Drachensinger - Anne McCaffrey - E-Book

Drachensinger E-Book

Anne McCaffrey

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Beschreibung

Drachenmusik

Auf dem Planeten Pern steht die Musik in hohem Ansehen. Die gebirgige Welt ist nur dünn besiedelt, und die Sänger und Musiker, die die schwere Prüfung der Gildenhalle bestehen, sind gern gesehene Gäste in den weit verstreuten Burgen. Menolly, die Tochter des Burgherren Yanus, hat ein höchst bemerkenswertes musikalisches Talent. Doch auf Pern ist Musik ausschließlich Männersache, und ihr Vater, der um seinen Ruf fürchtet, verbietet ihr das Musizieren. Doch Menollys außergewöhnliche Begabung ist längst entdeckt worden. Eines Tages wird sie von den Drachenreitern abgeholt, die sie zur Gildenhalle bringen, wo sie ihre Ausbildung erhalten soll. Auch hier stößt sie bei manchem Lehrer auf Widerstand, doch Robinton, der Meisterharfner von Pern, nimmt sich ihrer persönlich an, weil er davon überzeugt ist, das größte Musiktalent vor sich zu haben, das der Planet je hervorgebracht hat …

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ANNE McCAFFREY

 

 

DRACHENSINGER

Die Drachenreiter von Pern

Band 4

 

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Auf dem Planeten Pern steht die Musik in hohem Ansehen. Die gebirgige Welt ist nur dünn besiedelt, und die Sänger und Musiker, die die schwere Prüfung der Gildenhalle bestehen, sind gern gesehene Gäste in den weit verstreuten Burgen. Menolly, die Tochter des Burgherren Yanus, hat ein höchst bemerkenswertes musikalisches Talent. Doch auf Pern ist Musik ausschließlich Männersache, und ihr Vater, der um seinen Ruf fürchtet, verbietet ihr das Musizieren. Doch Menollys außergewöhnliche Begabung ist längst entdeckt worden. Eines Tages wird sie von den Drachenreitern abgeholt, die sie zur Gildenhalle bringen, wo sie ihre Ausbildung erhalten soll. Auch hier stößt sie bei manchem Lehrer auf Widerstand, doch Robinton, der Meisterharfner von Pern, nimmt sich ihrer persönlich an, weil er davon überzeugt ist, das größte Musiktalent vor sich zu haben, das der Planet je hervorgebracht hat …

  

 

Die Autorin

Anne McCaffrey wurde am 1. April 1926 in Cambridge, Massachusetts, geboren, und schloss 1947 ihr Slawistik-Studium am Radcliffe College ab. Danach studierte sie Gesang und Opernregie. In den Fünfzigerjahren veröffentlichte sie ihre ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, ab 1956 widmete sie sich hauptberuflich dem Schreiben. 1967 erschien die erste Story über die Drachenreiter von Pern, »Weyr Search«, und gewann den Hugo Award im darauffolgenden Jahr. Für ihre zweite Drachenreiter-Story »Dragonrider« wurde sie 1969 mit dem Nebula Award ausgezeichnet. Anne McCaffrey war die erste Frau, die diese beiden Preise gewann, und kombinierte die beiden Geschichten später zu ihrem ersten Drachenreiter-Roman »Die Welt der Drachen«. 1970 wanderte sie nach Irland aus, wo sie Rennpferde züchtete. Bis zu ihrem Tod am 21. November 2011 im Alter von 85 Jahren setzte sie ihre große Drachenreiter-Saga fort, zuletzt zusammen mit ihrem Sohn Todd.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

DRAGONSINGER

 

Aus dem Amerikanischen von Birgit Reß-Bohusch

 

 

 

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1977 by Anne McCaffrey

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Karte: Andreas Hancock

Satz: Thomas Menne

 

ISBN 978-3-641-21009-0V002

Personen

 

In der Harfner-Gilde:

Robinton, Meisterharfner – Bronze-Echse Zair

 

Meister:

Jerint, Instrumentenbauer

Domick, Komposition

Morshal, Musiktheorie

Shonagar, Stimmausbildung

Arnor, Archivar

Oldive, Heiler

 

Gesellen:

Sebell – Gold-Echse Kimi

Brudegan

Talmor

Dermently

 

Lehrlinge:

Piemur

Ranly

Timiny

Brolly

Bonz

Menolly – neun Feuerechsen:

Gold-Echse Prinzessin

Bronze-Echsen Rocky und Taucher

Braune Echsen Faulpelz, Spiegel und Brownie

Blaue Echse Onkelchen

Grüne Echsen Tantchen Eins und Tantchen Zwei

 

Gastschülerinnen:

Amania

Audiva

Pona

Briala

 

Silvina, Wirtschafterin

Abuna, Köchin

Camo, schwachsinniger Küchenhelfer

Dunca, Verwalterin des Mädchenhauses

 

Auf der Burg Fort:

Baron Groghe – Gold-Echse Merga

Benis, Sohn von Groghe

Viderian, Pflegesohn

Ligand, Gerber-Geselle

Palim, Bäcker

T'ledon, Drachenreiter

 

Auf der Burg in der Halbkreis-Bucht:

Yanus, See-Baron

Mavi, seine Frau

Alemi, Sohn von Yanus

Petiron, alter Harfner

Elgion, neuer Harfner

 

Im Benden-Weyr:

F'lar, Weyrführer

Lessa, Weyrherrin

T'gellan, Bronzereiter

F'nor, Brauner Reiter – Gold-Echse Grall

Brekke, Königinreiterin – Bronze-Echse Berd

Manora, Gesinde-Aufseherin

Felena, ihre Stellvertreterin

Mirrim, Pflegetochter von Brekke – drei Feuerechsen

1

 

Die Königin klein und golden

Droht schrill der weiten See.

Tod bringt die Flut

Der jungen Brut.

Sie schreit hinaus ihr Weh.

 

Ein junger Fischer kam des Wegs,

Als sie die Wogen schalt.

Nach Muscheln sucht

Er in der Bucht,

Doch plötzlich macht er halt.

 

Er konnte es nicht glauben,

Was seine Augen sah'n:

War's Fantasie?

Geschöpfe wie sie

Galten als Spuk und Wahn.

 

Das Weh der kleinen Echse

Trieb rasch zum Handeln ihn.

Am Klippenrand

Eine Höhle er fand,

Und brachte die Eier hin.

 

Die Königin klein und golden

Auf seine Schulter flog.

Ein strahlender Blick

Verriet ihr Glück,

Eh dankbar von dannen sie zog.

 

Als Menolly, die Tochter des See-Barons Yanus, in der Gildehalle Einzug hielt, kam sie stilgerecht per Drachenschwingen. Sie saß auf Monarths Rücken zwischen dem Bronzereiter T'gellan und Robinton, dem Meisterharfner von Pern. Wenn man bedachte, dass man ihr eingehämmert hatte, Mädchen könnten nie und nimmer den Harfnerberuf erlernen; wenn man bedachte, dass sie von daheim fortgelaufen war und in der Wildnis gelebt hatte, weil sie ein Leben ohne Musik nicht ertrug – dann war ihre Ankunft hier ein gewaltiger Triumph.

Und doch hatte sie Angst vor dem, was sie erwartete. Sicher, die Musik würde ihr in der Harfner-Gilde keiner verwehren. Und sie hatte auch einige Balladen geschrieben, die dem Meisterharfner zu Ohren gekommen waren und ihm gefielen. Aber das betrachtete sie als Spielerei, als nutzloses Zeug. Was konnte schon ein Mädchen, selbst wenn es den Kindern auf der Burg Unterricht in den alten Lehrgesängen erteilt hatte, hier in der Gildehalle, dem Ursprung aller Balladen, arbeiten? Besonders ein Mädchen, das unbeabsichtigt neun Feuerechsen an sich gebunden hatte – wo jeder auf Pern seinen linken Arm dafür geben würde, nur eine einzige zu besitzen! Was hatte Meister Robinton mit ihr im Sinn?

Sie konnte nicht mehr denken, sie war zu müde. Sie hatte einen langen, aufregenden Tag im Benden-Weyr hinter sich, auf der anderen Seite des Kontinents, wo jetzt tiefe Nacht herrschte. Hier in Fort dagegen setzte erst die Abenddämmerung ein.

»Noch ein paar Minuten«, flüsterte ihr Robinton zu. Sie hörte ihn lachen, weil genau in diesem Moment Monarth hell lostrompetete, um den Wachdrachen der Burg zu begrüßen. »Halt durch, Menolly! Ich weiß, du musst völlig am Ende sein. Sobald wir landen, hole ich Silvina; die wird dich pflegen. Schau ...!« Er deutete auf ein erleuchtetes Gebäudeviereck am Fuße der Burgklippe. »Das ist die Harfnerhalle.«

Ein Zittern durchlief sie, weil sie müde war, weil sie von dem Ritt durchs Dazwischen fror – und weil sie Angst hatte. Monarth kreiste jetzt über den Dächern, und Gestalten strömten aus den Toren in den Hof. Sie winkten begeistert nach oben. Irgendwie hatte Menolly nicht erwartet, so viele Leute in der Gildehalle anzutreffen.

Sie hielten einen Respektabstand ein, als der große Bronzedrache mit seinen weiten Schwingen landete.

»Ich habe zwei Feuerechsen-Eier!«, rief Meister Robinton. Die Tongefäße mit dem kostbaren Inhalt fest an die Brust gedrückt, glitt er von Monarths Schulter in die Tiefe. Man merkte seinen Bewegungen an, dass er Drachenritte gewohnt war. »Zwei Feuerechsen-Eier!«, wiederholte er strahlend und eilte mit raschen Schritten davon, um seinen neuen Besitz herumzuzeigen.

»Meine Echsen!« Besorgt schaute Menolly sich um. »Sind sie uns gefolgt, T'gellan? Oder haben sie sich im Dazwischen verirrt?«

»Bestimmt nicht, Menolly!«, erwiderte T'gellan und deutete auf das Schieferdach im Hintergrund. »Aber Monarth hat ihnen auf meinen Rat hin befohlen, sich erst mal dort niederzulassen.«

Mit einem Seufzer der Erleichterung betrachtete Menolly die vertrauten Silhouetten ihrer Feuerechsen, die sich gegen das Dämmerlicht vom Dachfirst abhoben.

»Wenn sie sich nur nicht so aufführen wie in Benden ...«

»Das glaube ich kaum«, beruhigte T'gellan sie leichthin. »Du hast sie gut im Griff – besser als F'nor seine kleine Königin. Dabei ist F'nor ein ausgebildeter Drachenreiter.« Er schwang sein rechtes Bein über Monarths Nackenwulst und ließ sich zu Boden gleiten. Dann streckte er beide Arme aus. »Mach das nach! Ich fang dich auf, damit deine wunden Sohlen keinen Stoß abbekommen.« Und geschickt hielt er sie, als sie von Monarths Rücken rutschte. »So ist es gut – und damit wären wir wohlbehalten in der Harfnerhalle angelangt.« Er machte eine weitausholende Geste, als sei die Ankunft einzig und allein sein Werk.

Menolly warf einen Blick über den Hof, wo die hochgewachsene Gestalt des Meisterharfners alle anderen überragte. Befand sich Silvina unter seinen Zuhörern? Menolly hoffte nur, dass Robinton sie bald abholte. T'gellans Beteuerungen, dass ihre Echsen brav sein würden, traute sie nicht so recht. Die Tiere hatten sich eben erst an den Benden-Weyr und seine Bewohner gewöhnt – und die besaßen einige Erfahrung mit geflügelten Hausgenossen.

»Nun sorg dich doch nicht, Menolly!«, meinte T'gellan und fasste sie ungeschickt an der Schulter. »Denk lieber daran, dass jeder Harfner von Pern verzweifelt nach Petirons verschwundenem Schützling gesucht hat ...«

»Weil sie glaubten, ich sei ein Junge!«

»Meister Robinton fand den Unterschied unwichtig, sonst hätte er dich kaum gebeten, mit hierherzukommen. Die Zeiten ändern sich, Menolly, und auch die anderen werden nichts dabei finden, dass du ein Mädchen bist – ganz sicher nicht! Pass nur auf, in einer Siebenspanne wirst du vergessen haben, dass du je anderswo warst.« Der Bronzereiter lachte leise. »Beim Großen Ei, Mädchen, du hast in der Wildnis gelebt, du hast einen Wettlauf mit den Fäden gewagt und neun Feuerechsen für dich gewonnen! Und da fürchtest du dich vor den Harfnern?«

»Wo steckt denn Silvina?« Die Stimme des Meisterharfners übertönte den Lärm der anderen. Einen Moment lang herrschte Schweigen, und jemand lief los, um die Frau zu suchen. »Und jetzt bitte keine Fragen mehr! Ihr wisst das Wichtigste – Einzelheiten erzähle ich euch später. Lass mir diese Tongefäße nicht fallen, Sebell! Aber eine gute Nachricht habe ich noch für euch: Petirons verschwundener Schützling ist gefunden!«

Robinton achtete nicht auf die erstaunten Ausrufe, sondern löste sich von der Menge und winkte T'gellan, Menolly zu ihm zu bringen. Eine Sekunde lang kämpfte das Mädchen gegen den Wunsch an, kehrtzumachen und davonzulaufen, so unmöglich das auch mit ihren zerfetzten Sohlen war. T'gellan legte ihr fest den Arm um die Schulter, als spürte er ihre Unsicherheit.

»Du hast von den Harfnern nichts zu befürchten«, wiederholte er leise, als er sie über den Hof führte.

Robinton kam ihnen auf halbem Wege entgegen. Er strahlte vor Freude, als er ihre rechte Hand nahm. Dann befahl er mit einem Wink Stille.

»Das hier ist Menolly, die Tochter des See-Barons Yanus aus der Burg in der Halbkreis-Bucht – und Petirons Schützling!«

Wie immer die Harfner diese Eröffnung aufnahmen, man verstand kein Wort, denn mit einemmal vollführten die Feuerechsen auf dem Dachfirst einen Höllenspektakel. Ergriffen von der Furcht, der ganze Schwarm könne sich auf die Harfner stürzen, wirbelte Menolly herum – und wirklich, sie spreizten bereits angriffslustig die Schwingen. Streng befahl ihnen das Mädchen, auf dem Dach sitzenzubleiben. Dann aber blieb ihr keine Ausflucht mehr; sie musste sich dem Meer von Gesichtern zuwenden, die einen lächelnd, die anderen verblüfft über ihre Feuerechsen – aber insgesamt einfach viel zu viele.

»Ja, und diese Feuerechsen gehören Menolly«, fuhr Robinton fort. Sein mächtiger Bass übertönte mit Leichtigkeit das Gemurmel der Menge. »Genauso wie die schöne Ballade von der Echsenkönigin Menollys Werk ist. Nur dass es kein Fischer war, der die Eier vor dem Hochwasser rettete, sondern sie selbst. Und als man ihr nach dem Tod des alten Petiron daheim in der Halbkreis-Bucht das Singen und Musizieren verbot, lief sie fort und fand Unterschlupf in der Höhle der Echsenkönigin; dort erlebte sie mit, wie die Jungtiere schlüpften, und gewann neun von ihnen für sich, ohne zu wissen, was sie tat.« Applaus brandete auf, und Robinton musste schreien, um sich verständlich zu machen. »Außerdem hat sie ein zweites Gelege am Strand gefunden, und ich – ich bekam zwei von den Eiern!«

Der Jubel, der jetzt erklang, hallte von den Mauern wider; die Echsen fielen mit schrillem Geschrei ein. »Na, was habe ich gesagt!«, flüsterte T'gellan dem Mädchen zu.

»Wo steckt denn Silvina?«, fragte der Harfner von neuem, diesmal mit einem ungeduldigen Unterton.

»Hier – und du solltest dich schämen, Robinton!«, entgegnete eine Frau, die sich durch die dichtgedrängte Menschentraube schob. Menolly erblickte flüchtig ein sehr hellhäutiges Gesicht mit großen, ausdrucksvollen Augen und hohen Wangenknochen, eingerahmt von dunklem Haar. Dann zogen kräftige, aber sanfte Hände sie von Robinton fort. »Wie kann man ein Kind solchen Strapazen aussetzen! Schsch – Ruhe jetzt! Ihr bringt mit eurem Geschrei die armen kleinen Geschöpfe da droben halb um den Verstand. Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, Robinton? Los – verschwindet jetzt alle! Meinetwegen könnt ihr die ganze Nacht im Saal durchfeiern, wenn ihr die Energie dazu aufbringt, aber die Kleine schaffe ich jetzt erst mal ins Bett. T'gellan, wenn du mir helfen könntest ...«

Gutmütig machten die Leute ihr eine Gasse frei.

»Es ist heute schon zu spät, sie in Duncas Pension bei den anderen Mädchen unterzubringen«, sagte Silvina zu T'gellan. »Wir legen sie einfach in eines der Gästezimmer.«

Menolly, die im Halbdunkel des Korridors kaum etwas erkennen konnte, stieß mit den Zehen gegen eine Fliesenkante und schrie unwillkürlich auf.

»Was ist denn, Kind?«, fragte Silvina besorgt.

»Meine Füße ...« Menolly würgte die Tränen zurück. Silvina sollte sie nicht für weichlich halten.

»Moment, ich trage sie«, sagte T'gellan, und ehe Menolly widersprechen konnte, hatte er sie hochgehoben. »Geh voraus, Silvina!«

»Dieser verflixte Robinton!«, schimpfte Silvina. »Er macht freilich Tag und Nacht ohne eine Spur von Müdigkeit durch, aber er vergisst, dass andere ...«

»Aber nein, ich stehe tief in seiner Schuld«, verteidigte ihn Menolly. »Er hat so viel für mich getan.«

»Pah, im Gegenteil, er steht in deiner Schuld, Menolly«, meinte der Drachenreiter mit einem rätselhaften Lachen. »Du wirst den Heiler holen müssen, Silvina, damit er sich um ihre Füße kümmert«, fuhr er fort, während er das Mädchen die breite Treppe nach oben trug. »Wir haben sie so gefunden. Sie lief vor den Sporen davon.«

»Was?« Silvina drehte sich um und starrte Menolly mit weit aufgerissenen Augen an.

»Beinahe hätte sie es auch geschafft. Lief sich natürlich die Sohlen wund. Ein Reiter aus meinem Geschwader entdeckte sie und brachte sie zum Benden-Weyr.«

»In dieses Zimmer, T'gellan. Das Bett steht links. Ich mache gleich Licht.«

»Keine Angst, ich sehe gut genug.« T'gellan legte Menolly vorsichtig auf das Bett. »Ich öffne erst mal die Läden, Silvina, damit ihre Echsen herein können. Die Biester halten bestimmt nicht mehr lange still.«

Menolly hatte sich auf den weichen, duftenden Strohsack sinken lassen. Nun löste sie den Riemen, mit dem sie das winzige Bündel ihrer Habseligkeiten festgeschnallt hatte, aber sie fand nicht mehr die Kraft, nach der Felldecke zu greifen, die zusammengerollt am Fußende des Bettes lag. Sobald T'gellan die Läden aufgestoßen hatte, rief sie ihre Freunde.

»Ich habe schon viel von diesen Feuerechsen gehört«, plauderte Silvina. »Aber bisher bekam ich nur kurz die kleine Königin von Baron Groghe zu Gesicht ... beim Ei, was ist denn das?«

Silvinas erschreckter Aufschrei ließ Menolly hochfahren. Sie sah, dass ihre Echsen die Wirtschafterin in engen Kreisen umflogen.

»Wie viele von den Biestern hast du denn, Menolly?«

»Nur neun«, lachte T'gellan, belustigt über Silvinas Verwirrung. Sie reckte den Hals und bemühte sich, die eine oder andere der kreisenden Echsen genauer zu betrachten.

Menolly befahl ihnen, auf der Stelle das wilde Geflatter zu lassen. Rocky und Taucher landeten auf dem Tisch nahe der Wand, während Prinzessin, wie immer die Mutigste, sich auf Menollys Schulter setzte. Die anderen kauerten sich auf die Fenstersimse. Ihre schillernden Augen sprühten orangerote Funken; das verriet ihre Angst und ihr Misstrauen.

»Also, das sind die schönsten Geschöpfe, die ich je gesehen habe«, meinte Silvina und musterte aufmerksam die beiden Bronze-Echsen auf dem Tisch. Rocky begann zu zetern, als er merkte, dass die Rede von ihm war. Er faltete die Schwingen eng an den Körper, hielt den Kopf schräg und starrte Silvina an. »Guten Abend, mein kleiner Bronze-Freund!«

»Der freche Kerl heißt Rocky«, erklärte T'gellan, »und die zweite Bronze-Echse ist Taucher, stimmt's, Menolly?« Sie nickte, froh darüber, dass der Drachenreiter ihr das Reden abnahm. »Die Grünen werden Tantchen Eins und Zwei genannt ...« Die beiden begannen zu keifen wie alte Weiber, und Silvina lachte hellauf. »Der Blaue ist Onkelchen, aber die Braunen kenne ich immer noch nicht auseinander ...«

Er schaute Menolly fragend an.

»Faulpelz, Spiegel und Brownie«, stellte Menolly die drei Echsen der Reihe nach vor. »Und das hier ist meine Prinzessin, Silvina.« Sie sprach den Namen der Wirtschafterin scheu aus, weil sie ihren Rang in der Harfner-Gilde nicht genau kannte.

»Der Name passt zu ihr. Wie eine kleine Drachenkönigin sieht sie aus. Und scheint genauso stolz zu sein.« Dann warf Silvina Menolly einen hoffnungsvollen Blick zu. »Wäre es möglich, dass aus einem der Eier, die Robinton mitgebracht hat, eine kleine Gold-Echse schlüpft?«

»Ich würde es mir so sehr wünschen!«, rief Menolly leidenschaftlich. »Aber bei Echsen-Gelegen kann man nur schwer erkennen, welches das Königinnen-Ei ist.«

»Na, ich glaube, ihm kommt es auf die Farbe nicht an.« Silvina wandte sich dem Drachenreiter zu. »Aber da wir gerade beim Thema sind – hat Brekke nun die Jungkönigin für sich gewonnen oder nicht? Wir machen uns solche Sorgen um das Mädchen, seit ihre Drachenkönigin umkam.«

»Nein, Brekke ging leer aus.« T'gellan setzte rasch ein Lächeln auf, um Silvina zu beruhigen. »Ihre Feuerechse vereitelte die Gegenüberstellung.«

»Das ist nicht möglich!«

»Doch. Du hättest dabei sein sollen, Silvina. Das winzige Bronze-Kerlchen schoss auf die Drachenkönigin zu und kreischte sie an wie ein Wher. Ließ das Mädchen nicht in die Nähe der neuen Königin. Aber Brekke löste sich durch den Schock aus ihrer Trance, und F'nor meint, sie sei nun über dem Berg. Der kleine Berd hat sie gerettet.«

»Einfach unglaublich.« Silvina betrachtete die beiden Bronze-Echsen mit neuem Respekt. »Das heißt ja, dass sie Verstand besitzen ...«

»Sieht so aus«, bestätigte T'gellan. »F'nor setzt seine kleine Königin Grall für Botenflüge zu den anderen Drachen-Weyrn ein. Leider ...« – T'gellan lachte nachsichtig – »kehrt sie nicht immer so prompt zurück, wie sie fortfliegt. Menolly hat ihre Schar besser erzogen, du wirst schon sehen.« Der Drachenreiter wandte sich zum Gehen; auf der Schwelle gähnte er mit weit aufgerissenem Mund. »Tut mir leid ...«

»Ach was«, fiel Silvina ihm ins Wort. »Die Schuld liegt bei mir. Ich bedränge euch da mit meiner Neugier, obwohl ihr euch kaum noch auf den Beinen halten könnt. Sieh zu, dass du jetzt heimkommst, T'gellan! Und vielen Dank für deine Hilfe.«

»Alles Gute, Menolly – einen gesunden Schlaf brauche ich dir wohl nicht zu wünschen.« T'gellan verabschiedete sich mit einem Blinzeln und war im Korridor verschwunden, ehe sie ihm danken konnte.

»So, und jetzt sehen wir uns mal deine Füße an ...« Silvina streifte vorsichtig Menollys Pantoffeln ab. »Hmm. So gut wie verheilt – kein Wunder bei Manoras Pflege. Aber Meister Oldive soll die Sohlen morgen noch einmal untersuchen. Was ist in dem Packen da?«

»Meine Sachen. Ich habe nicht viel mitgebracht ...«

»Da, ihr beiden, passt auf das Bündel auf, dann könnt ihr keinen Unfug treiben.« Silvina legte die Sachen zwischen Rocky und Taucher auf den Tisch. »Und jetzt mach es dir bequem, Menolly. Der Schlaf bringt alles wieder in Ordnung. Du hast ganz dunkle Ringe unter den Augen.«

»Ich fühle mich hier aber wohl ...«

»Das hoffe ich auch. Wo hast du bisher gelebt? In einer Höhle? Weißt du auch, dass die Harfner von Pern in allen Höfen und Gildehallen nach dir suchten?« Silvina half ihr geschickt beim Ausziehen. »Und nur, weil der alte Petiron zu erwähnen vergaß, dass du ein Mädchen bist!«

»Ich glaube nicht, dass er es vergaß«, sagte Menolly langsam; ihr kam wieder der erbitterte Kampf in den Sinn, den ihre Eltern gegen sie geführt hatten. »Er erklärte mir, dass Mädchen niemals Harfner werden dürften.«

Silvina musterte sie lange und aufmerksam. »Das galt vielleicht früher. Oder unter einem anderen Meisterharfner. Aber Petiron hätte seinen Sohn gut genug kennen müssen ...«

»Petiron war Meister Robintons Vater?«

»Hat er dir das nie erzählt?« Silvina schwieg, während sie die Felldecke über Menolly ausbreitete. »Der alte Sturkopf! Fest entschlossen, sich aus der Wahl seines Sohnes zum Meisterharfner nur ja keine Vorteile zu verschaffen! Deshalb verkroch er sich auch in dieser Klitsche am anderen Ende der Welt ... oh – entschuldige, Menolly!«

»Aber die Halbkreis-Bucht liegt nun mal ganz schön abseits.«

»Nicht, wenn Petiron dich dort fand«, erklärte Silvina mit großer Entschiedenheit, »und in seinen Künsten unterrichtete.« Sie deckte die Leuchte ab. »Aber jetzt ist genug geredet. Ich lasse die Läden offen, wenn du mir versprichst, dass du morgen früh ausschläfst.«

Das Mädchen murmelte eine Antwort und seufzte tief, als sich die Tür hinter Silvina schloss. Prinzessin kuschelte sich sofort an ihr Ohr, und gleich darauf suchten auch die anderen Echsen Zuflucht in dem weichen Bett. Menolly rollte sich behaglich zusammen; sie war todmüde, aber sie konnte keinen Schlaf finden. Die schier unglaublichen Ereignisse des Tages wirbelten in ihren Gedanken umher.

Sie spürte den schwachen Duft von Prinzesschen, die süßen Kräuter des Strohsacks und den Erdgeruch der Felder, den der Nachtwind hereintrug, hin und wieder vermischt mit Torfgeruch. Das Frühjahr hatte eben erst begonnen, und man kam abends noch nicht ohne Feuer aus.

Seltsam, dass sie nicht mehr den Salzgeschmack der See spürte, denn Meer und Fischgeruch hatten, von der letzten Siebenspanne abgesehen, die fünfzehn Planetenumläufe ihres Lebens bestimmt. Wie schön zu wissen, dass sie für immer mit der See gebrochen hatte. Sie würde nie mehr im Leben einen Stachelschwanz ausnehmen müssen, nie wieder einen Schnitt oder eine Infektion riskieren. Noch konnte sie ihre beschädigte Hand nicht voll einsetzen, aber eines Tages würde sie auch das schaffen. Nichts war unmöglich, jetzt, da sie allen Schwierigkeiten zum Trotz in der Harfner-Gilde Zuflucht gefunden hatte. Manora hatte ihr versichert, dass die Finger nach und nach ihre alte Gelenkigkeit wiederbekämen. Und ihre Füße heilten bereits jetzt. Der Gedanke, dass sie versucht hatte, vor der Sporenfront davonzurennen, belustigte Menolly nun fast. Dieser Wahnsinnslauf hatte sie nicht nur vor den ätzenden Fäden gerettet; er hatte sie zum Benden-Weyr gebracht, wo sie dem Meisterharfner von Pern begegnet war. Ein ganz neues Leben lag vor ihr.

Und ihr heißgeliebter Lehrer Petiron war Meister Robintons Vater gewesen? Sie hatte gewusst, dass der alte Harfner eine Menge von seinem Handwerk verstand, aber ihr war nie der Gedanke gekommen, was ein so hochbegabter Mann in der verlassenen Halbkreis-Bucht tat, wo keiner außer ihr seine Musik zu schätzen wusste. Wenn nur Yanus, ihr Vater, zugelassen hätte, dass sie bei der Ankunft des neuen Harfners die Gitarre spielte ... aber man hatte so sehr befürchtet, dass sie Schande über die Burg am Meer bringen könnte. Eines Tages würden ihr Vater und auch ihre Mutter einsehen, dass sie Menolly Unrecht getan hatten.

Menolly spann die Triumphgedanken weiter, bis Lärm ihre Überlegungen durchdrang. Dunkles Männerlachen und Gesprächsfetzen hingen in der klaren Nachtluft. Harfnerstimmen – Tenor, Bass und Bariton in gutmütigem Wettstreit; dazwischen ein quengeliger Tonfall, wie von einem schlechtgelaunten Greis. Beschwichtigend hob sich ein leichter, samtweicher Bariton über das Gezeter, suchte es zu besänftigen. Dann beherrschte die dunklere Stimme des Meisterharfners alle anderen und brachte sie zum Schweigen. Obwohl Menolly nicht verstand, was er sagte, wiegten seine Worte sie in den Schlaf.

2

 

Harfner, wohin führt der Weg,

Der von der Burg sich windet?

Sag, endet er im Hügelland?

Sag, schlängelt weiter er sein Band,

Bis die Abendsonne er findet?

 

Menolly schreckte kurz hoch, aufgescheucht von einem inneren Ruf, der nichts mit dem Sonnenaufgang auf dieser Seite von Pern zu tun hatte. Sie sah schwarze Nacht und Sterne durch das Fenster, spürte die Feuerechsen, die sich an sie schmiegten, und schlief dankbar wieder ein. Sie war so müde.

Als die Sonne die Außenfassade des Gebäudevierecks hochgekrochen war, schien sie direkt in Menollys Fenster, die nach Osten hin schauten. Nach und nach erfüllte Helligkeit den Raum, und das Licht und die Wärme weckten sie.

Sie lag da, immer noch schlaftrunken, und überlegte, wo sie war. Als es ihr wieder in den Sinn kam, wusste sie nicht so recht, was sie nun anfangen sollte. Hatte sie irgendeine allgemeine Weckzeit versäumt? Nein, Silvina hatte ausdrücklich betont, sie solle ausschlafen.

Als sie die Felldecke zurückschob, hörte sie von draußen einen vielstimmigen Chor. Der Rhythmus war ihr vertraut. Sie lächelte, als sie eine der langen Sagas erkannte, die sie den Kindern in der Burg damals eingebläut hatte. Die Lehrlinge mussten den schwierigen Takt auch immer wiederholen. Das beruhigte sie. Ihre Unterrichtsmethode war also nicht die schlechteste gewesen.

Als sie die Beine aus dem Bett schwang, biss sie die Zähne zusammen. Sie hatte Angst vor dem Moment, da ihre Sohlen den kalten, harten Steinboden berühren würden. Aber zu ihrem Staunen fühlten sich die Füße nur steif und überhaupt nicht mehr wund an. Menolly warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne stand schon hoch am Himmel; offenbar hatte sie lange geschlafen. Dann lachte sie sich selbst aus. Und ob sie lange geschlafen hatte! Sie befand sich jetzt auf der anderen Hälfte von Pern; immerhin gab es zwischen dem Benden-Weyr und der Gildehalle eine Zeitverschiebung von sechs Stunden. Zum Glück waren die Echsen genauso erschöpft gewesen wie sie, sonst hätte das Hungergeschrei der Kleinen sie längst geweckt.

Sie streckte sich, schüttelte das Haar aus und humpelte vorsichtig zum Waschkrug. Nachdem sie sich mit Kleie geschrubbt hatte, zog sie sich an und bürstete gründlich ihr Haar.

Prinzessin begann ungeduldig zu schimpfen. Sie war wach. Und sehr hungrig. Rocky und Taucher unterstützten ihre Beschwerde.

Menolly musste versuchen, Nahrung für ihre Schar aufzutreiben – und das rasch. Es reichte schon, dass sie mit neun Echsen hier aufkreuzte. Wenn die Biester, durch leere Mägen gereizt, auch noch allerhand Unfug anstellten, war die Geduld der Bewohner sicher bald erschöpft.

Entschlossen öffnete Menolly die Tür. Vor ihr lag ein verlassener Gang. Der würzige Duft von Klah, frischem Brot und Bratengebrutzel erfüllte die Luft. Menolly beschloss, einfach ihrer Nase zu folgen.

Zu beiden Seiten des Korridors befanden sich Türen; die entlang der Außenfassade standen offen, um Sonne und Luft hereinzulassen. Sie stieg vom oberen Stockwerk zur breiten Eingangshalle hinunter. Jenseits des Treppenschachtes entdeckte sie drachenhohe Metalltüren mit einem seltsamen Schließmechanismus; an der Rückseite der Portale waren Kurbeln angebracht, die allem Anschein nach dazu dienten, schwere Riegel in Decke und Boden zu treiben. In der Halbkreis-Bucht hatte man nur Bolzen und dicke Querstangen benutzt, um die Burgtore zu sichern; dieser Mechanismus hier wirkte sicherer und ließ sich bestimmt leichter bedienen.

Zur Linken befand sich eine Flügeltür, die in den Großen Saal führte – vermutlich der Raum, aus dem sie nachts die Stimmen der Harfner vernommen hatte. Rechts sah sie den Speisesaal, beinahe ebenso lang wie der Große Saal, mit drei langgestreckten Tischen, die parallel zu den Fenstern standen. Ebenfalls zu ihrer Rechten, neben dem Treppenschacht, war ein offener Durchgang, der zu niedrigen Stufen führte. Dahinter lag – den herrlichen Düften nach zu schließen – das Küchengewölbe.

Die Feuerechsen kreischten vor Hunger, aber Menolly konnte nicht zulassen, dass der ganze Schwarm über die Küche herfiel und das Gesinde in Aufruhr brachte. Sie befahl den Tieren, sich auf den hohen Türleisten niederzulassen, die halb im Schatten lagen, und versprach, dass sie ihnen Futter bringen würde, wenn sie sich brav und leise verhielten. Prinzessin zeterte, bis die anderen nachgaben und gehorchten. Nur die glitzernden Facettenaugen verrieten, wo sie sich befanden. Dann nahm Prinzessin ihren Lieblingsplatz auf Menollys Schulter ein – den Kopf halb im dichten Haar ihrer Herrin vergraben, den Schwanz wie eine goldene Kette um ihren Hals geschlungen.

Menolly erreichte die Küche, und der Anblick der Mägde und Köche, die hin und her flitzten, um das Mittagsmahl zu bereiten, weckte flüchtige Erinnerungen an glücklichere Tage in der Halbkreis-Bucht. Aber hier kam ihr Silvina lächelnd entgegen, was Mavi, ihre eigene Mutter, nie getan hatte.

»Du bist wach? Und ausgeruht?« Silvina winkte gebieterisch einem plumpen Mann mit wirrem Gesichtsausdruck, der neben dem Herd kauerte. »Klah, Camo! Gieß einen Becher Klah für Menolly ein! Du musst halbverhungert sein, Kind. Was machen deine Füße?«

»Oh, sie schmerzen überhaupt nicht. Aber ich möchte niemanden stören ...«

»Stören? Was heißt da stören! Camo, gieß einen Becher Klah ein!«

»Ich komme auch nicht meinetwegen ...«

»Aber du musst etwas essen, Kind!«

»Bitte, es ist wegen der Echsen. Wenn ich vielleicht ein paar Reste oder Abfälle haben könnte ...«

Silvina presste eine Hand an den Mund. Sie schaute umher, als erwartete sie jeden Moment den Echsenschwarm in der Küche.

»Nein, ich habe ihnen befohlen, draußen zu warten«, beruhigte Menolly sie rasch. »Sie kommen nicht hier herein.«

»Du bist aber ein rücksichtsvolles Kind«, sagte Silvina so entschieden, dass Menolly ganz verwirrt war. Dann erst bemerkte sie, dass sie Mittelpunkt einer verstohlenen Neugier war. »Camo, Vorsicht! Gib her – komm!« Silvina streckte die Hand nach dem Becher aus, den der Mann mit übertriebener Sorgfalt trug. »Und nun hol die große blaue Schüssel aus dem Kühlraum! Die große blaue Schüssel, Camo, aus dem Kühlraum. Bring sie mir!« Silvina reichte Menolly den randvollen Becher, ohne einen Tropfen zu verschütten. »Im Kühlraum, Camo, die große blaue Schüssel.« Sie nahm den Mann an den Schultern und gab ihm einen sanften Schubs in die angegebene Richtung. »Abuna, du stehst gerade am Herd. Richte bitte eine Schale Weizenbrei her – mit viel Zucker! Die Kleine besteht ja nur aus Haut und Knochen.« Silvina lächelte Menolly zu. »Es wäre nicht sehr sinnvoll, die Tiere zu mästen und die Herrin hungern zu lassen. Ich habe ein paar Fleischbrocken für deine Echsen auf die Seite gelegt, als wir den Rostbraten vorbereiteten ...« Und Silvina deutete zum Hauptherd hin, wo große Fleischkeulen auf Spießen rotierten. »So, wo ist der günstigste Platz ...« Sie blickte unentschlossen umher, aber Menolly hatte bereits eine niedere Tür entdeckt, von der ein paar Stufen in eine Ecke des Innenhofes führten.

»Würde ich da draußen jemand stören?«

»Ganz und gar nicht. Du bist wirklich ein kluges Mädchen. Gut gemacht, Camo, vielen Dank.« Silvina tätschelte freundlich den Arm des halbblöden Knechtes, und er strahlte vor Freude, weil er den Auftrag richtig ausgeführt hatte. Silvina hielt die Schüssel Menolly entgegen. »Ist das genug? Ich habe noch mehr draußen ...«

»Oh, fast zuviel, Silvina!«

»Camo, das hier ist Menolly. Trag ihr die Schüssel nach. Sie kann nicht ihr Frühstück und das Futter für die Echsen schleppen. Das hier ist Menolly, Camo, trag ihr die Schüssel nach! Geh ruhig los, Liebes, er macht das recht geschickt ...«

Silvina wandte sich ab und fauchte zwei Küchenmägde an, lieber Rüben zu schneiden, anstatt andere Leute anzugaffen. Menolly war sich des Aufsehens bewusst, das sie erregte, und verlegen ging sie auf die Stufen zu, ihren Klah-Becher in einer, den Weizenbrei in der anderen Hand. Camo schlurfte hinter ihr drein. Prinzessin, die sich in ihrem Haar verkrochen hatte, reckte nun den Hals, weil sie das rohe Fleisch roch, das Camo in der Schüssel trug.

»Schön, schön«, mauschelte der Mann, als er die Feuerechse entdeckte. »Schöner kleiner Drachen?« Er tippte Menolly auf die Schulter. »Schöner kleiner Drachen?« Er wartete so angespannt auf ihre Antwort, dass er um ein Haar über die Stufen gestolpert wäre.

»Ja, sie ist wie ein kleiner Drachen, und sie ist schön«, pflichtete Menolly ihm lächelnd bei. »Sie heißt Prinzessin.«

»Heißt Prinzessin.« Camo war wie gebannt. »Heißt Prinzessin. Schöner kleiner Drachen.« Strahlend verkündete er sein neues Wissen.

Menolly legte den Finger auf den Mund. Sie wollte Silvinas Mägde weder ablenken noch beunruhigen. Draußen angelangt, stellte sie ihren Becher und die Schale ab und griff nach dem Fleisch.

»Schöner kleiner Drachen Prinzessin«, murmelte Camo und merkte nicht, dass sie an der Schüssel zerrte.

»Geh du jetzt wieder zu Silvina! Geh zu Silvina!«

Camo blieb stehen, wo er war. Sein schwerer Kopf pendelte hin und her, und der feuchte schlaffe Mund war zu einer seligen Grimasse verzogen. Menollys Worte drangen überhaupt nicht bis zu ihm durch.

Prinzessin kreischte jetzt gebieterisch, und Menolly packte eine Handvoll Fleischbrocken, um sie zu beruhigen. Aber ihr Geschrei hatte die anderen auf den Plan gerufen. Sie kamen angeflattert, einige durch die offenen Fenster des Speisesaals über Menollys Kopf, andere, der allgemeinen Aufregung nach zu urteilen, quer durch die Küche.

»Schön, schön!«, rief Camo. »Alle schön.« Er drehte den Kopf heftig hin und her, weil er alle gleichzeitig sehen wollte.

Aber er hielt sich ganz still, als Tantchen Eins und Zwei auf seine Arme flogen und ihre Fleischbrocken selbst aus der Schüssel schnappten. Onkelchen krallte sich auf Camos Schulter fest und kämpfte mit Flügelschlagen um seinen Anteil. Brownie, Spiegel und Faulpelz umflatterten Menolly, die sich alle Mühe gab, das Futter gerecht zu verteilen.

Verlegen, weil sich ihre Freunde so schlecht benahmen, und zugleich dankbar über Camos Hilfe, merkte Menolly mit einemmal, dass in der Küche jede Arbeit ruhte. Das Gesinde beobachtete das ungewohnte Schauspiel. Einen Moment lang fürchtete sie, Silvina könnte den Knecht schelten und an seinen Platz zurückrufen, aber sie hörte nur das Gewisper der Mägde.

»Wie viele sind das denn?«, erkundigte sich jemand.

»Neun«, entgegnete Silvina ungerührt. »Und wenn die zwei Eier, die der Harfner bekam, gedeihen, haben wir insgesamt elf in der Gildehalle.« Das klang beinahe eitel. Das Stimmengewirr verstärkte sich. »Abuna, der Brotteig ist lange genug aufgegangen. Du kannst jetzt mit Kayla Laibe daraus formen.«

Die Feuerechsen hatten die letzten Fleischfasern gefressen, und Camo starrte mit betrübten Grimassen in die leere Schüssel.

»Alles fort? Meine schönen Kleinen hungrig?«

»Nein, Camo. Sie haben wirklich genug bekommen. Sie sind nicht mehr hungrig.« Im Gegenteil, ihre Bäuche spannten sich prall, so unmäßig hatten sie das Futter verschlungen. »Du gehst jetzt zu Silvina. Silvina braucht dich, Camo!« Sie folgte dem Beispiel der Wirtschafterin, nahm ihn an den Schultern, drehte ihn zur Küche hin und gab ihm einen sanften Schubs.

Menolly trank den Becher mit heißem Klah und dachte nach. Sie hatte den Eindruck, dass Silvina sie betont freundlich behandelte. Oder war das Unsinn? Silvina ging mit allen Leuten nett und rücksichtsvoll um; sie war die Geduld selbst, wenn sie etwa mit dem schwachsinnigen Camo redete. Dennoch, Silvina befehligte das Gesinde in der Gildehalle und besaß damit zweifellos eine ähnliche Machtposition wie Manora im Benden-Weyr. Wenn Silvina sie mit offenen Armen aufnahm, würden die anderen ihrem Beispiel folgen.

Menolly begann sich in der warmen Sonne zu entspannen. Ihre Träume letzte Nacht waren bedrohlich gewesen, aber in der Morgenhelle konnte sie sich an Einzelheiten nicht mehr erinnern. Nur ein Gefühl des Unbehagens und der Hilflosigkeit war geblieben. Aber Silvina hatte viel dazu beigetragen, ihre dummen Zweifel zu zerstreuen.

Über den Hof klangen frische junge Stimmen, die noch einmal die lange Saga einübten. Die Feuerechsen stoben bei dem Gesang hoch und nahmen erst wieder Platz, als Menolly sie lachend beruhigte.

Dann erhob sich unvermittelt ein heller, glockenklarer Diskant über die dunkleren Stimmen der Harfner-Lehrlinge. Prinzessin sang die Gegenmelodie. Rocky und Taucher stimmten ein, die Schwingen halb gespreizt, damit sie ihre Lungen besser mit Luft füllen konnten. Spiegel und Brownie flatterten von ihrem Fenstersims herunter und sangen ebenfalls mit. Faulpelz mochte sich nicht anstrengen, und die beiden Tantchen sowie die blaue Echse Onkelchen waren allenfalls mäßige Sänger. Aber sie hielten die Köpfchen schräg und horchten zu; ihre glitzernden Augen kreisten. Die fünf Sänger saßen da, die Kehlen gebläht, die Augen halb geschlossen und völlig konzentriert auf ihren süßen Gesang.

Sie sind hier glücklich, dachte Menolly erleichtert und begann die Gegenstimme mitzusingen.

Sie waren bei den letzten beiden Takten des Chors angelangt, als Menolly plötzlich merkte, dass nur sie und die Echsen sangen, während die Stimmen der Lehrlinge verstummt waren. Verwirrt schaute sie auf und sah, dass an den Fenstern des Innenhofs ganze Trauben von Neugierigen hingen. Nur in dem Saal, aus dem der Gesang erschollen war, rührte sich nichts.

»He, wer hat da eben gesungen?«, fragte ein quengeliger Tenor, und ein Männerkopf erschien an einem der leeren Saalfenster.

»Also, das war ein herrlicher Weckruf, Brudegan!«, entgegnete der schöne Bariton des Meisterharfners von irgendwo hoch droben. Menolly hob den Kopf und erkannte Robinton im obersten Stockwerk zu ihrer Linken.

»Ich wünsche einen guten Morgen, Meisterharfner«, sagte Brudegan höflich, doch sein Ton verriet, dass ihn Robintons Eingreifen verärgert hatte.

Menolly versuchte sich ganz klein zu machen; am liebsten wäre sie im Dazwischen verschwunden.

»Ich wusste gar nicht, dass deine Feuerechsen singen können!« Silvina war neben Menolly aufgetaucht und räumte geistesabwesend Becher und Schale von den Stufen. »Eine schöne Ergänzung für deinen Chor, Brudegan, was?«, fügte sie lauter hinzu. Dann hob sie den Kopf. »Nun, Robinton – ein Becher Klah gefällig?«

»Gern, Silvina.« Er beugte sich weit aus dem Fenster, um einen Blick auf Menolly werfen zu können. »Ein Schwarm singender Feuerechsen! Etwas Schöneres kann man sich zum Aufstehen gar nicht wünschen. Guten Morgen, Menolly!« Ehe das Mädchen antworten konnte, verzog er plötzlich das Gesicht zu einer Grimasse. »Mein Feuerechsen-Ei! Mein Ei!« Und er verschwand vom Fenster.

Silvina lachte leise und nickte Menolly zu. »Der ist zu nichts mehr zu gebrauchen, bis er selbst eine kleine Echse besitzt.«

In diesem Moment begannen Brudegans Sänger von neuem ihr Lied. Prinzessin zirpte fragend.

»Schsch, Prinzessin! Jetzt ist Schluss mit dem Gesang.«

»Die dort brauchen die Übung!« Silvina deutete zum Saal hinauf. »Aber nun muss ich das Frühstück des Harfners richten und dir ein Quartier verschaffen ...« Sie unterbrach sich und betrachtete die Feuerechsen. »Was fangen wir nur mit denen an?«

»Wenn sie so satt sind wie jetzt, schlafen sie meist.«

»Gut, gut – aber wo? Ach, du liebe Güte ...«

Menolly bemühte sich, ernst zu bleiben, als sie Silvinas Verwirrung sah, denn alle Echsen bis auf Prinzessin, die wie gewohnt auf ihrer Schulter saß, waren verschwunden. Sie deutete auf das gegenüberliegende Dach, wo die kleinen Geschöpfe jetzt aus dem Nichts landeten.

»Sie – sie gehen ins Dazwischen?«, staunte Silvina. »Der Harfner deutete schon an, dass sie viel Ähnlichkeit mit Drachen besitzen.«

»Ich kenne die Eigenheiten der Drachen nicht, aber es stimmt, dass Echsen ins Dazwischen tauchen. Gestern Nacht folgte mir mein Schwarm vom Benden-Weyr hierher.«

»Und sie gehorchen aufs Wort! Ich wollte, das könnte man auch von den Lehrlingen behaupten.« Dann zog Silvina das Mädchen mit in die Küche. »Camo, dreh den Spieß! Camo, dreh jetzt den Spieß! Und ihr anderen habt wohl in den Hof hinaus gegafft, anstatt hier weiterzuarbeiten!« Die Wirtschafterin sah sich mit gerunzelter Stirn um. Sofort nahmen die Mägde und Köche ihre verschiedenen Tätigkeiten wieder auf. »Ich habe eine Idee, Menolly. Du bringst Meister Robinton das Frühstück nach oben, dann kannst du gleich einen Blick auf dieses verflixte Ei werfen. Anschließend will ich Meister Oldive bitten, dass er sich deine Sohlen ansieht, obwohl ich volles Vertrauen in Manoras Heilkunst habe. Und ...« Silvina hielt Menollys linke Hand fest und betrachtete düster die rote Narbe. »Sag, Kind, wo hast du dir diese grässliche Wunde geholt? Und welcher Heiler hat sie so stümperhaft behandelt? Kannst du überhaupt richtig damit greifen?« Während Silvina sprach, hatte sie das Frühstück des Harfners auf ein Tablett gestellt, das sie nun Menolly in die Hände drückte. »Hier. Sein Zimmer befindet sich zwei Türen rechts von deinem. Du sollst den Spieß drehen, Camo, und dich nicht einfach nur daran festhalten! Menollys Feuerechsen sind satt und schlafen. Du darfst sie später wieder anschauen. Dreh den Spieß jetzt!«

Menolly verließ die Küche so rasch, wie sie es mit ihren steifen Füßen vermochte, und ging die breite Treppe zum zweiten Stock hinauf. Prinzessin summte an ihrem Ohr, einen trotzigen kleinen Diskant zu der Saga, die Brudegans Schüler übten.

Meister Robinton hatte ihr das Morgenlied nicht verübelt, dachte Menolly. Aber sie würde sich bei Brudegan entschuldigen, sobald sie die Gelegenheit dazu fand. Sie hatte einfach nicht daran gedacht, dass sie seine Schüler ablenken könnte. Die Freude, dass ihre Schützlinge satt und zufrieden vor sich hin sangen, war zu groß gewesen.

Zweite Tür rechts von der ihren. Menolly klopfte. Nichts rührte sich. Erst als sie mit der Faust gegen das Holz schlug, bekam sie Antwort.

»Nur herein! Pass auf, Silvina ... ach, du bist es, Menolly! Das ist ja großartig«, rief der Harfner, als er die Tür öffnete. »Einen schönen guten Morgen, Prinzesschen«, fügte er lachend hinzu, und die kleine Königin zirpte eine Antwort. Robinton nahm Menolly das Tablett ab. »Immer errät Silvina meine Gedanken. Könntest du bitte einen Blick auf das Ei werfen? Es ist im Nebenzimmer, dicht beim Herd. Ich finde, dass es sich schon viel härter anfühlt ...« Das klang ängstlich.

Menolly betrat gehorsam den Nebenraum, und er folgte ihr, nachdem er das Tablett auf dem Sandtisch neben dem Fenster abgestellt und sich einen Becher Klah eingeschenkt hatte. Am Kamin brannte ein freundliches kleines Feuer; das Tongefäß mit dem Echsenei hatte einen Platz auf dem Sims gefunden.

Menolly öffnete es und buddelte mit den Fingerspitzen vorsichtig den warmen Sand beiseite, der das kostbare Ei bedeckte. Es war härter, aber höchstens um eine Spur; schließlich hatte sie es dem Harfner erst am Vorabend überreicht.

»Alles in Ordnung, Meister Robinton. Und das Gefäß hat genau die richtige Wärme«, versicherte sie ihm. Sie schob den Sand wieder über das Ei und legte den Deckel auf. »Als wir das Gelege vor zwei Tagen zum Benden-Weyr brachten, meinte die Weyrherrin, dass die Jungen etwa in einer Siebenspanne schlüpfen würden. Wir haben also noch fünf Tage Zeit.«

Der Harfner seufzte erleichtert. »Hast du gut geschlafen, Menolly? Und dich richtig erholt? Oder bist du schon lange wach?«

»Lange genug!«

Der Harfner lachte schallend, als er ihre betrübte Miene sah.

»Lange genug, um ein paar Leute hochzubringen, was? Mein liebes Kind, hast du nicht den Unterschied gehört, als die Jungen die Saga das zweite Mal sangen? Die Feuerechsen waren eine Herausforderung für sie. Und dass Brudegan lospolterte, kam einfach von seiner Verwirrung. Sag, können deine Echsen zu jeder Melodie Gegenstimmen erfinden?«

»Ich weiß es wirklich nicht, Meister Robinton.«

»Immer noch kein Selbstvertrauen, mein Kind?« In seiner Stimme klang soviel Wärme mit, dass in Menollys Augen Tränen brannten.

»Ich will doch keinem zur Last fallen ...«

»Und du glaubst, dies sei der Fall?« Der Meisterharfner schüttelte den Kopf und führte sie zurück in den Wohnraum, der im Gegensatz zu seinem ordentlich aufgeräumten Schlafzimmer überquoll von Arbeitsmaterial. Zwar hingen die Musikinstrumente ordentlich an der Wand oder waren in Regalen verstaut, aber ganze Stapel von Archiv-Pergamenten, Skizzen, Wachs- und Steintafeln türmten sich auf jeder freien Fläche und am Boden. An einer Wand befand sich eine genaue Karte des Pern-Kontinents mit kleineren Detailzeichnungen aller wichtigen Burgen und Gildehallen entlang der Ränder. Der langgestreckte Sandtisch am Fenster war bedeckt mit Musiknoten, einige durch Glasplatten vor dem Verwischen geschützt. Der Harfner hatte das Tablett auf die mittlere Bahn gestellt, welche den Sandtisch in zwei Hälften teilte. Nun klappte er eine Holzfläche heraus, um den Sand abzudecken, und verrutschte das Tablett so, dass er bequem Platz zum Frühstücken fand. Mit dem Löffel deutete er auf einen Hocker, und Menolly nahm Platz.

»Wir leben in einer Zeit der großen Veränderungen, Menolly«, sagte er. »Und du könntest dabei eine wichtige Rolle spielen. Gestern habe ich einen gewissen Druck auf dich ausgeübt, um dich in die Harfner-Gilde zu holen. Das war nicht fair, ich weiß, aber du gehörst einfach hierher.« Sein Zeigefinger stach auf die Tischplatte und deutete dann hinaus zum Hof. »Erstens«, fuhr er nach einem Schluck Klah fort, »müssen wir herausbringen, welche Grundkenntnisse unseres Handwerks dir Petiron beigebracht hat und was du noch brauchst, um deine Fertigkeiten zu vervollkommnen. Außerdem ...« – er deutete auf ihre linke Hand – »wollen wir versuchen, diese Narbe zu behandeln. Ich habe nämlich die Hoffnung, dass du uns eines Tages die Balladen, die du schreibst, auch vorspielst.« Jetzt erst merkte Menolly, dass sie die ganze Zeit geistesabwesend ihre linke Handfläche massiert hatte. »Wenn einer das richten kann, dann Meister Oldive.«

»Silvina sagte, dass ich ihn heute noch aufsuchen sollte.«

»Wir bringen dich schon wieder so hin, dass du mehr Instrumente spielen kannst als deine Panflöte. Denn Leute, die wie du Balladen komponieren ... ach ja, da ist noch etwas, das ich dir erklären wollte ...« Er strich sich über den Haaransatz im Nacken, und Menolly hatte den Eindruck, dass er verlegen war.

»Erklären?«

»Ja. Siehst du, dieses Lied über die Echsenkönigin, das du im Archivraum eurer Burg zurückgelassen hattest – es war noch nicht ganz fertig ...«

»Stimmt. Ich kam nicht mehr dazu ...« Menolly traute ihren Ohren kaum. Was musste der Meisterharfner ihr erklären? Sie hatte doch nur ein paar Zeilen hingekritzelt, um ihr Erlebnis festzuhalten. Aber schon am Abend zuvor hatte er von der Ballade gesprochen, als sei sie allen Harfnern bekannt. »Hat Ihnen etwa Harfner Elgion das Zeug geschickt?«

»Wie sonst hätte ich es bekommen? Und wir konnten dich einfach nicht finden!« Robintons Stimme klang verärgert. »Wenn ich daran denke! Da lebt ein junges Mädchen allein in einer Höhle, mit einer verletzten Hand – weil man ihm verboten