jemand dem Tor, ohne indes ins Freie zu treten.
»Ich kenne eine Abkürzung.«
»Durch den Berg?«, fragte er.
»Natürlich.« Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Das Mädchen spürte das Zögern des Mannes und setzte hinzu: »Ich habe diesen Weg schon oft benutzt. Komm mit, ich zeige ihn dir.«
Der Alte lächelte und begab sich in den Stollen zurück. »Nun ja, wenn du mich führst, bin ich mit der Abkürzung einverstanden«, meinte er und deutete vor der schmalen Gestalt, die im Dunkeln stand, eine Verbeugung an. »Ich vermute, auf diese Weise gelangen wir vor dem jungen Burschen an unser Ziel.«
Als Antwort darauf erhielt er ein schelmisches Kichern.
Trotz der Ermahnung des Alten traf Kindan völlig außer Atem vor der Kate des Harfners ein. Zenor erwartete ihn bereits.
»Du kommst gerade noch rechtzeitig, Kindan«, begrüßte Zenor ihn. »In ein paar Minuten ...« Er brach ab und blickte ihn nachdenklich an.
»Was ist los?«
»Der Meister möchte uns singen hören«, erklärte Zenor. »Er hat Kaylek gesagt, dass er auf der Hochzeit nicht singen darf.«
Kindans Miene erhellte sich, als er sich Kayleks Reaktion vorstellte. Nicht, dass er überrascht gewesen wäre – Kaylek besaß einfach keine schöne Stimme, und er konnte keinen Ton halten. Seinen Freunden gegenüber behauptete er steif und fest, er mache sich nichts aus Singen, aber bevor er in den Stimmbruch kam, hätte er eine wunderbare Stimme gehabt. Doch von seinen anderen Brüdern und Sis wusste Kindan, dass er in beiden Fällen flunkerte. Kaylek sang für sein Leben gern, war aber durch und durch unmusikalisch.
Silstra hatte sich viele Gedanken darüber gemacht, wie sie alle ihre Brüder in ihre Hochzeit einbeziehen konnte. Und wenn sie vorgeschlagen hatte, Kaylek singen zu lassen, war das ein Beweis dafür, dass ihr die Ideen ausgegangen waren und sie vor lauer Nervosität nach einem Strohhalm griff.
Zenor stieß Kindan den Ellenbogen in die Rippen. »Hast du nicht kapiert? Wenn Kaylek nicht als Sänger auftreten darf, wer soll dann all seine Lieder bei der Hochzeit singen?«
Kindan sperrte Mund und Augen auf, als ihm dämmerte, was auf ihn zukam.
In diesem Moment wurde von drinnen die Tür geöffnet.
»Hereinspaziert, aber ein bisschen dalli. Ich mag es nicht, wenn man trödelt«, grollte eine Bassstimme. Es war nicht der Harfnergeselle Jofri, der die Jungen zum Eintreten aufforderte. Kindan erkannte die Stimme auf Anhieb, sie gehörte dem alten Mann, dem er vor dem Grubeneingang begegnet war.
Empört stürmte er in die Hütte.
»Was hast du hier zu suchen? Es war schon schlimm genug, dass du in die Grube hineingegangen bist, ohne dir die Erlaubnis von Obersteiger Natalon zu holen. Und jetzt bist du auch noch in das Haus des Harfners eingedrungen – das ist doch die Höhe!« Kindan klappte den Mund wieder zu und blickte erschrocken drein. Sein Gesicht brannte vor Scham, und er spürte, wie er bis unter die Haarwurzeln errötete. Oh nein!, stöhnte Kindan in Gedanken. Er ist der neue Harfner! Unser neuer Harfner! Ihm wurde ganz mulmig zumute, als er darüber nachdachte, welchen Schnitzer er begangen hatte.
Der alte Mann reagierte auf seinen Ausbruch äußerst unwirsch.
»Was fällt dir ein, du grüner Bengel?«, dröhnte seine Stimme. Nicht nur der Tonfall, sondern auch die Lautstärke verrieten seinen Unmut.
»Ich bitte um Entschuldigung«, stammelte Kindan, derweil er vor Verlegenheit mit der Stiefelspitze über den Boden scharrte, als wolle er sich ein Loch graben und darin versinken, um dem Zorn des Harfners zu entgehen. »Ich wusste nicht, dass du der neue Harfner bist.«
»Aber du hättest es dir denken können, wenn du dir nur ein wenig Zeit zum Überlegen genommen hättest, nicht wahr?«, donnerte der Alte gereizt.
Kindan senkte den Kopf. »Natürlich, Sir.« Kindan war es gewohnt, ausgeschimpft zu werden. In seinem jungen Leben hatte er bereits genug Rüffel eingesteckt.
»Denken scheint wohl nicht deine starke Seite zu sein«, stichelte der Harfner.
»Nein, Sir«, pflichtete Kindan ihm bei, das Kinn an die Brust gepresst, den Blick starr auf den Fußboden geheftet.
Der neue Harfner fasste Kindan lauernd ins Auge. »Du bist doch nicht etwa mit diesem Tölpel verwandt, den ich heute früh weggeschickt habe, oder?«
Kindan hob trotzig den Blick und ballte die Fäuste. Sicher, er hatte falsch und übereilt gehandelt, als er den Fremden so barsch anfuhr, doch nur ein Mitglied der Familie hatte ein Recht, Kaylek einen Tölpel zu nennen.
»Hmm«, brummte der Mann. »Du sagst zwar nichts, aber deine Körperhaltung verrät mir, dass du fest zu deiner Sippe hältst.«
Er erhob sich von seinem Stuhl und trat auf Kindan zu. Dann fasste er unter sein Kinn und hob seinen Kopf, bis sie einander in die Augen sahen. Kindan behielt seine wütende Miene bei, und kein Wort der Entschuldigung kam über seine Lippen. Obwohl sich ihre Blicke eine geraume Zeit lang kreuzten, senkte er nicht die Lider und hielt der Musterung durch den Harfner stand.
Endlich rückte der Alte von Kindan ab. »Du bist ein eigensinniges, stures Bürschchen. Aber ich bin schon mit ganz anderen Lümmeln fertig geworden.«
Kindan blähte in stummem Zorn die Nüstern.
Der Harfner ignorierte dies und wandte sich Zenor zu. »Du kannst auch hereinkommen, Junge. Keine Angst, ich beiße nicht.«
Zenor sah aus, als wüsste er nicht, was er von dem ganzen Vorfall halten sollte. Unschlüssig verharrte er auf der Schwelle und warf Kindan einen um Hilfe heischenden Blick zu. Als er von seinem Freund keinen Wink erhielt, wie er sich verhalten sollte, blieb er stocksteif stehen wie ein kleines Tier, das von einem Wherry hypnotisiert wird. Schließlich räusperte sich der Harfner ungeduldig, und Zenor sprang ins Zimmer, als hätte ihn jemand mit einem spitzen Stock gestochen.
»Harfner Jofri hat mir erzählt, ihr zwei hättet gute Singstimmen«, eröffnete ihnen der Alte, während sein Blick zwischen den beiden Knaben hin und her huschte. »Aber Jofri ist ein Harfnergeselle, der sich auf Balladen und auf Trommeln spezialisiert hat.